Allart saß neben Cassandra und betrachtete ihr Gesicht. Nach dem Erlebnis im See ging es ihr körperlich nicht allzu schlecht. Selbst jetzt war er nicht sicher, ob es sich um einen echten Selbstmordversuch oder einen aus Verzweiflung, gepaart mit Krankheit und Erschöpfung geborenen Impuls gehandelt hatte. In den letzten Tagen war er kaum noch von ihrer Seite gewichen. Wie nahe war er doch daran gewesen, sie zu verlieren!
Die anderen hatten sie meist allein gelassen. Da sie um den Zustand ihrer Beziehung gewußt hatten, spürte er nun eine eingetretene Veränderung, aber das schien keine Rolle mehr zu spielen.
Es mußte eine Entscheidung gefällt werden, sobald Cassandra in der Lage war, aufzustehen. Sollte er mit ihr den Turm verlassen, und sie an einen sicheren Ort bringen? (Wenn man hier Waffen herstellte, konnte der Turm angegriffen werden.) Oder sollte er alleine fortgehen und Cassandra zur LaranAusbildung hierlassen, die sie brauchte?
Sein eigenes Laran hatte ihm immer wieder Visionen gezeigt, in denen er – mit Renata an der Seite – in den Norden ritt. Daß Cassandra in diesen Visionen fehlte, jagte ihm Angst ein. Was würde aus ihr werden? Er sah fremde Flaggen über sich, Krieg, das Klirren von Schwertern, das Krachen fremdartiger Waffen, Feuer und Tod. Vielleicht würde es das Beste für uns beide sein …
Es war unmöglich, die disziplinierte Ruhe aufrechtzuerhalten, die er in Nevarsin gelernt hatte. Cassandra war in seinem Verstand ewig anwesend, seine Gedanken und Gefühle waren für sie ebenso hyperempfindlich wie sein Körper.
Das Gelöbnis, das sie einander gemacht hatten, war gebrochen. Nach sieben Jahren in Nevarsin bin ich immer noch schwach und werde statt durch Vernunft von Gefühlen getrieben. Ich habe sie gedankenlos genommen, als sei sie eines von Dom Marius’ Freudenmädchen. Allart hörte das leise Klopfen an der Tür, und bevor seine Ohren es registrierten, wußte er – es war soweit. Er beugte sich vor, küßte die schlafende Frau mit einem schmerzlichen Gefühl des Abschieds, ging dann zur Tür und öffnete sie so rasch, daß Arielle ihn überrascht anblinzelte.
»Allart«, flüsterte sie, »dein Bruder, Lord Elhalyn, ist in der Fremdenhalle und verlangt dich zu sprechen. Ich werde bei deiner Frau bleiben.«
Allart ging in die Fremdenhalle hinunter. Es war der einzige Raum, den Leute von draußen betreten durften. Damon-Rafael erwartete ihn, während sein Friedensmann bewegungslos hinter ihm stand.
»Du erweist uns große Ehre, Bruder. Womit kann ich dir dienen?« »Ich nehme an, du hast vom Ende des Waffenstillstands gehört?« »Bist du gekommen, mich zu den Waffen zu rufen?«
Damon-Rafael erwiderte mit einem verächtlichem Lachen: »Nimmst du wirklich an, ich würde dafür selbst herkommen? Du würdest mir hier weitaus besser dienen. Nach all den Jahren, die du in mönchischer Abgeschiedenheit verbrachtest, habe ich wenig Vertrauen in deine Waffenkunst oder irgendwelche anderen männlichen Fertigkeiten. Nein, Bruder, es gibt eine andere Aufgabe für dich, falls du sie annimmst.« Es kostete Allart ziemliche Beherrschung, diesen Hohn hinzunehmen und sich daran zu erinnern, daß er seinem Bruder und Großfürsten untenan war.
»Du hast jenseits des Kadarin gelebt. Bist du je in den Ländern der Aldarans bei Caer Donn gewesen?«
»Nie. Nur in Ardais und Nevarsin.«
»Dennoch mußt du wissen, daß dieser Clan übermächtig wird. Er hält Schloß Aldaran bei Caer Donn, ebenso Sain Scarp und Scathfell. Und er schließt mit allen anderen Bündnisse: mit Ardais, Daniel und Storn. Sie sind von Hastur-Blut, aber Lord Aldaran ist weder zu meiner Einführung als Lord von Elhalyn gekommen noch seit vielen Jahren beim Mittsommerfest in Thendara erschienen. Jetzt, wo der große Krieg erneut ausbricht, sitzt er wie ein mächtiger Falke, der bereit ist, auf die Tiefländer herabzustürzen, im Bergland. Wenn alle, die Aldaran Bündnistreue schulden, auf einmal über uns herfallen, könnte selbst Thendara nicht gehalten werden. Ich kann den Tag voraussehen, an dem alle Reiche von Dalereuth bis zu den Kilghard-Hügeln unter Aldarans Herrschaft liegen werden.«
Allart sagte: »Ich wußte nicht, daß du Vorausschau besitzt, Bruder.« Damon-Rafael bewegte den Kopf mit einer schnellen, ungeduldigen Geste. »Vorausschau? Es erfordert nicht einmal viel Überlegung. Wenn Verwandte im Streit sind, treten Feinde auf, um den Spalt zu vertiefen. Ich versuche, einen neuen Waffenstillstand auszuhandeln – es bringt uns nichts, das Land in Brand zu stecken –, aber solange unsere Cousins von Burg Hastur belagert werden, ist das nicht leicht. Unsere Botenvögel fliegen Tag und Nacht mit geheimen Depeschen. Wir verfügen auch über Leroni, die in Verstärkernetzen arbeiten, um Botschaften auszusenden, aber natürlich können wir ihnen keine Geheimnisse anvertrauen. Was eine weiß, wissen alle, die Laran haben. Aber kommen wir zu dem Gefallen, um den ich dich bitten möchte, Bruder.«
»Ich höre«, sagte Allart knapp.
»Es ist lange her, seit ein Hastur einen Verwandten in diplomastischer Mission nach Aldaran gesandt hat. Aber wir brauchen ein Band wie dieses. Die Storns halten Ländereien bis zum Westen von Caer Donn, und sie könnten es für zweckmäßig halten, sich den Ridenows anzuschließen. Dadurch könnten alle Bündnispartner der Hellers in den Krieg einbezogen werden. Glaubst du, du könntest Lord Aldaran davon überzeugen, sich und seine Lehnsleute in diesem Krieg neutral zu verhalten? Ich glaube nicht, daß er auf unserer Seite in ihn eingreifen würde, aber es besteht die Möglichkeit, daß er sich ganz aus ihm heraushält. Du hast die Nevarsin-Ausbildung und kennst die Sprache der Hellers gut. Bist du bereit, in meinem Namen Lord Aldaran darum zu bitten, nicht in diesen Krieg einzugreifen?«
Allart musterte das Gesicht seines Bruders. Diese Mission schien zu einfach. Plante Damon-Rafael einen Verrat, oder wollte er ihn einfach nur aus dem Weg haben, damit die Hasturs von Elhalyn ihre Loyalität nicht zwischen zwei Brüder aufteilen mußten?
»Ich stehe unter deinem Befehl, Damon-Rafael, aber ich bin unerfahren in Diplomatie dieser Art.«
»Du wirst Briefe von mir mitnehmen«, sagte Damon-Rafael, »und geheime Depeschen schreiben, die mir Botenvögel überbringen. Du wirst auch offene Depeschen schreiben, die die Spione beider Seiten sicher lesen werden. Die geheimen wirst du unter einem Matrix-Verschluß schicken, den keiner außer mir öffnen oder lesen kann. Sicher kannst du einen Verschlußzauber herstellen, der die Botschaften, wenn ein fremdes Auge auf sie fällt, zerstört?«
»Das ist ziemlich einfach«, erwiderte Allart. Jetzt verstand er. Es gab sicher nicht viele Menschen, denen Damon-Rafael freiwillig das Muster seines Gehirns auszuhändigen bereit war, um einen Matrix-Verschluß anzufertigen. Ein solcher Verschluß in den Händen eines Attentäters …
Ich bin also eine der zwei oder drei Personen, denen Damon-Rafael diese Macht über sich geben würde. Weil ich durch einen Schwur gebunden bin, ihn und seine Söhne zu verteidigen.
»Ich habe in die Wege geleitet, daß du einen Vorwand für deine Mission hast«, fuhr Damon-Rafael fort. »Wir haben einen Kurier Aldarans abgefangen, von dem wir befürchteten, er sei zu den Ridenows unterwegs. Aber als meine Leronis ihn im Schlaf untersuchte, berichtete er uns, daß er sich auf einer persönlichen Mission Lord Aldarans befände. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber es hat nichts mit dem Krieg zu tun. Sein Gedächtnis ist matrix-gelöscht, und wenn er mit eurem Bewahrer spricht – was er, wie ich annehme, bald tun wird –, wird er nicht mehr wissen, daß er gefangengenommen und untersucht wurde. Ich habe mit unserem Cousin Coryn arrangiert, daß du vorgeblich für die Waffenstillstandsfahne verantwortlich bist, die Aldarans Gesandten nach Norden begleiten soll. Niemandem wird es auffallen, wenn du bei ihm bleibst und mit nach Aldaran reitest. Genügt das?«
Welche Wahl habe ich schon? Seit Tagen weiß ich, daß ich nach Norden reiten werde. Ich wußte nur nicht, daß es nach Aldaran geht. Aber was hat Renata damit zu tun? Laut sagte er: »Es scheint, du hast an alles gedacht.«
»Bei Sonnenuntergang wird mein Friedensmann dir Dokumente überbringen, die dich als meinen Botschafter ausweisen. Er gibt dir auch Instruktionen, wie man Botschaften schickt.« Sich erhebend sagte er: »Wenn du wünschst, werde ich deiner Gattin einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Es soll so aussehen, als wäre ich zu einem reinen Familienbesuch hier.«
»Danke«, gab Allart zurück, »aber Cassandra geht es nicht gut. Sie hütet das Bett. Ich werde ihr deine Empfehlungen übermitteln.«
»Tu das auf jeden Fall«, sagte Damon-Rafael, »obwohl, wie ich annehme, es keinen Grund gibt, Glückwünsche auszusprechen, seit du dich entschieden hast, mit ihr im Turm zu wohnen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie schon dein Kind trägt.«
Jetzt noch nicht, und vielleicht auch nie … Erneut spürte Allart den Ansturm der Hoffnungslosigkeit. Laut sagte er: »Nein, wir hatten bisher dieses Glück noch nicht.« Damon-Rafael konnte weder vom wirklichen Zustand ihrer Beziehungen noch von ihrem gemeinsamen Gelöbnis und den Umständen, unter denen es gebrochen worden war, etwas wissen. Er hatte nur auf den Busch geklopft. Zwar war es unsinnig, Zorn auf die Boshaftigkeit seines Bruders zu verschwenden, aber Allart war dennoch wütend.
Und er war immer noch gebunden, ihm als dem Großfürsten von Elhalyn zu gehorchen. Wenn die Nordmänner aus den Hellers in diesen Krieg eingriffen, würde es Zerstörung und Verderben geben. Ich sollte dankbar sein, dachte er, daß die Götter mir einen so ehrenwerten Weg gewiesen haben, in diesem Krieg zu dienen. Wenn ich die Aldarans zur Neutralität überreden kann, werde ich in der Tat zum Wohl aller Vasallen von Hastur beitragen.
Als Damon-Rafael sich zum Abschied erhob, sagte Allart: »Ich danke dir aufrichtig, Bruder, daß du mir diese Mission anvertraut hast.« Seine Worte kamen aus einem so vollen Herzen, daß Damon-Rafael ihn überrascht anblickte.
Als er Allart zum Abschied umarmte, lag ein Hauch von Wärme in seiner Geste. Obwohl sie nie Freunde sein würden, waren sie sich in diesem Augenblick näher als seit Jahren, das gestand Allart sich betrübt ein – und näher, als sie es je wieder sein würden.
Am Abend wurde er wieder in die Fremdenhalle gerufen; diesmal, wie er annahm, um Damon-Rafaels Boten zu treffen, der die Sicherheitsvorschriften und Depeschen mitbrachte.
Coryn sprach ihn vor der Tür an.
»Allart, sprichst du die Sprache der Hellers?«
Allart nickte. Er fragte sich, ob Damon-Rafael Coryn ins Vertrauen gezogen hatte.
»Mikhail von Aldaran hat uns einen Boten gesandt«, sagte Coryn, »aber es ist ungewiß, ob er unsere Sprache beherrscht. Kommst du und sprichst mit ihm in seiner eigenen?«
»Mit Freuden«, sagte Allart und dachte: Also nicht Damon-Rafaels Agent, sondern Aldarans Kurier. Damon-Rafael sagte, seine Gedanken seien untersucht worden. Ich halte das für Unrecht, aber schließlich ist Krieg.
Als er zusammen mit Coryn die Fremdenhalle betrat, erkannte er das Gesicht des Kuriers. Sein Laran hatte es ihm immer wieder gezeigt, obwohl er nie gewußt hatte, warum. Es war ein jugendliches Gesicht mit dunklem Haar und ebensolchen Brauen, das ihn mit unbefangener Freundlichkeit anblickte. Allart begrüßte den Mann in der formellen Redeweise der Hellers. »Du erweist uns Ehre, Siarbinn«, sagte er, die besondere Betonung benutzend, die dem archaischen Wort die Bedeutung noch-unbekannter-Freund verlieh. »Wie kann ich dir dienen?« Der junge Mann stand auf und verbeugte sich. »Ich bin Donal Delleray, Pflegesohn und Friedensmann von Mikhail, Lord Aldaran. Ich überbringe seine Worte, nicht die meinen, den Vai Leroni des Hali-Turms.«
»Ich bin Allart Hastur von Elhalyn. Dies hier ist mein Cousin Coryn, Tenerézu von Hali. Sprich offen.«
Er dachte: Es ist sicher mehr als ein zufälliges Zusammentreffen, daß Aldaran im gleichen Moment, in dem mein Bruder seinen Plan ausarbeitet, einen Boten schickt. Oder hat er den Plan extra deswegen entwickelt, um die Ankunft des Boten auszunutzen? Die Götter mögen mir Kraft geben – ich sehe überall Komplotte und Intrigen!
Donal sagte: »Als erstes, Vai Domyn, bitte ich Euch, Lord Aldaran Verzeihung dafür zu gewähren, daß er mich an seiner Stelle schickte. Er hätte nicht gezögert, selbst als Bittsteller zu kommen, aber er ist alt und kaum in der Lage, die lange Reise zu bewältigen. Zudem kann ich schneller reiten als er. Eigentlich hatte ich vorgehabt, in einem AchtTage-Ritt hier anzukommen, aber ich scheine auf dem Weg einen Tag verloren zu haben.«
Damon-Rafael und seine verdammte Gedanken-Untersuchung. Allart schwieg. Er wartete darauf, daß Donal sein Anliegen vortrug. Coryn sagte: »Es ist uns eine Freude, Lord Aldaran gefällig zu sein. Was ist seine Bitte?«
»Lord Aldaran hat mir aufgetragen, zu berichten, daß seine Tochter, sein einzig lebendes Kind und Erbe, an einem Laran leidet, das bisher unbekannt war. Die alte Leronis, die sich seit ihrer Geburt um sie gekümmert hat, weiß nicht mehr, was sie tun soll. Das Kind ist in einem Alter, in dem, wie mein Vater fürchtet, die Schwellenkrankheit es zerstören kann. Daher kommt er als Bittsteller, um die Vai Leroni zu bitten, jemanden zu schicken, der sich während dieser kritischen Periode um sie kümmerte.«
Es war nicht ungewöhnlich, daß eine im Turm ausgebildete Leronis einen jungen Erben anleitete und sich während der unruhigen Jahre des Heranwachsens um ihn kümmerte, wenn die Schwellenkrankheit einen solchen Tribut erforderte. Ein Laranzu vom Arilinn-Turm hatte Allart zum Beispiel geraten, Asyl in Nevarsin zu suchen. Wenn Aldaran wegen einer solchen Vergünstigung an Hali gebunden war, mußte er um so eher bereit sein, die Elhalyns zu unterstützen, indem er nicht in diesen Krieg eintrat.
Allart sagte: »Die Hasturs von Elhalyn und die im Hali-Turm Arbeitenden werden erfreut sein, Lord Aldaran in dieser Angelegenheit zu dienen.« In seiner eigenen Sprache fragte er Coryn: »Wen sollen wir schicken?«
»Ich hatte an dich gedacht«, erwiderte Coryn. »Du bist doch nicht sonderlich begierig, hierzubleiben und in den Krieg verwickelt zu werden.«
»Ich werde auf Geheiß meines Bruders sowieso gehen«, sagte Allart. »Aber es ist nicht ziemlich, daß ein Laranzu die Ausbildung eines Mädchens übernimmt. Es sollte eine Frau sein, die sie anleitet.«
»Aber wir können niemanden entbehren«, sagte Coryn. »Jetzt, wo ich Renata verliere, brauche ich Mira als Überwacherin. Cassandra ist für die Überwachertätigkeit noch nicht genügend ausgebildet. Und noch weniger ist sie dazu geeignet, ein junges Mädchen zu lehren, seine Gabe zu kontrollieren.«
»Könnte Renata diese Aufgabe nicht erfüllen?« fragte Allart. »Es würde sie sowohl aus der Kampfzone entfernen, als auch nach Neskaya zurückbringen.«
»Ja, Renata ist vielleicht die richtige Wahl«, bestätigte Coryn. »Aber sie soll nicht nach Neskaya gehen. Hast du es noch nicht gehört? Nein«, beantwortete er selbst seine Frage, »solange Cassandra krank war, hast du dich bei ihr aufgehalten und die Nachrichten nicht gehört. Dom Erlend Leynier hat ausrichten lassen, daß sie nicht zu den NeskayaTürmen, sondern zu ihrer Trauung nach Hause zurückkehren soll. Sie ist bereits zweimal aufgeschoben worden. Ich glaube nicht, daß sie noch eine Verzögerung auf sich nimmt, um in einem gottverlassenen Winkel der Hellers irgendein barfüßiges Bergmädchen darin zu unterrichten, wie es mit seinem Laran fertig wird.«
Allart schaute besorgt auf den jungen Donal. Hatte er die beleidigende Bemerkung verstanden? Donal blickte starr, wie es sich für einen Boten geziemte, geradeaus und schien ihnen nicht zuzuhören. Ob er genug von der Tieflandsprache verstand, um Coryns Worte zu begreifen oder genug Laran besaß, ihre Gedanken zu lesen, würden weder Coryn noch Allart je erfahren.
»Ich glaube nicht, daß Renata allzu versessen auf eine Heirat ist,« wandte Allart ein.
Coryn kicherte. »Ich glaube, daß du es nicht eilig hast, daß Renata verheiratet wird, Cousin.« Als er den Zorn in Allarts Augen aufsteigen sah, fügte er hastig hinzu: »Ich habe nur gescherzt. Sag dem jungen Delleray, daß wir Damisela Renata fragen werden, ob sie die Reise nach Norden auf sich nimmt.«
Allart wiederholte für Donal die formellen Sätze. Dieser verbeugte sich und erwiderte: »Sagt der Vai Domna, daß Lord Aldaran sie diesen Dienst nicht unbelohnt tun läßt. Er wird ihr, wenn die Zeit ihrer Heirat kommt, eine Mitgift geben, die der einer jüngeren Tochter entspricht.« »Das ist .großzügig«, sagte Allart, und das war es tatsächlich. Das Laran konnte nicht wie eine gewöhnliche Dienstleistung gekauft oder verkauft werden. Die Tradition verlangte, daß es lediglich der Kaste oder dem Clan zur Verfügung stand und nicht vermietbar war. Die Leyniers waren zwar wohlhabend, besaßen aber nicht die Reichtümer der Aldarans. Nun würde Renata die Mitgift einer Prinzessin erhalten.
Nach einigen weiteren Floskeln führten sie Donal auf das Zimmer, in dem er warten sollte. Als er mit Allart durch das Kraftfeld in den Hauptteil des Turms trat, sagte Coryn bedauernd: »Vielleicht hätte ich Arielle vorschlagen sollen. Sie ist zwar eine Di Asturien, aber Nedestro, und ihre Mitgift nicht der Rede wert. Selbst wenn mein Bruder mir die Erlaubnis zur Heirat gäbe, würde er mir nicht gestatten, ein armes Mädchen zu ehelichen.« Er lachte bitter. »Aber egal… Selbst wenn sie alle Juwelen von Carthon zur Mitgift erhielte, könnte ein Hastur von Carcosa nicht mit einer Nedestro von Di Asturien verheiratet werden. Hätte Arielle eine solche Mitgift – ihr Vater würde sie sicher einem anderen anbieten, anstatt sie mir zu geben.«
»Du bist schon zu lange unverheiratet«, sagte Allart. Coryn zuckte die Achseln.
»Mein Bruder ist nicht wild darauf, daß ich einen Erben habe. Ich besitze genügend Laran und habe für ihr verfluchtes Zuchtprogramm ein halbes Dutzend Söhne gezeugt. Ich habe nie versucht, sie zu sehen, auch wenn man sagte, daß sie Laran haben. Es ist besser, sie gar nicht erst liebzugewinnen. Soweit ich weiß, hat jeder Versuch, die Hastur-Gabe mit denen der Aillards oder Ardais zu kreuzen, zur Folge gehabt, daß die armen kleinen Bälger an der Schwellenkrankheit starben. Es ist schon schwer genug für ihre Mütter – ich habe nicht die Absicht, auch noch davon betroffen zu sein.«
»Wie kannst du das so beiläufig hinnehmen?«
Einen Augenblick lang zerbrach Coryns Maske der Gleichgültigkeit. Er blickte Allart in echter Verzweiflung an.
»Was kann ich sonst tun, Allart? Kein Sohn von Hastur verfügt über ein eigenes Leben, solange die Leroni dieses verdammten Zuchtdienstes, den man unsere Kaste nennt, unsere Eheschließungen in die Wege leiten und die Zeugung unserer Bastarde arrangieren. Es sind nicht alle in der Lage, wie du das Leben eines Mönchs zu ertragen!« Sein Gesicht versteinerte sich wieder, wurde leidenschaftslos. »Nun, immerhin ist es keine unerfreuliche Pflicht, die ich meinem Clan gegenüber erfülle. Solange ich hier als Bewahrer lebe, gibt es genug Zeiten, in denen ich für keine Frau zu verwenden bin. Und das ist fast genauso, wie ein Mönch zu sein … Arielle und ich wollen nehmen, was wir können, wenn die Gelegenheit es erlaubt. Ich bin nicht wie du, ein Romantiker auf der Suche nach der großen Liebe«, fügte er rechtfertigend hinzu und wandte sich ab. »Willst du Renata fragen, ob sie geht, oder soll ich es tun?« »Frag du sie«, meinte Allart. Er wußte, was sie sagen würde. Sie würden zusammen nach Norden reiten. Immer wieder hatte er es gesehen. Es führte kein Weg daran vorbei.
War es unvermeidlich, daß er Renata lieben und seine Liebe und sein Versprechen gegenüber Cassandra vergessen würde?
Ich hätte Nevarsin nie verlassen sollen, dachte er. Hätte ich mich doch von der höchsten Felsspitze gestürzt, statt ihnen zu erlauben, mich fortzutreiben!

14

An der Zimmertür zögerte Renata. Schließlich trat sie, wissend, daß Cassandra ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte, ohne anzuklopfen ein.
Cassandra lag zwar nicht mehr im Bett, sah aber noch immer blaß und erschöpft aus. Sie hatte eine Stickarbeit in der Hand und setzte kleine, präzise Stiche in das Blatt einer umstickten Blume. Als Renatas Blick auf die Arbeit fiel, wurde Cassandra rot und legte sie beiseite.
»Ich schäme mich, mit einer solch dummen Zerstreuung meine Zeit zu verschwenden.«
»Warum?« fragte Renata. »Auch mir wurde beigebracht, die Hände nie müßig sein zu lassen, damit mein Verstand sich entspannen kann, anstatt nur über meinen eigenen Problemen und Sorgen zu brüten. Aber meine Stiche waren nie so fein wie deine. Fühlst du dich jetzt besser?« Cassandra seufzte. »Ja, mir geht es wieder gut. Ich glaube, daß ich meinen Platz wieder einnehmen kann. Ich nehme an …« Renata wußte, daß Cassandras Kehle sich zuschnürte, unfähig, die Worte auszusprechen. Ich nehme an, daß man weiß, was ich versucht habe. Sie verachten mich alle …
»Es gibt keinen unter uns, der für dich etwas anderes als Sympathie empfindet – und Kummer, daß du unglücklich unter uns warst, und niemand versuchte, deinen Schmerz zu lindern«, sagte Renata freundlich.
»Und doch höre ich Geflüster um mich herum. Ich kann nicht erkennen, was geschieht. Was verbergt ihr vor mir, Renata?«
»Du weißt, daß Krieg ausgebrochen ist«, sagte Renata.
»Allart wird in den Krieg ziehen!« Es war ein Schmerzensschrei. »Und er hat mir nichts gesagt.«
»Wenn er dabei zauderte, es dir zu sagen, Chiya, dann sicher nur aus Furcht, die Verzweiflung würde dich erneut überwältigen und zu überstürztem Handeln verleiten.«
Cassandra senkte den Blick. So freundlich sich die Worte auch anhören mochten – in ihnen klang ein wohlverdienter Vorwurf mit.
»Nein, das wird nicht noch einmal geschehen. Jetzt nicht.«
»Allart wird nicht in den Krieg ziehen«, sagte Renata besänftigend. »Er wird aus dem Kampfbereich herausgeschickt. Von Caer Donn ist ein Bote gekommen, dem Allart mit der Waffenstillstandsflagge als Begleiter mitgegeben wird. Lord Elhalyn hat ihn mit einem Auftrag zu den Bergbewohnern geschickt.«
»Werde ich mit ihm gehen?« Cassandra hielt den Atem an. Ihr Gesicht wurde von einem Ausdruck solcher Freude überzogen, daß Renata zögerte, weiterzusprechen.
Schließlich sagte sie behutsam: »Nein, Cousine. Das ist dir jetzt nicht bestimmt. Du mußt hierbleiben. Du brauchst dringend eine Ausbildung, die dich dein Laran kontrollieren läßt. Ich werde den Turm verlassen, und du wirst hier als Überwacherin gebraucht. Mira wird sofort anfangen, dich zu unterrichten.«
»Ich? Überwacherin? Wirklich?«
»Ja. Du hast lange genug im Kreis gearbeitet, und dein Laran und deine Begabung sind uns bekannt. Coryn meint, aus dir könne eine geschickte Überwacherin werden. Man wird dich sehr bald brauchen. Wenn Allart und ich abreisen, wird es kaum genug Arbeiter geben, um zwei Kreise zu bilden, geschweige denn genügend ausgebildete Überwacher.« «Aha.« Sekundenlang schwieg Cassandra. »Zumindest habe ich ein leichteres Los zu ertragen als andere Frauen meines Clans, denen nichts anderes übrigbleibt, als zuzuschauen, wie ihre Männer in die Schlacht oder den Tod reiten. Hier wartet nützliche Arbeit auf mich. Allart braucht nicht zu befürchten, mich mit einem Kind zurückzulassen.« Als sie Renatas fragenden Blick sah, fuhr sie fort: »Ich schäme mich, Renata. Vielleicht weißt du nicht … Allart und ich haben einander gelobt, daß unsere Ehe unvollzogen bleibt. Ich … ich habe ihn dazu verführt, dieses Gelübde zu brechen.«
»Cassandra, Allart ist weder ein Kind noch ein unerfahrener Junge. Er ist ein erwachsener Mann und durchaus in der Lage, eine solche Entscheidung selbst zu treffen.« Renata unterdrückte den Impuls zu lachen. »Ich bezweifle, daß ihm der Gedanke schmeicheln würde, daß du ihn gegen seinen Willen vergewaltigt hast.«
Cassandra wurde rot. »Dennoch, wäre ich stärker und fähig gewesen, mein Verlangen zu unterdrücken …«
»Cassandra, es ist geschehen und kann nicht rückgängig gemacht werden. Alle Schmiede in Zandrus Schmiedewerkstätten können ein zerbrochenes Ei nicht wieder heil machen. Du bist nicht der Hüter von Allarts Gewissen. Jetzt kannst du nur nach vorn blicken. Vielleicht ist es ganz gut, daß er dich eine Weile verlassen muß. Es wird euch beiden die Gelegenheit geben zu entscheiden, was ihr in Zukunft tun wollt.« Cassandra schüttelte den Kopf. »Wie kann ich allein eine Entscheidung treffen, die uns beide angeht? Es ist an Allart zu sagen, was danach geschieht. Er ist mein Ehemann und mein Fürst!«
Renata wirkte plötzlich gereizt. »Diese Einstellung ist es, die die Frauen dahin gebracht hat, wo sie jetzt sind! Im Namen der Seligen Cassilda, Kind, hältst du dich immer noch für eine Gebärmaschine und ein Spielzeug der Begierde? Wach auf, Mädchen! Glaubst du, Allart begehrt dich nur aus diesen Gründen?«
Cassandra blinzelte verblüfft. »Was kann eine Frau sonst sein?« »Du bist keine Frau!« sagte Renata zornig. »Du bist noch ein Kind! Jedes Wort, das du sagst, bezeugt das! Hör mir zu, Cassandra. Als erstes bist du ein menschliches Wesen, ein Kind der Götter, eine Tochter deines Clans, die Laran besitzt. Glaubst du, du hättest es nur, um es an deine Söhne weiterzugeben? Glaubst du ernsthaft, du besäßest für Allart keinen anderen Wert, als den, sein Bett zu teilen und ihm Kinder zu schenken? Mein Gott, Mädchen, das könnte er von einer Konkubine haben, oder einer Riyachiya …«
Cassandras Wangen erglühten in zornigem Rot. »Es ziemt sich nicht, über solche Dinge zu reden!«
»Sondern nur, sie zu tun?« erwiderte Renata wutentbrannt. »Die Götter haben uns als denkende Geschöpfe erschaffen. Meinst du, sie hätten die Frauen nur als Zuchttiere ausersehen? Wenn das so ist – warum haben wir dann einen Verstand, Laran, und Zungen, um unsere Gedanken zu äußern? Man hätte uns dann doch nur hübsche Gesichter, Geschlechtsorgane, Bäuche, um die Kinder auszutragen, und Brüste, um sie zu ernähren, zu geben brauchen. Glaubst du, die Götter hätten nicht gewußt, was sie tun?«
»Ich glaube nicht, daß es überhaupt Götter gibt«, gab Cassandra zurück, und die Bitterkeit in ihrer Stimme war so groß, daß Renatas Zorn verrauchte. Auch sie hatte diese Art von Bitterkeit erfahren. Sie war noch immer nicht ganz frei davon.
Sie legte ihre Arme um das Mädchen und sagte sanft: »Cousine, wir haben keinen Grund, uns zu streiten. Du bist jung und unerfahren. Wenn du lernst, dein Laran zu benutzen, wirst du vielleicht anders über das denken, was du bist – nicht nur als Allarts Frau. Möglicherweise wirst du eines Tages Herrin deines eigenen Willens und Gewissens sein, und dich nicht darauf verlassen, daß er die Entscheidungen für euch beide trifft. Und du wirst ihm auch nicht mehr die Bürde deiner Sorgen zusätzlich zu den seinen auferlegen.«
»Daran habe ich nie gedacht«, gestand Cassandra und barg ihr Gesicht an Renatas Schultern. »Wäre ich stärker gewesen, hätte ich ihm diese Bürde nicht auferlegen müssen. Ich habe ihm die Schuld an meiner Verzweiflung, die mich in den See getrieben hat, gegeben. Dabei hat er nicht mehr getan, als seinem Empfinden zu folgen. Wird man mich lehren, stark zu sein, Renata? So stark wie du?«
»Stärker, hoffe ich, Chiya«, sagte Renata und küßte sie auf die Stirn. Aber ihre Gedanken waren finster. Für sie habe ich Ratschläge, aber mit meinem eigenen Leben werde ich nicht fertig. Jetzt flüchte ich zum dritten Mal vor der Ehe und stürze mich auf diese unbekannte Arbeit in Aldaran, wo es um ein Mädchen geht, das ich nicht kenne und mich nicht im geringsten interessiert. Ich sollte hierbleiben und meinem Vater den Gehorsam verweigern, statt nach Aldaran zu gehen und einer Unbekannten beizubringen, das Laran zu steuern, mit dem ihre närrischen Vorfahren sie beglückt haben. Was bedeutet mir dieses Mädchen, daß ich mein eigenes Leben vernachlässige, um ihr zu helfen? Aber sie konnte sich ihrem Status nicht entziehen. Sie war eine Leronis, mit der Begabung geboren, und konnte sich glücklich schätzen, die Turmausbildung erhalten zu haben. Schon deswegen war sie verpflichtet, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um anderen, die weniger Glück gehabt hatten, zu helfen, mit ihrer ungewünschten Gabe fertigzuwerden.
Cassandra war jetzt wieder ruhig. Sie sagte: »Allart wird doch nicht gehen, ohne mir Lebewohl zu sagen …?«
»Nein, nein, natürlich nicht, mein Kind. Coryn hat ihm bereits die Erlaubnis gegeben, sich vom Kreis zurückzuziehen, damit ihr die letzte Nacht gemeinsam verbringen und euch voneinander verabschieden könnt.« Sie sagte Cassandra nicht, daß sie selbst Allart auf seinem Ritt nach Norden begleiten würde. Das war seine Aufgabe, die er zur passenden Zeit erledigen mußte. Sie sagte nur: »Jedenfalls sollte, so wie die Dinge zwischen euch stehen, einer von euch gehen. Du weißt, daß du allein und keusch bleiben mußt, wenn die ernste Arbeit im Kreis anfängt.«
»Das verstehe ich nicht«, wandte Cassandra ein. »Coryn und Arielle …«
«… arbeiten schon seit über einem Jahr zusammen. Sie kennen die Grenzen dessen, was erlaubt und was gefährlich ist«, fiel Renata ein. »Der Tag wird kommen, an dem du es auch weißt, aber in deiner jetzigen Verfassung würde es schwierig sein, sie einzuhalten. Jetzt ist es an der Zeit zu lernen, ohne Zerstreuungen, und Allart würde« – sie lächelte das andere Mädchen schelmisch an – »eine solche für dich sein. Oh, diese Männer, daß wir mit ihnen nicht in Frieden leben können – und ohne sie auch nicht!«
Cassandras Lachen dauerte nur Augenblicke. Dann zuckte ihr Gesicht wieder, weil sie dem Weinen nahe war. »Ich weiß, daß deine Worte richtig sind, aber trotzdem kann ich nicht ertragen, daß Allart mich verläßt. Hast du nie geliebt, Renata?«
»Nein, nicht so, wie du es meinst, Chiya.« Renata hielt Cassandra an sich gedrückt. Das empathische Laran der anderen schüttelte sie. Der Schmerz war peinigend, als Cassandra hilflos an ihrer Brust schluchzte.
»Was kann ich tun, Renata? Was kann ich nur tun?«
Renata schüttelte den Kopf und starrte trostlos vor sich hin. Werde ich je erfahren, wie es ist, auf diese Weise zu lieben? Will ich es überhaupt wissen? Oder ist eine solche Liebe nur eine Falle, in die die Frauen sich freiwillig begeben, so daß sie nicht mehr die Kraft haben, ihr eigenes Leben zu bestimmen? Sind die Frauen der Comyn auf diese Weise zu schieren Gebärerinnen von Söhnen und Spielzeugen der Begierde geworden? Aber Cassandras Schmerz war für sie sehr echt. Schließlich sagte sie zögernd, voll Scheu vor den tiefen Empfindungen der anderen: »Du könntest es ihm unmöglich machen, dich zu verlassen, Cousine, wenn du so traurig bist. Er würde sich zu sehr um dich sorgen und Schuldgefühle bei dem Gedanken, dich in solcher Verzweiflung alleinzulassen, entwickeln.«
Cassandra unterdrückte mühsam ihr Schluchzen. Schließlich sagte sie: »Du hast recht. Ich darf Allarts Kummer nicht noch meinen eigenen hinzufügen. Ich bin weder die erste noch die letzte Frau eines Hastur, die ihren Mann wegreiten sieht, ohne zu wissen, wann er zurückkehrt. Aber seine Ehre und der Erfolg seiner Mission liegen in meiner Hand. Ich darf das nicht leichtfertig ausnutzen. Irgendwie« – trotzig reckte sie ihr kleines Kinn – »werde ich die Kraft finden, ihn fortzuschicken. Wenn er schon nicht fröhlich geht, kann ich zumindest sicherstellen, daß meine Angst die seine nicht verstärken wird.«

Es war eine kleine Gruppe, die am nächsten Tag von Hali aus nach Norden ritt. Donal war als Bittsteller allein gekommen. Allart wurde nur von dem Bannerträger – der ihm als Erben von Elhalyn zustand – begleitet. Nicht ein einziger Leibdiener ritt mit ihnen. Auch Renata hatte auf die übliche Begleitung verzichtet. In Zeiten des Krieges, hatte sie gesagt, brauchten solche Feinheiten nicht beachtet zu werden. Ihre Begleitung bestand lediglich aus ihrer Amme Lucetta, die ihr seit der Kindheit diente. Renata selbst hätte auch auf diese Begleitung verzichtet, aber für eine unverheiratete Frau ziemte es sich nicht, ohne weibliche Bedienung zu reisen.
Allart ritt schweigend und abseits von den anderen dahin, gequält von der Erinnerung an Cassandra und dem Moment des Abschieds. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt gewesen, aber sie hatte tapfer mit sich gekämpft, um keine zu vergießen. Wenigstens war sie nicht schwanger zurückgeblieben; insoweit waren die Götter gnädig.
Falls es überhaupt Götter gab, die es kümmerte, was der Menschheit widerfuhr …
Vor sich konnte er Renata vergnügt mit Donal plaudern hören. Sie schienen beide so jung zu sein. Allart wußte, daß er nur drei oder vier Jahre älter als Donal war, aber irgendwie kam es ihm vor, als sei er nie so jung gewesen. Da ich sehe, was sein wird, sein kann und nie sein wird, scheine ich mit jedem Tag, der vergeht, eine ganze Lebensspanne zu leben. Er beneidete die Jungen.
Sie ritten durch ein Land, das die Narben des Krieges trug: geschwärzte Felder mit den Spuren des Feuers, abgedeckte Häuser, verlassene Höfe. Auf der Straße begegneten ihnen so wenig Reisende, daß sich Renata nach dem ersten Tag nicht einmal mehr die Mühe machte, den Schleier über ihr Gesicht zu legen.
Einmal flog ein Luftwagen dicht über ihnen dahin, machte einen Bogen, tauchte hinab, um sie näher in Augenschein zu nehmen, wendete wieder und flog nach Süden zurück. Der Gardist mit der Waffenstillstandsflagge ließ sich zurückfallen, bis er neben Allart ritt.
»Flagge oder nicht, Vai Dom, ich wünschte, Ihr hättet einer Eskorte zugestimmt. Diese Ridenow-Bastarde könnten sich leicht dazu entscheiden, darauf zu pfeifen. Und wenn sie Euer Banner sehen, könnte ihnen leicht der Gedanke kommen, von welchem Wert es wäre, den ElhalynErben gefangenzunehmen und von seiner Hastur-Verwandtschaft freikaufen zu lassen. Es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas geschieht.«
»Wenn sie die Fahne nicht ehren«, sagte Allart gemessen, »wird es uns auch nichts nützen, sie in diesem Krieg zu schlagen, denn dann würden sie auch die Kapitulationsbedingungen nicht achten. Ich glaube, es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als von ihnen zu erwarten, daß sie an den Kriegsregeln festhalten.«
»Ich habe wenig Vertrauen zu den Regeln, Dom Allart, seit ich zum ersten Mal sah, wie ein Dorf mit Haftfeuer in Schutt und Asche gelegt wurde. Dabei kamen nicht nur Soldaten, sondern Greise, Frauen und Kinder um. Ich würde es vorziehen, den Regeln des Krieges nur mit einer kräftigen Eskorte im Rücken zu trauen!«
Allart erwiderte: »Ich habe mit meinem Laran nicht vorausgesehen, daß wir angegriffen werden.«
Trocken gab der Gardist zurück: »Dann seid Ihr glücklich, Vai Dom. Ich habe nicht den Trost der Vorausschau oder sonstwelcher Zauberei«. Anschließend verfiel er in hartnäckiges Schweigen.
Am dritten Tag ihrer Reise überquerten sie einen Paß, der zum KadarinFluß hinabführte. Er trennte das Tieflandterritorium von den Ländern, die dem Bergvolk gehörten – Aldaran, Ardais und den niederen Fürsten der Hellers. Bevor sie die Straße hinabritten, drehte Renata sich um, um über das Land zu schauen, aus dem sie gekommen waren. Der größte Teil der Reiche lag vor ihnen ausgebreitet. Renata sah auf die entfernten Hochebenen und schrie plötzlich entsetzt auf – ein Waldbrand wütete in den südlichen Kilghard-Hügeln.
»Seht nur, das Feuer!« schrie sie auf. »Es wird auf die Alton-Ländereien übergreifen.« Allart und Donal, die beide Telepathen waren, verstanden ihre Gedanken: Wird auch mein Zuhause in Flammen liegen, in einem Krieg, der nicht der unsere ist? Laut sagte sie mit bebender Stimme: »Jetzt wünschte ich, ich hätte deine Vorausschau, Allart.«
Das Panorama der Landschaft unter ihnen verschwamm vor Allarts Augen, die er in dem vergeblichen Bemühen, den sich verzweigenden Zukunftsentwicklungen seines Laran zu entgehen, verschloß. Wenn der mächtige Clan der Altons durch einen Angriff in den Krieg hineingezogen wurde, wäre keine Siedlung, kein Gut in den Reichen mehr sicher. Für die Altons spielte es keine Rolle, ob ihre Häuser durch ein vorsätzlich gelegtes Feuer oder einen außer Kontrolle geratenen Brand in Flammen aufgingen.
»Wie können sie es wagen, einen Waldbrand als Waffe einzusetzen«, schimpfte Renata, »wenn sie wissen, daß man ihn nicht kontrollieren kann, da er von den Winden abhängt.«
»Nein«, machte Allart einen Versuch, sie zu besänftigen. »Einige der Leroni — das weißt du – können durchaus ihre Kräfte dazu einsetzen, um Wolken und Regen zu erzeugen, die ein Feuer eindämmen oder zum Verlöschen bringen.«
Donal lenkte sein Reittier an Renata heran. »Wo liegt dein Heim?« Sie zeigte es ihm. »Dort, zwischen den Seen von Miridon und Mariposa. Es liegt hinter den Hügeln, aber du kannst die Seen erkennen.« Donals dunkles Gesicht wirkte konzentriert, als er sagte: »Hab keine Angst, Damisela. Sieh – das Feuer wird sich diesen Kamm entlang nach oben fortpflanzen.« Er zeigte mit dem Finger darauf. »Dort werden es die Winde zurücktreiben. Vor dem morgigen Sonnenuntergang wird es ausbrennen.«
»Ich bete, daß du recht hast«, sagte Renata. »Aber das ist sicher nur eine Vermutung.«
»Nein. Du wirst es selbst sehen können, wenn du dich beruhigst. Als im Turm Ausgebildete dürfte dir nicht entgehen, in welcher Richtung die Luftströme ziehen und wo der Wind aufkommt. Du bist eine Leronis. Du mußt das erkennen.«
Allart und Renata blickten Donal verwundert und erstaunt an. Schließlich sagte Renata: »Einmal, als ich das Zuchtprogramm studierte, las ich etwas von einem Laran, das dazu fähig sein soll, aber man rückte, weil es nicht kontrolliert werden konnte, davon ab. Aber diese Fähigkeit besaß weder die Hastur-Sippe noch die der Delleray. Bist du vielleicht mit den Storns oder Rockravens verwandt?«
»Aliciane von Rockraven – die vierte Tochter von Lord Vardo – war meine Mutter.«
»Tatsächlich!« Renata blickte ihn mit deutlicher Neugier an. »Ich dachte, dies Laran sei ausgelöscht. Gewöhnlich tötete es die Mutter, die solch ein Kind zur Welt brachte. Hat deine Mutter deine Geburt überlebt?«
»Das hat sie«, bestätigte Donal, »aber sie starb bei der Geburt meiner Schwester Dorilys, die du in deine Obhut nehmen sollst.«
Renata schüttelte den Kopf. »Hat das verfluchte Zuchtprogramm der Hastur-Sippe seine Spuren also auch in den Hellers hinterlassen? Besaß dein Vater irgendein Laran?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht einmal erinnern, ob ich ihm je ins Gesicht geblickt habe«, erwiderte Donal. »Aber meine Mutter war keine Telepathin, und Dorilys – meine Schwester – kann überhaupt keine Gedanken lesen. Eine Fähigkeit, die ich besitze, muß die Gabe meines Vaters sein.«
»Hast du dein Laran schon seit der Kindheit, oder kam es ganz plötzlich, als du heranwuchst?«
»Ich kann Luftströmungen und Stürme spüren, seit ich denken kann«, antwortete Donal. »Ich habe es damals nicht für Laran gehalten, nur für ein Gespür, das mehr oder weniger jeder hat, wie beispielsweise ein Ohr für Musik. Als ich älter wurde, konnte ich ein wenig die Blitze kontrollieren.«
Er erzählte, wie er als Kind einen Blitzschlag abgelenkt hatte, der auf einen Baum zielte, unter dem er mit seiner Mutter gestanden war. »Aber ich kann es nur selten tun, und wenn es dringend erforderlich ist, sonst macht es mich krank. Daher versuche ich nur, diese Kräfte zu erkennen, nicht, sie zu kontrollieren.«
»Das ist das Klügste«, bekräftigte Renata. »Alles, was wir über weniger gewöhnliches Laran wissen, hat uns gelehrt, wie gefährlich es ist, mit diesen Gewalten zu spielen. Regen an einem Ort bedeutet Dürre an einem anderen. Ein weiser Mann sagte einmal: ›Es ist ein schlechtes Unterfangen, einen Drachen anzuketten, um sein Fleisch zu braten.‹ Aber ich sehe, daß du einen Sternenstein trägst.«
»Einen kleinen, nur für Spielereien. Ich kann einen Gleiter heben und ähnliche Dinge. Kleinigkeiten, die mir unsere Haushalt Leronis beibrachte.«
»Bist du seit deiner Kindheit ein Telepath?«
»Nein, die Kraft kam zu mir, als ich über fünfzehn war und es schon nicht mehr erwartete.«
»Hast du stark unter der Schwellenkrankheit gelitten?« fragte Allart. »Nicht sonderlich. Benommenheit und Orientierungsschwierigkeiten, vielleicht ein halbes Jahr lang. Am meisten betrübte es mich, daß mein Pflegevater mir in dieser Zeit den Gleiter verbot!« Er lachte, aber Allart und Renata konnten seine Gedanken lesen: Ich habe nie gewußt, wie sehr mein Pflegevater mich liebte, bis ich spürte, wie sehr er sich ängstigte, mich zu verlieren, als die Schwellenkrankheit kam. »Keine Krämpfe?«
»Gar nichts.«
Renata nickte. »Einige Erblinien haben es schwerer als andere. Du scheinst die relativ geringere zu haben, und Lord Aldarans Familie die tödliche Form. Bist du vom Blut der Hasturs?«
»Damisela, ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Donal steif, und die anderen spürten seinen Widerwillen, als hätte er die Worte laut ausgesprochen: Bin ich ein Renn-Chervine oder ein Zuchttier, das man nach seinem Stammbaum beurteilt?
Renata lachte laut. »Vergib mir, Donal. Vielleicht habe ich zu lange in einem Turm gewohnt und nicht überlegt, für wie beleidigend ein anderer eine solche Frage halten könnte. Ich habe so viele Jahre damit zugebracht, diese Dinge zu studieren! Allerdings, mein Freund, wenn ich mich um deine Schwester kümmern soll, muß ich ihre Erblinie und ihren Stammbaum so gewissenhaft untersuchen, als sei sie ein Renntier oder ein edler Falke, um herauszufinden, wie dieses Laran in ihre Linie kam, und welche tödlichen und rezessiven Merkmale es tragen könnte. Selbst wenn sie sich jetzt ruhig verhalten, könnten sie Ärger verursachen, wenn sie zur Frau wird. Aber vergib mir. Ich wollte dich nicht beleidigen.«
»Ich sollte dich um Vergebung bitten, Damisela, weil ich so tölpelhaft bin – während du nach Wegen suchst, meiner Schwester zu helfen.« »Dann wollen wir uns gegenseitig vergeben, Donal – und Freunde sein.«
Allart spürte, während er sie beobachtete, plötzlich bitteren Neid auf diese jungen Leute, die lachen, flirten und das Leben genießen konnten, selbst wenn sie mit drohendem Verderben beladen waren. Dann schämte er sich plötzlich seiner selbst. Renata trug keine leichte Last. Sie hätte ihre Verantwortung auf Vater oder Ehemann abladen können – dennoch arbeitete sie seit ihrer Kindheit daran, zu erfahren, wie man mit der Verantwortung am besten fertig wurde. Selbst wenn es hieß, das Leben eines ungeborenen Kindes zu zerstören und den Makel einer unfruchtbaren Frau zu tragen. Auch Donal hatte keine unbeschwerte Jugend gehabt. Er mußte mit dem Wissen um sein eigenes Laran leben, das ihn und seine Schwester zerstören konnte.
Allart fragte sich, ob jedes menschliche Wesen tatsächlich so nahe wie er an einem Abgrund entlang durchs Leben ging. Er machte sich klar, wie er sich verhalten hatte: als trüge er allein einen unerträglichen Fluch, und alle anderen seien heiter und sorgenfrei. Er beobachtete, wie Renata und Donal lachten und scherzten, und dachte – es war ein neuer und fremder Gedanke – Vielleicht hat Nevarsin mir eine zu übertrieben ernsthafte Einstellung zum Leben gegeben. Wenn sie mit ihren Lasten leben und dennoch heiter sein und sich an dieser Reise erfreuen können, sind sie vielleicht klüger als ich.
Als er schneller ritt, um sich ihnen anzuschließen, lächelte er.

Sie erreichten Aldaran am späten Nachmittag eines trüben, regnerischen Tages, der Wind, Regen und kleine Hagelkörnchen mit sich trieb. Renata hatte den Umhang über das Gesicht gezogen und ihre Wangen mit einem Schal geschützt. Der Bannerträger hatte die Fahne in eine schützende Hülle gesteckt und ritt mit ernstem Blick, in seinem dicken Mantel vermummt. Allart bemerkte, daß die zunehmende Höhe sein Herz heftiger schlagen ließ. Er fühlte sich ein wenig benommen. Aber Donal schien mit jedem Tag mehr die Sorgen abzuwerfen und fröhlicher auszusehen, als seien die Höhe und die sich verschlechternde Witterung nur ein Zeichen der Heimkehr. Er ritt selbst durch den Regen barhäuptig, hatte die Kapuze seines Reitmantels zurückgeworfen und achtete nicht auf den Hagel, der sein von Wind und Kälte gerötetes Gesicht traf. Am Fuß des langen Hanges, der zur Burg hinauf führte, hielt er an und gab lachend und winkend ein Zeichen. Renatas Amme grollte: »Sollen wir mit normalen Reittieren diesen Ziegenpfad hinaufreiten, oder glaubt man, daß wir Falken sind und fliegen können?« Selbst Renata wirkte angesichts des letzten steilen Pfades ein wenig geängstigt.
»Das ist die Aldaran-Feste? Sie scheint so unzugänglich wie Nevarsin!«
Donal lachte. »Nein, aber in den alten Zeiten, als die Vorfahren meines Pflegevaters sie mit Waffengewalt verteidigen mußten, machte dieser Hang sie unverwundbar – meine Dame«, fügte er mit plötzlichem Selbstbewußtsein an. Während der Dauer der Reise waren sie füreinander Allart, Renata und Donal geworden. Donals plötzliche Rückkehr zu formeller Höflichkeit machte ihnen klar, daß – was immer auch passierte – die Periode der Sorglosigkeit vorüber war, und die Last ihrer voneinander getrennten Schicksale sich wieder auf sie legten.
»Ich vertraue darauf, daß die Soldaten auf den Mauern wissen, daß wir nicht als Angreifer kommen«, meinte der Gardist, der die Waffenstillstandsflagge trug, düster.
Donal lachte und erwiderte: »Nein, ich glaube, für ein Kriegskommando sind wir zu klein. Schaut – dort auf den Zinnen sind mein Pflegevater und meine Schwester. Offenbar wußte er von unserer Ankunft.« Allart sah, wie sich der leere Blick über Donals Gesicht legte – der Blick des Telepathen, der mit anderen außer Hörweite Kontakt aufnahm. Einen Augenblick später lächelte Donal vergnügt und sagte: »Der Pferdepfad ist nicht gar so steil. Auf der anderen Seite der Burg sind Stufen in den Fels geschnitten, zweihundertachtundneunzig insgesamt. Würdet Ihr vielleicht lieber diesen Weg erklimmen? Oder Ihr, Mestra?« fragte er die Amme, die einen Laut des Entsetzens ausstieß. »Kommt, mein Pflegevater erwartet uns.«
Während des langen Ritts hatte Allart die in Nevarsin erlernten Techniken angewandt, um die auf ihn eindringenden Zukunftsmöglichkeiten fernzuhalten. Da er sie nicht beeinflussen konnte, wußte er, daß es eine Form der Schwäche war, wenn er sich mit ihnen abgab. Dieser Schwäche durfte er nicht nachgeben. Er mußte sich mit dem befassen, was kam – und durfte nur dann vorausschauen, wenn sich eine vernünftige Möglichkeit bot, zu entscheiden, welche mögliche Entwicklung durch eine Entscheidung, die tatsächlich seiner Kontrolle unterlag, verstandesmäßig beeinflußt werden konnte. Aber als sie die Spitze des steilen Hanges erreicht hatten, aus Hagel und Wind in einen geschützten Hof gelangten, und Diener sich um sie scharten, um ihnen die Pferde abzunehmen, wußte er, daß er diese Szene schon einmal erlebt hatte. Durch die momentane Orientierungslosigkeit vernahm er den Aufschrei einer schrillen, kindlichen Stimme, und es schien ihm, als sähe er Blitze aufflakkern. Er fuhr zurück, noch bevor er sie tatsächlich hörte. Es entpuppte sich schließlich alles als ganz einfach: keine Gefahr, kein Aufzucken merkwürdiger Blitze, nichts als die Stimme eines fröhlichen Kindes, das Donals Namen rief. Mit fliegenden Zöpfen rannte ein kleines Mädchen aus dem Schutz eines Bogenganges und umschlang ihn mit beiden Armen.
»Ich wußte, daß du es warst – mit den Fremden. Ist das die Frau, die meine Lehrerin sein soll? Wie heißt sie? Magst du sie? Wie ist es in den Tiefländern? Blühen die Blumen dort wirklich das ganze Jahr über? Hast du auf der Reise irgendwelche nichtmenschlichen Wesen gesehen? Hast du mir Geschenke mitgebracht? Was sind das für Leute? Was sind das für Tiere, die sie reiten?«
»Sachte, sachte, Dorilys«, meinte eine tiefe Stimme vorwurfsvoll. »Unsere Gäste werden uns tatsächlich für Bergbarbaren halten, wenn du wie ein schlecht erzogenes Gallimak daherplapperst. Laß deinen Bruder los und begrüße unsere Gäste wie eine Dame!«
Donal ließ zwar zu, daß das Mädchen seine Hand umklammerte, als er sich seinem Pflegevater zuwandte, ließ sie aber los, als Mikhail von Aldaran ihn in eine enge Umarmung zog.
»Junge, ich habe dich sehr vermißt. Willst du uns nicht unsere ehrenwerten Gäste vorstellen?«
»Renata Leynier, Leronis vom Hali-Turm«, sagte Donal. Renata machte einen tiefen Knicks vor Lord Aldaran.
»Verehrte Dame, Ihr erweist uns Gnade. Wir sind hochgeehrt. Erlaubt mir, meine Tochter und Erbin vorzustellen: Dorilys von Rockraven.« Dorilys senkte scheu die Augen, als sie einen Knicks machte. »S’dia shaya, Domna«, sagte sie schüchtern.
Dann stellte Lord Aldaran Margali vor. »Das ist die Leronis, die sich seit ihrer Geburt um sie kümmert.«
Renata blickte die alte Frau forschend an. Trotz der blassen, zerbrechlichen Gesichtszüge, des ergrauten Haars und der Altersfurchen ihres Gesichts trug sie noch immer den undefinierbaren Stempel der Kraft.

Renata dachte: Wenn sie seit ihrer Geburt in der Obhut einer Leronis war, und Aldaran fühlt, daß sie stärkere Fürsorge und Kontrolle braucht – was, im Namen aller Götter, befürchtet er für dieses kleine Mädchen?
Donal stellte Allart seinem Pflegevater vor. Allart, der sich vor dem alten Mann verbeugte, hob die Augen, um in das Falkengesicht von Dom Mikhail zu blicken und wußte sofort, daß er es in Träumen der Vorausschau vorher gesehen hatte. Er spürte ein Gefühl aus Zuneigung und Angst. Irgendwie war dieser Bergfürst der Schlüssel zu seinem Schicksal – aber er konnte nur einen Gewölberaum sehen, weißen Stein wie in einer Kapelle, flackernde Flammen, und Verzweiflung. Er versuchte die unwillkommenen, verwirrenden Bilder niederzukämpfen, bis er eine verstandesmäßige Entscheidung zwischen ihnen treffen konnte.
Mein Laran ist ohne Nutzen, dachte er, außer, daß es mich ängstigt! Als sie durch das Schloß zu ihren Zimmern geführt wurden, sah sich Allart erregt nach dem Gewölbe aus seiner Vision um, nach dem Ort der Flammen und der Tragödie. Aber er sah ihn nicht und fragte sich, ob er überhaupt irgendwo auf Burg Aldaran war. Er konnte in der Tat überall sein – oder, dachte er bitter, nirgendwo.

15

Renata wachte auf, als sie die Anwesenheit eines Fremden spürte. Dann sah sie Dorilys’ hübsches, kindliches Gesicht hinter einen Vorhang hervorspähen.
»Es tut mir leid«, sagte Dorilys. »Habe ich Euch aufgeweckt, Domna?« »Ich glaube schon.« Renata blinzelte, erinnerte sich verschwommen an Bruchteile eines schwindenden Traumes, an Feuer, die Schwingen eines Gleiters, Donals Gesicht. »Nein, es macht nichts, Kind. Lucetta hätte mich ohnehin bald geweckt, damit ich zum Essen nach unten gehe.« Dorilys kam hinter dem Vorhang hervor und setzte sich auf den Bettrand. »War die Reise sehr ermüdend, Domna? Ich hoffe, Ihr werdet Euch von der Anstrengung bald erholen.«
Über die Mischung aus Kindlichkeit und erwachsener Höflichkeit mußte Renata lächeln. »Du sprichst sehr gut Casta, Kind. Wird es hier viel gesprochen?«
»Nein«, antwortete Dorilys, »aber Margalis wurde in Thendara ausgebildet und sagt, ich solle lernen, es gut zu sprechen, damit es niemanden gibt, der mich eine Wilde aus den Bergen nennt, wenn ich einmal dorthin komme.«
»Dann hat Margali gute Arbeit geleistet. Deine Aussprache ist sehr gut.«
»Ihr wurdet auch in einem Turm ausgebildet, Vai Leronis?«
»Ja. Aber es ist nicht nötig, daß du so förmlich bist«, sagte Renata, die sich spontan für das Mädchen erwärmte. »Nenn mich Cousine oder Verwandte, ganz wie du willst.«
»Für eine Leronis siehst du sehr jung aus, Cousine«, sagte Dorilys, die das persönlichere der beiden Worte wählte.
Renata erwiderte: »Ich habe ungefähr in deinem Alter angefangen.« Dann zögerte sie, denn für die vierzehn oder fünfzehn Jahre, nach denen sie aussah, wirkte Dorilys sehr kindlich. Wenn sie sie als Tochter eines Adeligen erziehen sollte, mußte sie dem ein schnelles Ende setzen, daß ein so großes Mädchen mit wehendem Haar über den Hof tobte und wie ein Kleinkind umherrannte und schrie. Sie fragte sich, ob Dorilys vielleicht geistig etwas zurückgeblieben war. »Wie alt bist du … fünfzehn?«
Dorilys lächelte und schüttelte den Kopf. »Jeder sagt, daß ich so aussehe, und Margali langweilt mich Tag und Nacht damit, mir zu sagen, daß ich zu alt und zu groß bin, dies oder jenes zu tun. Ich bin erst elf Jahre alt. In der Zeit der Sommerernte werde ich zwölf.«
Renata revidierte sofort ihre Einschätzung. Sie war also nicht die kindliche und schlechterzogene junge Frau, nach der sie aussah, sondern ein ausgesprochen frühreifes Mädchen. Vielleicht war es ihr Unglück, daß sie älter aussah, denn jeder erwartete von Dorilys Erfahrung und Urteilskraft, die sie in diesem Alter schwerlich besitzen konnte. Dorilys fragte: »Bist du gern eine Leronis geworden? Was ist eine Überwacherin?«
»Das wirst du herausfinden, wenn ich dich überwache. Das muß ich tun, ehe ich dich in Laran unterrichte«, antwortete Renata.
»Was hast du im Turm getan?«
»Viele Dinge«, erwiderte Renata. »Metalle an die Erdoberfläche gebracht, damit die Schmiede mit ihnen arbeiten konnten. Batterien für Lampen und Luftwagen aufgeladen; in den Verstärkern gearbeitet, um ohne Stimme mit den Bewohnern anderer Türme zu sprechen – damit das, was in einem Reich geschah, allen bekannt wurde, viel schneller, als ein Bote reiten kann …«
Dorilys lauschte und ließ schließlich einen langen, faszinierten Seufzer vernehmen. »Und wirst du mich lehren, diese Dinge zu tun?« »Vielleicht nicht alle, aber du wirst jene Dinge lernen, die du als Fürstin eines großen Reiches wissen mußt. Und darüber hinaus solche, die alle Frauen wissen sollten, wenn sie ihr Leben und ihren Körper unter Kontrolle haben wollen.«
»Wirst du mir beibringen, Gedanken zu lesen? Donal, Vater und Margali können Gedanken lesen, und ich kann es nicht, und sie können sich unterhalten, und ich kann es nicht hören, und das macht mich zornig, weil ich weiß, daß sie über mich sprechen.«
»Das kann ich dir nicht beibringen, aber wenn du die Begabung hast, kann ich dir beibringen, sie zu nutzen. Du bist noch zu jung, daß man wissen kann, ob du sie hast oder nicht.«
»Werde ich eine Matrix bekommen?«
»Wenn du lernen kannst, sie zu benutzen«, sagte Renata. Sie fand es merkwürdig, daß Margali das Kind noch nicht geprüft und gelehrt hatte, sich auf eine Matrix einzustimmen. Nun, Margali war alt an Jahren. Vielleicht fürchtete sie das, was ihr Zögling — dickköpfig und reifer Urteilsfähigkeit ermangelnd – mit der enormen Kraft der Matrix anstellen würde. »Weißt du, welcher Art dein Laran ist, Dorilys?« Das Kind senkte den Blick »Ein wenig. Du weißt, was bei meiner Verlobung geschah …«
»Nur, daß dein dir versprochener Ehemann plötzlich starb.«
Plötzlich fing Dorilys zu weinen an. »Er ist gestorben – und alle sagten, ich hätte ihn umgebracht, aber das habe ich nicht, Cousine. Ich wollte ihn nicht umbringen – ich wollte ihn nur dazu bringen, die Hände von mir zu nehmen.«
Der Anblick des schluchzenden Kindes erzeugte in Renata den spontanen Impuls, die Arme um Dorilys zu legen und sie zu besänftigen. Natürlich hat sie ihn nicht umbringen wollen! Wie grausam, ein so junges Mädchen Blutschuld ertragen zu lassen! Aber in dem Augenblick, in dem sie sich bewegen wollte, hielt ein intuitiver Gedankenblitz sie zurück.
Wie jung sie auch war, Dorilys besaß ein Laran, das töten konnte. Dieses Laran, in der Hand eines Kindes, das zu jung war, ein vernünftiges Urteil darüber zu fällen … allein der Gedanke daran ließ Renata schaudern. Wenn Dorilys alt genug war, dieses schreckliche Laran zu besitzen, dann war sie auch alt genug — sie mußte einfach alt genug sein –, Kontrolle und angemessene Anwendung zu erlernen. Die Kontrolle des Laran war nicht leicht. Niemand wußte besser als Renata, wie schwierig die harte Arbeit und Selbstbeherrschung, die schon im frühesten Stadium erforderlich waren, sein konnte. Wie sollte ein verzogenes und verwöhntes kleines Mädchen, dessen Wort für ihre Kameraden und die sie anbetende Familie immer Gesetz gewesen war, die Disziplin und innere Motivation finden, diesen schwierigen Pfad zu verfolgen? Vielleicht würde sich auf lange Sicht der Tod, den sie verursacht hatte, im Zusammenhang mit ihren Schuldgefühlen als Glück erweisen. Renata setzte bei ihrem Unterricht nicht gerne Angst ein, aber im Moment wußte sie noch nicht genug über Dorilys, um nicht jeden kleinsten Vorteil in Anspruch zu nehmen, den sie bei der Ausbildung des Mädchens haben konnte.
Also berührte sie Dorilys nicht, sondern ließ sie weinen und betrachtete sie mit einer abgelösten Zärtlichkeit, auf die ihr ruhiges Gesicht und ihr Verhalten nicht den mindesten Hinweis gaben. Schließlich sagte sie – und sprach dabei die erste Lektion aus, die man ihr am Anfang des Unterrichts im Hali-Turm gegeben hatte: »Laran ist eine entsetzliche Gabe und eine entsetzliche Verantwortung. Es ist nicht leicht zu beherrschen. Es liegt an dir, ob du es kontrollieren willst, oder ob es dich kontrolliert. Wenn du bereit bist, hart zu arbeiten, wird der Tag kommen, an dem du die Anweisungen gibst – und nicht deine Kraft. Darum bin ich hier, um dich zu unterrichten, daß solche Dinge nicht wieder passieren.«

»Du bist hier in Aldaran mehr als willkommen«, sagte Lord Aldaran, während er sich in seinem hohen Stuhl nach vom beugte und Allart in die Augen blickte. »Es ist lange her, seit ich die Freude hatte, mich mit jemandem aus unserer Tiefland-Verwandtschaft zu unterhalten. Ich bin sicher, es wird dir hier gefallen. Aber ich rede mir nicht ein, daß der Erbe von Elhalyn eine Aufgabe auf sich nahm, die jeder Friedensmann oder Bannerträger hätte erledigen können, nur um mir eine Ehre zu erweisen, wenn die Elhalyns sich im Krieg befinden. Entweder willst du oder das Elhalyn-Reich etwas von mir, was keineswegs dasselbe sein muß. Willst du mir nicht den Grund deiner wahren Mission nennen, Verwandter?«
Allart wägte ein Dutzend Antworten ab und beobachtete dabei das Spiel des Feuers auf dem Gesicht des alten Mannes. Er wußte, daß es seine Gabe war, die das Gesicht hundert verschiedene Züge tragen ließ: Güte, wilde Wut, verletzten Stolz, Ärger. Hatte seine Mission allein das Ziel, diese Reaktionen in Lord Aldaran hervorzurufen, oder sah er jetzt etwas, das sich später zwischen ihnen ereignen würde?
Schließlich sagte er, jedes Wort abwägend: »Mein Fürst, was Ihr sagt, trifft zu, obwohl es eine Ehre war, mit Eurem Pflegesohn nach Norden zu reiten. Allerdings habe ich es nicht bedauert, in einiger Entfernung von diesem Krieg zu sein.«
Aldaran runzelte die Brauen und sagte: »Ich hätte vermutet, daß du in Kriegszeiten nicht den Wunsch hast, euer Reich zu verlassen. Bist du nicht der Erbe deines Bruders?«
»Sein Regent und Bewacher, Sir, aber ich bin durch Eid gebunden, den Anspruch seiner Nedestro-Söhne zu unterstützen.«
»Mir scheint, du hättest für dich besseres als das tun können«, sagte Dom Mikhail. »Sollte dein Bruder im Feld sterben, solltest du besser geeignet sein, das Reich zu regieren, als irgendein Haufen kleiner Jungen, seien sie nun legitime Söhne oder Bastarde, und ohne Zweifel würde es dein Volk lieber haben. Es gibt ein wahres Sprichwort: Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch! So geht es auch mit einem Reich: In Zeiten wie diesen ist eine starke Hand vonnöten. In Kriegszeiten kann ein jüngerer Sohn – oder einer, dessen Elternschaft ungewiß ist – sich eine Machtstellung erarbeiten, wie zu keiner anderen.«
Allart dachte: Aber ich habe nicht den Ehrgeiz, ein Land zu beherrschen. Allerdings wußte er, daß Lord Aldaran das nie glauben würde. Für Männer seines Schlages war Ehrgeiz für einen Mann, der einem Herrscherhaus angehörte, die einzige legitime Empfindung. Und das ist es, was unsere Welt im Bruderkrieg erzittern läßt … Aber er sagte nichts. Hätte er es getan, hätte Aldaran sofort den Schluß gezogen, er sei weibisch – oder noch schlimmer, ein Feigling. »Mein Bruder und Großfürst meinte, ich könnte meinem Reich mit dieser Mission besser dienen, Sir.«
»Wirklich? Sie muß wichtiger sein, als ich gedacht habe«, sagte Aldaran mit ernstem Blick. »Nun, berichte mir, Verwandter, wenn deine Mission von so großer Bedeutung für Aldaran ist, daß dein Bruder seinen engsten Rivalen schickt!« Er wirkte verärgert und wachsam, und Allart wußte, daß er keinen guten Eindruck gemacht hatte. Als er jedoch zur Sache kam, entspannte Aldaran sich langsam und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Als Allart endete, nickte er und stieß mit einem langen Seufzer die Luft aus.
»Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte«, sagte er. »Ich habe ein bißchen Vorausschau und konnte deine Gedanken ein wenig lesen. Nicht viel; wo hast du gelernt, sie so abzuschirmen? Ich wußte, daß du gekommen bist, um mit mir über den Krieg zu sprechen und hatte schon gefürchtet, ihr wolltet mich wegen der alten Freundschaft, die zwischen deinem Vater und mir bestand, drängen, auf eurer Seite in die Kämpfe einzugreifen. Obwohl ich deinen Vater sehr schätzte, wäre ich diesem Wunsch sehr abgeneigt gewesen. Ich wäre vielleicht bereit, bei der Verteidigung Elhalyns zu helfen, würde man euch hart bedrängen, hätte es aber vermieden, gegen die Ridenows vorzugehen.«
»Solch eine Bitte habe zwar ich nicht geäußert, Sir«, bemerkte Allart, »aber würdet Ihr mir dennoch Euren Grund nennen?«
»Den Grund? Du fragst nach dem Grund? Nun, dann sage mir, Junge«, erwiderte Aldaran, »welchen Groll du gegen die Ridenows hegst?« »Ich persönlich? Keinen, Sir, außer, daß sie einen Luftwagen angriffen, in dem ich mit meinem Vater fuhr, und damit seinen Tod verursacht haben. Die anderen Reiche der Tiefländer sind gegen die Ridenows, seit sie das alte Serrais an sich rissen und sich alle Frauen einverleibt haben.«
»Ist das so schlimm?« frage Aldaran. »Haben die Frauen von Serrais eure Hilfe gegen diese Eheschließungen erbeten oder euch bewiesen, daß sie gegen ihren Willen verheiratet worden sind?«
»Nein, aber …« Allart hielt inne. Er wußte, daß es den Frauen von Hastur nicht erlaubt war, aus ihrer Sippe herauszuheiraten. Als ihm dieser Gedanke kam, griff Aldaran ihn auf und sagte: »Wie ich es mir dachte. Es ist so, daß ihr die Frauen für euch selbst und eure nächste Verwandtschaft wollt. Ich habe gehört, daß die männliche Linie von Serrais ausgelöscht ist; daß es die Inzucht war, die sie vernichtete. Ich weiß genug über sie, um vorherzusagen, daß das Laran der Frauen von Serrais keine hundert Jahre überleben wird, wenn sie wieder in die Hastur-Sippe einheirateten. Sie brauchen neues Blut in dieser Familie. Die Ridenows sind gesund und fruchtbar. Den Serrais-Frauen könnte nicht besseres geschehen, als daß die Ridenows sie nehmen.« Allart wußte, daß sein Gesicht seine Abscheu verriet, obwohl er sie zu verbergen suchte. »Wenn Ihr ein offenes Wort vergebt, Sir, ich halte es für abstoßend, über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen nur in den Begriffen dieses verfluchten Zuchtprogramms zu sprechen.« Aldaran schnaubte. »Aber du findest es angebracht, die Serrais-Frauen immer wieder an Hasturs, Elhalyns und Aillards zu verheiraten? Heißt das nicht auch, sie wegen ihres Laran zu züchten? Wieviel fruchtbare Söhne sind den Serrais in den letzten vierzig Jahren geboren worden? Komm, komm, glaubst du, die Fürsten von Thendara dächten auch nur daran, zu versuchen, die Reinheit der Serrais’ zu erhalten? Du bist jung, aber so naiv kannst du kaum sein. Die Hastur-Sippe würde Serrais eher aussterben lassen, als zu gestatten, daß Fremde sich in die Fortpflanzung einschalten. Aber die Ridenows haben nun einmal andere Vorstellungen. Und das ist für Serrais die einzige Hoffnung – ein paar neue Gene! Wenn ihr klug wärt, würdet ihr sie willkommen heißen und durch Ehebande an eure eigenen Töchter binden.«
Allart war schockiert. »Die Ridenows – in die Hastur-Sippe einheiraten? Sie haben keinen Anteil am Blut von Hastur und Cassilda.«
»Ihre Söhne werden ihn haben«, sagte Aldaran barsch, »und mit neuem Blut kann das alte Serrais-Geschlecht überleben, statt sich in die Unfruchtbarkeit hineinzuzüchten, wie es die Aillards in Valeron tun, und wie einige der Hasturs es schon getan haben. Wie viele Emmasca sind in den letzten hundert Jahren bei den Hasturs von Carcosa geboren worden, oder bei denen von Elhalyn oder Aillard?«
»Zu viele, fürchte ich.« Gegen seinen Willen mußte Allart an die Knaben denken, die er im Kloster gekannt hatte: Emmasca, weder männlich noch vollständig weiblich; steril, manche mit anderen Mängeln. »Aber ich habe dieses Gebiet nicht gründlich studiert.«
»Aber du maßt dir an, dir eine Meinung darüber zu bilden?« Aldaran runzelte erneut die Brauen. »Ich habe gehört, du hast eine AillardTochter geheiratet. Wie viele gesunde Söhne und Töchter habt ihr? Warum frage ich überhaupt danach? Hättest du welche, wärst du kaum bereit, den Bastarden eines anderen Mannes Gefolgstreue zu schwören.«
Verletzt gab Allart zurück: »Meine Frau und ich sind vor weniger als einem halben Jahr miteinander verheiratet worden.«
»Wie viele gesunde, legitime Söhne hat dein Bruder? Komm, komm, Allart, du weißt so gut wie ich: Wenn eure Gene überleben, tun sie es im Blut eurer Nedestro-Kinder, genau wie die meinen. Meine Frau war eine Ardais und hat mir nicht mehr lebende Kinder geboren, als deine Aillard-Frau dir wahrscheinlich schenken wird.«
Allart senkte den Blick und dachte in einer Aufwallung von Kummer und Schuldbewußtsein: Es ist kein Wunder, daß sich die Männer unseres Geschlechts Riyachiyas und ähnlichen Perversionen zuwenden. Zwischen dem Schuldgefühl über das, was wir ihnen antun, und der Angst davor, was ihnen passieren kann, können wir an unseren Frauen wenig Freude haben.
Aldaran sah den Widerstreit der Gefühle auf dem Gesicht des jungen Mannes und besänftigte ihn: »Schon gut, es gibt keinen Grund zu streiten, Verwandter. Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber wir haben in der Sippe von Hastur und Cassilda ein Zuchtprogramm verfolgt, daß unser Blut mehr in Gefahr gebracht hat, als irgendwelche räuberischen Emporkömmlinge es könnten – und Heilmittel können merkwürdige Gestalten annehmen. Mir scheint, die Ridenows werden das Heilmittel der Serrais sein – wenn deine Leute in Elhalyn sie nicht daran hindern. Aber das hilft uns jetzt nicht weiter. Sag deinem Bruder, daß ich, selbst wenn ich es wünschte, in keiner Weise in den Krieg eingreifen könnte. Ich stehe selbst unter Druck. Ich habe mich mit meinem Bruder Scathfell überwerfen, und mir macht es Sorgen, daß er bislang noch keine Rache gesucht hat. Was heckt er aus? Ich habe hier in Aldaran noch einen schweren Kampf auszufechten, und manchmal scheint es mir, daß die übrigen Bergfürsten wie Kyorebni sind – sie kreisen, warten ab … Ich bin alt. Ich habe keinen rechtmäßigen Erben, überhaupt keinen lebenden Sohn, nicht ein einziges Kind von meinem Fleisch und Blut außer meiner Tochter.«
Allart sagte: »Aber sie ist ein hübsches Kind – und auch gesund, wie es scheint –, und sie besitzt Laran. Wenn Ihr keinen Sohn habt, werdet Ihr gewiß irgendwo einen Schwiegersohn finden, der Euren Besitz erben wird.«
»Das hatte ich gehofft«, sagte Aldaran. »Inzwischen glaube ich, es könnte sogar gut sein, sie mit einem von den Ridenows zu verheiraten, aber das würde die ganze Elhalyn- und Hastur-Familie aufbringen. Es hängt auch davon ab, ob deine Verwandte ihr helfen kann, die Schwellenkrankheit zu überleben. Ich habe drei erwachsene Söhne und eine Tochter auf diese Weise verloren. Als ich versuchte, in ein Geschlecht einzuheiraten, dessen Laran sehr schnell über seine Mitglieder kam, starben die Kinder vor der Geburt oder im Säuglingsalter. Dorilys hat Geburt und Säuglingsalter überlebt, aber mit ihrem Laran, so fürchte ich, wird sie die Jugend nicht überstehen.«
»Die Götter mögen verhüten, daß sie auf diese Weise stirbt! Meine Cousine und ich werden alles tun, was wir können. Heutzutage gibt es viele Methoden, den Tod in der Jugend zu verhindern. Ich selbst bin ihm sehr nahe gewesen.«
»Wenn das so ist«, sagte Aldaran, »bin ich dein demütiger Bittsteller. Was mein ist, steht dir zur Verfügung. Aber ich bitte dich: Bleibt und bewahrt mein Kind vor diesem Schicksal!«
»Ich stehe zu Euren Diensten, Lord Aldaran. Mein Bruder hat mich beauftragt zu bleiben, solange ich Euch von Nutzen sein kann, oder solange, wie es nötig ist, Euch zu überreden, in diesem Krieg neutral zu bleiben.«
»Das verspreche ich dir«, erwiderte Aldaran.
»Dann mögt Ihr über mich verfügen, Lord Aldaran.« Allarts Verbitterung brach plötzlich mit ihm durch. »Wenn Ihr mich nicht zu sehr verachtet, weil ich nicht begierig darauf bin, aufs Schlachtfeld zurückzukehren, der Euch als passender Ort für junge Männer meines Clans erscheint!«
Aldaran beugte sein Haupt. »Ich habe im Zorn gesprochen. Vergib mir. Aber ich habe nicht den Willen, an diesem törichten Krieg in den Tiefländern teilzunehmen, auch wenn ich meine, daß die Hasturs die Ridenows auf die Probe stellen sollten, ehe sie sie in ihre Sippe hineinlassen. Wenn die Ridenows nicht überleben können, verdienen sie es vielleicht gar nicht, im Geschlecht derer von Serrais aufzugehen. Vielleicht wissen die Götter, was sie tun, wenn sie Krieg unter die Menschen schicken und die alten Blutlinien, von Luxus und Dekadenz verweichlicht, aussterben und neue die Oberhand gewinnen oder sich mit den alten vereinen. Vielleicht entsteht daraus neues genetisches Material mit Eigenschaften, deren Überlebensfähigkeit erprobt ist.«
Allart schüttelte den Kopf. »Das mag in den alten Zeiten wahr gewesen sein«, sagte er, »als der Krieg noch wirklich eine Erprobung von Kraft und Mut war, in dem Schwächere nicht überleben und sich fortpflanzen konnten. Ich kann nicht glauben, daß es heute so ist, mein Fürst, wenn Dinge wie Haftfeuer Starke und Schwache gleichermaßen umbringen, und sogar Frauen und Kinder, die sich an den Auseinandersetzungen der Fürsten nicht beteiligen …«
»Haftfeuer!«, wisperte Lord Aldaran. »Stimmt es also, daß sie angefangen haben, Haftfeuer zu benutzen? Aber sie können es sicher nur in geringem Umfang einsetzen. Das Rohmaterial ist schwer aus der Erde zu fördern und verrottet sehr schnell, sobald es der Luft ausgesetzt ist.« »Es wird von Matrix-Kreisen in den Türmen hergestellt, mein Fürst. Das ist ein Grund dafür, daß ich begierig war, die Kriegszone zu verlassen. Ich wäre nicht ins Gefecht geschickt worden, aber sie hätten mich dazu gebracht, den teuflischen Stoff herzustellen.« Allart schloß die Augen, als wolle er das Unerträgliche ausschließen.
»Sind sie denn alle verrückt unterhalb des Kadarin? Ich hatte gedacht, schiere Vernunft würde sie vor Waffen zurückschrecken lassen, die Eroberer und Bezwungene gleichermaßen zerstören! Ich kann schwerlich jemanden für einen Ehrenmann halten, der solch entsetzliche Waffen auf seine Verwandten losläßt«, sagte Aldaran. »Bleib hier, Allart. Die Götter mögen es unterbinden, daß ich einen Mann zu solch ehrloser Kriegsführung zurücksende.« Sein Gesicht verzog sich. »Vielleicht, wenn die Götter gnädig sind, werden sich alle, die Krieg führen, sich gegenseitig auslöschen, wie die Drachen aus der Legende, von denen sich jeder im Feuer des anderen verzehrte und es seinen Opfern überließ, auf dem verbrannten Boden neu zu bauen.

16

Mit gesenktem Kopf eilte Renata über den Innenhof von Aldaran. In Gedanken versunken lief sie gegen jemanden, murmelte eine Entschuldigung und wollte weitereilen. Plötzlich spürte sie, wie sie festgehalten wurde.
»Warte einen Moment! Ich habe dich kaum gesehen, seit ich hier bin«, sagte Allart.
Renata blickte auf und sagte: »Bereitest du dich auf die Rückkehr in die Tiefländer vor, Cousin?«
»Nein, Fürst Aldaran hat mich zum Bleiben eingeladen, damit ich Donal etwas von dem beibringe, was ich in Nevarsin gelernt habe«, erwiderte Allart. Dann, als er ihr voll ins Gesicht blickte, zog er bestürzt den Atem ein. »Cousine, was macht dir Sorgen? Was ist denn so entsetzlich?« Renata sah ihn verwirrt an und antwortete: »Wieso … Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Als sie in engste Verbindung mit ihm trat, sah sie sich durch seine Augen. Sie war angespannt und bleich, ihr Gesicht in Kummer und Besorgnis verzogen.
Bin ich so, oder werde ich so sein? In plötzlicher Angst klammerte sie sich an ihn, und Allart beruhigte sie sanft.
»Verzeih mir, Cousine, daß ich dich so erschreckt habe. Allmählich spüre ich, daß vieles von dem, was ich sehe, tatsächlich nur in meinen Ängsten existiert. Sicher gibt es hier nichts Erschreckendes, oder? Oder ist die Damisela Dorilys wirklich so ein Ungeheuer, wie die Diener erzählen?«
Renata lachte, sah aber immer noch besorgt aus. »Nein, wirklich nicht. Sie ist das liebste, süßeste Kind, und hat mir bisher nur ihre fügsamste und liebevollste Seite gezeigt. Aber – oh, Allart, es stimmt! Ich ängstige mich um sie. Sie hat ein wirklich schreckliches Laran, und ich fürchte mich vor dem, was ich ihrem Vater sagen muß! Ich kann gar nicht anders, als ihn zornig stimmen.«
»Ich habe sie nicht mehr als ein paar Minuten gesehen«, sagte Allart. »Donal erklärte mir, wie er die Spielzeug-Gleiter kontrolliert, und sie kam herunter und bettelte, mit uns fliegen zu dürfen. Donal sagte, sie müsse Margali fragen, er würde nicht die Verantwortung dafür übernehmen, sie mitmachen zu lassen. Sie war sehr verärgert und ging verdrossen davon.«
»Aber sie hat sich ihm nicht widersetzt?«
»Nein«, antwortete Allart. »Sie zog einen Schmollmund und sagte, daß er sie nicht liebe, aber sie gehorchte ihm. Ich würde sie auch nicht fliegen lassen, ehe sie nicht eine Matrix kontrollieren kann, aber Donal sagte, ihm hätte man schon mit neun Jahren eine gegeben, und er habe es ohne Schwierigkeiten gelernt. Offenbar kommt das Laran schon in frühen Jahren zu den Angehörigen der Delleray-Sippe.«
»Oder zu denen von Rockraven«, bemerkte Renata. Sie wirkte noch immer besorgt. »Ich würde Dorilys jetzt noch keine Matrix anvertrauen; vielleicht niemals. Aber darüber werde ich später sprechen. Lord Aldaran will mich empfangen. Und ich darf ihn nicht warten lassen.« »Nein, das darfst du wirklich nicht«, bestätigte Allart, und Renata überquerte grübelnd den Hof.
Vor dem Empfangszimmer von Lord Aldaran stieß sie auf Dorilys. Das Mädchen sah heute beherrschter und zivilisierter aus. Ihr Haar war sorgsam zu Zöpfen geflochten, und sie trug eine bestickte Schürze. »Ich möchte hören, was du meinem Vater über mich sagst, Cousine«, sagte sie und ließ ihre Hand vertrauensvoll in die Renatas gleiten. Renata schüttelte den Kopf. »Es ist für kleine Mädchen nicht gut, den Beratungen der Älteren zuzuhören«, sagte sie. »Ich muß viele Dinge sagen, die du nicht verstehen würdest. Ich gebe dir mein Wort, daß dir alles, was dich betrifft, erzählt werden wird, wenn es an der Zeit ist. Aber jetzt ist es noch nicht so weit, Dorilys.«
»Ich bin kein kleines Mädchen«, sagte Dorilys und schürzte die Lippen. »Dann solltest du dich auch nicht so benehmen, und weder schmollen noch mit dem Fuß aufstampfen, als seist du erst fünf Jahre alt! Das wird mich sicher nicht davon überzeugen, daß du alt genug bist, um Gesprächen über deine Zukunft zuzuhören.«
Dorilys wirkte aufsässiger denn je. »Was glaubst du, wer du bist, daß du so mit mir sprichst? Ich bin eine Lady Aldaran!«
»Du bist ein Kind, das eines Tages die Lady Aldaran sein wird«, bemerkte Renata nüchtern, »und ich bin die Leronis, die dein Vater für geeignet hält, mit der Pflicht betraut zu werden, dir das Benehmen beizubringen, das deinem hohen Rang angemessen ist.«
Dorilys zog ihre Hand zurück und starrte trotzig zu Boden. »Ich will nicht, daß man so mit mir spricht! Ich werde mich bei meinem Vater über dich beschweren, und er wird dich wegschicken, wenn du nicht freundlich zu mir bist!«
»Du kennst die Bedeutung des Wortes Unfreundlichkeit nicht«, sagte Renata milde. »Als ich als Novizin in den Turm von Hali eintrat, um die Kunst einer Überwacherin zu erlernen, durfte vierzig Tage lang niemand mit mir sprechen und mir in die Augen blicken. Das diente dazu, die Verläßlichkeit meines Laran zu stärken.«
»Damit hätte ich mich nicht abgefunden«, sagte Dorilys. Renata lächelte.
»Dann hätte man mich mit dem Wissen nach Hause geschickt, daß ich nicht die Kraft und Selbstdisziplin besäße, das zu lernen, was ich lernen mußte. Ich werde nie unfreundlich zu dir sein, Dorilys, aber du mußt, bevor du anderen Befehle erteilen kannst, erst einmal lernen, dich selbst zu beherrschen.«
»Aber bei mir ist das anders«, wandte Dorilys ein. »Ich bin eine Lady Aldaran, und befehle schon jetzt allen Frauen im Schloß – und auch den meisten Männern. Du bist nicht die Lady deines Reiches, nicht wahr?« Renata schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin eine Turm-Überwacherin. Und selbst ein Bewahrer wird so erzogen. Du bist dem Freund deines Bruders, Allart, begegnet. Er ist Regent von Elhalyn, und doch schlief er in Nevarsin drei Winter nackt auf Stein und hat in der Gegenwart eines ihm übergeordneten Mönchs nie ein Wort gesagt.« »Das ist schrecklich!.« Dorilys verzog das Gesicht.
»Oh nein. Wir unterwerfen uns diesen Übungen freiwillig, weil wir wissen, daß sie nötig sind, Körper und Geist dahingehend zu erziehen, uns zu gehorchen, damit das Laran uns nicht zerstört.«
»Wenn ich dir gehorche«, fragte Dorilys verschmitzt, »wirst du mir dann eine Matrix geben und mich lehren, sie zu benutzen, damit ich mit Donal fliegen kann?«
»Das werde ich, sobald ich glaube, daß man sie dir anvertrauen kann, Chiya«, antwortete Renata.
»Aber ich will sie jetzt«, beharrte Dorilys.
Renata schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Und jetzt geh auf dein Zimmer zurück, Dorilys. Ich werde zu dir kommen, wenn ich mit deinem Vater fertig bin.«
Sie sprach bestimmt, und Dorilys schien ihr zu gehorchen. Aber dann, nach wenigen Schritten, wirbelte sie herum und stampfte zornig mit dem Fuß auf.
»Du wirst die Befehlsstimme nicht noch einmal gegen mich benutzen!«
»Ich werde tun, was ich für angemessen halte«, sagte Renata unbewegt. »Dein Vater hat dich mir anvertraut. Muß ich ihm erzählen, daß du ungehorsam bist, und ihn bitten, dir zu befehlen, daß du mir in allen Fragen gehorchst?«
Dorilys fuhr zurück. »Nein, bitte – erzähl Vater nicht davon, Renata!«
»Dann gehorche mir sofort«, wiederholte Renata und benutzte noch einmal die Befehlsstimme. »Geh zurück und sag Margali, daß du ungehorsam gewesen bist, und bitte sie, dich zu bestrafen.«
Dorilys’ Augen füllten sich mit Tränen. Sie verließ zögernd den Hof, und Renata atmete erleichtert auf.
Wie hätte ich sie zu gehorchen gezwungen, wenn sie sich geweigert hätte? Der Tag wird kommen, an dem sie sich weigert – und ich muß darauf vorbereitet sein!
Mit aufgerissenen Augen starrte eine Dienerin, die den kleinen Wortwechsel beobachtet hatte, sie an. Unwillkürlich nahm Renata die Gedanken der Frau auf: Ich habe meine kleine Lady nie so gehorchen sehen … ohne ein Wort des Widerspruchs.
Also ist es das erste Mal, daß sie gegen ihren Willen gehorcht hat, dachte Renata. Margali – das wußte sie – würde Dorilys nur milde bestrafen und ihr auftragen, lange und uninteressante Säume an Röcken und Unterröcken zu nähen, während sie die Stickrahmen nicht anrühren durfte. Es wird unserer kleinen Lady nicht schaden, zu lernen, daß es Pflichten zu erledigen gibt, zu denen man weder Lust noch Begabung hat.
Aber die Auseinandersetzung hatte Renatas Willen für das gestärkt, was bei diesem schwierigen Treffen mit Lord Aldaran bevorstand. Sie war dankbar, daß er zugestimmt hatte, sie in dem kleinen Studio zu empfangen, wo er seine Briefe schrieb und den Coridom über die Geschäfte seiner Ländereien prüfte, statt in dem formellen Empfangszimmer. Er diktierte gerade seinem Privatsekretär, hörte aber auf, als sie eintrat, und schickt den Mann hinaus. »Nun, Damisela, wie kommt Ihr mit meiner Tochter zurecht? Ist sie folgsam und gehorsam? Sie ist dickköpfig, aber sehr süß und liebevoll.«
Renata lächelte schwach. »In diesem Augenblick ist sie nicht sehr liebevoll, fürchte ich«, sagte sie. »Ich mußte sie bestrafen und zu Margali schicken, damit sie eine Weile über ihren Nähsachen sitzt und zu denken lernt, bevor sie redet.«
Lord Aldaran seufzte. »Ich vermute, kein Kind kann ohne ein gewisses Maß an Strafe aufgezogen werden«, sagte er. »Ich habe Donals Hauslehrern die Erlaubnis gegeben, ihn zu schlagen, wenn es sein mußte, aber ich war weniger streng mit ihm, als mein Vater mit mir, denn ich verbot ihnen, ihn so zu schlagen, daß er blaue Flecken davonträgt. Als ich ein Junge war, wurde ich oft so geschlagen, daß ich tagelang nicht sitzen konnte. Aber Ihr werdet es nicht nötig haben, meine Tochter zu schlagen, hoffe ich.«
»Ich würde lieber darauf verzichten«, erwiderte Renata. »Ich war immer der Ansicht, daß einsame Meditation über einer langwierigen und langweiligen Aufgabe Strafe genug für schlechtes Benehmen ist. Und doch wünschte ich, Ihr würdet Dorilys einmal sagen, was Ihr mir gesagt habt, mein Fürst. Sie scheint zu glauben, daß ihr Rang sie von Bestrafung und Disziplin befreit.«
»Ihr würdet es gern sehen, wenn ich ihr erzähle, daß meine Hauslehrer die Erlaubnis hatten, mich zu schlagen, als ich ein Junge war?« Lord Aldaran lachte glucksend. »Sehr gut, ich werde es tun, um sie auf diese Weise daran zu erinnern, daß selbst ich lernen mußte, mich zu beherrschen. Aber seid Ihr nur deswegen gekommen, Lady? Ich hatte gedacht, Ihr hättet das ohnehin vorausgesetzt, als ich sie in Eure Obhut gab.« »Das tat ich auch«, sagte Renata. »Aber ich habe mit Euch etwas weit Ernsteres zu besprechen. Ihr habt mich hierher geholt, weil Ihr die Stärke des Laran Eurer Tochter fürchtet, nicht wahr? Ich habe sie sorgfältig überwacht, Körper und Gehirn; sie steht noch einige Monate vor der Pubertät, schätze ich. Bevor sie eintritt, möchte ich die Erlaubnis erbitten, Euch zu untersuchen, mein Fürst, und Donal ebenso.« Lord Aldaran hob neugierig die Brauen. »Darf ich fragen, warum, Damisela?«
»Margali hat mir bereits alles berichtet, an was sie sich in bezug auf Alicianes Schwangerschaft und Niederkunft erinnern kann«, gab Renata zur Antwort. »Also weiß ich einiges von dem, was Dorilys von ihrer Mutter erbte. Aber auch Donal trägt die Erbschaft der Rockravens, und ich würde gerne erfahren, welche rezessiven Merkmale Dorilys möglicherweise besitzt. Es ist einfacher, Donal zu untersuchen, als ins Protoplasma zu dringen. Das gleiche gilt für Euch, mein Fürst, da Dorilys nicht nur Eure, sondern auch die Erbschaft Eures gesamten Geschlechts trägt. Ich würde gern Zutritt zu Euren Ahnentafeln haben, damit ich erkennen kann, ob es in Eurem Geschlecht Spuren bestimmter Arten von Laran gibt.«
Lord Aldaran nickte. »Ich kann verstehen, daß Ihr mit solchem Wissen gewappnet sein solltet«, stimmte er zu. »Ihr könnt dem Kustos der Aldaran-Archive sagen, daß ich Euch Zugang zu allen Aufzeichnungen gewähre. Glaubt Ihr, daß sie die Schwellenkrankheit überleben wird?« »Das werde ich Euch sagen, wenn ich mehr von dem weiß, was in ihren Genen und ihrer Erbschaft enthalten ist«, antwortete Renata. »Ich werde für sie tun, was ich kann, und Allart ebenso. Aber ich muß wissen, was mir bevorsteht.«
»Nun, ich habe eigentlich keine Einwendungen dagegen, untersucht zu werden«, sagte Lord Aldaran, »obwohl es sich um eine Technik handelt, mit der ich nicht vertraut bin.«
»Untersuchungsmethoden dieser Art wurden für die auf höheren Ebenen arbeitenden Matrixkreise entwickelt«, erklärte Renate. »Als wir sie für diesen Zweck angewandt hatten, fanden wir heraus, daß sie auch anderen Nutzen haben.«
»Was muß ich also tun?«
»Nichts«, erwiderte Renata. »Macht Euren Geist einfach so ruhig und entspannt, wie Ihr könnt, und versucht, an gar nichts zu denken. Vertraut mir. Ich werde nicht in Eure Gedanken eindringen, sondern nur in Euren Körper und seine tief erliegenden Geheimnisse.«
Aldaran zuckte die Schultern. »Wann immer Ihr wollt«, meinte er lakonisch.
Renata streckte ihre geistigen Fühler aus und begann den langsamen Überwachungsprozeß. Zuerst kontrollierte sie seine Atmung, seinen Kreislauf, dann ging sie immer tiefer in die Zellen des Körpers und Gehirns. Nach einem langen Zeitraum zog sie sich behutsam zurück und dankte ihm, aber sie sah besorgt und geistesabwesend dabei aus. »Wie lautet das Urteil, Damisela?«
»Ich würde lieber warten, bis ich die Archive gesehen und Donal untersucht habe«, sagte Renata, verbeugte sich vor ihm und verließ das Zimmer.

Einige Tage später ließ Renata Lord Aldaran fragen, ob er sie noch einmal empfangen könne.
Als sie ihn diesmal traf, verschwendete sie keine Worte. »Mein Fürst, ist Dorilys Euer einziges lebendes Kind?« »Ja, das habe ich Euch doch gesagt.«
»Ich weiß, daß sie das einzige Kind ist, das ihr anerkennt. Aber ist das nur so dahingesagt, oder ist es die buchstabengetreue Wahrheit? Habt Ihr irgendwelche nicht anerkannten Bastarde, uneheliche Kinder, überhaupt irgendein Kind von Eurem Blut?«
Betrübt schüttelte Aldaran den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Nicht eines. Ich hatte aus meiner ersten Ehe einige Kinder, aber sie starben in den Jugendjahren an der Schwellenkrankheit. Und Deonaras Babys starben alle, bevor sie entwöhnt waren. In meiner Jugend habe ich da und dort ein paar Söhne gezeugt, aber keiner überlebte seine Kindheit. So weit ich weiß, trägt auf der Oberfläche dieser Welt allein Dorilys mein Blut.«
»Ich will Euch nicht erzürnen, Lord Aldaran«, sagte Renata, »aber Ihr solltet sofort einen anderen Erben bekommen.«
Er blickte sie an, und sie sah Bestürzung und Furcht in seinen Augen. »Wollt Ihr mich davor warnen, daß auch Dorilys die Jugend nicht überlebt?«
»Nein«, sagte Renata. »Es gibt guten Grund zu hoffen, daß sie sie überleben wird. Sie kann sogar ein wenig telepathisch werden. Aber Euer Erbe sollte nicht allein auf ihr ruhen. Sie könnte – wie Aliciane – die Geburt eines einzelnen Kindes überleben. Ihr Laran ist, soweit ich erkennen kann, geschlechtsspezifisch; es gibt nur wenige Gaben, die das sind. In Jungen ist es rezessiv. Donal besitzt die Fähigkeit, Luftströme und Luftdruck zu erkennen, die Winde zu fühlen und die Bewegungen des Sturms zu spüren. Er kann sogar Blitze ein wenig kontrollieren, auch wenn er sie nicht anziehen oder erzeugen kann. Aber diese Gabe ist in weiblichen Wesen dominant. Dorilys könnte die Geburt eines Sohnes überleben. Aber nicht die Geburt einer Tochter, die schon vor der Geburt mit einem solchen Laran begabt ist. Auch Donal sollte ermahnt werden, nur Söhne zu zeugen, es sei denn, er wollte ihre Mütter vom Laran ihrer ungeborenen Töchter zerschmettert sehen.«
Aldaran dachte einige Zeit darüber nach. Schließlich sagte er, das Gesicht grau vor Pein: »Wollt Ihr damit sagen, daß Dorilys Aliciane getötet hat?«
»Ich hatte gedacht, Ihr wüßtet das. Das ist ein Grund dafür, weswegen die Rockraven-Gabe aus dem Zuchtprogramm herausgelassen wurde. Einige ihrer Töchter, die selbst nicht die volle Kraft dieses Laran besaßen, müssen es an ihre Töchter weitergegeben haben. Ich glaube, daß Aliciane eine von diesen war. Und Dorilys hat das volle Laran … Während ihrer Geburt – sagt mir – gab es da einen Sturm?«
Aldaran spürte, wie sein Atem stockte, als er sich ins Gedächtnis rief, wie Aliciane voll Entsetzen aufgeschrien hatte: »Sie haßt mich! Sie will nicht geboren werden!«
Dorilys hat ihre Mutter getötet! Sie hat mein Liebstes, meine Aliciane getötet … Verzweifelt um ein gerechtes Urteil bemüht sagte er: »Sie war ein neugeborenes Kind! Wie könnt Ihr ihr eine Schuld vorwerfen?«
»Schuld? Wer spricht von Schuld? Die Emotionen eines Kindes sind unkontrolliert. Sie haben keine Übung, und die Geburt ist entsetzlich für ein Kind. Wußtet Ihr das nicht, mein Fürst?«
»Natürlich! Ich war jedesmal anwesend, wenn Deonaras Babys zur Welt kamen«, sagte er, »aber ich konnte sie in gewissem Maße beruhigen.« »Aber Dorilys war stärker als die meisten Säuglinge«, sagte Renata, »und in ihrer Angst und in ihrem Schmerz schlug sie zu – und Aliciane starb. Sie weiß das nicht; ich hoffe, sie wird es nie erfahren. Aber da Ihr es wißt, könnt Ihr verstehen, warum es unsicher ist, sich allein auf sie zu verlassen, um Euer Blut an künftige Generationen weiterzugeben. Für Dorilys würde es in der Tat sicherer sein, nie zu heiraten. Auch wenn ich sie, sobald sie eine Frau wird, lehren werde, auf welche Weise man nur Söhne empfängt.«
»Hätte Aliciane doch dieses Wissen gehabt«, sagte Lord Aldaran mit tiefer Bitterkeit. »Ich habe nicht gewußt, daß man das steuern kann.« »Die Technik wird nicht allgemein gelehrt«, sagte Renata, »obwohl die, die Riyachiyas züchten, wissen, wie man ausschließlich weibliche Nachkommen erzeugt. Man hat das aus Angst vor den nur auf Söhne spekulierenden Fürsten großer Reiche gelehrt, um zu verhindern, daß das Gleichgewicht der Natur dadurch umgestoßen wird, daß zu wenig Mädchen geboren werden. Aber ich glaube, in einem Fall wie diesem, wo ein so schreckliches Laran die Ungeborenen treffen kann, ist es gerechtfertigt. Ich werde Dorilys unterrichten, und auch Donal, wenn er möchte.«
Der alte Mann senkte das Haupt. »Was soll ich tun? Sie ist mein einziges Kind.«
»Lord Aldaran«, sagte Renata ruhig, »ich hätte gern Eure Erlaubnis, Dorilys’ Laran noch in der Jugend auszubrennen, wenn ich es für nützlich halte, und ihre Psi-Zentren im Gehirn zu zerstören. Es könnte ihr Leben retten – oder ihren Verstand.«
Entsetzt starrte er sie an. »Würdet Ihr ihren Geist zerstören?« »Nein. Aber sie wäre frei von Laran«, antwortete Renata.
»Ungeheuerlich! Ich weigere mich absolut!«
»Mein Fürst«, sagte Renata mit verzerrtem Gesicht, »ich beschwöre Euch. Wäre Dorilys ein Kind meines eigenen Leibes, würde ich Euch um dasselbe bitten. Wißt Ihr, daß sie dreimal getötet hat?«
»Dreimal? Dreimal? Aliciane und Darren, den Sohn meines Bruders – aber das geschah zu Recht. Er versuchte, sie zu vergewaltigen!« Renata nickte. Dann sagte sie: »Sie war vorher schon einmal verlobt. Und der Junge ist gestorben, oder nicht?«
»Ich dachte, es sei ein Unfall gewesen.«
»Nun, das war es auch«, sagte Renate. »Dorilys war noch nicht einmal sechs Jahre alt. Sie wußte nur, daß er ihre Puppe kaputt gemacht hatte. Sie hat es aus ihrem Geist verdrängt. Als ich sie zwang, sich daran zu erinnern, hat sie so erbärmlich geweint, daß es Zandrus Herz hätte zum Schmelzen bringen können. Bisher schlägt sie nur in wilder Angst zu. Ich glaube, sie hat nicht einmal den Verwandten, der sie zu vergewaltigen versuchte, bewußt getötet. Sie hatte keine Kontrolle über sich. Dorilys konnte nicht betäuben, nur töten. Und das wird sie vielleicht wieder tun. Ich weiß nicht, ob irgendein Mensch ihr ausreichende Kontrolle über dieses Laran beibringen kann. Ich würde sie nicht mit Schuld beladen, wenn sie in einem Augenblick der Panik erneut zuschlägt.« Renata zögerte. Schließlich fuhr sie fort: »Es ist bekannt, daß Macht den Charakter verdirbt. Schon jetzt weiß sie, daß niemand wagt, ihr den Gehorsam zu verweigern. Sie ist starrköpfig und eingebildet. Vielleicht gefällt ihr, zu wissen, daß jeder sie fürchtet. Ein Kind an der Schwelle zur Jugend hat viele Sorgen. In dieser Zeit mögen Mädchen weder ihr Gesicht noch ihren Körper oder die Farbe ihres Haars. Sie glauben, daß die anderen sie nicht mögen, weil sie von Ängsten geplagt werden, die sie nicht lokalisieren können. Wenn Dorilys sich mit dem Wissen um ihre Macht für diese Ängste entschädigt – nun, ich weiß, ich hätte unter diesen Umständen Angst vor ihr!«
Aldaran starrte auf den Boden des Zimmers. Er war schwarz und weiß und zeigte ein eingelegtes Vogelmosaik. »Ich kann nicht einwilligen, daß ihr Laran zerstört wird, Renata. Sie ist mein einziges Kind.« »Dann, mein Fürst«, sagte Renata nüchtern, »solltet Ihr wieder heiraten und Euch einen anderen Erben verschaffen, ehe es zu spät ist. In Eurem Alter solltet Ihr keine Zeit verlieren.«
»Glaubt Ihr etwa, ich hätte es nicht versucht?« fragte Aldaran. Dann erzählte er zögernd von seinem Fluch.
»Mein Fürst, gewiß weiß ein Mann von Eurer Intelligenz, daß ein solcher Fluch auf Eurem Geist und nicht auf Eurer Männlichkeit liegt.« »Das habe ich mir auch gesagt. Aber noch Jahre nach Alicianes Tod habe ich keine Frau begehrt. Nachdem Deonara starb, und mir klar war, daß ich nur ein einziges überlebendes Nedestro-Kind hatte, nahm ich andere in mein Bett. Aber keine erregte mich. Später habe ich dann geglaubt, daß dieser Fluch mich schon getroffen hatte, ehe die Zauberin ihn aussprach, denn auch während Alicianes Schwangerschaft nahm ich keine andere. Für mich war es etwas völlig Neues, ein halbes Jahr lang ohne eine Frau zu verbringen.« Entschuldigend schüttelte er den Kopf. »Verzeiht mit, Damisela. Es ziemt sich nicht, zu einer Frau Euren Alters so zu sprechen.«
»Wenn von solchen Dingen gesprochen wird, bin ich keine Frau, sondern eine Leronis, mein Fürst. Macht Euch darum keine Sorgen. Hat man Euch nie geprüft, Lord Aldaran?«
»Ich habe nicht gewußt, daß so etwas möglich ist.«
»Ich werde es tun, wenn Ihr wollt«, sagte Renata sachlich. »Oder wollt Ihr lieber … Margali gehört zu Eurer Familie und steht Euch an Jahren näher … Wenn es Euch weniger beunruhigen würde …«
Der Mann starrte auf den Boden »Ich würde mich vor einer Fremden weniger schämen, glaube ich«, sagte er leise.
»Wie Ihr wollt.« Renata wurde ganz ruhig und sank tief in die Überwachung von Körper und Gehirn.
Nach einiger Zeit sagte sie bedauernd: »Ihr tragt in der Tat einen Fluch, mein Fürst. Euer Samen trägt keinen Lebensfunken.«
»Ist so etwas möglich? Wußte diese Frau das bereits, oder hat sie verursacht, daß ich … ich …« Seine Stimme erstarb in Zorn und Entsetzen.
Renata sagte ruhig: »Darüber kann ich nichts erfahren, mein Fürst. Es ist möglicherweise anzunehmen, daß Euch das irgendein Feind angetan hat. Obwohl niemand in den Türmen, der eine Matrix trägt, zu so etwas fähig wäre. Wir haben viele Eide gegen den Mißbrauch unserer Kräfte geschworen.«
»Kann es rückgängig gemacht werden? Können die Kräfte der Zauberei nicht wieder verbannen, was sie heraufbeschworen haben?« »Ich fürchte nein, Sir. Vielleicht, wenn es unmittelbar erkannt worden wäre … aber nach so vielen Jahren ist es, fürchte ich, unmöglich.« Aldaran beugte das Haupt. »Dann muß ich zu den Göttern beten, daß sie Dorilys ohne Schaden durch ihre Jugend bringen. Sie allein trägt das Erbe von Aldaran.«
Renata bedauerte den alten Mann. Er hatte heute einige schmerzliche und erniedrigende Wahrheiten erfahren müssen. Sanft sagte sie: »Mein Fürst, Ihr habt einen Bruder, und Euer Bruder hat Söhne. Selbst wenn Dorilys nicht überleben sollte – ich bete wirklich darum, daß Avarra sie vor allem Schaden bewahren möge –, wird das Aldaran-Erbe nicht gänzlich verloren sein. Ich bitte Euch, Sir, versöhnt Euch mit Eurem Bruder.«
Aldarans Augen blitzten in plötzlichem wildem Zorn auf.
»Seid vorsichtig, mein Mädchen! Ich bin dankbar für alles, was Ihr für mein Kind getan habt und tun werdet, aber es gibt einige Dinge, die nicht einmal Ihr mir sagen könnt! Ich habe geschworen, daß ich diese Burg Stein für Stein abtragen werde, bevor sie an einen Sohn Scathfells fällt. Nach mir wird Dorilys hier regieren, oder niemand!«
Grausamer, eingebildeter alter Mann! dachte Renata unwillkürlich. Es würde dir Recht geschehen, wenn es tatsächlich einträfe! Sein Stolz ist stärker als seine Liebe zu Dorilys, sonst würde er ihr dies schreckliche Schicksal ersparen!
Sie verbeugte sich. »Dann ist nichts weiter zu sagen, mein Fürst. Ich werde für Dorilys tun, was ich kann. Aber bitte denkt daran: Die Welt geht weiter, wie sie will, und nicht, wie Ihr oder ich sie weitergehen lassen wollen.«
»Ich bitte Euch, seid nicht zornig. Ich bitte Euch ebenfalls, daß Euer Ärger über einen scharfzüngigen alten Mann die Freundschaft zu meiner Tochter nicht verringert.«
»Nichts könnte das bewirken«, sagte Renata, gegen ihren Willen vom Charme des alten Mannes besänftigt. »Ich liebe Dorilys, und werde sie schützen, so gut ich kann, auch vor sich selbst.«
Als sie Aldaran verlassen hatte, ging sie lange Zeit besorgt durch die Wehranlagen. Sie hatte ein ernstes ethisches Problem zu bewältigen. Dorilys konnte eine Geburt wahrscheinlich nicht überleben. Konnte sie es mit ihrem eigenen strengen Kode in Übereinstimmung bringen, das Mädchen zur Frau werden zu lassen, ohne daß es von diesem schrecklichen Fluch erfuhr? Sollte sie Dorilys vor dem, was ihr bevorstand, warnen?
Erneut erzürnt dachte sie, daß Lord Aldaran lieber ihren Tod akzeptierte, als die Erkenntnis, sein Bruder Scathfell könne sein Reich erben.
Cassilda, gesegnete Mutter des Hastur-Geschlechts, dachte sie. Alle Götter seien gepriesen, daß ich nicht Fürst eines Reiches bin.

17

Der Sommer war schön in den Hellers. Der Schnee wich bis auf die höchsten Gipfel zurück, und selbst am Abend regnete oder schneite es nur wenig.
»Eine wunderschöne Jahreszeit, aber gefährlich, Cousin Allart«, sagte Donal, auf der Spitze der Burg stehend. »Wir haben weniger Brände als die Tieflandreiche, denn bei uns bleibt der Schnee länger liegen. Aber unsere Feuer wüten wegen der Harzbäume länger, und in der Hitze dieser Tage geben sie Öle ab, die sich schnell entzünden, wenn die Sommerblitzstürme toben. Und wenn die Harzbäume in Flammen aufgehen …« Er zuckte die Achseln, breitete die Arme aus, und Allart verstand. Auch er hatte gesehen, wie die leicht brennbaren Bäume Feuer fingen, wie Fackeln aufloderten und dabei Funkenregen von sich warfen, die wie ein flüssiger Regen fielen und den ganzen Wald in Brand setzten.
»Es ist ein Wunder, daß es überhaupt noch Harzbäume gibt, wenn das Jahr für Jahr passiert.«
»Wahrhaftig. Ich glaube, wenn sie weniger schnell wüchsen, würden diese Hügel kahl und die Hellers vom Kadarin bis zur Mauer um die Welt eine Wüste sein. Aber sie wachsen schnell, und die Hügel haben sich nach einem Jahr erholt.«
Während er die Bänder der Fluggurte um seine Taille schnallte, sagte Allart: »Seit ich ein Junge war, habe ich so ein Ding nicht mehr geflogen. Ich hoffe, ich habe es nicht verlernt.«
»Das vergißt man nie«, erwiderte Donal. »Als ich fünfzehn war und an, der Schwellenkrankheit litt, konnte ich fast ein Jahr lang nicht fliegen. Ich war benommen und hatte Orientierungsschwierigkeiten. Als ich wieder gesund war, glaubte ich, das Fliegen verlernt zu haben. Aber mein Körper erinnerte sich, sobald ich in die Luft gehoben wurde.« Allart zog die letzte Schnalle fest. »Müssen wir weit fliegen?« »Wenn wir ritten, wäre es weiter, als die meisten Tiere in zwei Tagen schaffen können. Es geht über Pfade, die fast ausschließlich auf und ab führen. Aber wenn wir wie die Kyorebni fliegen, ist es nur mehr als eine Stunde entfernt.«
»Wäre es nicht einfacher, einen Luftwagen zu nehmen?« Allart fiel ein, daß er in den Hellers keinen gesehen hatte.
Donal antwortete: »Das Volk von Darriel hat mit diesen Dingen experimentiert. Aber unter den hiesigen Gipfeln gibt es zu viele Querströmungen und Böen. Selbst mit einem Gleiter muß man einen Tag zum Fliegen sorgfältig aussuchen und vor Stürmen und Windwechseln auf der Hut sein. Einmal mußte ich stundenlang in einer Felsspalte sitzen und darauf warten, daß ein Sommersturm abklang.« Er lachte in der Erinnerung daran. »Ich kam nach Hause, zerzaust und trübselig wie ein Karnickel, das seinen Bau einem Baumdachs überlassen muß! Aber heute, glaube ich, werden wir nicht solchen Ärger haben. Allart, du bist doch in einem Turm ausgebildet. Kennst du die Leute von Tramontana?«
»Ian-Mikhail von Storn ist dort Bewahrer«, sagte Allart, »und ich habe mit ihnen von Zeit zu Zeit über die Verstärker gesprochen, als ich in Hali war. Aber ich bin nie selbst in Tramontana gewesen.«
»Man hat mich dort immer freundlich aufgenommen. Sie sind, glaube ich, immer froh über Besucher, sitzen wie Falken in ihrem Horst und sehen niemanden zwischen dem Mittsommerfest und der Mittwinternacht. Es wird ihnen ein Vergnügen sein, dich zu begrüßen, Cousin.« »Und mir auch«, sagte Allart. Tramontana war der entfernteste und am weitesten nördlich gelegene der Türme. Er war fast völlig von den anderen isoliert, obwohl seine Arbeiter Botschaften über die Verstärkernetze sandten und Informationen über die Arbeit austauschten, die sie bei der Entwicklung neuer Verwendungszwecke der Matrixwissenschaft geleistet hatten. Ihm fiel ein, daß es die Arbeiter von Tramontana gewesen waren, die die Chemikalien zur Brandbekämpfung entwickelt und erkundet hatten, wo sie in den tiefen Höhlen unter den Hellers gefunden werden konnten und wie sie zu verfeinern waren. Mit den Künsten der Matrix hatten sie neue Verwendungsmethoden entwickelt.
»Haben sie nicht bis zur fünfundzwanzigsten Ebene mit der Matrix gearbeitet?«
»Ich glaube schon, Cousin. Immerhin sind sie dreißig Personen. Tramontana ist vielleicht der am weitesten entfernte Turm, aber nicht der kleinste.«
»Wie sie die Chemikalien beherrschen, ist brillant«, bestätigte Allart, »obwohl ich glaube, daß ich Angst hätte, einiges von dem zu tun, was sie getan haben. Aber ihre Techniker sagen, daß eine SechsundzwanzigEbenen-Matrix nicht gefährlicher als eine der vierten Ebene sei, wenn man einmal die Gitternetze beherrscht. Ich weiß nicht, ob ich mich der Konzentration von fünfundzwanzig anderen Leuten anvertrauen würde.«
Donal lächelte wehmütig. »Ich wünschte, ich wüßte mehr von diesen Dingen. Ich weiß nur, was Margali mir beigebracht hat. Der Tramontana-Kreis hat immer nur wenig Zeit, und ich habe nur selten die Erlaubnis erhalten, mehr als einen Tag dort zu bleiben.«
»Ich glaube, aus dir wäre wirklich ein guter Mechaniker oder Techniker geworden«, sagte Allart. Ihm fiel ein, wie schnell der Junge auf seinen Unterricht angesprochen hatte. »Aber du hast nun mal eine andere Bestimmung.«
»Wahrhaftig. Ich würde meinen Vater und meine Schwester auch nicht verlassen. Sie brauchen mich hier«, gestand Donal. »Schon deswegen wird es viele Dinge geben, die ich nie mit einer Matrix tun werde, weil sie die Sicherheit eines Turms erfordert. Aber ich freue mich, soviel wie möglich gelernt zu haben, und nichts stimmt mich froher als das«, setzte er hinzu, während er die Gurte des aus Leder und Holz konstruierten Gleiters berührte. »Sind wir so weit, Cousin?«
Er trat an den Rand der Brustwehr, schlug mit den langen Lederklappen der Gleiterschwingen, um den Luftstrom zu fassen, trat dann in die Luft hinaus und flog aufwärts. Allart konnte mit ausgestreckten Sinnen gerade den Randbereich des Stromes erfassen. Er trat an die Brustwehrkante und spürte eine innere Verkrampfung, die von der Höhe und dem Anblick des furchterregenden Abgrundes hervorgerufen wurde. Aber wenn ein Junge wie Donal ohne Angst in dieser Höhe fliegen konnte… Er konzentrierte sich auf die Matrix, trat vor, spürte die plötzliche Benommenheit des langen Abwärtsfluges und den Ruck des Stromes, der ihn nach oben trug. Sein Körper fand schnell das Gleichgewicht, paßte sich dem Griff der Gurte an und lehnte sich in die eine und andere Richtung, um die Balance des Spielzeugs zu halten. Er sah Donals Gleiter falkengleich über sich dahinschweben und erwischte einen Aufwind, der ihn hochtrug, bis sie Seite an Seite flogen.
In den ersten Minuten war Allart so mit der Kontrolle des Gleiters beschäftigt, daß er überhaupt nicht nach unten schaute. Sein gesamtes Bewußtsein wurde von der feinen Balancearbeit in Anspruch genommen, vom Druck der Luft und den Energieströmen, die er verschwommen überall um sich fühlen konnte. Irgendwie ließ ihn das an seine Tage in Nevarsin denken, als er zum ersten Mal sein Laran gemeistert und gelernt hatte, menschliche Wesen als Wirbel und Energienetze fließender Ströme zu sehen. Und jetzt spürte er, daß die substanzlose Luft mit den gleichen Energieströmen erfüllt war. Wenn ich Donal viel beigebracht habe, hat er mir als Gegenleistung nicht weniger gegeben, indem er mich die Kontrolle der Luftströmungen und der Energieströme lehrte, die Luft, Land und Wasser durchdringen … Allart hatte diese Luftströmungen vorher nie wahrgenommen; jetzt konnte er sie beinahe sehen, unter ihnen wählen, und auf ihnen reiten, bis zu einer Höhe hinauf, in der die Winde gegen den zerbrechlichen Gleiter knallten, konnte einen wilden Luftstrom entlangjagen, sich einen passenden Strom aussuchen, um wieder hinabzutauchen. Im Gurtzeug liegend und nur einen Bruchteil seines Bewußtseins darauf verwendend, den Gleiter zu kontrollieren, schaute er auf das Bergpanorama hinab.
Unter ihm erstreckte sich eine ruhige Berglandschaft. Hügel um Hügel war von dunklem Wald bedeckt. Hier und da machte er schräg plazierten Baumreihen Platz, die geradlinig über einen Hügel hinwegwuchsen – Nußfarmen oder Pilzplantagen, die inmitten des Waldes lagen. Wo Herden grasten, hatte man den Wald abgeholzt, um Wiesen zu schaffen. Sie waren mit kleinen Hütten übersät, in denen die Hüter lebten, und ab und zu entdeckte er am Lauf eines dahinrasenden Bergstromes ein Wasserrad, mit dessen Kraft man Käse herstellte, oder die Fasern, die – dank der Matrix-Verstärker – aus der Milch gewonnen wurden, nachdem Molke und Quark aus ihr herausgepreßt worden waren. Allart schnupperte den merkwürdigen Geruch einer Filzmühle und den einer anderen, in der Abfall aus der Holzverarbeitung zu Papier gepreßt wurde. Auf einem felsigen Hügel sah er den Eingang eines Höhlensystems, in dem das Schmiedevolk lebte, und den Schein ihrer Feuer, deren fliegende Funken keine Wälder oder bevölkerte Gebiete gefährden konnten. Während sie weiterflogen, wurden die Hügel höher und öder. Allart fühlte, wie Donal seine Gedanken berührte. Der Junge war dabei, sich zu einem kunstfertigen Telepathien zu entwickeln, der Aufmerksamkeit erregen konnte, ohne einen zu beunruhigen. Allart folgte ihm an einem langen Luftstrom entlang hinunter zwischen zwei Hügel, wo die weiße Säule des Tramontana-Turms im Licht der Mittagssonne funkelte. Ein Wächter auf der Turmspitze hob die Hand zum Gruß. Als Donal hinabjagte, die Flügel seines Gleiters zusammenfaltete, auf den Füßen landete, federnd in die Knie sank, sich mit der gleichen Bewegung aufrichtete und die Schwingen wie einen langen Schweif abstreifte, folgte Allart ihm.
Er selbst schien für dieses Spiel allerdings weniger Geschicklichkeit zu besitzen und wurde in einem Wirrwarr aus Gurten und Leinen zu Boden geworfen. Lachend kam Donal auf ihn zu.
»Macht nichts, Cousin. Ich bin selbst viele Male so gelandet«, sagte er, und Allart fragte sich, wie viele Jahre vergangen sein mochten, seit das zum letzten Mal geschehen war. »Komm, Arzi wird deinen Gleiter nehmen und ihn bis zu unserer Rückkehr sicher aufbewahren«, fügte Donal hinzu und wies auf den alten, gebeugten Mann, der neben ihm stand. »Master Donal«, sagte der alte Mann in einem so breiten Dialekt, daß selbst Allart, der die meisten Hellers-Dialekte kannte, Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen, »es ist mir wie immer eine Freude, Euch bei uns begrüßen zu dürfen. Ihr erweist uns eine Ehre, Dom’yn«, setzte er hinzu und schloß Allart in seine ungelenke Verbeugung ein.
Donal sagte: »Das ist mein alter Freund Arzi, der dem Turm schon diente, ehe ich geboren wurde, und mich hier drei- oder viermal im Jahr begrüßte, seit ich zehn Jahre alt wurde. Arzi – mein Cousin, Dom Allart Hastur von Elhalyn.«
» Vai Dom.« Arzis Verbeugung wirkte – tief und ehrerbietig wie sie war – beinahe komisch. »Lord Hastur erweist uns eine Ehre. Ah, das ist ein glücklicher Tag – die Vai Lernyn werden wirklich glücklich sein, Euch begrüßen zu können, Lord Hastur.«
»Nicht Lord Hastur«, sagte Allart freundlich, »nur Lord Allart, mein guter Mann, aber ich danke dir für die Begrüßung.«
»Ah, es ist viele, viele Jahre her, seit ein Hastur zum letzten Mal bei uns war«, sagte Arzi. »Bitte folgt mir, Vai Dom’yn.«
»Sieh, was der Wind uns gebracht hat«, rief eine fröhliche Stimme. Ein junges Mädchen, groß und schlank, mit Haaren so bleich wie der Schnee auf den weit entfernten Gipfeln, kam auf Donal zugelaufen und hielt seine Hände zur Begrüßung ausgestreckt. »Donal, wie wir uns freuen, dich wiederzusehen! Du hast uns einen Gast mitgebracht?«
»Ich freue mich, wieder hier zu sein, Rosaura«, sagte Donal und umarmte das Mädchen, als sei es eine langvermißte nahe Verwandte. Das Mädchen streckte eine Hand aus, um Allart zu begrüßen. Sie schenkte ihm die schnelle Berührung der Telepathen, für die dies natürlicher als die Berührung von Fingerspitzen war. Allart hatte natürlich gewußt, wer sie war, bevor Donal ihren Namen ausgesprochen hatte, aber als sie einander berührten, erhellte ihr Gesicht sich erneut mit einem schnellen Lächeln.
»Oh, du bist doch Allart, der ein halbes Jahr in Hali war. Ich habe natürlich gehört, daß du in den Hellers bist, aber ich hatte keine Ahnung, daß das Schicksal dich zu uns bringen würde, Verwandter. Bist du hergekommen, um mit dem Tramontana-Turm zu arbeiten?« Donal beobachtete die Begegnung verblüfft. »Aber du bist doch noch nie hier gewesen, Cousin«, sagte er zu Allart.
»Das stimmt«, erklärte Rosaura. »Bis zu dieser Stunde hat keiner von uns das Gesicht unseres Verwandten erblickt, aber wir haben ihn in den Verstärkern berührt. Das ist ein glücklicher Tag für Tramontana, Allart! Komm und lerne die anderen kennen.« Rosaura nahm sie mit hinein, und bald waren sie von mehr als einem Dutzend junger Männer und Frauen umringt – einige der anderen waren in den Verstärkern an der Arbeit, andere schliefen nach einer arbeitsreichen Nacht –, die Donal wie einen der ihren begrüßten.
Allarts Gefühle waren gemischt. Er hatte es geschafft, nicht zuviel darüber nachzudenken, was er im Hali-Turm zurückgelassen hatte, und jetzt begegnete er – von Angesicht zu Angesicht – den Leuten, mit denen er durch die Verstärker in Berührung gekommen war. Die ihm bisher lediglich in der schwer zu erfassenden, körperlosen Berührung des Geistes bekannten Personen nahmen nun Gestalt an.
»Kommst du nach Tramontana, um zu bleiben, Cousin? Wir können einen guten Techniker gebrauchen.«
Bedauernd schüttelte Allart den Kopf. »Ich bin woanders verpflichtet, obwohl mich nichts mehr erfreuen würde, denke ich. Aber ich bin lange in Aldaran gewesen, ohne Nachrichten aus der Welt draußen. Was macht der Krieg?«
»Es ist alles beim alten«, sagte Ian-Mikhail, ein schlanker, dunkler, junger Mann mit gelocktem Haar. »Es gab das Gerücht, daß Alaric Ridenow, den sie den Rotfuchs nennen, getötet worden sei, aber es stellte sich als falsch heraus. König Regis ist schwer erkrankt. Prinz Felix hat den Rat einberufen. Sollte er sterben, wäre während der Krönung von Prinz Felix ein weiterer Waffenstillstand nötig – falls er jemals gekrönt werden sollte. Und von deiner eigenen Familie, Allart, kam die Nachricht, daß die Gattin deines Bruders in der ersten Dekade des Rosenmonats einen Sohn geboren hat. Dem Jungen geht es gut, aber Cassilde hat ihre Kräfte noch nicht wiedergewonnen und kann ihn nicht selbst nähren. Man fürchtet, daß sie sich nicht erholen wird. Aber der Junge ist zum Erben deines Bruders ernannt worden.«
»Den Göttern sei Dank. Evanda, die Gnadenreiche, möge über dem Kind lächeln.« Allart sagte den zeremoniellen Satz mit wirklicher Erleichterung.
Jetzt hatte Damon-Rafael einen legitimen Sohn. Es war keine Frage, daß der Rat einem legitimen Bruder den Vorzug vor einem Nedestro-Sohn gegeben hätte.
Und doch sah sich Allart in den auf ihn einstürmenden Möglichkeiten der Zukunft selbst in Thendara gekrönt. Ärgerlich versuchte er, die Tür vor seinem Laran und den unwillkommenen Möglichkeiten zuzuschlagen. Besitze ich etwa doch den Ehrgeiz meines Bruders?
»Und ich«, sagte Rosaura, »habe erst vor drei Tagen in den Verstärkern mit deiner Gattin gesprochen.«
Allarts Herz schien sich schmerzhaft zusammenzupressen. Cassandra! Wie lange war es her, seit er sich ihr Bild vorgestellt hatte? »Wie geht es ihr?«
»Sie scheint wohlauf und zufrieden«, sagte Rosaura. »Du hast wohl gewußt, daß sie zur Überwacherin von Coryns Kreis in Hali ernannt worden ist, oder?«
»Nein, ich habe es nicht gehört.«
»Sie ist eine kraftvolle Telepathin in den Verstärkernetzen. Ich frage mich, wie du es über dich bringen konntest, sie zurückzulassen. Ihr seid noch nicht lange verheiratet, nicht wahr?«
»Nicht einmal ein Jahr«, antwortete Allart. Nein, nicht lange, eine schmerzlich kurze Zeit, um eine geliebte Frau zu verlassen … Er hatte vergessen, daß er sich unter den geübten Telepathen eines Turm-Kreises befand. Einen Moment lang senkten sich die Trennwände seines Geistes, und er sah seinen eigenen inneren Schmerz überall reflektiert. Er sagte: »Das Schicksal des Krieges, nehme ich an. Die Welt wird weitergehen, wie sie will, und nicht, wie du oder ich es gerne hätten.« Er fühlte sich würdevoll und geziert, als er das Klischee aussprach, und die anderen spielten ihm den höflichen, nichtsenthüllenden Nicht-Kontakt vor, das geistige Sich-Abwenden – ganz das höfliche Verhalten unter Telepathen, wenn unbekannte Wahrheiten sich durch Zufall enthüllen. Allart fand erst dann seine Fassung wieder, als Donal von ihrem Auftrag berichtete.
»Mein Vater schickt mich, damit die ersten Feuerchemikalien zur Station im Harzbaumwaldes gebracht werden. Die anderen können mit Packtieren geschickt werden. Wir bauen auf dem Gipfel eine neue Feuerstation.« Das Gespräch wandte sich allgemein der Feuerbekämpfung, der Jahreszeit und den frühen Stürmen zu.
Eine der Leroni nahm Donal mit, um ein Chemikalienpaket zu schnüren, das sie auf den Gleitern transportieren konnten. Rosaura zog Allart zur Seite.
»Ich bedaure die Notwendigkeiten, die dich so früh von deiner Braut getrennt haben, Verwandter – aber wenn du möchtest, und Cassandra in den Verstärkern ist, kannst du mit ihr sprechen.«
Mit dieser Möglichkeit konfrontiert, fühlte Allart, wie sein Herz sich zusammenkrampfte. Er hatte sich gefügt, hatte sich gesagt, daß sie zumindest die grausamste der Zukunftsentwicklungen, die er gesehen hatte, vermeiden würden, wenn er Cassandra nie wiedersah. Aber die Möglichkeit, mit ihr zu sprechen, durfte er nicht übergehen. Die Matrixkammer war wie jede andere: Sie lag unter einem gewölbten Dach und besaß blaue Oberlichter, die eine weiche Strahlung einließen. Allarts Blick fiel auf den Überwachungsschirm, das große Verstärkernetz. Eine junge Frau im weiten Gewand einer Matrixarbeiterin kniete davor. Ihr Gesicht, leer und ruhig, zeigte den abwesenden Blick einer Matrixtechnikerin, deren Geist auf etwas anderes eingestimmt und deren Gedanken in den Verstärkernetzen gefangen waren, die alle Telepathen in den Türmen Darkovers miteinander verbanden.
Allart nahm neben dem Mädchen Platz. Im Innersten war er noch immer beunruhigt.
Was soll ich ihr sagen? Wie kann ich ihr wieder begegnen, selbst auf diese Weise?
Aber die alte Disziplin der rituellen Atemzüge, die den Geist beruhigten, wirkte. Allarts Körper nahm eine mühelose Stellung ein, die er ohne allzu große Ermüdung unendlich lange würde aufrechthalten können. Er warf sich in die –weite, wirbelnde Dunkelheit hinein und fühlte sich wie ein Gleiter über einem tiefen Abgrund. Gedanken wirbelten wie weitentferntes Gerede in einem überfüllten Raum an ihm vorbei. Es war ohne Bedeutung für ihn, da er ihren Ursprung und Zusammenhang nicht wahrnahm. Dann, als er sich des Verstärkernetzes bewußter wurde, spürte er eine wahrnehmbare Berührung: Rosauras Stimme. Hali…
Wir sind hier, was wünscht ihr?
Wenn die Lady Cassandra Aillard-Hastur unter euch ist – ihr Mann ist bei uns in Tramontana und möchte mit ihr sprechen …
Allart, bist du das? So erkennbar wie ihr helles Haar und ihr fröhliches mädchenhaftes Lächeln berührte er Arielle. Ich glaube, daß Cassandra gerade schläft, aber für dich wird sie sich gerne wecken lassen. Bring meiner Cousine Renata Grüße von mir. Ich denke oft an sie. Ich werde Cassandra für dich wecken.
Arielle war fort. Allart befand sich wieder in der schwebenden Stille, Botschaften glitten an ihm vorbei, ohne auf irgendeinen Teil seines Geistes überzugreifen, der sich an sie erinnern oder sie registrieren konnte. Dann, ohne Vorwarnung, war sie da, neben ihm, um ihn herum, eine fast körperliche Anwesenheit … Cassandra!
Allart, mein Geliebter…
Das Zusammenwirken von Tränen, Erstaunen, Unglauben, Wiedervereinigung. Ein zeitloser Moment (drei Sekunden? drei Stunden?) von absoluter, ekstatischer Begegnung, wie eine Umarmung. Es war wie damals, als er sie zum ersten Mal besessen hatte. Er fühlte, wie die Trennwände fielen, fühlte ihren Geist in den seinen eindringen und sich mit ihm vermischen. Die Begegnung wurde zu einer wechselseitigen Hingabe, die noch stärker als die Vereinigung ihrer Körper war. Wortlos, aber vollständig. Allart versank in ihr und fühlte, wie auch Cassandra sich verlor.
Auf dieser Ebene konnte der Kontakt nicht lange aufrechterhalten werden. Allart fühlte, wie er dahinschwand, sich auf normales Denken und normalen Kontakt reduzierte.
Allart, wie bist du nach Tramontana gekommen?
Mit dem Pflegesohn von Aldaran, um die ersten feuerbekämpfenden Chemikalien abzuholen, da die Jahreszeit der Brände bevorsteht. In den Hellers machen sie einem schwer zu schaffen. Er übermittelte ihr ein Bild des langen, ekstatischen Flugs, zeigte ihr das Dahinjagen der Gleiter und wie der Wind an Kopf und Körper vorbeiraste.
Wir haben hier auch Brände gehabt. Der Hali-Turm ist mit Luftwagen und Brandbomben angegriffen worden. Er sah Flammen am Ufer wüten, einen abstürzenden, wie einen Meteor glühenden Luftwagen, den die miteinander verbundenen Hirne von elf Hali-Bewohnern zur Explosion gebracht hatten, die Todesschreie des Piloten, der unter Drogen stand und kaum wußte, was er tat…
Aber du bist in Sicherheit, meine Geliebte?
Ich bin in Sicherheit, auch wenn wir alle erschöpft sind und Tag und Nacht arbeiten … Ich habe viel erlebt, Allart. Ich werde dir viel zu erzählen haben. Wann kommst du zurück?
Das liegt in der Hand der Götter, Cassandra, aber ich werde nicht länger bleiben, als ich muß … Als er die Wort-Gedanken formte, wußte er, daß sie zutrafen. Vielleicht war es klüger, sie nie wiederzusehen. Aber schon konnte er einen Tag voraussehen, an dem er sie wieder in den Armen hielt – und wußte plötzlich, daß er sich nicht von ihr abwenden würde, selbst wenn das seinen Tod bedeutete … und sie würde es auch nicht.
Allart, müssen wir den Eintritt der Aldarans in den Krieg fürchten? Seit du in die Hellers aufgebrochen bist, haben wir das mehr als alles andere gefürchtet.
Nein, Aldaran wird von Streitigkeiten in seiner eigenen Familie in Atem gehalten. Er ergreift für keine Seite Partei. Ich bin hier, um Lord Aldarans Pflegesohn Laran-Unterricht zu erteilen, während Renata sich um seine Tochter kümmert…
Ist sie sehr schön? In Cassandras Gedanken spürte er – unausgesprochen, aber eindeutig – Ärger und Eifersucht. Galten sie Renata oder der ihr unbekannten Tochter Aldarans? Er hörte die unausgesprochene Antwort: Beiden …
Sehr schön, ja … Allart übermittelte heitere, vergnügte Gedanken. Sie ist elf Jahre alt … und keine Frau der Welt, nicht einmal die selige Cassilda in ihrem Schrein, ist auch nur halb so schön wie du, meine Geliebte … Es folgte ein weiterer Augenblick glückseliger, ekstatischer Begegnung, als seien sie mit allen Sinnen eins. Er mußte es unterbrechen. Cassandra würde es, wenn sie als Überwacherin arbeitete, nicht lange aushalten. Langsam und widerwillig ließ er den Kontakt schwinden, aber Geist und Körper waren noch immer von ihr erfüllt, als könne er die Berührung ihres Kusses auf seinem Mund fühlen.
Benommen und erschöpft kehrte Allart ins Bewußtsein der Matrixkammer und seines verkrampften und zitternden Körpers zurück. Nach einer langen Zeit bewegte er sich langsam, stand auf und verließ die Kammer auf Zehenspitzen, um die Arbeiter in den Verstärkernetzen nicht zu stören. Wahrend er die Wendeltreppe hinunterging, fragte er sich, ob er für die Möglichkeit, mit ihr zu sprechen, dankbar sein sollte oder nicht.
Es hat ein neues Band geschmiedet, das besser zerrissen worden wäre. In der langen Begegnung hatte er viele Dinge aufgefangen, die sein Bewußtsein nicht wirklich verstand, aber er fühlte, daß auch Cassandra auf ihre Weise versucht hatte, das Band zu zerreißen. Er war nicht aufgebracht deswegen. Sie waren noch immer verbunden, stärker denn je, durch die Bande der Begierde und Enttäuschung.
Und Liebe? Und Liebe?
Was ist überhaupt Liebe? Allart war nicht sicher, ob das sein eigener Gedanke war, oder einer, den er irgendwie aus dem verstörten Geist seiner Frau aufgefangen hatte.
Am Fuß der Treppe traf er Rosaura. Wenn sie seinen verwirrten Blick und die Tränenspuren überhaupt bemerkt hatte, ging sie zumindest darüber hinweg. Unter Turm-Telepathen, wo man keine starke Empfindung verbergen konnte, gab es bestimmte Höflichkeitsrituale. Sie sagte ziemlich sachlich: »Nach einem Kontakt über solch eine Entfernung wirst du erschöpft und ausgelaugt sein. Komm, Cousin, erfrische dich.«
Donal stieß beim Essen zu ihnen, wie auch ein halbes Dutzend TurmArbeiter, die sich ausruhten. Die Aufhebung der Belastung und das seltene Vergnügen, an ihrem isolierten Aufenthaltsort auf Besucher zu stoßen, hatte alle ein wenig euphorisch gemacht. Allarts Kummer und seine wiederbelebte Sehnsucht nach Cassandra wurden auf einer Welle von Scherzen und Gelächter fortgeschwemmt. Die Speisen waren ihm zwar fremd, aber gut: Es gab süßen, weißen Bergwein, auf ein Dutzend verschiedener Arten zubereitete Pilze und Schwämme, weiche, weiße gekochte Knollen oder Wurzeln, zu kleinen Kuchen gebacken und in duftendem Öl geröstet, aber keinerlei Fleisch. Rosaura erklärte ihm, daß man beschlossen hatte, mit einer Diät ohne Tierfleisch zu experimentieren, um zu sehen, ob das ihre Wahrnehmungsfähigkeit sensibilisierte. Allart erschien das merkwürdig und ein wenig dumm, aber er hatte jahrelang mit einer solchen Diät in Nevarsin gelebt.
»Bevor du gehst: Wir haben eine Nachricht für deinen Pflegevater, Donal«, sagte Ian-Mikhail. »Scathfell hat Botschaften nach Sain Scarp, Storn, Ardais, Scaravel und Castamir gesandt. Ich habe keine Ahnung, um was es sich handelt, aber als oberster Lehnsherr von Scathfell sollte Lord Aldaran davon wissen. Scathfell wollte die Botschaften den Verstärkern nicht anvertrauen, daher fürchte ich, daß es um eine geheime Verschwörung geht. Wir haben Gerüchte über einen Bruch zwischen deinem Vater und Lord Scathfell gehört. Lord Aldaran sollte gewarnt werden.«
Donal wirkte besorgt. »Ich danke dir im Namen meines Pflegevaters. Natürlich wußten wir, daß solche Dinge geschehen würden, aber unsere Leronis ist alt und war von meiner Schwester sehr in Anspruch genommen, vielleicht haben wir deswegen so wenig von Scathfells Plänen gehört.«
»Geht es deiner Schwester gut?« fragte Rosaura. »Wir hätten sie gerne zur Untersuchung hier in Tramontana gehabt.«
»Renata Leynier ist von Hali gekommen, um sich um sie zu kümmern«, sagte Donal, und Rosaura lächelte.
»Renata von Hali? Ich kenne sie aus den Verstärkern. Deine Schwester wird bei ihr gut aufgehoben sein, Donal.«
Es wurde Zeit, sich auf die Rückkehr vorzubereiten. Eine der Überwacherinnen brachte sorgfältig verschnürte Pakete mit Chemikalien, die – mit Wasser oder anderen Flüssigkeiten vermischt – sich beträchtlich ausdehnen und, zu weißem Schaum geworden, eine große Fläche jedweden Feuers bedecken konnten. Sobald ein Landkonvoi zusammengestellt werden konnte, würde man noch mehr schicken. Donal ging den steilen Pfad hinter dem Turm hinauf und musterte von dort aus den Himmel. Als er zurückkam, sah er ernst aus.
»Vor Sonnenuntergang kann es zu Stürmen kommen«, sagte er. »Wir sollten keine Zeit verlieren, Cousin.«
Diesmal zauderte Allart beim Übertreten der Kante nicht. Auf einem steigenden Luftstrom schwebend und die Kraft der Matrix ausnutzend, stieg er auf, höher und höher. Dennoch konnte er sich dem Vergnügen des Erlebnisses nicht völlig hingeben.
Der Kontakt mit Cassandra – so schön er gewesen war – hatte ihn erschöpft und besorgt gemacht. Er versuchte, diese Gedanken beiseitezuschieben. Das Fliegen erforderte die Konzentration auf die Matrix. Die Beschäftigung mit anderen Gedanken war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte. Und doch sah er immer wieder Gesichter, die sein Laran erzeugte: einen großen, freundlichen Mann, der auf merkwürdige Art Dom Mikhail von Aldaran ähnelte; Cassandra, die einsam in ihrem Zimmer in Hali weinte, dann aufstand und sich für die Arbeit in den Verstärkern zusammennahm; Renata, die Dorilys mit zorniger Gebärde gegenüberstand … Mit Willenskraft brachte er sich wieder in die Höhe, die aufsteigende Luft jagte an seinem Gleiter vorbei, die Luftströme zerrten schmerzlich in seinen ausgestreckten Fingerspitzen, als wäre jeder einzelne die Flügelspitze eines auffliegenden Falken. Er jagte, weder Mensch noch Vogel, auf der Luft daher. Allart wußte, daß er in diesem Augenblick an Donals inneren Phantasien teilhatte.
»Vor uns gibt es Stürme«, warnte Donal. »Es tut mir leid, daß ich dich so weit von unserem Kurs abbringen muß, aber wir müssen sie umgehen. Es ist nicht ungefährlich, so nahe an einem Sturm zu fliegen. Folge mir, Cousin.« Er erwischte einen nahen Luftstrom und ließ sich mit Matrixhilfe von dem geraden Kurs nach Aldaran wegtreiben. Allart konnte den Sturm vor ihnen sehen und spürte mehr, als er sie sah, die elektrischen Entladungen, die von Wolke zu Wolke sprangen. Sie kreisten in einer langen, langsamen Spirale fast bis zum Boden. Er fühlte Donals Ärger.
Sollen wir irgendwo landen und den Sturm abwarten? Ich würde es riskieren, aber Allart ist das Fliegen nicht gewohnt… Ich werde riskieren, was du riskierst, Donal.
Dann folge mir. Es ist, als weiche man einem Pfeilregen aus, aber ich habe es mehr als einmal getan … Er senkte seine Flügel, schoß auf einer schnellen Strömung nach oben und jagte dann schnell zwischen zwei Wolken hindurch. Schnell! Gerade hat sich ein Blitz entladen. Es wird nicht lange dauern, bis sich der nächste aufbaut.

Allart spürte ein merkwürdiges schrilles Klingeln, und erneut flogen sie wie bei einem Spießrutenlauf durch die zuckenden Blitze. Normalerweise hätte er sich zurückfallen lassen, aber er vertraute der Führung Donals, der wußte, wo und wann der Blitz zuschlagen würde. Allart fühlte dennoch, wie kalte Tropfen ihn trafen. Sie durchflogen einen plötzlich auftauchenden kleinen Regenschauer, und er klammerte sich, durchnäßt und frierend, an die Gurte des Gleiters. Seine feuchten Kleider ließen die Haut eiskalt werden. Er folgte Donal auf dem langen, Übelkeit verursachenden Sturzflug eines Abwinds, erwischte in letzter Sekunde eine Aufwärtsströmung, die ihn höher und höher trug, bis sie kreisend über den Hügeln von Burg Aldaran schwebten.
Donal, nur eine Stimme in Allarts Kopf, sagte: Wir können nicht sofort hinunter. Auf den Gleitern und unseren Kleidern ist zuviel Ladung. Sobald wir den Fuß auf den Boden setzten, würde sie uns bewußtlos machen. Wir müssen eine Weile kreisen. Schwebe und spreize die Hände, um sie allmählich abzubauen …
Allart, den Anweisungen folgend, trieb in gemächlichen, träumerischen Kreisen. Er wußte, daß Donal wieder in der Falken-Rolle war, sich in den Geist und die Gedanken eines großen Vogels projizierte. Während sie über der Burg dahinzogen, hatte Allart genug Zeit, auf Aldaran hinabzublicken. In den vergangenen Monaten war es ihm eine zweite Heimat geworden, aber nun sah er mit einem Gefühl böser Vorahnung eine lange Reiterkarawane, die sich den Toren näherte. Er sandte einen wortlosen Warnschrei zu Donal, als der Führer der Karawane sein Schwert zog. Der Klang des geistigen Schreis war für Allart, der hoch über den Zinnen und dem steil hinabstürzenden Wasserfall dahinflog, beinahe hörbar.
»Aber da ist doch niemand«, sagte Donal besorgt. »Was fehlt dir? Was hast du gesehen? Wirklich, dort ist niemand.«
Allart blinzelte verwirrt, ein plötzliches Schwindelgefühl ließ seine Schwingen flattern, und automatisch kippte er ab, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Die Straße nach Aldaran lag leer und verlassen im zunehmenden Zwielicht. Er sah weder Reiter noch bewaffnete Männer, noch Banner. Sein Laran hatte ihm wieder einmal gezeigt, was geschehen konnte. Die Vision war verschwunden.
Donal flatterte, flog seitwärts. Seine erregte Warnung drängte Allart, ihm schnell zu folgen. »Wir müssen hinunter, selbst wenn wir dabei die Besinnung verlieren«, schrie er und sandte ihm einen flüchtigen, erregten Gedanken zu: Ein neuer Sturm kommt auf.
Aber ich sehe keine Wolken.
Dieser Sturm braucht keine Wolken, dachte Donal bestürzt. Das ist der Zorn meiner Schwester, der Blitze erzeugt. Die Wolken werden noch kommen. Sie würde uns nicht wissentlich treffen, aber wir müssen dennoch so schnell wie möglich nach unten.
Er ließ sich auf einer schnellen Strömung hinabsinken, verlagerte sein Gewicht auf den Gleiter, daß er senkrecht in ihm hing, und setzte es ein, um das Gefährt nach unten zu bringen. Allart, vorsichtiger und weniger erfahren, folgte einer normalen Abwärtsspirale, aber dennoch spürte er den Schlag schmerzender Elektrizität, als seine Füße den Boden berührten. Donal, der sein Gurtzeug losschnallte und den Gleiter in einem Durcheinander von Leinen dem Diener zuwarf, der herbeigeeilt kam, murmelte: »Was kann das sein? Was ist geschehen, daß Dorilys so erregt oder geängstigt ist?« Mit einer knappen Entschuldigung an Allart eilte er davon.

18

Ohne darüber nachzudenken hörte auch Renata das Rollen des Sommerdonners, als sie sich durch die Flure des Schlosses auf den Weg zu Dorilys’ Räumen machte, um den Nachmittagsunterricht zu geben. Weil Dorilys jünger war als die Novizen eines Turms – und auch, weil sie diese Ausbildung weder aus freiem Willen gewählt noch gelobt hatte, die Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten der Arbeit ohne Klagen zu ertragen –, hatte Renata versucht, den Unterricht locker und vergnüglich zu gestalten, Spiele und kleine Spaße zu ersinnen, die das Laran des Mädchens entwickeln konnten, ohne es langwierigen, ermüdenden Übungen zu unterwerfen. Dorilys war noch zu jung, um vorschriftsmäßig auf telepathische Fähigkeiten untersucht zu werden, die sich selten vor Einsetzen der Pubertät entwickelten. Renata schätzte, daß Dorilys beträchtliche Begabung zum Hellsehen besaß und wahrscheinlich zusätzlich zu ihrer schwer zu handhabenden Gabe, Blitze zu erzeugen, einige telekinetische Kraft. Also hatte sie sie mit einfachen Spielen unterrichtet, Süßigkeiten und Spielzeuge versteckt, und Dorilys sie mit ihrem Laran finden lassen. Sie hatte ihre Augen verbunden, sie den Weg durch komplizierte Hinderniskurse aus Möbelstücken und unvertraute Teile des Schlosses suchen lassen und ihr die Aufgabe gestellt, mit verbundenen Augen ihre eigenen Besitztümer aus einem Wirrwarr ähnlicher Gegenstände herauszufinden, indem sie den Magnetismus, der ihnen anhaftete, »fühlte«. Dorilys war eine gelehrige Schülerin und fand an den Unterrichtsstunden so viel Gefallen, daß es Margali bei zwei oder drei Gelegenheiten tatsächlich gelungen war, ihren aufsässigen Zögling mit der Drohung zur Raison zu bringen, den Unterricht ausfallen zu lassen.
Soweit Renata feststellen konnte, fehlten Dorilys die beiden Gaben, die sie zu einer Turm-Arbeiterin machen könnten, völlig: Telepathie, definiert als die Fähigkeit, bewußtes Denken zu lesen oder aufzugreifen; und Empathie, die darin bestand, die Gefühle oder körperlichen Empfindungen eines anderen im eigenen Geist oder Körper zu spüren. Aber beide Fähigkeiten konnten sich noch in den Jugendjahren ausbilden, und wenn sie dann einige Kontrolle über ihre Energieströme besaß, würde die gefürchtete Schwellenkrankheit weniger Gefahr für sie heraufbeschwören.
Wenn es sich doch nur früher entwickeln ließe – oder später! Es war die Geißel aller Laran besitzenden Familien, daß diese Sorgen erzeugenden Anlagen sich gleichzeitig dann entwickelten, wenn das Kind die körperlichen und seelischen Umwälzungen der Pubertät durchlief. Viele von denen, die diese Gaben trugen, erfuhren erst dann, daß das plötzliche Einsetzen der Psi-Kräfte, die sich entwickelnde Sexualität und die hormonale und gemütsmäßige Labilität dieser Periode für Körper und Geist eine zu schwere Belastung waren. Man wurde enormen Umwälzungen unterworfen, denen Krisen, Krämpfe und sogar der Tod folgte. Renata hatte selbst einen Bruder durch die Schwellenkrankheit verloren. Keine Laran-Familie überlebte ohne solche Verluste.
Dorilys hatte das Aldaran-Blut der Vaterseite in den Adern, nicht das relativ stabile der Delleray, das dem der Hasturs ähnlich war. Was Renata von den Erblinien der Aldaran und Rockraven wußte, machte sie nicht übermäßig hoffnungsvoll, aber je mehr Dorilys von den Energieströmen ihres Körpers, den Nerven- und Energieflüssen wußte, um so wahrscheinlicher konnte sie diese Umwälzungen ohne allzu große Schwierigkeiten überleben.
Während sie sich Dorilys Räumen näherte, spürte sie die Untertöne von Zorn, erschöpfter Geduld (Renata hielt die alte Leronis für eine Heilige, da sie mit dem verzogenen kleinen Mädchen fertig wurde) und Überheblichkeit, was bedeutete, daß etwas nicht nach Dorilys Willen ging. Renata gegenüber hatte sie diese kindliche Seite selten gezeigt, denn sie bewunderte die junge Leronis und buhlte um ihre Anerkennung und Sympathie. Aber weil sie nie streng erzogen worden war, fand sie es schwierig zu gehorchen, wenn ihre Empfindungen ihr eine andere Richtung wiesen. Ihre Aufgabe wurde keineswegs dadurch leichter, daß Margali, die seit dem Tod Darren Scathfells Angst vor ihrem Zögling hatte, dies nicht verbergen konnte.
Auch ich habe Angst vor ihr, dachte Renata, aber sie weiß es nicht. Wenn ich sie es je wissen lasse, werde ich nie mehr in der Lage sein, sie irgend etwas zu lehren.
Hinter der Tür hörte sie Dorilys Stimme – ein gereiztes Grollen. Sie erhöhte ihre Wahrnehmungsfähigkeit, um Margalis Antwort zu hören.
»Nein, Kind. Deine Stickerei ist eine Schande. Es gibt keinen Musikunterricht und keinen Unterricht mit Lady Renata, ehe du nicht all diese unbeholfenen Stiche aufgetrennt und neugemacht hast.« In schmeichelndem Tonfall setzte sie hinzu: »So unbeholfen bist du doch nicht. Du bemühst dich einfach nicht. Du kannst sehr schön nähen, wenn du willst, aber heute hast du offenbar beschlossen, nichts zu tun und verpfuschst absichtlich alles. So, und jetzt trenn die Stiche auf – nein, benutze das richtige Trennwerkzeug, Kind! Versuche nicht, sie mit den Fingern aufzutrennen, sonst wirst du den Stoff zerreißen! Dorilys, was ist heute mit dir los?«
Dorilys gab zurück: »Ich mag nicht nähen. Wenn ich Lady Aldaran bin, werde ich ein Dutzend Näherinnen haben. Es gibt keinen Grund, daß ich es lerne. Und Lady Renata wird meinen Unterricht nicht ausfallen lassen, weil du es sagst.«
Der barsche und verächtliche Ton ihrer Worte bestimmte Renatas Entscheidung. Das Nähen war nicht von Bedeutung, aber die Selbstdisziplin – sorgfältig und gewissenhaft an einer Aufgabe zu arbeiten, für die sie weder Begabung noch Neigung besaß – war wichtig. Renata, die ausgebildete Empathin und Überwacherin, spürte beim Öffnen der Tür den heftig brennenden Schmerz auf Margalis Stirn und sah die Linien der Erschöpfung im Gesicht der alten Frau. Dorilys wandte wieder ihren alten Trick an und versorgte Margali, die nicht tat, was sie wollte, mit Kopfschmerzen. Sie saß über dem verhaßten Nähzeug und sah lieb und folgsam aus, aber im Gegensatz zu Margali konnte Renata, als sie durch die Tür trat, das triumphierende Lächeln auf ihrem Gesicht sehen. Dorilys warf das Nähzeug zu Boden, sprang auf und eilte auf Renata zu. »Ist es Zeit für meinen Unterricht, Cousine?«
Renata sagte kalt: »Heb dein Nähzeug auf und leg es ordentlich in die Schublade – oder noch besser: Setz dich und beende die Arbeit.« »Ich will nicht nähen lernen«, erwiderte Dorilys schmollend. »Mein Vater will, daß ich die Dinge lerne, die du mir beibringen kannst!« »Was ich dir am besten beibringen kann«, sagte Renata bestimmt, »ist das zu tun, was unerläßlich ist – und wann du es tust, ob du willst oder nicht. Mir ist es egal, ob du exakt nähst oder deine Stiche wie ein von Fallobst trunkenes Chervine schwanken« – Dorilys ließ ein kurzes, triumphierendes Kichern hören – »aber du wirst den Unterricht mit mir nicht dazu ausnutzen, deine Pflegemutter auszuspielen oder zu ignorieren, was sie dir aufträgt.« Sie blickte Margali, die bleich vor Schmerzen war, an und kam zu dem Schluß, daß es zu einem Zweikampf kommen würde.
»Verursacht sie dir wieder Kopfschmerzen?«
Margali sagte schwach: »Sie weiß es nicht besser.«
»Dann wird sie es besser lernen«, sagte Renata mit eisiger Stimme. »Was du auch mit ihr anstellst, Dorilys, du wirst deine Pflegemutter sofort davon befreien. Du wirst niederknien und sie um Vergebung bitten. Dann werde ich vielleicht mit dem Unterricht fortfahren.« »Sie um Vergebung bitten?« fragte Dorilys ungläubig. »Das werde ich nicht!«
Irgend etwas in der Haltung des Kindes ließ Renata plötzlich an Lord Aldaran denken, obwohl man von Dorilys behauptete, sie ähnele ihrer verstorbenen Mutter. Sie hat ihres Vaters Stolz, dachte sie, aber sie hat noch nicht gelernt, ihn mit Höflichkeit, zweckdienlicher Verbindlichkeit und Charme zu kaschieren. Sie ist noch jung, und wir können diese Eigenwilligkeit in ihrer ganzen Häßlichkeit sehen. Ihr ist es schon gleichgültig, wem sie weh tut, solange es nach ihrem Kopf geht. Und Margali ist für sie nichts besseres als eine Dienerin. Das gilt auch für mich. Sie gehorcht mir, weil es ihr gefällt.
Sie sagte: »Ich warte, Dorilys. Bitte Margali um Verzeihung.« »Nur, wenn sie mir verspricht, mich nie mehr herumzukommandieren«, beharrte Dorilys trotzig.
Renata kniff die Lippen zusammen. Es würde also tatsächlich auf einen Zweikampf hinauslaufen. Wenn ich zurückstecke, wenn ich ihr gestatte, eigene Bedingungen zu setzen, wird sie mir nie mehr gehorchen. Dabei kann diese Lehre ihr Leben retten. Ich will keine Macht über sie, aber wenn ich sie unterrichten soll, muß sie gehorsam sein und lernen, sich so lange auf mein Urteil zu verlassen, bis sie ihrem eigenen trauen kann.
»Ich habe dich nicht gefragt, unter welchen Bedingungen du sie um Verzeihung bittest«, sagte Renata. »Ich habe dir nur gesagt, du sollst es tun. Ich warte.«
»Renata«, begann Margali.
Aber Renata unterbrach sie ruhig: »Nein, Margali. Halte dich da raus. Du weißt so gut wie ich, was sie als erstes lernen muß.« Zu Dorilys sagte sie mit der geübten Befehlsstimme: »Knie dich sofort hin und bitte deine Pflegemutter um Verzeihung!«
Automatisch sank Dorilys auf die Knie. Plötzlich stieß sie einen schrillen Schrei aus und sprang auf: »Ich habe dir gesagt, du sollst nie die Befehlsstimme gegen mich anwenden! Ich werde es nicht zulassen, und mein Vater auch nicht! Er würde mich nicht erniedrigt sehen wollen, indem ich sie um Verzeihung bitte!«
Dorilys, dachte Renata, hätte gründlich versohlt werden sollen, ehe sie stark genug war, solch übersteigerte Ideen über ihre eigene Bedeutung zu entwickeln. Aber jeder hatte Angst vor ihr und wollte ihr nicht in die Quere kommen. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Auch ich habe Angst vor ihr.
Sie wußte, daß sie einem zornigen Kind gegenüberstand, dessen Zorn schon einmal getötet hatte. Aber noch habe ich die Oberhand. Sie ist ein Kind, das weiß, daß es Unrecht hat, aber ich bin eine geübte TurmTechnikerin und Überwacherin. Ich muß ihr beibringen, daß ich stärker bin als sie. Denn der Tag wird kommen, an dem sie erwachsen ist und niemand stark genug sein wird, sie zu kontrollieren. Bevor es soweit ist, muß sie in der Lage sein, sich zu beherrschen.
Ihre Stimme war wie eine Peitsche: »Dorilys, dein Vater hat mir in allen Bereichen die Aufsicht über dich gegeben. Er hat mir gesagt, ich hätte seine Erlaubnis, dich zu schlagen, wenn du ungehorsam bist. Du bist ein großes Mädchen, und ich würde dich nicht gerne auf diese Art demütigen. Aber eines sage ich dir: Wenn du mir nicht sofort gehorchst und deine Pflegemutter um Verzeihung bittest, werde ich tun, als seist du ein Baby und zu jung, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Tu, was ich dir sage, und zwar sofort!« ‘ »Nein, das werde ich nicht!« schrie Dorilys. »Und du kannst mich auch nicht dazu zwingen!« Wie als Echo ihrer Worte war von draußen ein rauhes Donnerrollen zu hören. Dorilys war zu erregt, um es zu hören, aber sie spürte es und fuhr zurück.
Renata dachte: Gut. Sie fürchtet sich immer noch ein wenig vor ihrer eigenen Macht. Sie will nicht noch einmal töten …
Plötzlich spürte sie auf ihrer Stirn den brennenden Schmerz eines enger werdenden Bandes… Nahm sie das mit empathischer Kraft von Margali auf? Nein. Ein schneller Blick zeigte ihr, daß Dorilys angespannt und in zähneknirschendem Zorn konzentriert war. Sie tat mit ihr das gleiche wie mit Margali.
Diese kleine Teufelin! dachte Renata, hin- und hergerissen zwischen Zorn und unwillkürlicher Bewunderung für die Kraft und den Geist des Kindes. Wenn man diese Stärke und diesen Trotz einem sinnvollen Zweck zuführen könnte – welch eine Frau würde sie sein! Sich auf ihre Matrix konzentrierend – was sie in Dorilys Gegenwart noch nie getan hatte, außer um sie zu überwachen –, begann Renata, dagegen anzukämpfen und die Energie auf Dorilys zurückzuspiegeln. Langsam verschwand der Schmerz, und sie sah das Gesicht des Mädchens vor Anstrengung bleich werden. Mit Mühe hielt sie ihre Stimme ruhig. »Siehst du? So kannst du nicht mit mir umspringen, Dorilys. Ich bin stärker als du. Ich will dir nicht weh tun, und das weißt du auch. Jetzt gehorche mir, und dann machen wir mit dem Unterricht weiter.« Sie spürte, wie Dorilys zornig ausholte. Alle ihre Kraft zusammennehmend, packte und hielt sie das Kind, als hätte sie es körperlich mit den Armen umfangen.
Sie fesselte Körper und Geist, Stimme und Laran. Dorilys versuchte »Laß mich los!« zu schreien, und entdeckte entsetzt, daß weder die Stimme ihr gehorchte noch daß sie eine einzige Bewegung machen konnte … Renata, sensitiv und empathisch wie sie war, spürte Dorilys Entsetzen als sei es ihr eigenes.
Sie muß wissen, daß ich stark genug bin, um sie vor ihren eigenen Trieben zu schützen, daß sie mich nicht gedankenlos niederstrecken kann, wie sie es mit Darren getan hat. Sie muß wissen, daß sie bei mir sicher ist; daß ich nicht zulasse, daß sie sich selbst oder irgendeinem anderen wehtut.
Jetzt hatte Dorilys wirklich Angst. Einen Moment lang, als sie die hervortretenden Augen und krampfhaften behinderten Bewegungen ihrer Muskeln sah, fühlte Renata soviel Mitleid, daß sie es nicht ertragen konnte. Ich will ihr nicht weh tun oder ihren Geist brechen, ich will ihr nur beibringen … sich vor ihrer eigenen schrecklichen Kraft zu schützen! Eines Tages wird sie es verstehen, aber jetzt ist sie so geängstigt. Armes kleines Mädchen …
Sie sah, wie sich die kleinen Muskeln an Dorilys’ Hals bewegten, wie sie sich zu sprechen bemühte und lockerte den Griff. In Dorilys’ Augen standen Tränen.
»Laß mich los, laß mich los!«
Margali blickte Renata flehentlich an. Auch sie litt, als sie das Mädchen so hilflos sah.
Die alte Leronis flüsterte: »Befreie sie, Renata. Sie wird brav sein, nicht wahr, mein Kleines?«
Renata sagte sehr freundlich: »Du siehst, Dorilys, daß ich immer noch stärker bin als du. Ich werde nicht zulassen, daß du jemandem wehtust, nicht einmal dir selbst. Ich weiß, daß du aus dem Zorn des Augenblicks heraus niemandem wirklich schaden willst.«
Dorilys begann zu schluchzen. Noch immer hing sie bewegungslos im Griff von Renatas Laran.
»Laß mich los, Cousine, bitte. Ich werde brav sein. Ich verspreche es. Es tut mir leid.«
»Du mußt dich nicht bei mir entschuldigen, Kind, sondern bei deiner Pflegemutter«, erinnerte Renata sie freundlich und löste den Griff völlig.
Dorilys sank auf die Knie und schluchzte unter Mühen: »Es tut mir leid, Margali. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich war nur wütend.« Dann brach sie weinend zusammen.
Margalis dünne, vom Alter knotige Finger streichelten sanft Dorilys’ Wange. »Das weiß ich, Liebes. Du wolltest nie jemandem wehtun. Du denkst nur nicht darüber nach.«
Dorilys wandte sich Renata zu und flüsterte mit vor Entsetzen geweiteten Augen: »Ich hätte … ich hätte dir antun können, was ich mit Darren getan habe – und ich liebe dich, Cousine, ich liebe dich.« Sie warf ihre Arme um Renata, die immer noch zitternd ihre Arme um das schmächtige, zitternde Kind legte.
»Weine nicht mehr, Dorilys. Ich werde nicht zulassen, daß du jemandem schadest, das verspreche ich«, sagte sie, das Mädchen fest an sich drückend. Sie zog ein Tuch heraus und trocknete Dorilys’ Augen. »Jetzt leg dein Nähzeug ordentlich weg, und dann kommen wir zu unserem Unterricht.«
Sie weiß jetzt, zu was sie fähig ist und wird allmählich klug genug, um sich vor ihrer Kraft zu fürchten. Wenn ich es nur schaffe, sie zu steuern, bis sie weit genug ist, es selbst zu tun!
Draußen war der Sturm in einem fernen Rollen erstorben.