Allart saß neben Cassandra und betrachtete ihr
Gesicht. Nach dem Erlebnis im See ging es ihr körperlich nicht
allzu schlecht. Selbst jetzt war er nicht sicher, ob es sich um
einen echten Selbstmordversuch oder einen aus Verzweiflung, gepaart
mit Krankheit und Erschöpfung geborenen Impuls gehandelt hatte. In
den letzten Tagen war er kaum noch von ihrer Seite gewichen. Wie
nahe war er doch daran gewesen, sie zu verlieren!
Die anderen hatten sie meist allein gelassen. Da sie um den Zustand
ihrer Beziehung gewußt hatten, spürte er nun eine eingetretene
Veränderung, aber das schien keine Rolle mehr zu spielen.
Es mußte eine Entscheidung gefällt werden, sobald Cassandra in der
Lage war, aufzustehen. Sollte er mit ihr den Turm verlassen, und
sie an einen sicheren Ort bringen? (Wenn man hier Waffen
herstellte, konnte der Turm angegriffen werden.) Oder sollte er
alleine fortgehen und Cassandra zur LaranAusbildung hierlassen, die sie
brauchte?
Sein eigenes Laran hatte ihm immer
wieder Visionen gezeigt, in denen er – mit Renata an der Seite – in
den Norden ritt. Daß Cassandra in diesen Visionen fehlte, jagte ihm
Angst ein. Was würde aus ihr werden? Er sah fremde Flaggen über
sich, Krieg, das Klirren von Schwertern, das Krachen fremdartiger
Waffen, Feuer und Tod. Vielleicht würde es das
Beste für uns beide sein …
Es war unmöglich, die disziplinierte Ruhe aufrechtzuerhalten, die
er in Nevarsin gelernt hatte. Cassandra war in seinem Verstand ewig
anwesend, seine Gedanken und Gefühle waren für sie ebenso
hyperempfindlich wie sein Körper.
Das Gelöbnis, das sie einander gemacht hatten, war gebrochen.
Nach sieben Jahren in Nevarsin bin ich immer
noch schwach und werde statt durch Vernunft von Gefühlen getrieben.
Ich habe sie gedankenlos genommen, als sei sie eines von Dom
Marius’ Freudenmädchen. Allart hörte das leise Klopfen an
der Tür, und bevor seine Ohren es registrierten, wußte er –
es war soweit. Er beugte sich vor,
küßte die schlafende Frau mit einem schmerzlichen Gefühl des
Abschieds, ging dann zur Tür und öffnete sie so rasch, daß Arielle
ihn überrascht anblinzelte.
»Allart«, flüsterte sie, »dein Bruder, Lord Elhalyn, ist in der
Fremdenhalle und verlangt dich zu sprechen. Ich werde bei deiner
Frau bleiben.«
Allart ging in die Fremdenhalle hinunter. Es war der einzige Raum,
den Leute von draußen betreten durften. Damon-Rafael erwartete ihn,
während sein Friedensmann bewegungslos hinter ihm stand.
»Du erweist uns große Ehre, Bruder. Womit kann ich dir dienen?«
»Ich nehme an, du hast vom Ende des Waffenstillstands gehört?«
»Bist du gekommen, mich zu den Waffen zu rufen?«
Damon-Rafael erwiderte mit einem verächtlichem Lachen: »Nimmst du
wirklich an, ich würde dafür selbst herkommen? Du würdest mir hier
weitaus besser dienen. Nach all den Jahren, die du in mönchischer
Abgeschiedenheit verbrachtest, habe ich wenig Vertrauen in deine
Waffenkunst oder irgendwelche anderen männlichen Fertigkeiten.
Nein, Bruder, es gibt eine andere Aufgabe für dich, falls du sie
annimmst.« Es kostete Allart ziemliche Beherrschung, diesen Hohn
hinzunehmen und sich daran zu erinnern, daß er seinem Bruder und
Großfürsten untenan war.
»Du hast jenseits des Kadarin gelebt. Bist du je in den Ländern der
Aldarans bei Caer Donn gewesen?«
»Nie. Nur in Ardais und Nevarsin.«
»Dennoch mußt du wissen, daß dieser Clan übermächtig wird. Er hält
Schloß Aldaran bei Caer Donn, ebenso Sain Scarp und Scathfell. Und
er schließt mit allen anderen Bündnisse: mit Ardais, Daniel und
Storn. Sie sind von Hastur-Blut, aber Lord Aldaran ist weder zu
meiner Einführung als Lord von Elhalyn gekommen noch seit vielen
Jahren beim Mittsommerfest in Thendara erschienen. Jetzt, wo der
große Krieg erneut ausbricht, sitzt er wie ein mächtiger Falke, der
bereit ist, auf die Tiefländer herabzustürzen, im Bergland. Wenn
alle, die Aldaran Bündnistreue schulden, auf einmal über uns
herfallen, könnte selbst Thendara nicht gehalten werden. Ich kann
den Tag voraussehen, an dem alle Reiche von Dalereuth bis zu den
Kilghard-Hügeln unter Aldarans Herrschaft liegen werden.«
Allart sagte: »Ich wußte nicht, daß du Vorausschau besitzt,
Bruder.« Damon-Rafael bewegte den Kopf mit einer schnellen,
ungeduldigen Geste. »Vorausschau? Es erfordert nicht einmal viel
Überlegung. Wenn Verwandte im Streit sind,
treten Feinde auf, um den Spalt zu vertiefen. Ich versuche,
einen neuen Waffenstillstand auszuhandeln – es bringt uns nichts,
das Land in Brand zu stecken –, aber solange unsere Cousins von
Burg Hastur belagert werden, ist das nicht leicht. Unsere
Botenvögel fliegen Tag und Nacht mit geheimen Depeschen. Wir
verfügen auch über Leroni, die in
Verstärkernetzen arbeiten, um Botschaften auszusenden, aber
natürlich können wir ihnen keine Geheimnisse anvertrauen. Was eine
weiß, wissen alle, die Laran haben.
Aber kommen wir zu dem Gefallen, um den ich dich bitten möchte,
Bruder.«
»Ich höre«, sagte Allart knapp.
»Es ist lange her, seit ein Hastur einen Verwandten in
diplomastischer Mission nach Aldaran gesandt hat. Aber wir brauchen
ein Band wie dieses. Die Storns halten Ländereien bis zum Westen
von Caer Donn, und sie könnten es für zweckmäßig halten, sich den
Ridenows anzuschließen. Dadurch könnten alle Bündnispartner der
Hellers in den Krieg einbezogen werden. Glaubst du, du könntest
Lord Aldaran davon überzeugen, sich und seine Lehnsleute in diesem
Krieg neutral zu verhalten? Ich glaube nicht, daß er auf unserer
Seite in ihn eingreifen würde, aber es besteht die Möglichkeit, daß
er sich ganz aus ihm heraushält. Du hast die Nevarsin-Ausbildung
und kennst die Sprache der Hellers gut. Bist du bereit, in meinem
Namen Lord Aldaran darum zu bitten, nicht in diesen Krieg
einzugreifen?«
Allart musterte das Gesicht seines Bruders. Diese Mission schien zu
einfach. Plante Damon-Rafael einen Verrat, oder wollte er ihn
einfach nur aus dem Weg haben, damit die Hasturs von Elhalyn ihre
Loyalität nicht zwischen zwei Brüder aufteilen mußten?
»Ich stehe unter deinem Befehl, Damon-Rafael, aber ich bin
unerfahren in Diplomatie dieser Art.«
»Du wirst Briefe von mir mitnehmen«, sagte Damon-Rafael, »und
geheime Depeschen schreiben, die mir Botenvögel überbringen. Du
wirst auch offene Depeschen schreiben, die die Spione beider Seiten
sicher lesen werden. Die geheimen wirst du unter einem
Matrix-Verschluß schicken, den keiner außer mir öffnen oder lesen
kann. Sicher kannst du einen Verschlußzauber herstellen, der die
Botschaften, wenn ein fremdes Auge auf sie fällt,
zerstört?«
»Das ist ziemlich einfach«, erwiderte Allart. Jetzt verstand er. Es
gab sicher nicht viele Menschen, denen Damon-Rafael freiwillig das
Muster seines Gehirns auszuhändigen bereit war, um einen
Matrix-Verschluß anzufertigen. Ein solcher Verschluß in den Händen
eines Attentäters …
Ich bin also eine der zwei oder drei Personen,
denen Damon-Rafael diese Macht über sich geben würde. Weil ich
durch einen Schwur gebunden bin, ihn und seine Söhne zu
verteidigen.
»Ich habe in die Wege geleitet, daß du einen Vorwand für deine
Mission hast«, fuhr Damon-Rafael fort. »Wir haben einen Kurier
Aldarans abgefangen, von dem wir befürchteten, er sei zu den
Ridenows unterwegs. Aber als meine Leronis ihn im Schlaf untersuchte, berichtete er
uns, daß er sich auf einer persönlichen Mission Lord Aldarans
befände. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber es hat nichts mit
dem Krieg zu tun. Sein Gedächtnis ist matrix-gelöscht, und wenn er
mit eurem Bewahrer spricht – was er, wie ich annehme, bald tun wird
–, wird er nicht mehr wissen, daß er gefangengenommen und
untersucht wurde. Ich habe mit unserem Cousin Coryn arrangiert, daß
du vorgeblich für die Waffenstillstandsfahne verantwortlich bist,
die Aldarans Gesandten nach Norden begleiten soll. Niemandem wird
es auffallen, wenn du bei ihm bleibst und mit nach Aldaran reitest.
Genügt das?«
Welche Wahl habe ich schon? Seit Tagen weiß
ich, daß ich nach Norden reiten werde. Ich wußte nur nicht, daß es
nach Aldaran geht. Aber was hat Renata damit zu tun? Laut
sagte er: »Es scheint, du hast an alles gedacht.«
»Bei Sonnenuntergang wird mein Friedensmann dir Dokumente
überbringen, die dich als meinen Botschafter ausweisen. Er gibt dir
auch Instruktionen, wie man Botschaften schickt.« Sich erhebend
sagte er: »Wenn du wünschst, werde ich deiner Gattin einen
Höflichkeitsbesuch abstatten. Es soll so aussehen, als wäre ich zu
einem reinen Familienbesuch hier.«
»Danke«, gab Allart zurück, »aber Cassandra geht es nicht gut. Sie
hütet das Bett. Ich werde ihr deine Empfehlungen
übermitteln.«
»Tu das auf jeden Fall«, sagte Damon-Rafael, »obwohl, wie ich
annehme, es keinen Grund gibt, Glückwünsche auszusprechen, seit du
dich entschieden hast, mit ihr im Turm zu wohnen. Ich kann mir
nicht vorstellen, daß sie schon dein Kind trägt.«
Jetzt noch nicht, und vielleicht auch nie
… Erneut spürte Allart den Ansturm der Hoffnungslosigkeit.
Laut sagte er: »Nein, wir hatten bisher dieses Glück noch nicht.«
Damon-Rafael konnte weder vom wirklichen Zustand ihrer Beziehungen
noch von ihrem gemeinsamen Gelöbnis und den Umständen, unter denen
es gebrochen worden war, etwas wissen. Er hatte nur auf den Busch
geklopft. Zwar war es unsinnig, Zorn auf die Boshaftigkeit seines
Bruders zu verschwenden, aber Allart war dennoch wütend.
Und er war immer noch gebunden, ihm als dem Großfürsten von Elhalyn
zu gehorchen. Wenn die Nordmänner aus den Hellers in diesen Krieg
eingriffen, würde es Zerstörung und Verderben geben. Ich sollte dankbar sein, dachte er, daß die Götter mir einen so ehrenwerten Weg gewiesen
haben, in diesem Krieg zu dienen. Wenn ich die Aldarans zur
Neutralität überreden kann, werde ich in der Tat zum Wohl aller
Vasallen von Hastur beitragen.
Als Damon-Rafael sich zum Abschied erhob, sagte Allart: »Ich danke
dir aufrichtig, Bruder, daß du mir diese Mission anvertraut hast.«
Seine Worte kamen aus einem so vollen Herzen, daß Damon-Rafael ihn
überrascht anblickte.
Als er Allart zum Abschied umarmte, lag ein Hauch von Wärme in
seiner Geste. Obwohl sie nie Freunde sein würden, waren sie sich in
diesem Augenblick näher als seit Jahren, das gestand Allart sich
betrübt ein – und näher, als sie es je wieder sein
würden.
Am Abend wurde er wieder in die Fremdenhalle gerufen; diesmal, wie
er annahm, um Damon-Rafaels Boten zu treffen, der die
Sicherheitsvorschriften und Depeschen mitbrachte.
Coryn sprach ihn vor der Tür an.
»Allart, sprichst du die Sprache der Hellers?«
Allart nickte. Er fragte sich, ob Damon-Rafael Coryn ins Vertrauen
gezogen hatte.
»Mikhail von Aldaran hat uns einen Boten gesandt«, sagte Coryn,
»aber es ist ungewiß, ob er unsere Sprache beherrscht. Kommst du
und sprichst mit ihm in seiner eigenen?«
»Mit Freuden«, sagte Allart und dachte: Also
nicht Damon-Rafaels Agent, sondern Aldarans Kurier. Damon-Rafael
sagte, seine Gedanken seien untersucht worden. Ich halte das für
Unrecht, aber schließlich ist Krieg.
Als er zusammen mit Coryn die Fremdenhalle betrat, erkannte er das
Gesicht des Kuriers. Sein Laran hatte
es ihm immer wieder gezeigt, obwohl er nie gewußt hatte, warum. Es
war ein jugendliches Gesicht mit dunklem Haar und ebensolchen
Brauen, das ihn mit unbefangener Freundlichkeit anblickte. Allart
begrüßte den Mann in der formellen Redeweise der Hellers. »Du
erweist uns Ehre, Siarbinn«, sagte er,
die besondere Betonung benutzend, die dem archaischen Wort die
Bedeutung noch-unbekannter-Freund
verlieh. »Wie kann ich dir dienen?« Der junge Mann stand auf und
verbeugte sich. »Ich bin Donal Delleray, Pflegesohn und
Friedensmann von Mikhail, Lord Aldaran. Ich überbringe seine Worte,
nicht die meinen, den Vai Leroni des
Hali-Turms.«
»Ich bin Allart Hastur von Elhalyn. Dies hier ist mein Cousin
Coryn, Tenerézu von Hali. Sprich
offen.«
Er dachte: Es ist sicher mehr als ein
zufälliges Zusammentreffen, daß Aldaran im gleichen Moment, in dem
mein Bruder seinen Plan ausarbeitet, einen Boten schickt. Oder hat
er den Plan extra deswegen entwickelt, um die Ankunft des Boten
auszunutzen? Die Götter mögen mir Kraft geben – ich sehe überall
Komplotte und Intrigen!
Donal sagte: »Als erstes, Vai Domyn,
bitte ich Euch, Lord Aldaran Verzeihung dafür zu gewähren, daß er
mich an seiner Stelle schickte. Er hätte nicht gezögert, selbst als
Bittsteller zu kommen, aber er ist alt und kaum in der Lage, die
lange Reise zu bewältigen. Zudem kann ich schneller reiten als er.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, in einem AchtTage-Ritt hier
anzukommen, aber ich scheine auf dem Weg einen Tag verloren zu
haben.«
Damon-Rafael und seine verdammte
Gedanken-Untersuchung. Allart schwieg. Er wartete darauf,
daß Donal sein Anliegen vortrug. Coryn sagte: »Es ist uns eine
Freude, Lord Aldaran gefällig zu sein. Was ist seine
Bitte?«
»Lord Aldaran hat mir aufgetragen, zu berichten, daß seine Tochter,
sein einzig lebendes Kind und Erbe, an einem Laran leidet, das bisher unbekannt war. Die alte
Leronis, die sich seit ihrer Geburt um
sie gekümmert hat, weiß nicht mehr, was sie tun soll. Das Kind ist
in einem Alter, in dem, wie mein Vater fürchtet, die
Schwellenkrankheit es zerstören kann. Daher kommt er als
Bittsteller, um die Vai Leroni zu
bitten, jemanden zu schicken, der sich während dieser kritischen
Periode um sie kümmerte.«
Es war nicht ungewöhnlich, daß eine im Turm ausgebildete
Leronis einen jungen Erben anleitete
und sich während der unruhigen Jahre des Heranwachsens um ihn
kümmerte, wenn die Schwellenkrankheit einen solchen Tribut
erforderte. Ein Laranzu vom
Arilinn-Turm hatte Allart zum Beispiel geraten, Asyl in Nevarsin zu
suchen. Wenn Aldaran wegen einer solchen Vergünstigung an Hali
gebunden war, mußte er um so eher bereit sein, die Elhalyns zu
unterstützen, indem er nicht in diesen Krieg eintrat.
Allart sagte: »Die Hasturs von Elhalyn und die im Hali-Turm
Arbeitenden werden erfreut sein, Lord Aldaran in dieser
Angelegenheit zu dienen.« In seiner eigenen Sprache fragte er
Coryn: »Wen sollen wir schicken?«
»Ich hatte an dich gedacht«, erwiderte Coryn. »Du bist doch nicht
sonderlich begierig, hierzubleiben und in den Krieg verwickelt zu
werden.«
»Ich werde auf Geheiß meines Bruders sowieso gehen«, sagte Allart.
»Aber es ist nicht ziemlich, daß ein Laranzu die Ausbildung eines Mädchens übernimmt. Es
sollte eine Frau sein, die sie anleitet.«
»Aber wir können niemanden entbehren«, sagte Coryn. »Jetzt, wo ich
Renata verliere, brauche ich Mira als Überwacherin. Cassandra ist
für die Überwachertätigkeit noch nicht genügend ausgebildet. Und
noch weniger ist sie dazu geeignet, ein junges Mädchen zu lehren,
seine Gabe zu kontrollieren.«
»Könnte Renata diese Aufgabe nicht erfüllen?« fragte Allart. »Es
würde sie sowohl aus der Kampfzone entfernen, als auch nach Neskaya
zurückbringen.«
»Ja, Renata ist vielleicht die richtige Wahl«, bestätigte Coryn.
»Aber sie soll nicht nach Neskaya gehen. Hast du es noch nicht
gehört? Nein«, beantwortete er selbst seine Frage, »solange
Cassandra krank war, hast du dich bei ihr aufgehalten und die
Nachrichten nicht gehört. Dom Erlend Leynier hat ausrichten lassen,
daß sie nicht zu den NeskayaTürmen, sondern zu ihrer Trauung nach
Hause zurückkehren soll. Sie ist bereits zweimal aufgeschoben
worden. Ich glaube nicht, daß sie noch eine Verzögerung auf sich
nimmt, um in einem gottverlassenen Winkel der Hellers irgendein
barfüßiges Bergmädchen darin zu unterrichten, wie es mit seinem
Laran fertig wird.«
Allart schaute besorgt auf den jungen Donal. Hatte er die
beleidigende Bemerkung verstanden? Donal blickte starr, wie es sich
für einen Boten geziemte, geradeaus und schien ihnen nicht
zuzuhören. Ob er genug von der Tieflandsprache verstand, um Coryns
Worte zu begreifen oder genug Laran
besaß, ihre Gedanken zu lesen, würden weder Coryn noch Allart je
erfahren.
»Ich glaube nicht, daß Renata allzu versessen auf eine Heirat ist,«
wandte Allart ein.
Coryn kicherte. »Ich glaube, daß du es
nicht eilig hast, daß Renata verheiratet wird, Cousin.« Als er den
Zorn in Allarts Augen aufsteigen sah, fügte er hastig hinzu: »Ich
habe nur gescherzt. Sag dem jungen Delleray, daß wir Damisela Renata fragen werden, ob sie die Reise
nach Norden auf sich nimmt.«
Allart wiederholte für Donal die formellen Sätze. Dieser verbeugte
sich und erwiderte: »Sagt der Vai
Domna, daß Lord Aldaran sie diesen Dienst nicht unbelohnt
tun läßt. Er wird ihr, wenn die Zeit ihrer Heirat kommt, eine
Mitgift geben, die der einer jüngeren Tochter entspricht.« »Das ist
.großzügig«, sagte Allart, und das war es tatsächlich. Das
Laran konnte nicht wie eine gewöhnliche
Dienstleistung gekauft oder verkauft werden. Die Tradition
verlangte, daß es lediglich der Kaste oder dem Clan zur Verfügung
stand und nicht vermietbar war. Die Leyniers waren zwar wohlhabend,
besaßen aber nicht die Reichtümer der Aldarans. Nun würde Renata
die Mitgift einer Prinzessin erhalten.
Nach einigen weiteren Floskeln führten sie Donal auf das Zimmer, in
dem er warten sollte. Als er mit Allart durch das Kraftfeld in den
Hauptteil des Turms trat, sagte Coryn bedauernd: »Vielleicht hätte
ich Arielle vorschlagen sollen. Sie ist zwar eine Di Asturien, aber
Nedestro, und ihre Mitgift nicht der
Rede wert. Selbst wenn mein Bruder mir die Erlaubnis zur Heirat
gäbe, würde er mir nicht gestatten, ein armes Mädchen zu
ehelichen.« Er lachte bitter. »Aber egal… Selbst wenn sie alle
Juwelen von Carthon zur Mitgift erhielte, könnte ein Hastur von
Carcosa nicht mit einer Nedestro von Di
Asturien verheiratet werden. Hätte Arielle eine solche Mitgift –
ihr Vater würde sie sicher einem anderen anbieten, anstatt sie mir
zu geben.«
»Du bist schon zu lange unverheiratet«, sagte Allart. Coryn zuckte
die Achseln.
»Mein Bruder ist nicht wild darauf, daß ich einen Erben habe. Ich
besitze genügend Laran und habe für ihr
verfluchtes Zuchtprogramm ein halbes Dutzend Söhne gezeugt. Ich
habe nie versucht, sie zu sehen, auch wenn man sagte, daß sie
Laran haben. Es ist besser, sie gar
nicht erst liebzugewinnen. Soweit ich weiß, hat jeder Versuch, die
Hastur-Gabe mit denen der Aillards oder Ardais zu kreuzen, zur
Folge gehabt, daß die armen kleinen Bälger an der
Schwellenkrankheit starben. Es ist schon schwer genug für ihre
Mütter – ich habe nicht die Absicht, auch noch davon betroffen zu
sein.«
»Wie kannst du das so beiläufig hinnehmen?«
Einen Augenblick lang zerbrach Coryns Maske der Gleichgültigkeit.
Er blickte Allart in echter Verzweiflung an.
»Was kann ich sonst tun, Allart? Kein Sohn von Hastur verfügt über
ein eigenes Leben, solange die Leroni
dieses verdammten Zuchtdienstes, den man unsere Kaste nennt, unsere
Eheschließungen in die Wege leiten und die Zeugung unserer Bastarde
arrangieren. Es sind nicht alle in der Lage, wie du das Leben eines
Mönchs zu ertragen!« Sein Gesicht versteinerte sich wieder, wurde
leidenschaftslos. »Nun, immerhin ist es keine unerfreuliche
Pflicht, die ich meinem Clan gegenüber erfülle. Solange ich hier
als Bewahrer lebe, gibt es genug Zeiten, in denen ich für keine
Frau zu verwenden bin. Und das ist fast genauso, wie ein Mönch zu
sein … Arielle und ich wollen nehmen, was wir können, wenn die
Gelegenheit es erlaubt. Ich bin nicht wie du, ein Romantiker auf
der Suche nach der großen Liebe«, fügte er rechtfertigend hinzu und
wandte sich ab. »Willst du Renata fragen, ob sie geht, oder soll
ich es tun?« »Frag du sie«, meinte Allart. Er wußte, was sie sagen
würde. Sie würden zusammen nach Norden reiten. Immer wieder hatte
er es gesehen. Es führte kein Weg daran vorbei.
War es unvermeidlich, daß er Renata lieben und seine Liebe und sein
Versprechen gegenüber Cassandra vergessen würde?
Ich hätte Nevarsin nie verlassen
sollen, dachte er. Hätte ich mich doch
von der höchsten Felsspitze gestürzt, statt ihnen zu erlauben, mich
fortzutreiben!
14
An der Zimmertür zögerte Renata. Schließlich
trat sie, wissend, daß Cassandra ihre Anwesenheit wahrgenommen
hatte, ohne anzuklopfen ein.
Cassandra lag zwar nicht mehr im Bett, sah aber noch immer blaß und
erschöpft aus. Sie hatte eine Stickarbeit in der Hand und setzte
kleine, präzise Stiche in das Blatt einer umstickten Blume. Als
Renatas Blick auf die Arbeit fiel, wurde Cassandra rot und legte
sie beiseite.
»Ich schäme mich, mit einer solch dummen Zerstreuung meine Zeit zu
verschwenden.«
»Warum?« fragte Renata. »Auch mir wurde beigebracht, die Hände nie
müßig sein zu lassen, damit mein Verstand sich entspannen kann,
anstatt nur über meinen eigenen Problemen und Sorgen zu brüten.
Aber meine Stiche waren nie so fein wie deine. Fühlst du dich jetzt
besser?« Cassandra seufzte. »Ja, mir geht es wieder gut. Ich
glaube, daß ich meinen Platz wieder einnehmen kann. Ich nehme an …«
Renata wußte, daß Cassandras Kehle sich zuschnürte, unfähig, die
Worte auszusprechen. Ich nehme an, daß man
weiß, was ich versucht habe. Sie verachten mich alle
…
»Es gibt keinen unter uns, der für dich etwas anderes als Sympathie
empfindet – und Kummer, daß du unglücklich unter uns warst, und
niemand versuchte, deinen Schmerz zu lindern«, sagte Renata
freundlich.
»Und doch höre ich Geflüster um mich herum. Ich kann nicht
erkennen, was geschieht. Was verbergt ihr vor mir,
Renata?«
»Du weißt, daß Krieg ausgebrochen ist«, sagte Renata.
»Allart wird in den Krieg ziehen!« Es war ein Schmerzensschrei.
»Und er hat mir nichts gesagt.«
»Wenn er dabei zauderte, es dir zu sagen, Chiya, dann sicher nur aus Furcht, die Verzweiflung
würde dich erneut überwältigen und zu überstürztem Handeln
verleiten.«
Cassandra senkte den Blick. So freundlich sich die Worte auch
anhören mochten – in ihnen klang ein wohlverdienter Vorwurf
mit.
»Nein, das wird nicht noch einmal geschehen. Jetzt
nicht.«
»Allart wird nicht in den Krieg ziehen«, sagte Renata besänftigend.
»Er wird aus dem Kampfbereich herausgeschickt. Von Caer Donn ist
ein Bote gekommen, dem Allart mit der Waffenstillstandsflagge als
Begleiter mitgegeben wird. Lord Elhalyn hat ihn mit einem Auftrag
zu den Bergbewohnern geschickt.«
»Werde ich mit ihm gehen?« Cassandra hielt den Atem an. Ihr Gesicht
wurde von einem Ausdruck solcher Freude überzogen, daß Renata
zögerte, weiterzusprechen.
Schließlich sagte sie behutsam: »Nein, Cousine. Das ist dir jetzt
nicht bestimmt. Du mußt hierbleiben. Du brauchst dringend eine
Ausbildung, die dich dein Laran
kontrollieren läßt. Ich werde den Turm verlassen, und du wirst hier
als Überwacherin gebraucht. Mira wird sofort anfangen, dich zu
unterrichten.«
»Ich? Überwacherin? Wirklich?«
»Ja. Du hast lange genug im Kreis gearbeitet, und dein Laran und deine Begabung sind uns bekannt. Coryn
meint, aus dir könne eine geschickte Überwacherin werden. Man wird
dich sehr bald brauchen. Wenn Allart und ich abreisen, wird es kaum
genug Arbeiter geben, um zwei Kreise zu bilden, geschweige denn
genügend ausgebildete Überwacher.« «Aha.« Sekundenlang schwieg
Cassandra. »Zumindest habe ich ein leichteres Los zu ertragen als
andere Frauen meines Clans, denen nichts anderes übrigbleibt, als
zuzuschauen, wie ihre Männer in die Schlacht oder den Tod reiten.
Hier wartet nützliche Arbeit auf mich. Allart braucht nicht zu
befürchten, mich mit einem Kind zurückzulassen.« Als sie Renatas
fragenden Blick sah, fuhr sie fort: »Ich schäme mich, Renata.
Vielleicht weißt du nicht … Allart und ich haben einander gelobt,
daß unsere Ehe unvollzogen bleibt. Ich … ich habe ihn dazu
verführt, dieses Gelübde zu brechen.«
»Cassandra, Allart ist weder ein Kind noch ein unerfahrener Junge.
Er ist ein erwachsener Mann und durchaus in der Lage, eine solche
Entscheidung selbst zu treffen.« Renata unterdrückte den Impuls zu
lachen. »Ich bezweifle, daß ihm der Gedanke schmeicheln würde, daß
du ihn gegen seinen Willen vergewaltigt hast.«
Cassandra wurde rot. »Dennoch, wäre ich stärker und fähig gewesen,
mein Verlangen zu unterdrücken …«
»Cassandra, es ist geschehen und kann nicht rückgängig gemacht
werden. Alle Schmiede in Zandrus Schmiedewerkstätten können ein
zerbrochenes Ei nicht wieder heil machen. Du bist nicht der Hüter
von Allarts Gewissen. Jetzt kannst du nur nach vorn blicken.
Vielleicht ist es ganz gut, daß er dich eine Weile verlassen muß.
Es wird euch beiden die Gelegenheit geben zu entscheiden, was ihr
in Zukunft tun wollt.« Cassandra schüttelte den Kopf. »Wie kann ich
allein eine Entscheidung treffen, die uns beide angeht? Es ist an
Allart zu sagen, was danach geschieht. Er ist mein Ehemann und mein
Fürst!«
Renata wirkte plötzlich gereizt. »Diese Einstellung ist es, die die
Frauen dahin gebracht hat, wo sie jetzt sind! Im Namen der Seligen
Cassilda, Kind, hältst du dich immer noch für eine Gebärmaschine
und ein Spielzeug der Begierde? Wach auf, Mädchen! Glaubst du,
Allart begehrt dich nur aus diesen Gründen?«
Cassandra blinzelte verblüfft. »Was kann eine Frau sonst sein?« »Du
bist keine Frau!« sagte Renata zornig. »Du bist noch ein Kind!
Jedes Wort, das du sagst, bezeugt das! Hör mir zu, Cassandra. Als
erstes bist du ein menschliches Wesen, ein Kind der Götter, eine
Tochter deines Clans, die Laran
besitzt. Glaubst du, du hättest es nur, um es an deine Söhne
weiterzugeben? Glaubst du ernsthaft, du besäßest für Allart keinen
anderen Wert, als den, sein Bett zu teilen und ihm Kinder zu
schenken? Mein Gott, Mädchen, das könnte er von einer Konkubine
haben, oder einer Riyachiya
…«
Cassandras Wangen erglühten in zornigem Rot. »Es ziemt sich nicht,
über solche Dinge zu reden!«
»Sondern nur, sie zu tun?« erwiderte
Renata wutentbrannt. »Die Götter haben uns als denkende Geschöpfe
erschaffen. Meinst du, sie hätten die Frauen nur als Zuchttiere
ausersehen? Wenn das so ist – warum haben wir dann einen Verstand,
Laran, und Zungen, um unsere Gedanken
zu äußern? Man hätte uns dann doch nur hübsche Gesichter,
Geschlechtsorgane, Bäuche, um die Kinder auszutragen, und Brüste,
um sie zu ernähren, zu geben brauchen. Glaubst du, die Götter
hätten nicht gewußt, was sie tun?«
»Ich glaube nicht, daß es überhaupt Götter gibt«, gab Cassandra
zurück, und die Bitterkeit in ihrer Stimme war so groß, daß Renatas
Zorn verrauchte. Auch sie hatte diese Art von Bitterkeit erfahren.
Sie war noch immer nicht ganz frei davon.
Sie legte ihre Arme um das Mädchen und sagte sanft: »Cousine, wir
haben keinen Grund, uns zu streiten. Du bist jung und unerfahren.
Wenn du lernst, dein Laran zu benutzen,
wirst du vielleicht anders über das denken, was du bist – nicht nur
als Allarts Frau. Möglicherweise wirst du eines Tages Herrin deines
eigenen Willens und Gewissens sein, und dich nicht darauf
verlassen, daß er die Entscheidungen für euch beide trifft. Und du
wirst ihm auch nicht mehr die Bürde deiner Sorgen zusätzlich zu den
seinen auferlegen.«
»Daran habe ich nie gedacht«, gestand Cassandra und barg ihr
Gesicht an Renatas Schultern. »Wäre ich stärker gewesen, hätte ich
ihm diese Bürde nicht auferlegen müssen. Ich habe ihm die Schuld an
meiner Verzweiflung, die mich in den See getrieben hat, gegeben.
Dabei hat er nicht mehr getan, als seinem Empfinden zu folgen. Wird
man mich lehren, stark zu sein, Renata? So stark wie du?«
»Stärker, hoffe ich, Chiya«, sagte
Renata und küßte sie auf die Stirn. Aber ihre Gedanken waren
finster. Für sie habe ich Ratschläge, aber mit
meinem eigenen Leben werde ich nicht fertig. Jetzt flüchte ich zum
dritten Mal vor der Ehe und stürze mich auf diese unbekannte Arbeit
in Aldaran, wo es um ein Mädchen geht, das ich nicht kenne und mich
nicht im geringsten interessiert. Ich sollte hierbleiben und meinem
Vater den Gehorsam verweigern, statt nach Aldaran zu gehen und
einer Unbekannten beizubringen, das Laran zu steuern, mit dem ihre närrischen Vorfahren sie beglückt
haben. Was bedeutet mir dieses Mädchen, daß ich mein eigenes Leben
vernachlässige, um ihr zu helfen? Aber sie konnte sich ihrem
Status nicht entziehen. Sie war eine Leronis, mit der Begabung geboren, und konnte sich
glücklich schätzen, die Turmausbildung erhalten zu haben. Schon
deswegen war sie verpflichtet, alles in ihrer Macht stehende zu
tun, um anderen, die weniger Glück gehabt hatten, zu helfen, mit
ihrer ungewünschten Gabe fertigzuwerden.
Cassandra war jetzt wieder ruhig. Sie sagte: »Allart wird doch
nicht gehen, ohne mir Lebewohl zu sagen …?«
»Nein, nein, natürlich nicht, mein Kind. Coryn hat ihm bereits die
Erlaubnis gegeben, sich vom Kreis zurückzuziehen, damit ihr die
letzte Nacht gemeinsam verbringen und euch voneinander
verabschieden könnt.« Sie sagte Cassandra nicht, daß sie selbst
Allart auf seinem Ritt nach Norden begleiten würde. Das war seine
Aufgabe, die er zur passenden Zeit erledigen mußte. Sie sagte nur:
»Jedenfalls sollte, so wie die Dinge zwischen euch stehen, einer
von euch gehen. Du weißt, daß du allein und keusch bleiben mußt,
wenn die ernste Arbeit im Kreis anfängt.«
»Das verstehe ich nicht«, wandte Cassandra ein. »Coryn und Arielle
…«
«… arbeiten schon seit über einem Jahr zusammen. Sie kennen die
Grenzen dessen, was erlaubt und was gefährlich ist«, fiel Renata
ein. »Der Tag wird kommen, an dem du es auch weißt, aber in deiner
jetzigen Verfassung würde es schwierig sein, sie einzuhalten. Jetzt
ist es an der Zeit zu lernen, ohne Zerstreuungen, und Allart würde«
– sie lächelte das andere Mädchen schelmisch an – »eine solche für
dich sein. Oh, diese Männer, daß wir mit ihnen nicht in Frieden
leben können – und ohne sie auch nicht!«
Cassandras Lachen dauerte nur Augenblicke. Dann zuckte ihr Gesicht
wieder, weil sie dem Weinen nahe war. »Ich weiß, daß deine Worte
richtig sind, aber trotzdem kann ich nicht ertragen, daß Allart
mich verläßt. Hast du nie geliebt, Renata?«
»Nein, nicht so, wie du es meinst, Chiya.« Renata hielt Cassandra an sich gedrückt.
Das empathische Laran der anderen
schüttelte sie. Der Schmerz war peinigend, als Cassandra hilflos an
ihrer Brust schluchzte.
»Was kann ich tun, Renata? Was kann ich nur tun?«
Renata schüttelte den Kopf und starrte trostlos vor sich hin.
Werde ich je erfahren, wie es ist, auf diese
Weise zu lieben? Will ich es überhaupt wissen? Oder ist eine solche
Liebe nur eine Falle, in die die Frauen sich freiwillig begeben, so
daß sie nicht mehr die Kraft haben, ihr eigenes Leben zu bestimmen?
Sind die Frauen der Comyn auf diese Weise zu schieren Gebärerinnen
von Söhnen und Spielzeugen der Begierde geworden? Aber
Cassandras Schmerz war für sie sehr echt. Schließlich sagte sie
zögernd, voll Scheu vor den tiefen Empfindungen der anderen: »Du
könntest es ihm unmöglich machen, dich zu verlassen, Cousine, wenn
du so traurig bist. Er würde sich zu sehr um dich sorgen und
Schuldgefühle bei dem Gedanken, dich in solcher Verzweiflung
alleinzulassen, entwickeln.«
Cassandra unterdrückte mühsam ihr Schluchzen. Schließlich sagte
sie: »Du hast recht. Ich darf Allarts Kummer nicht noch meinen
eigenen hinzufügen. Ich bin weder die erste noch die letzte Frau
eines Hastur, die ihren Mann wegreiten sieht, ohne zu wissen, wann
er zurückkehrt. Aber seine Ehre und der Erfolg seiner Mission
liegen in meiner Hand. Ich darf das nicht leichtfertig ausnutzen.
Irgendwie« – trotzig reckte sie ihr kleines Kinn – »werde ich die
Kraft finden, ihn fortzuschicken. Wenn er schon nicht fröhlich
geht, kann ich zumindest sicherstellen, daß meine Angst die seine
nicht verstärken wird.«
Es war eine kleine Gruppe, die am nächsten Tag
von Hali aus nach Norden ritt. Donal war als Bittsteller allein
gekommen. Allart wurde nur von dem Bannerträger – der ihm als Erben
von Elhalyn zustand – begleitet. Nicht ein einziger Leibdiener ritt
mit ihnen. Auch Renata hatte auf die übliche Begleitung verzichtet.
In Zeiten des Krieges, hatte sie gesagt, brauchten solche
Feinheiten nicht beachtet zu werden. Ihre Begleitung bestand
lediglich aus ihrer Amme Lucetta, die ihr seit der Kindheit diente.
Renata selbst hätte auch auf diese Begleitung verzichtet, aber für
eine unverheiratete Frau ziemte es sich nicht, ohne weibliche
Bedienung zu reisen.
Allart ritt schweigend und abseits von den anderen dahin, gequält
von der Erinnerung an Cassandra und dem Moment des Abschieds. Ihre
Augen waren mit Tränen gefüllt gewesen, aber sie hatte tapfer mit
sich gekämpft, um keine zu vergießen. Wenigstens war sie nicht
schwanger zurückgeblieben; insoweit waren die Götter
gnädig.
Falls es überhaupt Götter gab, die es kümmerte, was der Menschheit
widerfuhr …
Vor sich konnte er Renata vergnügt mit Donal plaudern hören. Sie
schienen beide so jung zu sein. Allart wußte, daß er nur drei oder
vier Jahre älter als Donal war, aber irgendwie kam es ihm vor, als
sei er nie so jung gewesen. Da ich sehe, was
sein wird, sein kann und nie sein wird, scheine ich mit jedem Tag,
der vergeht, eine ganze Lebensspanne zu leben. Er beneidete
die Jungen.
Sie ritten durch ein Land, das die Narben des Krieges trug:
geschwärzte Felder mit den Spuren des Feuers, abgedeckte Häuser,
verlassene Höfe. Auf der Straße begegneten ihnen so wenig Reisende,
daß sich Renata nach dem ersten Tag nicht einmal mehr die Mühe
machte, den Schleier über ihr Gesicht zu legen.
Einmal flog ein Luftwagen dicht über ihnen dahin, machte einen
Bogen, tauchte hinab, um sie näher in Augenschein zu nehmen,
wendete wieder und flog nach Süden zurück. Der Gardist mit der
Waffenstillstandsflagge ließ sich zurückfallen, bis er neben Allart
ritt.
»Flagge oder nicht, Vai Dom, ich
wünschte, Ihr hättet einer Eskorte zugestimmt. Diese
Ridenow-Bastarde könnten sich leicht dazu entscheiden, darauf zu
pfeifen. Und wenn sie Euer Banner sehen, könnte ihnen leicht der
Gedanke kommen, von welchem Wert es wäre, den ElhalynErben
gefangenzunehmen und von seiner Hastur-Verwandtschaft freikaufen zu
lassen. Es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas
geschieht.«
»Wenn sie die Fahne nicht ehren«, sagte Allart gemessen, »wird es
uns auch nichts nützen, sie in diesem Krieg zu schlagen, denn dann
würden sie auch die Kapitulationsbedingungen nicht achten. Ich
glaube, es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als von ihnen zu
erwarten, daß sie an den Kriegsregeln festhalten.«
»Ich habe wenig Vertrauen zu den Regeln, Dom Allart, seit ich zum
ersten Mal sah, wie ein Dorf mit Haftfeuer in Schutt und Asche
gelegt wurde. Dabei kamen nicht nur Soldaten, sondern Greise,
Frauen und Kinder um. Ich würde es vorziehen, den Regeln des
Krieges nur mit einer kräftigen Eskorte im Rücken zu
trauen!«
Allart erwiderte: »Ich habe mit meinem Laran nicht vorausgesehen, daß wir angegriffen
werden.«
Trocken gab der Gardist zurück: »Dann seid Ihr glücklich,
Vai Dom. Ich habe nicht den Trost der
Vorausschau oder sonstwelcher Zauberei«. Anschließend verfiel er in
hartnäckiges Schweigen.
Am dritten Tag ihrer Reise überquerten sie einen Paß, der zum
KadarinFluß hinabführte. Er trennte das Tieflandterritorium von den
Ländern, die dem Bergvolk gehörten – Aldaran, Ardais und den
niederen Fürsten der Hellers. Bevor sie die Straße hinabritten,
drehte Renata sich um, um über das Land zu schauen, aus dem sie
gekommen waren. Der größte Teil der Reiche lag vor ihnen
ausgebreitet. Renata sah auf die entfernten Hochebenen und schrie
plötzlich entsetzt auf – ein Waldbrand wütete in den südlichen
Kilghard-Hügeln.
»Seht nur, das Feuer!« schrie sie auf. »Es wird auf die
Alton-Ländereien übergreifen.« Allart und Donal, die beide
Telepathen waren, verstanden ihre Gedanken: Wird auch mein Zuhause in Flammen liegen, in einem Krieg,
der nicht der unsere ist? Laut sagte sie mit bebender
Stimme: »Jetzt wünschte ich, ich hätte deine Vorausschau,
Allart.«
Das Panorama der Landschaft unter ihnen verschwamm vor Allarts
Augen, die er in dem vergeblichen Bemühen, den sich verzweigenden
Zukunftsentwicklungen seines Laran zu
entgehen, verschloß. Wenn der mächtige Clan der Altons durch einen
Angriff in den Krieg hineingezogen wurde, wäre keine Siedlung, kein
Gut in den Reichen mehr sicher. Für die Altons spielte es keine
Rolle, ob ihre Häuser durch ein vorsätzlich gelegtes Feuer oder
einen außer Kontrolle geratenen Brand in Flammen
aufgingen.
»Wie können sie es wagen, einen Waldbrand als Waffe einzusetzen«,
schimpfte Renata, »wenn sie wissen, daß man ihn nicht kontrollieren
kann, da er von den Winden abhängt.«
»Nein«, machte Allart einen Versuch, sie zu besänftigen. »Einige
der Leroni — das weißt du – können
durchaus ihre Kräfte dazu einsetzen, um Wolken und Regen zu
erzeugen, die ein Feuer eindämmen oder zum Verlöschen
bringen.«
Donal lenkte sein Reittier an Renata heran. »Wo liegt dein Heim?«
Sie zeigte es ihm. »Dort, zwischen den Seen von Miridon und
Mariposa. Es liegt hinter den Hügeln, aber du kannst die Seen
erkennen.« Donals dunkles Gesicht wirkte konzentriert, als er
sagte: »Hab keine Angst, Damisela. Sieh
– das Feuer wird sich diesen Kamm entlang nach oben fortpflanzen.«
Er zeigte mit dem Finger darauf. »Dort werden es die Winde
zurücktreiben. Vor dem morgigen Sonnenuntergang wird es
ausbrennen.«
»Ich bete, daß du recht hast«, sagte Renata. »Aber das ist sicher
nur eine Vermutung.«
»Nein. Du wirst es selbst sehen können, wenn du dich beruhigst. Als
im Turm Ausgebildete dürfte dir nicht entgehen, in welcher Richtung
die Luftströme ziehen und wo der Wind aufkommt. Du bist eine
Leronis. Du mußt das
erkennen.«
Allart und Renata blickten Donal verwundert und erstaunt an.
Schließlich sagte Renata: »Einmal, als ich das Zuchtprogramm
studierte, las ich etwas von einem Laran, das dazu fähig sein soll, aber man rückte,
weil es nicht kontrolliert werden konnte, davon ab. Aber diese
Fähigkeit besaß weder die Hastur-Sippe noch die der Delleray. Bist
du vielleicht mit den Storns oder Rockravens verwandt?«
»Aliciane von Rockraven – die vierte Tochter von Lord Vardo – war
meine Mutter.«
»Tatsächlich!« Renata blickte ihn mit deutlicher Neugier an. »Ich
dachte, dies Laran sei ausgelöscht.
Gewöhnlich tötete es die Mutter, die solch ein Kind zur Welt
brachte. Hat deine Mutter deine Geburt überlebt?«
»Das hat sie«, bestätigte Donal, »aber sie starb bei der Geburt
meiner Schwester Dorilys, die du in deine Obhut nehmen
sollst.«
Renata schüttelte den Kopf. »Hat das verfluchte Zuchtprogramm der
Hastur-Sippe seine Spuren also auch in den Hellers hinterlassen?
Besaß dein Vater irgendein Laran?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht einmal erinnern, ob ich ihm
je ins Gesicht geblickt habe«, erwiderte Donal. »Aber meine Mutter
war keine Telepathin, und Dorilys – meine Schwester – kann
überhaupt keine Gedanken lesen. Eine Fähigkeit, die ich besitze,
muß die Gabe meines Vaters sein.«
»Hast du dein Laran schon seit der
Kindheit, oder kam es ganz plötzlich, als du
heranwuchst?«
»Ich kann Luftströmungen und Stürme spüren, seit ich denken kann«,
antwortete Donal. »Ich habe es damals nicht für Laran gehalten, nur für ein Gespür, das mehr oder
weniger jeder hat, wie beispielsweise ein Ohr für Musik. Als ich
älter wurde, konnte ich ein wenig die Blitze
kontrollieren.«
Er erzählte, wie er als Kind einen Blitzschlag abgelenkt hatte, der
auf einen Baum zielte, unter dem er mit seiner Mutter gestanden
war. »Aber ich kann es nur selten tun, und wenn es dringend
erforderlich ist, sonst macht es mich krank. Daher versuche ich
nur, diese Kräfte zu erkennen, nicht, sie zu
kontrollieren.«
»Das ist das Klügste«, bekräftigte Renata. »Alles, was wir über
weniger gewöhnliches Laran wissen, hat
uns gelehrt, wie gefährlich es ist, mit diesen Gewalten zu spielen.
Regen an einem Ort bedeutet Dürre an einem anderen. Ein weiser Mann
sagte einmal: ›Es ist ein schlechtes
Unterfangen, einen Drachen anzuketten, um sein Fleisch zu
braten.‹ Aber ich sehe, daß du einen Sternenstein
trägst.«
»Einen kleinen, nur für Spielereien. Ich kann einen Gleiter heben
und ähnliche Dinge. Kleinigkeiten, die mir unsere Haushalt
Leronis beibrachte.«
»Bist du seit deiner Kindheit ein Telepath?«
»Nein, die Kraft kam zu mir, als ich über fünfzehn war und es schon
nicht mehr erwartete.«
»Hast du stark unter der Schwellenkrankheit gelitten?« fragte
Allart. »Nicht sonderlich. Benommenheit und
Orientierungsschwierigkeiten, vielleicht ein halbes Jahr lang. Am
meisten betrübte es mich, daß mein Pflegevater mir in dieser Zeit
den Gleiter verbot!« Er lachte, aber Allart und Renata konnten
seine Gedanken lesen: Ich habe nie gewußt, wie
sehr mein Pflegevater mich liebte, bis ich spürte, wie sehr er sich
ängstigte, mich zu verlieren, als die Schwellenkrankheit
kam. »Keine Krämpfe?«
»Gar nichts.«
Renata nickte. »Einige Erblinien haben es schwerer als andere. Du
scheinst die relativ geringere zu haben, und Lord Aldarans Familie
die tödliche Form. Bist du vom Blut der Hasturs?«
»Damisela, ich habe nicht die geringste
Ahnung«, antwortete Donal steif, und die anderen spürten seinen
Widerwillen, als hätte er die Worte laut ausgesprochen:
Bin ich ein Renn-Chervine oder ein Zuchttier, das man nach seinem Stammbaum
beurteilt?
Renata lachte laut. »Vergib mir, Donal. Vielleicht habe ich zu
lange in einem Turm gewohnt und nicht überlegt, für wie beleidigend
ein anderer eine solche Frage halten könnte. Ich habe so viele
Jahre damit zugebracht, diese Dinge zu studieren! Allerdings, mein
Freund, wenn ich mich um deine Schwester kümmern soll, muß ich ihre
Erblinie und ihren Stammbaum so gewissenhaft untersuchen, als sei
sie ein Renntier oder ein edler Falke, um herauszufinden, wie
dieses Laran in ihre Linie kam, und
welche tödlichen und rezessiven Merkmale es tragen könnte. Selbst
wenn sie sich jetzt ruhig verhalten, könnten sie Ärger verursachen,
wenn sie zur Frau wird. Aber vergib mir. Ich wollte dich nicht
beleidigen.«
»Ich sollte dich um Vergebung bitten, Damisela, weil ich so tölpelhaft bin – während du
nach Wegen suchst, meiner Schwester zu helfen.« »Dann wollen wir
uns gegenseitig vergeben, Donal – und Freunde sein.«
Allart spürte, während er sie beobachtete, plötzlich bitteren Neid
auf diese jungen Leute, die lachen, flirten und das Leben genießen
konnten, selbst wenn sie mit drohendem Verderben beladen waren.
Dann schämte er sich plötzlich seiner selbst. Renata trug keine
leichte Last. Sie hätte ihre Verantwortung auf Vater oder Ehemann
abladen können – dennoch arbeitete sie seit ihrer Kindheit daran,
zu erfahren, wie man mit der Verantwortung am besten fertig wurde.
Selbst wenn es hieß, das Leben eines ungeborenen Kindes zu
zerstören und den Makel einer unfruchtbaren Frau zu tragen. Auch
Donal hatte keine unbeschwerte Jugend gehabt. Er mußte mit dem
Wissen um sein eigenes Laran leben, das
ihn und seine Schwester zerstören konnte.
Allart fragte sich, ob jedes menschliche Wesen tatsächlich so nahe
wie er an einem Abgrund entlang durchs Leben ging. Er machte sich
klar, wie er sich verhalten hatte: als trüge er allein einen
unerträglichen Fluch, und alle anderen seien heiter und sorgenfrei.
Er beobachtete, wie Renata und Donal lachten und scherzten, und
dachte – es war ein neuer und fremder Gedanke – Vielleicht hat Nevarsin mir eine zu übertrieben ernsthafte
Einstellung zum Leben gegeben. Wenn sie mit ihren Lasten leben und
dennoch heiter sein und sich an dieser Reise erfreuen können, sind
sie vielleicht klüger als ich.
Als er schneller ritt, um sich ihnen anzuschließen, lächelte
er.
Sie erreichten Aldaran am späten Nachmittag
eines trüben, regnerischen Tages, der Wind, Regen und kleine
Hagelkörnchen mit sich trieb. Renata hatte den Umhang über das
Gesicht gezogen und ihre Wangen mit einem Schal geschützt. Der
Bannerträger hatte die Fahne in eine schützende Hülle gesteckt und
ritt mit ernstem Blick, in seinem dicken Mantel vermummt. Allart
bemerkte, daß die zunehmende Höhe sein Herz heftiger schlagen ließ.
Er fühlte sich ein wenig benommen. Aber Donal schien mit jedem Tag
mehr die Sorgen abzuwerfen und fröhlicher auszusehen, als seien die
Höhe und die sich verschlechternde Witterung nur ein Zeichen der
Heimkehr. Er ritt selbst durch den Regen barhäuptig, hatte die
Kapuze seines Reitmantels zurückgeworfen und achtete nicht auf den
Hagel, der sein von Wind und Kälte gerötetes Gesicht traf. Am Fuß
des langen Hanges, der zur Burg hinauf führte, hielt er an und gab
lachend und winkend ein Zeichen. Renatas Amme grollte: »Sollen wir
mit normalen Reittieren diesen Ziegenpfad hinaufreiten, oder glaubt
man, daß wir Falken sind und fliegen können?« Selbst Renata wirkte
angesichts des letzten steilen Pfades ein wenig
geängstigt.
»Das ist die Aldaran-Feste? Sie scheint so unzugänglich wie
Nevarsin!«
Donal lachte. »Nein, aber in den alten Zeiten, als die Vorfahren
meines Pflegevaters sie mit Waffengewalt verteidigen mußten, machte
dieser Hang sie unverwundbar – meine Dame«, fügte er mit
plötzlichem Selbstbewußtsein an. Während der Dauer der Reise waren
sie füreinander Allart, Renata und Donal geworden. Donals
plötzliche Rückkehr zu formeller Höflichkeit machte ihnen klar, daß
– was immer auch passierte – die Periode der Sorglosigkeit vorüber
war, und die Last ihrer voneinander getrennten Schicksale sich
wieder auf sie legten.
»Ich vertraue darauf, daß die Soldaten auf den Mauern wissen, daß
wir nicht als Angreifer kommen«, meinte der Gardist, der die
Waffenstillstandsflagge trug, düster.
Donal lachte und erwiderte: »Nein, ich glaube, für ein
Kriegskommando sind wir zu klein. Schaut – dort auf den Zinnen sind
mein Pflegevater und meine Schwester. Offenbar wußte er von unserer
Ankunft.« Allart sah, wie sich der leere Blick über Donals Gesicht
legte – der Blick des Telepathen, der mit anderen außer Hörweite
Kontakt aufnahm. Einen Augenblick später lächelte Donal vergnügt
und sagte: »Der Pferdepfad ist nicht gar so steil. Auf der anderen
Seite der Burg sind Stufen in den Fels geschnitten,
zweihundertachtundneunzig insgesamt. Würdet Ihr vielleicht lieber
diesen Weg erklimmen? Oder Ihr, Mestra?« fragte er die Amme, die einen Laut des
Entsetzens ausstieß. »Kommt, mein Pflegevater erwartet
uns.«
Während des langen Ritts hatte Allart die in Nevarsin erlernten
Techniken angewandt, um die auf ihn eindringenden
Zukunftsmöglichkeiten fernzuhalten. Da er sie nicht beeinflussen
konnte, wußte er, daß es eine Form der Schwäche war, wenn er sich
mit ihnen abgab. Dieser Schwäche durfte er nicht nachgeben. Er
mußte sich mit dem befassen, was kam – und durfte nur dann
vorausschauen, wenn sich eine vernünftige Möglichkeit bot, zu
entscheiden, welche mögliche Entwicklung durch eine Entscheidung,
die tatsächlich seiner Kontrolle unterlag, verstandesmäßig
beeinflußt werden konnte. Aber als sie die Spitze des steilen
Hanges erreicht hatten, aus Hagel und Wind in einen geschützten Hof
gelangten, und Diener sich um sie scharten, um ihnen die Pferde
abzunehmen, wußte er, daß er diese Szene schon einmal erlebt hatte.
Durch die momentane Orientierungslosigkeit vernahm er den Aufschrei
einer schrillen, kindlichen Stimme, und es schien ihm, als sähe er
Blitze aufflakkern. Er fuhr zurück, noch bevor er sie tatsächlich
hörte. Es entpuppte sich schließlich
alles als ganz einfach: keine Gefahr, kein Aufzucken merkwürdiger
Blitze, nichts als die Stimme eines fröhlichen Kindes, das Donals
Namen rief. Mit fliegenden Zöpfen rannte ein kleines Mädchen aus
dem Schutz eines Bogenganges und umschlang ihn mit beiden
Armen.
»Ich wußte, daß du es warst – mit den Fremden. Ist das die Frau,
die meine Lehrerin sein soll? Wie heißt sie? Magst du sie? Wie ist
es in den Tiefländern? Blühen die Blumen dort wirklich das ganze
Jahr über? Hast du auf der Reise irgendwelche nichtmenschlichen
Wesen gesehen? Hast du mir Geschenke mitgebracht? Was sind das für
Leute? Was sind das für Tiere, die sie reiten?«
»Sachte, sachte, Dorilys«, meinte eine tiefe Stimme vorwurfsvoll.
»Unsere Gäste werden uns tatsächlich für Bergbarbaren halten, wenn
du wie ein schlecht erzogenes Gallimak
daherplapperst. Laß deinen Bruder los und begrüße unsere Gäste wie
eine Dame!«
Donal ließ zwar zu, daß das Mädchen seine Hand umklammerte, als er
sich seinem Pflegevater zuwandte, ließ sie aber los, als Mikhail
von Aldaran ihn in eine enge Umarmung zog.
»Junge, ich habe dich sehr vermißt. Willst du uns nicht unsere
ehrenwerten Gäste vorstellen?«
»Renata Leynier, Leronis vom
Hali-Turm«, sagte Donal. Renata machte einen tiefen Knicks vor Lord
Aldaran.
»Verehrte Dame, Ihr erweist uns Gnade. Wir sind hochgeehrt. Erlaubt
mir, meine Tochter und Erbin vorzustellen: Dorilys von Rockraven.«
Dorilys senkte scheu die Augen, als sie einen Knicks machte.
»S’dia shaya, Domna«, sagte sie
schüchtern.
Dann stellte Lord Aldaran Margali vor. »Das ist die Leronis, die sich seit ihrer Geburt um sie
kümmert.«
Renata blickte die alte Frau forschend an. Trotz der blassen,
zerbrechlichen Gesichtszüge, des ergrauten Haars und der
Altersfurchen ihres Gesichts trug sie noch immer den
undefinierbaren Stempel der Kraft.
Renata dachte: Wenn sie
seit ihrer Geburt in der Obhut einer Leronis war, und Aldaran fühlt, daß sie stärkere Fürsorge und
Kontrolle braucht – was, im Namen aller Götter, befürchtet er für
dieses kleine Mädchen?
Donal stellte Allart seinem Pflegevater vor. Allart, der sich vor
dem alten Mann verbeugte, hob die Augen, um in das Falkengesicht
von Dom Mikhail zu blicken und wußte sofort, daß er es in Träumen
der Vorausschau vorher gesehen hatte. Er spürte ein Gefühl aus
Zuneigung und Angst. Irgendwie war dieser Bergfürst der Schlüssel
zu seinem Schicksal – aber er konnte nur einen Gewölberaum sehen,
weißen Stein wie in einer Kapelle, flackernde Flammen, und
Verzweiflung. Er versuchte die unwillkommenen, verwirrenden Bilder
niederzukämpfen, bis er eine verstandesmäßige Entscheidung zwischen
ihnen treffen konnte.
Mein Laran ist
ohne Nutzen, dachte er, außer, daß es
mich ängstigt! Als sie durch das Schloß zu ihren Zimmern
geführt wurden, sah sich Allart erregt nach dem Gewölbe aus seiner
Vision um, nach dem Ort der Flammen und der Tragödie. Aber er sah
ihn nicht und fragte sich, ob er überhaupt irgendwo auf Burg
Aldaran war. Er konnte in der Tat überall sein – oder, dachte er bitter, nirgendwo.
15
Renata wachte auf, als sie die Anwesenheit
eines Fremden spürte. Dann sah sie Dorilys’ hübsches, kindliches
Gesicht hinter einen Vorhang hervorspähen.
»Es tut mir leid«, sagte Dorilys. »Habe ich Euch aufgeweckt,
Domna?« »Ich glaube schon.« Renata
blinzelte, erinnerte sich verschwommen an Bruchteile eines
schwindenden Traumes, an Feuer, die Schwingen eines Gleiters,
Donals Gesicht. »Nein, es macht nichts, Kind. Lucetta hätte mich
ohnehin bald geweckt, damit ich zum Essen nach unten gehe.« Dorilys
kam hinter dem Vorhang hervor und setzte sich auf den Bettrand.
»War die Reise sehr ermüdend, Domna?
Ich hoffe, Ihr werdet Euch von der Anstrengung bald
erholen.«
Über die Mischung aus Kindlichkeit und erwachsener Höflichkeit
mußte Renata lächeln. »Du sprichst sehr gut Casta, Kind. Wird es hier viel
gesprochen?«
»Nein«, antwortete Dorilys, »aber Margalis wurde in Thendara
ausgebildet und sagt, ich solle lernen, es gut zu sprechen, damit
es niemanden gibt, der mich eine Wilde aus den Bergen nennt, wenn
ich einmal dorthin komme.«
»Dann hat Margali gute Arbeit geleistet. Deine Aussprache ist sehr
gut.«
»Ihr wurdet auch in einem Turm ausgebildet, Vai Leronis?«
»Ja. Aber es ist nicht nötig, daß du so förmlich bist«, sagte
Renata, die sich spontan für das Mädchen erwärmte. »Nenn mich
Cousine oder Verwandte, ganz wie du willst.«
»Für eine Leronis siehst du sehr jung
aus, Cousine«, sagte Dorilys, die das persönlichere der beiden
Worte wählte.
Renata erwiderte: »Ich habe ungefähr in deinem Alter angefangen.«
Dann zögerte sie, denn für die vierzehn oder fünfzehn Jahre, nach
denen sie aussah, wirkte Dorilys sehr kindlich. Wenn sie sie als
Tochter eines Adeligen erziehen sollte, mußte sie dem ein schnelles
Ende setzen, daß ein so großes Mädchen mit wehendem Haar über den
Hof tobte und wie ein Kleinkind umherrannte und schrie. Sie fragte
sich, ob Dorilys vielleicht geistig etwas zurückgeblieben war. »Wie
alt bist du … fünfzehn?«
Dorilys lächelte und schüttelte den Kopf. »Jeder sagt, daß ich so
aussehe, und Margali langweilt mich Tag und Nacht damit, mir zu
sagen, daß ich zu alt und zu groß bin, dies oder jenes zu tun. Ich
bin erst elf Jahre alt. In der Zeit der Sommerernte werde ich
zwölf.«
Renata revidierte sofort ihre Einschätzung. Sie war also nicht die
kindliche und schlechterzogene junge Frau, nach der sie aussah,
sondern ein ausgesprochen frühreifes Mädchen. Vielleicht war es ihr
Unglück, daß sie älter aussah, denn jeder erwartete von Dorilys
Erfahrung und Urteilskraft, die sie in diesem Alter schwerlich
besitzen konnte. Dorilys fragte: »Bist du gern eine Leronis geworden? Was ist eine
Überwacherin?«
»Das wirst du herausfinden, wenn ich dich überwache. Das muß ich
tun, ehe ich dich in Laran
unterrichte«, antwortete Renata.
»Was hast du im Turm getan?«
»Viele Dinge«, erwiderte Renata. »Metalle an die Erdoberfläche
gebracht, damit die Schmiede mit ihnen arbeiten konnten. Batterien
für Lampen und Luftwagen aufgeladen; in den Verstärkern gearbeitet,
um ohne Stimme mit den Bewohnern anderer Türme zu sprechen – damit
das, was in einem Reich geschah, allen bekannt wurde, viel
schneller, als ein Bote reiten kann …«
Dorilys lauschte und ließ schließlich einen langen, faszinierten
Seufzer vernehmen. »Und wirst du mich lehren, diese Dinge zu tun?«
»Vielleicht nicht alle, aber du wirst jene Dinge lernen, die du als
Fürstin eines großen Reiches wissen mußt. Und darüber hinaus
solche, die alle Frauen wissen sollten, wenn sie ihr Leben und
ihren Körper unter Kontrolle haben wollen.«
»Wirst du mir beibringen, Gedanken zu lesen? Donal, Vater und
Margali können Gedanken lesen, und ich kann es nicht, und sie
können sich unterhalten, und ich kann es nicht hören, und das macht
mich zornig, weil ich weiß, daß sie über mich sprechen.«
»Das kann ich dir nicht beibringen, aber wenn du die Begabung hast,
kann ich dir beibringen, sie zu nutzen. Du bist noch zu jung, daß
man wissen kann, ob du sie hast oder nicht.«
»Werde ich eine Matrix bekommen?«
»Wenn du lernen kannst, sie zu benutzen«, sagte Renata. Sie fand es
merkwürdig, daß Margali das Kind noch nicht geprüft und gelehrt
hatte, sich auf eine Matrix einzustimmen. Nun, Margali war alt an
Jahren. Vielleicht fürchtete sie das, was ihr Zögling — dickköpfig
und reifer Urteilsfähigkeit ermangelnd – mit der enormen Kraft der
Matrix anstellen würde. »Weißt du, welcher Art dein Laran ist, Dorilys?« Das Kind senkte den Blick »Ein
wenig. Du weißt, was bei meiner Verlobung geschah …«
»Nur, daß dein dir versprochener Ehemann plötzlich
starb.«
Plötzlich fing Dorilys zu weinen an. »Er ist gestorben – und alle
sagten, ich hätte ihn umgebracht, aber das habe ich nicht, Cousine.
Ich wollte ihn nicht umbringen – ich wollte ihn nur dazu bringen,
die Hände von mir zu nehmen.«
Der Anblick des schluchzenden Kindes erzeugte in Renata den
spontanen Impuls, die Arme um Dorilys zu legen und sie zu
besänftigen. Natürlich hat sie ihn nicht
umbringen wollen! Wie grausam, ein so junges Mädchen Blutschuld
ertragen zu lassen! Aber in dem Augenblick, in dem sie sich
bewegen wollte, hielt ein intuitiver Gedankenblitz sie
zurück.
Wie jung sie auch war, Dorilys besaß ein Laran, das töten konnte. Dieses Laran, in der Hand eines Kindes, das zu jung war,
ein vernünftiges Urteil darüber zu fällen … allein der Gedanke
daran ließ Renata schaudern. Wenn Dorilys alt genug war, dieses
schreckliche Laran zu besitzen, dann
war sie auch alt genug — sie mußte
einfach alt genug sein –, Kontrolle und angemessene Anwendung zu
erlernen. Die Kontrolle des Laran war
nicht leicht. Niemand wußte besser als Renata, wie schwierig die
harte Arbeit und Selbstbeherrschung, die schon im frühesten Stadium
erforderlich waren, sein konnte. Wie sollte ein verzogenes und
verwöhntes kleines Mädchen, dessen Wort für ihre Kameraden und die
sie anbetende Familie immer Gesetz gewesen war, die Disziplin und
innere Motivation finden, diesen schwierigen Pfad zu verfolgen?
Vielleicht würde sich auf lange Sicht der Tod, den sie verursacht
hatte, im Zusammenhang mit ihren Schuldgefühlen als Glück erweisen.
Renata setzte bei ihrem Unterricht nicht gerne Angst ein, aber im
Moment wußte sie noch nicht genug über Dorilys, um nicht jeden
kleinsten Vorteil in Anspruch zu nehmen, den sie bei der Ausbildung
des Mädchens haben konnte.
Also berührte sie Dorilys nicht, sondern ließ sie weinen und
betrachtete sie mit einer abgelösten Zärtlichkeit, auf die ihr
ruhiges Gesicht und ihr Verhalten nicht den mindesten Hinweis
gaben. Schließlich sagte sie – und sprach dabei die erste Lektion
aus, die man ihr am Anfang des Unterrichts im Hali-Turm gegeben
hatte: »Laran ist eine entsetzliche
Gabe und eine entsetzliche Verantwortung. Es ist nicht leicht zu
beherrschen. Es liegt an dir, ob du es kontrollieren willst, oder
ob es dich kontrolliert. Wenn du bereit
bist, hart zu arbeiten, wird der Tag kommen, an dem du die
Anweisungen gibst – und nicht deine Kraft. Darum bin ich hier, um
dich zu unterrichten, daß solche Dinge nicht wieder passieren.«
»Du bist hier in Aldaran mehr als willkommen«,
sagte Lord Aldaran, während er sich in seinem hohen Stuhl nach vom
beugte und Allart in die Augen blickte. »Es ist lange her, seit ich
die Freude hatte, mich mit jemandem aus unserer
Tiefland-Verwandtschaft zu unterhalten. Ich bin sicher, es wird dir
hier gefallen. Aber ich rede mir nicht ein, daß der Erbe von
Elhalyn eine Aufgabe auf sich nahm, die jeder Friedensmann oder
Bannerträger hätte erledigen können, nur um mir eine Ehre zu
erweisen, wenn die Elhalyns sich im Krieg befinden. Entweder willst
du oder das Elhalyn-Reich etwas von mir, was keineswegs dasselbe
sein muß. Willst du mir nicht den Grund deiner wahren Mission
nennen, Verwandter?«
Allart wägte ein Dutzend Antworten ab und beobachtete dabei das
Spiel des Feuers auf dem Gesicht des alten Mannes. Er wußte, daß es
seine Gabe war, die das Gesicht hundert verschiedene Züge tragen
ließ: Güte, wilde Wut, verletzten Stolz, Ärger. Hatte seine Mission
allein das Ziel, diese Reaktionen in Lord Aldaran hervorzurufen,
oder sah er jetzt etwas, das sich später zwischen ihnen ereignen
würde?
Schließlich sagte er, jedes Wort abwägend: »Mein Fürst, was Ihr
sagt, trifft zu, obwohl es eine Ehre war, mit Eurem Pflegesohn nach
Norden zu reiten. Allerdings habe ich es nicht bedauert, in einiger
Entfernung von diesem Krieg zu sein.«
Aldaran runzelte die Brauen und sagte: »Ich hätte vermutet, daß du
in Kriegszeiten nicht den Wunsch hast, euer Reich zu verlassen.
Bist du nicht der Erbe deines Bruders?«
»Sein Regent und Bewacher, Sir, aber ich bin durch Eid gebunden,
den Anspruch seiner Nedestro-Söhne zu
unterstützen.«
»Mir scheint, du hättest für dich besseres als das tun können«,
sagte Dom Mikhail. »Sollte dein Bruder im Feld sterben, solltest du
besser geeignet sein, das Reich zu regieren, als irgendein Haufen
kleiner Jungen, seien sie nun legitime Söhne oder Bastarde, und
ohne Zweifel würde es dein Volk lieber haben. Es gibt ein wahres
Sprichwort: Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf
dem Tisch! So geht es auch mit einem Reich: In Zeiten wie diesen
ist eine starke Hand vonnöten. In Kriegszeiten kann ein jüngerer
Sohn – oder einer, dessen Elternschaft ungewiß ist – sich eine
Machtstellung erarbeiten, wie zu keiner anderen.«
Allart dachte: Aber ich habe nicht den
Ehrgeiz, ein Land zu beherrschen. Allerdings wußte er, daß
Lord Aldaran das nie glauben würde. Für Männer seines Schlages war
Ehrgeiz für einen Mann, der einem Herrscherhaus angehörte, die
einzige legitime Empfindung. Und das ist es,
was unsere Welt im Bruderkrieg erzittern läßt … Aber er
sagte nichts. Hätte er es getan, hätte Aldaran sofort den Schluß
gezogen, er sei weibisch – oder noch schlimmer, ein Feigling. »Mein
Bruder und Großfürst meinte, ich könnte meinem Reich mit dieser
Mission besser dienen, Sir.«
»Wirklich? Sie muß wichtiger sein, als ich gedacht habe«, sagte
Aldaran mit ernstem Blick. »Nun, berichte mir, Verwandter, wenn
deine Mission von so großer Bedeutung für Aldaran ist, daß dein
Bruder seinen engsten Rivalen schickt!« Er wirkte verärgert und
wachsam, und Allart wußte, daß er keinen guten Eindruck gemacht
hatte. Als er jedoch zur Sache kam, entspannte Aldaran sich langsam
und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Als Allart endete, nickte
er und stieß mit einem langen Seufzer die Luft aus.
»Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte«, sagte er. »Ich
habe ein bißchen Vorausschau und konnte deine Gedanken ein wenig
lesen. Nicht viel; wo hast du gelernt, sie so abzuschirmen? Ich
wußte, daß du gekommen bist, um mit mir über den Krieg zu sprechen
und hatte schon gefürchtet, ihr wolltet mich wegen der alten
Freundschaft, die zwischen deinem Vater und mir bestand, drängen,
auf eurer Seite in die Kämpfe einzugreifen. Obwohl ich deinen Vater
sehr schätzte, wäre ich diesem Wunsch
sehr abgeneigt gewesen. Ich wäre vielleicht bereit, bei der
Verteidigung Elhalyns zu helfen, würde man euch hart bedrängen,
hätte es aber vermieden, gegen die Ridenows vorzugehen.«
»Solch eine Bitte habe zwar ich nicht geäußert, Sir«, bemerkte
Allart, »aber würdet Ihr mir dennoch Euren Grund nennen?«
»Den Grund? Du fragst nach dem Grund? Nun, dann sage mir, Junge«,
erwiderte Aldaran, »welchen Groll du gegen die Ridenows hegst?«
»Ich persönlich? Keinen, Sir, außer, daß sie einen Luftwagen
angriffen, in dem ich mit meinem Vater fuhr, und damit seinen Tod
verursacht haben. Die anderen Reiche der Tiefländer sind gegen die
Ridenows, seit sie das alte Serrais an sich rissen und sich alle
Frauen einverleibt haben.«
»Ist das so schlimm?« frage Aldaran. »Haben die Frauen von Serrais
eure Hilfe gegen diese Eheschließungen erbeten oder euch bewiesen,
daß sie gegen ihren Willen verheiratet worden sind?«
»Nein, aber …« Allart hielt inne. Er wußte, daß es den Frauen von
Hastur nicht erlaubt war, aus ihrer Sippe herauszuheiraten. Als ihm
dieser Gedanke kam, griff Aldaran ihn auf und sagte: »Wie ich es
mir dachte. Es ist so, daß ihr die Frauen für euch selbst und eure
nächste Verwandtschaft wollt. Ich habe gehört, daß die männliche
Linie von Serrais ausgelöscht ist; daß es die Inzucht war, die sie
vernichtete. Ich weiß genug über sie, um vorherzusagen, daß das
Laran der Frauen von Serrais keine
hundert Jahre überleben wird, wenn sie wieder in die Hastur-Sippe
einheirateten. Sie brauchen neues Blut
in dieser Familie. Die Ridenows sind gesund und fruchtbar. Den
Serrais-Frauen könnte nicht besseres geschehen, als daß die
Ridenows sie nehmen.« Allart wußte, daß sein Gesicht seine Abscheu
verriet, obwohl er sie zu verbergen suchte. »Wenn Ihr ein offenes
Wort vergebt, Sir, ich halte es für abstoßend, über die Beziehungen
zwischen Männern und Frauen nur in den Begriffen dieses verfluchten
Zuchtprogramms zu sprechen.« Aldaran schnaubte. »Aber du findest es
angebracht, die Serrais-Frauen immer wieder an Hasturs, Elhalyns
und Aillards zu verheiraten? Heißt das nicht auch, sie wegen ihres
Laran zu züchten? Wieviel fruchtbare
Söhne sind den Serrais in den letzten vierzig Jahren geboren
worden? Komm, komm, glaubst du, die Fürsten von Thendara dächten
auch nur daran, zu versuchen, die Reinheit der Serrais’ zu
erhalten? Du bist jung, aber so naiv kannst du kaum sein. Die
Hastur-Sippe würde Serrais eher aussterben lassen, als zu
gestatten, daß Fremde sich in die Fortpflanzung einschalten. Aber
die Ridenows haben nun einmal andere Vorstellungen. Und das ist für
Serrais die einzige Hoffnung – ein paar neue Gene! Wenn ihr klug
wärt, würdet ihr sie willkommen heißen und durch Ehebande an eure
eigenen Töchter binden.«
Allart war schockiert. »Die Ridenows – in die Hastur-Sippe
einheiraten? Sie haben keinen Anteil am Blut von Hastur und
Cassilda.«
»Ihre Söhne werden ihn haben«, sagte Aldaran barsch, »und mit neuem
Blut kann das alte Serrais-Geschlecht überleben, statt sich in die
Unfruchtbarkeit hineinzuzüchten, wie es die Aillards in Valeron
tun, und wie einige der Hasturs es schon getan haben. Wie viele
Emmasca sind in den letzten hundert
Jahren bei den Hasturs von Carcosa geboren worden, oder bei denen
von Elhalyn oder Aillard?«
»Zu viele, fürchte ich.« Gegen seinen Willen mußte Allart an die
Knaben denken, die er im Kloster gekannt hatte: Emmasca, weder männlich noch vollständig weiblich;
steril, manche mit anderen Mängeln. »Aber ich habe dieses Gebiet
nicht gründlich studiert.«
»Aber du maßt dir an, dir eine Meinung darüber zu bilden?« Aldaran
runzelte erneut die Brauen. »Ich habe gehört, du hast eine
AillardTochter geheiratet. Wie viele gesunde Söhne und Töchter habt
ihr? Warum frage ich überhaupt danach? Hättest du welche, wärst du
kaum bereit, den Bastarden eines anderen Mannes Gefolgstreue zu
schwören.«
Verletzt gab Allart zurück: »Meine Frau und ich sind vor weniger
als einem halben Jahr miteinander verheiratet worden.«
»Wie viele gesunde, legitime Söhne hat dein Bruder? Komm, komm,
Allart, du weißt so gut wie ich: Wenn eure Gene überleben, tun sie
es im Blut eurer Nedestro-Kinder, genau
wie die meinen. Meine Frau war eine Ardais und hat mir nicht mehr
lebende Kinder geboren, als deine Aillard-Frau dir wahrscheinlich
schenken wird.«
Allart senkte den Blick und dachte in einer Aufwallung von Kummer
und Schuldbewußtsein: Es ist kein Wunder, daß
sich die Männer unseres Geschlechts Riyachiyas und ähnlichen Perversionen zuwenden. Zwischen dem
Schuldgefühl über das, was wir ihnen antun, und der Angst davor,
was ihnen passieren kann, können wir an unseren Frauen wenig Freude
haben.
Aldaran sah den Widerstreit der Gefühle auf dem Gesicht des jungen
Mannes und besänftigte ihn: »Schon gut, es gibt keinen Grund zu
streiten, Verwandter. Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber wir
haben in der Sippe von Hastur und Cassilda ein Zuchtprogramm
verfolgt, daß unser Blut mehr in Gefahr gebracht hat, als
irgendwelche räuberischen Emporkömmlinge es könnten – und
Heilmittel können merkwürdige Gestalten annehmen. Mir scheint, die
Ridenows werden das Heilmittel der Serrais sein – wenn deine Leute
in Elhalyn sie nicht daran hindern. Aber das hilft uns jetzt nicht
weiter. Sag deinem Bruder, daß ich, selbst wenn ich es wünschte, in
keiner Weise in den Krieg eingreifen könnte. Ich stehe selbst unter
Druck. Ich habe mich mit meinem Bruder Scathfell überwerfen, und
mir macht es Sorgen, daß er bislang noch keine Rache gesucht hat.
Was heckt er aus? Ich habe hier in Aldaran noch einen schweren
Kampf auszufechten, und manchmal scheint es mir, daß die übrigen
Bergfürsten wie Kyorebni sind – sie
kreisen, warten ab … Ich bin alt. Ich habe keinen rechtmäßigen
Erben, überhaupt keinen lebenden Sohn, nicht ein einziges Kind von
meinem Fleisch und Blut außer meiner Tochter.«
Allart sagte: »Aber sie ist ein hübsches Kind – und auch gesund,
wie es scheint –, und sie besitzt Laran. Wenn Ihr keinen Sohn habt, werdet Ihr gewiß
irgendwo einen Schwiegersohn finden, der Euren Besitz erben
wird.«
»Das hatte ich gehofft«, sagte Aldaran. »Inzwischen glaube ich, es
könnte sogar gut sein, sie mit einem von den Ridenows zu
verheiraten, aber das würde die ganze
Elhalyn- und Hastur-Familie aufbringen. Es hängt auch davon ab, ob
deine Verwandte ihr helfen kann, die Schwellenkrankheit zu
überleben. Ich habe drei erwachsene Söhne und eine Tochter auf
diese Weise verloren. Als ich versuchte, in ein Geschlecht
einzuheiraten, dessen Laran sehr
schnell über seine Mitglieder kam, starben die Kinder vor der
Geburt oder im Säuglingsalter. Dorilys hat Geburt und
Säuglingsalter überlebt, aber mit ihrem Laran, so fürchte ich, wird sie die Jugend nicht
überstehen.«
»Die Götter mögen verhüten, daß sie auf diese Weise stirbt! Meine
Cousine und ich werden alles tun, was wir können. Heutzutage gibt
es viele Methoden, den Tod in der Jugend zu verhindern. Ich selbst
bin ihm sehr nahe gewesen.«
»Wenn das so ist«, sagte Aldaran, »bin ich dein demütiger
Bittsteller. Was mein ist, steht dir zur Verfügung. Aber ich bitte
dich: Bleibt und bewahrt mein Kind vor diesem Schicksal!«
»Ich stehe zu Euren Diensten, Lord Aldaran. Mein Bruder hat mich
beauftragt zu bleiben, solange ich Euch von Nutzen sein kann, oder
solange, wie es nötig ist, Euch zu überreden, in diesem Krieg
neutral zu bleiben.«
»Das verspreche ich dir«, erwiderte Aldaran.
»Dann mögt Ihr über mich verfügen, Lord Aldaran.« Allarts
Verbitterung brach plötzlich mit ihm durch. »Wenn Ihr mich nicht zu
sehr verachtet, weil ich nicht begierig darauf bin, aufs
Schlachtfeld zurückzukehren, der Euch als passender Ort für junge
Männer meines Clans erscheint!«
Aldaran beugte sein Haupt. »Ich habe im Zorn gesprochen. Vergib
mir. Aber ich habe nicht den Willen, an diesem törichten Krieg in
den Tiefländern teilzunehmen, auch wenn ich meine, daß die Hasturs
die Ridenows auf die Probe stellen sollten, ehe sie sie in ihre
Sippe hineinlassen. Wenn die Ridenows nicht überleben können,
verdienen sie es vielleicht gar nicht, im Geschlecht derer von
Serrais aufzugehen. Vielleicht wissen die Götter, was sie tun, wenn
sie Krieg unter die Menschen schicken und die alten Blutlinien, von
Luxus und Dekadenz verweichlicht, aussterben und neue die Oberhand
gewinnen oder sich mit den alten vereinen. Vielleicht entsteht
daraus neues genetisches Material mit Eigenschaften, deren
Überlebensfähigkeit erprobt ist.«
Allart schüttelte den Kopf. »Das mag in den alten Zeiten wahr
gewesen sein«, sagte er, »als der Krieg noch wirklich eine
Erprobung von Kraft und Mut war, in dem Schwächere nicht überleben
und sich fortpflanzen konnten. Ich kann nicht glauben, daß es
heute so ist, mein Fürst, wenn Dinge
wie Haftfeuer Starke und Schwache gleichermaßen umbringen, und
sogar Frauen und Kinder, die sich an den Auseinandersetzungen der
Fürsten nicht beteiligen …«
»Haftfeuer!«, wisperte Lord Aldaran.
»Stimmt es also, daß sie angefangen haben, Haftfeuer zu benutzen?
Aber sie können es sicher nur in geringem Umfang einsetzen. Das
Rohmaterial ist schwer aus der Erde zu fördern und verrottet sehr
schnell, sobald es der Luft ausgesetzt ist.« »Es wird von
Matrix-Kreisen in den Türmen hergestellt, mein Fürst. Das ist ein
Grund dafür, daß ich begierig war, die Kriegszone zu verlassen. Ich
wäre nicht ins Gefecht geschickt worden, aber sie hätten mich dazu
gebracht, den teuflischen Stoff herzustellen.« Allart schloß die
Augen, als wolle er das Unerträgliche ausschließen.
»Sind sie denn alle verrückt unterhalb des Kadarin? Ich hatte
gedacht, schiere Vernunft würde sie vor Waffen zurückschrecken
lassen, die Eroberer und Bezwungene gleichermaßen zerstören! Ich
kann schwerlich jemanden für einen Ehrenmann halten, der solch
entsetzliche Waffen auf seine Verwandten losläßt«, sagte Aldaran.
»Bleib hier, Allart. Die Götter mögen es unterbinden, daß ich einen
Mann zu solch ehrloser Kriegsführung zurücksende.« Sein Gesicht
verzog sich. »Vielleicht, wenn die Götter gnädig sind, werden sich
alle, die Krieg führen, sich gegenseitig auslöschen, wie die
Drachen aus der Legende, von denen sich jeder im Feuer des anderen
verzehrte und es seinen Opfern überließ, auf dem verbrannten Boden
neu zu bauen.
16
Mit gesenktem Kopf eilte Renata über den
Innenhof von Aldaran. In Gedanken versunken lief sie gegen
jemanden, murmelte eine Entschuldigung und wollte weitereilen.
Plötzlich spürte sie, wie sie festgehalten wurde.
»Warte einen Moment! Ich habe dich kaum gesehen, seit ich hier
bin«, sagte Allart.
Renata blickte auf und sagte: »Bereitest du dich auf die Rückkehr
in die Tiefländer vor, Cousin?«
»Nein, Fürst Aldaran hat mich zum Bleiben eingeladen, damit ich
Donal etwas von dem beibringe, was ich in Nevarsin gelernt habe«,
erwiderte Allart. Dann, als er ihr voll ins Gesicht blickte, zog er
bestürzt den Atem ein. »Cousine, was macht dir Sorgen? Was ist denn
so entsetzlich?« Renata sah ihn verwirrt an und antwortete: »Wieso
… Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Als sie in engste Verbindung
mit ihm trat, sah sie sich durch seine Augen. Sie war angespannt
und bleich, ihr Gesicht in Kummer und Besorgnis verzogen.
Bin ich so, oder werde ich so sein? In
plötzlicher Angst klammerte sie sich an ihn, und Allart beruhigte
sie sanft.
»Verzeih mir, Cousine, daß ich dich so erschreckt habe. Allmählich
spüre ich, daß vieles von dem, was ich sehe, tatsächlich nur in
meinen Ängsten existiert. Sicher gibt es hier nichts
Erschreckendes, oder? Oder ist die Damisela Dorilys wirklich so ein Ungeheuer, wie die
Diener erzählen?«
Renata lachte, sah aber immer noch besorgt aus. »Nein, wirklich
nicht. Sie ist das liebste, süßeste Kind, und hat mir bisher nur
ihre fügsamste und liebevollste Seite gezeigt. Aber – oh, Allart,
es stimmt! Ich ängstige mich um sie. Sie hat ein wirklich
schreckliches Laran, und ich fürchte
mich vor dem, was ich ihrem Vater sagen muß! Ich kann gar nicht
anders, als ihn zornig stimmen.«
»Ich habe sie nicht mehr als ein paar Minuten gesehen«, sagte
Allart. »Donal erklärte mir, wie er die Spielzeug-Gleiter
kontrolliert, und sie kam herunter und bettelte, mit uns fliegen zu
dürfen. Donal sagte, sie müsse Margali fragen, er würde nicht die
Verantwortung dafür übernehmen, sie mitmachen zu lassen. Sie war
sehr verärgert und ging verdrossen davon.«
»Aber sie hat sich ihm nicht widersetzt?«
»Nein«, antwortete Allart. »Sie zog einen Schmollmund und sagte,
daß er sie nicht liebe, aber sie gehorchte ihm. Ich würde sie auch
nicht fliegen lassen, ehe sie nicht eine Matrix kontrollieren kann,
aber Donal sagte, ihm hätte man schon mit neun Jahren eine gegeben,
und er habe es ohne Schwierigkeiten gelernt. Offenbar kommt das
Laran schon in frühen Jahren zu den
Angehörigen der Delleray-Sippe.«
»Oder zu denen von Rockraven«, bemerkte Renata. Sie wirkte noch
immer besorgt. »Ich würde Dorilys jetzt noch keine Matrix
anvertrauen; vielleicht niemals. Aber darüber werde ich später
sprechen. Lord Aldaran will mich empfangen. Und ich darf ihn nicht
warten lassen.« »Nein, das darfst du wirklich nicht«, bestätigte
Allart, und Renata überquerte grübelnd den Hof.
Vor dem Empfangszimmer von Lord Aldaran stieß sie auf Dorilys. Das
Mädchen sah heute beherrschter und zivilisierter aus. Ihr Haar war
sorgsam zu Zöpfen geflochten, und sie trug eine bestickte Schürze.
»Ich möchte hören, was du meinem Vater über mich sagst, Cousine«,
sagte sie und ließ ihre Hand vertrauensvoll in die Renatas gleiten.
Renata schüttelte den Kopf. »Es ist für kleine Mädchen nicht gut,
den Beratungen der Älteren zuzuhören«, sagte sie. »Ich muß viele
Dinge sagen, die du nicht verstehen würdest. Ich gebe dir mein
Wort, daß dir alles, was dich betrifft, erzählt werden wird, wenn
es an der Zeit ist. Aber jetzt ist es noch nicht so weit,
Dorilys.«
»Ich bin kein kleines Mädchen«, sagte Dorilys und schürzte die
Lippen. »Dann solltest du dich auch nicht so benehmen, und weder
schmollen noch mit dem Fuß aufstampfen, als seist du erst fünf
Jahre alt! Das wird mich sicher nicht davon überzeugen, daß du alt
genug bist, um Gesprächen über deine Zukunft zuzuhören.«
Dorilys wirkte aufsässiger denn je. »Was glaubst du, wer du bist,
daß du so mit mir sprichst? Ich bin eine Lady Aldaran!«
»Du bist ein Kind, das eines Tages die Lady Aldaran sein wird«,
bemerkte Renata nüchtern, »und ich bin die Leronis, die dein Vater für geeignet hält, mit der
Pflicht betraut zu werden, dir das Benehmen beizubringen, das
deinem hohen Rang angemessen ist.«
Dorilys zog ihre Hand zurück und starrte trotzig zu Boden. »Ich
will nicht, daß man so mit mir spricht! Ich werde mich bei meinem
Vater über dich beschweren, und er wird dich wegschicken, wenn du
nicht freundlich zu mir bist!«
»Du kennst die Bedeutung des Wortes Unfreundlichkeit nicht«, sagte
Renata milde. »Als ich als Novizin in den Turm von Hali eintrat, um
die Kunst einer Überwacherin zu erlernen, durfte vierzig Tage lang
niemand mit mir sprechen und mir in die Augen blicken. Das diente
dazu, die Verläßlichkeit meines Laran
zu stärken.«
»Damit hätte ich mich nicht abgefunden«, sagte Dorilys. Renata
lächelte.
»Dann hätte man mich mit dem Wissen nach Hause geschickt, daß ich
nicht die Kraft und Selbstdisziplin besäße, das zu lernen, was ich
lernen mußte. Ich werde nie unfreundlich zu dir sein, Dorilys, aber
du mußt, bevor du anderen Befehle erteilen kannst, erst einmal
lernen, dich selbst zu beherrschen.«
»Aber bei mir ist das anders«, wandte Dorilys ein. »Ich bin eine
Lady Aldaran, und befehle schon jetzt allen Frauen im Schloß – und
auch den meisten Männern. Du bist nicht die Lady deines Reiches,
nicht wahr?« Renata schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin eine
Turm-Überwacherin. Und selbst ein Bewahrer wird so erzogen. Du bist
dem Freund deines Bruders, Allart, begegnet. Er ist Regent von
Elhalyn, und doch schlief er in Nevarsin drei Winter nackt auf
Stein und hat in der Gegenwart eines ihm übergeordneten Mönchs nie
ein Wort gesagt.« »Das ist schrecklich!.« Dorilys verzog das
Gesicht.
»Oh nein. Wir unterwerfen uns diesen Übungen freiwillig, weil wir
wissen, daß sie nötig sind, Körper und Geist dahingehend zu
erziehen, uns zu gehorchen, damit das Laran uns nicht zerstört.«
»Wenn ich dir gehorche«, fragte Dorilys verschmitzt, »wirst du mir
dann eine Matrix geben und mich lehren, sie zu benutzen, damit ich
mit Donal fliegen kann?«
»Das werde ich, sobald ich glaube, daß man sie dir anvertrauen
kann, Chiya«, antwortete
Renata.
»Aber ich will sie jetzt«, beharrte
Dorilys.
Renata schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Und jetzt geh auf
dein Zimmer zurück, Dorilys. Ich werde zu dir kommen, wenn ich mit
deinem Vater fertig bin.«
Sie sprach bestimmt, und Dorilys schien ihr zu gehorchen. Aber
dann, nach wenigen Schritten, wirbelte sie herum und stampfte
zornig mit dem Fuß auf.
»Du wirst die Befehlsstimme nicht noch einmal gegen mich
benutzen!«
»Ich werde tun, was ich für angemessen halte«, sagte Renata
unbewegt. »Dein Vater hat dich mir anvertraut. Muß ich ihm
erzählen, daß du ungehorsam bist, und ihn bitten, dir zu befehlen,
daß du mir in allen Fragen gehorchst?«
Dorilys fuhr zurück. »Nein, bitte – erzähl Vater nicht davon,
Renata!«
»Dann gehorche mir sofort«, wiederholte Renata und benutzte noch
einmal die Befehlsstimme. »Geh zurück und sag Margali, daß du
ungehorsam gewesen bist, und bitte sie, dich zu
bestrafen.«
Dorilys’ Augen füllten sich mit Tränen. Sie verließ zögernd den
Hof, und Renata atmete erleichtert auf.
Wie hätte ich sie zu gehorchen gezwungen, wenn
sie sich geweigert hätte? Der Tag wird kommen, an dem sie sich
weigert – und ich muß darauf vorbereitet sein!
Mit aufgerissenen Augen starrte eine Dienerin, die den kleinen
Wortwechsel beobachtet hatte, sie an. Unwillkürlich nahm Renata die
Gedanken der Frau auf: Ich habe meine kleine
Lady nie so gehorchen sehen … ohne ein Wort des
Widerspruchs.
Also ist es das erste Mal, daß sie gegen ihren Willen gehorcht hat,
dachte Renata. Margali – das wußte sie – würde Dorilys nur milde
bestrafen und ihr auftragen, lange und uninteressante Säume an
Röcken und Unterröcken zu nähen, während sie die Stickrahmen nicht
anrühren durfte. Es wird unserer kleinen Lady
nicht schaden, zu lernen, daß es Pflichten zu erledigen gibt, zu
denen man weder Lust noch Begabung hat.
Aber die Auseinandersetzung hatte Renatas Willen für das gestärkt,
was bei diesem schwierigen Treffen mit Lord Aldaran bevorstand. Sie
war dankbar, daß er zugestimmt hatte, sie in dem kleinen Studio zu
empfangen, wo er seine Briefe schrieb und den Coridom über die Geschäfte seiner Ländereien
prüfte, statt in dem formellen Empfangszimmer. Er diktierte gerade
seinem Privatsekretär, hörte aber auf, als sie eintrat, und schickt
den Mann hinaus. »Nun, Damisela, wie
kommt Ihr mit meiner Tochter zurecht? Ist sie folgsam und gehorsam?
Sie ist dickköpfig, aber sehr süß und liebevoll.«
Renata lächelte schwach. »In diesem Augenblick ist sie nicht sehr
liebevoll, fürchte ich«, sagte sie. »Ich mußte sie bestrafen und zu
Margali schicken, damit sie eine Weile über ihren Nähsachen sitzt
und zu denken lernt, bevor sie redet.«
Lord Aldaran seufzte. »Ich vermute, kein Kind kann ohne ein
gewisses Maß an Strafe aufgezogen werden«, sagte er. »Ich habe
Donals Hauslehrern die Erlaubnis gegeben, ihn zu schlagen, wenn es
sein mußte, aber ich war weniger streng mit ihm, als mein Vater mit
mir, denn ich verbot ihnen, ihn so zu schlagen, daß er blaue
Flecken davonträgt. Als ich ein Junge war, wurde ich oft so
geschlagen, daß ich tagelang nicht sitzen konnte. Aber Ihr werdet
es nicht nötig haben, meine Tochter zu schlagen, hoffe
ich.«
»Ich würde lieber darauf verzichten«, erwiderte Renata. »Ich war
immer der Ansicht, daß einsame Meditation über einer langwierigen
und langweiligen Aufgabe Strafe genug für schlechtes Benehmen ist.
Und doch wünschte ich, Ihr würdet Dorilys einmal sagen, was Ihr mir
gesagt habt, mein Fürst. Sie scheint zu glauben, daß ihr Rang sie
von Bestrafung und Disziplin befreit.«
»Ihr würdet es gern sehen, wenn ich ihr erzähle, daß meine
Hauslehrer die Erlaubnis hatten, mich zu schlagen, als ich ein
Junge war?« Lord Aldaran lachte glucksend. »Sehr gut, ich werde es
tun, um sie auf diese Weise daran zu erinnern, daß selbst ich
lernen mußte, mich zu beherrschen. Aber seid Ihr nur deswegen
gekommen, Lady? Ich hatte gedacht, Ihr hättet das ohnehin
vorausgesetzt, als ich sie in Eure Obhut gab.« »Das tat ich auch«,
sagte Renata. »Aber ich habe mit Euch etwas weit Ernsteres zu
besprechen. Ihr habt mich hierher geholt, weil Ihr die Stärke des
Laran Eurer Tochter fürchtet, nicht
wahr? Ich habe sie sorgfältig überwacht, Körper und Gehirn; sie
steht noch einige Monate vor der Pubertät, schätze ich. Bevor sie
eintritt, möchte ich die Erlaubnis erbitten, Euch zu untersuchen,
mein Fürst, und Donal ebenso.« Lord Aldaran hob neugierig die
Brauen. »Darf ich fragen, warum, Damisela?«
»Margali hat mir bereits alles berichtet, an was sie sich in bezug
auf Alicianes Schwangerschaft und Niederkunft erinnern kann«, gab
Renata zur Antwort. »Also weiß ich einiges von dem, was Dorilys von
ihrer Mutter erbte. Aber auch Donal trägt die Erbschaft der
Rockravens, und ich würde gerne erfahren, welche rezessiven
Merkmale Dorilys möglicherweise besitzt. Es ist einfacher, Donal zu
untersuchen, als ins Protoplasma zu dringen. Das gleiche gilt für
Euch, mein Fürst, da Dorilys nicht nur Eure, sondern auch die
Erbschaft Eures gesamten Geschlechts trägt. Ich würde gern Zutritt
zu Euren Ahnentafeln haben, damit ich erkennen kann, ob es in
Eurem Geschlecht Spuren bestimmter
Arten von Laran gibt.«
Lord Aldaran nickte. »Ich kann verstehen, daß Ihr mit solchem
Wissen gewappnet sein solltet«, stimmte er zu. »Ihr könnt dem
Kustos der Aldaran-Archive sagen, daß ich Euch Zugang zu allen
Aufzeichnungen gewähre. Glaubt Ihr, daß sie die Schwellenkrankheit
überleben wird?« »Das werde ich Euch sagen, wenn ich mehr von dem
weiß, was in ihren Genen und ihrer Erbschaft enthalten ist«,
antwortete Renata. »Ich werde für sie tun, was ich kann, und Allart
ebenso. Aber ich muß wissen, was mir bevorsteht.«
»Nun, ich habe eigentlich keine Einwendungen dagegen, untersucht zu
werden«, sagte Lord Aldaran, »obwohl es sich um eine Technik
handelt, mit der ich nicht vertraut bin.«
»Untersuchungsmethoden dieser Art wurden für die auf höheren Ebenen
arbeitenden Matrixkreise entwickelt«, erklärte Renate. »Als wir sie
für diesen Zweck angewandt hatten, fanden wir heraus, daß sie auch
anderen Nutzen haben.«
»Was muß ich also tun?«
»Nichts«, erwiderte Renata. »Macht Euren Geist einfach so ruhig und
entspannt, wie Ihr könnt, und versucht, an gar nichts zu denken.
Vertraut mir. Ich werde nicht in Eure Gedanken eindringen, sondern
nur in Euren Körper und seine tief erliegenden
Geheimnisse.«
Aldaran zuckte die Schultern. »Wann immer Ihr wollt«, meinte er
lakonisch.
Renata streckte ihre geistigen Fühler aus und begann den langsamen
Überwachungsprozeß. Zuerst kontrollierte sie seine Atmung, seinen
Kreislauf, dann ging sie immer tiefer in die Zellen des Körpers und
Gehirns. Nach einem langen Zeitraum zog sie sich behutsam zurück
und dankte ihm, aber sie sah besorgt und geistesabwesend dabei aus.
»Wie lautet das Urteil, Damisela?«
»Ich würde lieber warten, bis ich die Archive gesehen und Donal
untersucht habe«, sagte Renata, verbeugte sich vor ihm und verließ
das Zimmer.
Einige Tage später ließ Renata Lord Aldaran
fragen, ob er sie noch einmal empfangen könne.
Als sie ihn diesmal traf, verschwendete sie keine Worte. »Mein
Fürst, ist Dorilys Euer einziges lebendes Kind?« »Ja, das habe ich
Euch doch gesagt.«
»Ich weiß, daß sie das einzige Kind ist, das ihr anerkennt. Aber
ist das nur so dahingesagt, oder ist es die buchstabengetreue
Wahrheit? Habt Ihr irgendwelche nicht anerkannten Bastarde,
uneheliche Kinder, überhaupt irgendein Kind von Eurem
Blut?«
Betrübt schüttelte Aldaran den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Nicht eines. Ich hatte aus meiner ersten Ehe
einige Kinder, aber sie starben in den Jugendjahren an der
Schwellenkrankheit. Und Deonaras Babys starben alle, bevor sie
entwöhnt waren. In meiner Jugend habe ich da und dort ein paar
Söhne gezeugt, aber keiner überlebte seine Kindheit. So weit ich
weiß, trägt auf der Oberfläche dieser Welt allein Dorilys mein
Blut.«
»Ich will Euch nicht erzürnen, Lord Aldaran«, sagte Renata, »aber
Ihr solltet sofort einen anderen Erben bekommen.«
Er blickte sie an, und sie sah Bestürzung und Furcht in seinen
Augen. »Wollt Ihr mich davor warnen, daß auch Dorilys die Jugend
nicht überlebt?«
»Nein«, sagte Renata. »Es gibt guten Grund zu hoffen, daß sie sie
überleben wird. Sie kann sogar ein wenig telepathisch werden. Aber
Euer Erbe sollte nicht allein auf ihr ruhen. Sie könnte – wie
Aliciane – die Geburt eines einzelnen Kindes überleben. Ihr
Laran ist, soweit ich erkennen kann,
geschlechtsspezifisch; es gibt nur wenige Gaben, die das sind. In
Jungen ist es rezessiv. Donal besitzt die Fähigkeit, Luftströme und
Luftdruck zu erkennen, die Winde zu fühlen und die Bewegungen des
Sturms zu spüren. Er kann sogar Blitze ein wenig kontrollieren,
auch wenn er sie nicht anziehen oder erzeugen kann. Aber diese Gabe
ist in weiblichen Wesen dominant. Dorilys könnte die Geburt eines
Sohnes überleben. Aber nicht die Geburt einer Tochter, die schon
vor der Geburt mit einem solchen Laran
begabt ist. Auch Donal sollte ermahnt werden, nur Söhne zu zeugen,
es sei denn, er wollte ihre Mütter vom Laran ihrer ungeborenen Töchter zerschmettert
sehen.«
Aldaran dachte einige Zeit darüber nach. Schließlich sagte er, das
Gesicht grau vor Pein: »Wollt Ihr damit sagen, daß Dorilys Aliciane
getötet hat?«
»Ich hatte gedacht, Ihr wüßtet das. Das ist ein Grund dafür,
weswegen die Rockraven-Gabe aus dem Zuchtprogramm herausgelassen
wurde. Einige ihrer Töchter, die selbst nicht die volle Kraft
dieses Laran besaßen, müssen es an
ihre Töchter weitergegeben haben. Ich
glaube, daß Aliciane eine von diesen war. Und Dorilys hat das volle
Laran … Während ihrer Geburt – sagt mir
– gab es da einen Sturm?«
Aldaran spürte, wie sein Atem stockte, als er sich ins Gedächtnis
rief, wie Aliciane voll Entsetzen aufgeschrien hatte: »Sie haßt
mich! Sie will nicht geboren werden!«
Dorilys hat ihre Mutter getötet! Sie hat mein
Liebstes, meine Aliciane getötet … Verzweifelt um ein
gerechtes Urteil bemüht sagte er: »Sie war ein neugeborenes Kind!
Wie könnt Ihr ihr eine Schuld vorwerfen?«
»Schuld? Wer spricht von Schuld? Die Emotionen eines Kindes sind
unkontrolliert. Sie haben keine Übung, und die Geburt ist
entsetzlich für ein Kind. Wußtet Ihr das nicht, mein
Fürst?«
»Natürlich! Ich war jedesmal anwesend, wenn Deonaras Babys zur Welt
kamen«, sagte er, »aber ich konnte sie in gewissem Maße beruhigen.«
»Aber Dorilys war stärker als die meisten Säuglinge«, sagte Renata,
»und in ihrer Angst und in ihrem Schmerz schlug sie zu – und
Aliciane starb. Sie weiß das nicht; ich hoffe, sie wird es nie
erfahren. Aber da Ihr es wißt, könnt Ihr verstehen, warum es
unsicher ist, sich allein auf sie zu verlassen, um Euer Blut an
künftige Generationen weiterzugeben. Für Dorilys würde es in der
Tat sicherer sein, nie zu heiraten. Auch wenn ich sie, sobald sie
eine Frau wird, lehren werde, auf welche Weise man nur Söhne
empfängt.«
»Hätte Aliciane doch dieses Wissen gehabt«, sagte Lord Aldaran mit
tiefer Bitterkeit. »Ich habe nicht gewußt, daß man das steuern
kann.« »Die Technik wird nicht allgemein gelehrt«, sagte Renata,
»obwohl die, die Riyachiyas züchten,
wissen, wie man ausschließlich weibliche Nachkommen erzeugt. Man
hat das aus Angst vor den nur auf Söhne spekulierenden Fürsten
großer Reiche gelehrt, um zu verhindern, daß das Gleichgewicht der
Natur dadurch umgestoßen wird, daß zu wenig Mädchen geboren werden.
Aber ich glaube, in einem Fall wie diesem, wo ein so schreckliches
Laran die Ungeborenen treffen kann, ist
es gerechtfertigt. Ich werde Dorilys unterrichten, und auch Donal,
wenn er möchte.«
Der alte Mann senkte das Haupt. »Was soll ich tun? Sie ist mein
einziges Kind.«
»Lord Aldaran«, sagte Renata ruhig, »ich hätte gern Eure Erlaubnis,
Dorilys’ Laran noch in der Jugend
auszubrennen, wenn ich es für nützlich halte, und ihre Psi-Zentren
im Gehirn zu zerstören. Es könnte ihr Leben retten – oder ihren
Verstand.«
Entsetzt starrte er sie an. »Würdet Ihr ihren Geist zerstören?«
»Nein. Aber sie wäre frei von Laran«,
antwortete Renata.
»Ungeheuerlich! Ich weigere mich absolut!«
»Mein Fürst«, sagte Renata mit verzerrtem Gesicht, »ich beschwöre
Euch. Wäre Dorilys ein Kind meines eigenen Leibes, würde ich Euch
um dasselbe bitten. Wißt Ihr, daß sie dreimal getötet
hat?«
»Dreimal? Dreimal? Aliciane und Darren,
den Sohn meines Bruders – aber das geschah zu Recht. Er versuchte,
sie zu vergewaltigen!« Renata nickte. Dann sagte sie: »Sie war
vorher schon einmal verlobt. Und der Junge ist gestorben, oder
nicht?«
»Ich dachte, es sei ein Unfall gewesen.«
»Nun, das war es auch«, sagte Renate. »Dorilys war noch nicht
einmal sechs Jahre alt. Sie wußte nur, daß er ihre Puppe kaputt
gemacht hatte. Sie hat es aus ihrem Geist verdrängt. Als ich sie
zwang, sich daran zu erinnern, hat sie so erbärmlich geweint, daß
es Zandrus Herz hätte zum Schmelzen bringen können. Bisher schlägt
sie nur in wilder Angst zu. Ich glaube, sie hat nicht einmal den
Verwandten, der sie zu vergewaltigen versuchte, bewußt getötet. Sie
hatte keine Kontrolle über sich. Dorilys konnte nicht betäuben, nur
töten. Und das wird sie vielleicht wieder tun. Ich weiß nicht, ob
irgendein Mensch ihr ausreichende Kontrolle über dieses
Laran beibringen kann. Ich würde sie
nicht mit Schuld beladen, wenn sie in einem Augenblick der Panik
erneut zuschlägt.« Renata zögerte. Schließlich fuhr sie fort: »Es
ist bekannt, daß Macht den Charakter verdirbt. Schon jetzt weiß
sie, daß niemand wagt, ihr den Gehorsam zu verweigern. Sie ist
starrköpfig und eingebildet. Vielleicht gefällt ihr, zu wissen, daß
jeder sie fürchtet. Ein Kind an der Schwelle zur Jugend hat viele
Sorgen. In dieser Zeit mögen Mädchen weder ihr Gesicht noch ihren
Körper oder die Farbe ihres Haars. Sie glauben, daß die anderen sie
nicht mögen, weil sie von Ängsten geplagt werden, die sie nicht
lokalisieren können. Wenn Dorilys sich mit dem Wissen um ihre Macht
für diese Ängste entschädigt – nun, ich weiß, ich hätte unter diesen Umständen Angst vor
ihr!«
Aldaran starrte auf den Boden des Zimmers. Er war schwarz und weiß
und zeigte ein eingelegtes Vogelmosaik. »Ich kann nicht
einwilligen, daß ihr Laran zerstört
wird, Renata. Sie ist mein einziges Kind.« »Dann, mein Fürst«,
sagte Renata nüchtern, »solltet Ihr wieder heiraten und Euch einen
anderen Erben verschaffen, ehe es zu spät ist. In Eurem Alter
solltet Ihr keine Zeit verlieren.«
»Glaubt Ihr etwa, ich hätte es nicht versucht?« fragte Aldaran.
Dann erzählte er zögernd von seinem Fluch.
»Mein Fürst, gewiß weiß ein Mann von Eurer Intelligenz, daß ein
solcher Fluch auf Eurem Geist und nicht auf Eurer Männlichkeit
liegt.« »Das habe ich mir auch gesagt. Aber noch Jahre nach
Alicianes Tod habe ich keine Frau begehrt. Nachdem Deonara starb,
und mir klar war, daß ich nur ein einziges überlebendes
Nedestro-Kind hatte, nahm ich andere in
mein Bett. Aber keine erregte mich. Später habe ich dann geglaubt,
daß dieser Fluch mich schon getroffen hatte, ehe die Zauberin ihn
aussprach, denn auch während Alicianes Schwangerschaft nahm ich
keine andere. Für mich war es etwas völlig Neues, ein halbes Jahr
lang ohne eine Frau zu verbringen.« Entschuldigend schüttelte er
den Kopf. »Verzeiht mit, Damisela. Es
ziemt sich nicht, zu einer Frau Euren Alters so zu
sprechen.«
»Wenn von solchen Dingen gesprochen wird, bin ich keine Frau,
sondern eine Leronis, mein Fürst. Macht
Euch darum keine Sorgen. Hat man Euch nie geprüft, Lord
Aldaran?«
»Ich habe nicht gewußt, daß so etwas möglich ist.«
»Ich werde es tun, wenn Ihr wollt«, sagte Renata sachlich. »Oder
wollt Ihr lieber … Margali gehört zu Eurer Familie und steht Euch
an Jahren näher … Wenn es Euch weniger beunruhigen würde
…«
Der Mann starrte auf den Boden »Ich würde mich vor einer Fremden
weniger schämen, glaube ich«, sagte er leise.
»Wie Ihr wollt.« Renata wurde ganz ruhig und sank tief in die
Überwachung von Körper und Gehirn.
Nach einiger Zeit sagte sie bedauernd: »Ihr tragt in der Tat einen
Fluch, mein Fürst. Euer Samen trägt keinen Lebensfunken.«
»Ist so etwas möglich? Wußte diese Frau das bereits, oder hat sie
verursacht, daß ich … ich …« Seine Stimme erstarb in Zorn und
Entsetzen.
Renata sagte ruhig: »Darüber kann ich nichts erfahren, mein Fürst.
Es ist möglicherweise anzunehmen, daß Euch das irgendein Feind
angetan hat. Obwohl niemand in den Türmen, der eine Matrix trägt,
zu so etwas fähig wäre. Wir haben viele Eide gegen den Mißbrauch
unserer Kräfte geschworen.«
»Kann es rückgängig gemacht werden? Können die Kräfte der Zauberei
nicht wieder verbannen, was sie heraufbeschworen haben?« »Ich
fürchte nein, Sir. Vielleicht, wenn es unmittelbar erkannt worden
wäre … aber nach so vielen Jahren ist es, fürchte ich, unmöglich.«
Aldaran beugte das Haupt. »Dann muß ich zu den Göttern beten, daß
sie Dorilys ohne Schaden durch ihre Jugend bringen. Sie allein
trägt das Erbe von Aldaran.«
Renata bedauerte den alten Mann. Er hatte heute einige schmerzliche
und erniedrigende Wahrheiten erfahren müssen. Sanft sagte sie:
»Mein Fürst, Ihr habt einen Bruder, und Euer Bruder hat Söhne.
Selbst wenn Dorilys nicht überleben sollte – ich bete wirklich
darum, daß Avarra sie vor allem Schaden bewahren möge –, wird das
Aldaran-Erbe nicht gänzlich verloren sein. Ich bitte Euch, Sir,
versöhnt Euch mit Eurem Bruder.«
Aldarans Augen blitzten in plötzlichem wildem Zorn auf.
»Seid vorsichtig, mein Mädchen! Ich bin dankbar für alles, was Ihr
für mein Kind getan habt und tun werdet, aber es gibt einige Dinge,
die nicht einmal Ihr mir sagen könnt! Ich habe geschworen, daß ich
diese Burg Stein für Stein abtragen werde, bevor sie an einen Sohn
Scathfells fällt. Nach mir wird Dorilys hier regieren, oder
niemand!«
Grausamer, eingebildeter alter Mann!
dachte Renata unwillkürlich. Es würde dir
Recht geschehen, wenn es tatsächlich einträfe! Sein Stolz ist
stärker als seine Liebe zu Dorilys, sonst würde er ihr dies
schreckliche Schicksal ersparen!
Sie verbeugte sich. »Dann ist nichts weiter zu sagen, mein Fürst.
Ich werde für Dorilys tun, was ich kann. Aber bitte denkt daran:
Die Welt geht weiter, wie sie will, und nicht, wie Ihr oder ich sie
weitergehen lassen wollen.«
»Ich bitte Euch, seid nicht zornig. Ich bitte Euch ebenfalls, daß
Euer Ärger über einen scharfzüngigen alten Mann die Freundschaft zu
meiner Tochter nicht verringert.«
»Nichts könnte das bewirken«, sagte Renata, gegen ihren Willen vom
Charme des alten Mannes besänftigt. »Ich liebe Dorilys, und werde
sie schützen, so gut ich kann, auch vor sich selbst.«
Als sie Aldaran verlassen hatte, ging sie lange Zeit besorgt durch
die Wehranlagen. Sie hatte ein ernstes ethisches Problem zu
bewältigen. Dorilys konnte eine Geburt wahrscheinlich nicht
überleben. Konnte sie es mit ihrem eigenen strengen Kode in
Übereinstimmung bringen, das Mädchen zur Frau werden zu lassen,
ohne daß es von diesem schrecklichen Fluch erfuhr? Sollte sie
Dorilys vor dem, was ihr bevorstand, warnen?
Erneut erzürnt dachte sie, daß Lord Aldaran lieber ihren Tod
akzeptierte, als die Erkenntnis, sein Bruder Scathfell könne sein
Reich erben.
Cassilda, gesegnete Mutter des
Hastur-Geschlechts, dachte sie. Alle
Götter seien gepriesen, daß ich nicht Fürst eines Reiches
bin.
17
Der Sommer war schön in den Hellers. Der Schnee
wich bis auf die höchsten Gipfel zurück, und selbst am Abend
regnete oder schneite es nur wenig.
»Eine wunderschöne Jahreszeit, aber gefährlich, Cousin Allart«,
sagte Donal, auf der Spitze der Burg stehend. »Wir haben weniger
Brände als die Tieflandreiche, denn bei uns bleibt der Schnee
länger liegen. Aber unsere Feuer wüten wegen der Harzbäume länger,
und in der Hitze dieser Tage geben sie Öle ab, die sich schnell
entzünden, wenn die Sommerblitzstürme toben. Und wenn die Harzbäume
in Flammen aufgehen …« Er zuckte die Achseln, breitete die Arme
aus, und Allart verstand. Auch er hatte gesehen, wie die leicht
brennbaren Bäume Feuer fingen, wie Fackeln aufloderten und dabei
Funkenregen von sich warfen, die wie ein flüssiger Regen fielen und
den ganzen Wald in Brand setzten.
»Es ist ein Wunder, daß es überhaupt noch Harzbäume gibt, wenn das
Jahr für Jahr passiert.«
»Wahrhaftig. Ich glaube, wenn sie weniger schnell wüchsen, würden
diese Hügel kahl und die Hellers vom Kadarin bis zur Mauer um die
Welt eine Wüste sein. Aber sie wachsen schnell, und die Hügel haben
sich nach einem Jahr erholt.«
Während er die Bänder der Fluggurte um seine Taille schnallte,
sagte Allart: »Seit ich ein Junge war, habe ich so ein Ding nicht
mehr geflogen. Ich hoffe, ich habe es nicht verlernt.«
»Das vergißt man nie«, erwiderte Donal. »Als ich fünfzehn war und
an, der Schwellenkrankheit litt, konnte ich fast ein Jahr lang
nicht fliegen. Ich war benommen und hatte
Orientierungsschwierigkeiten. Als ich wieder gesund war, glaubte
ich, das Fliegen verlernt zu haben. Aber mein Körper erinnerte
sich, sobald ich in die Luft gehoben wurde.« Allart zog die letzte
Schnalle fest. »Müssen wir weit fliegen?« »Wenn wir ritten, wäre es
weiter, als die meisten Tiere in zwei Tagen schaffen können. Es
geht über Pfade, die fast ausschließlich auf und ab führen. Aber
wenn wir wie die Kyorebni fliegen, ist
es nur mehr als eine Stunde entfernt.«
»Wäre es nicht einfacher, einen Luftwagen zu nehmen?« Allart fiel
ein, daß er in den Hellers keinen gesehen hatte.
Donal antwortete: »Das Volk von Darriel hat mit diesen Dingen
experimentiert. Aber unter den hiesigen Gipfeln gibt es zu viele
Querströmungen und Böen. Selbst mit einem Gleiter muß man einen Tag
zum Fliegen sorgfältig aussuchen und vor Stürmen und Windwechseln
auf der Hut sein. Einmal mußte ich stundenlang in einer Felsspalte
sitzen und darauf warten, daß ein Sommersturm abklang.« Er lachte
in der Erinnerung daran. »Ich kam nach Hause, zerzaust und
trübselig wie ein Karnickel, das seinen Bau einem Baumdachs
überlassen muß! Aber heute, glaube ich, werden wir nicht solchen
Ärger haben. Allart, du bist doch in einem Turm ausgebildet. Kennst
du die Leute von Tramontana?«
»Ian-Mikhail von Storn ist dort Bewahrer«, sagte Allart, »und ich
habe mit ihnen von Zeit zu Zeit über die Verstärker gesprochen, als
ich in Hali war. Aber ich bin nie selbst in Tramontana
gewesen.«
»Man hat mich dort immer freundlich aufgenommen. Sie sind, glaube
ich, immer froh über Besucher, sitzen wie Falken in ihrem Horst und
sehen niemanden zwischen dem Mittsommerfest und der
Mittwinternacht. Es wird ihnen ein Vergnügen sein, dich zu
begrüßen, Cousin.« »Und mir auch«, sagte Allart. Tramontana war der
entfernteste und am weitesten nördlich gelegene der Türme. Er war
fast völlig von den anderen isoliert, obwohl seine Arbeiter
Botschaften über die Verstärkernetze sandten und Informationen über
die Arbeit austauschten, die sie bei der Entwicklung neuer
Verwendungszwecke der Matrixwissenschaft geleistet hatten. Ihm fiel
ein, daß es die Arbeiter von Tramontana gewesen waren, die die
Chemikalien zur Brandbekämpfung entwickelt und erkundet hatten, wo
sie in den tiefen Höhlen unter den Hellers gefunden werden konnten
und wie sie zu verfeinern waren. Mit den Künsten der Matrix hatten
sie neue Verwendungsmethoden entwickelt.
»Haben sie nicht bis zur fünfundzwanzigsten Ebene mit der Matrix
gearbeitet?«
»Ich glaube schon, Cousin. Immerhin sind sie dreißig Personen.
Tramontana ist vielleicht der am weitesten entfernte Turm, aber
nicht der kleinste.«
»Wie sie die Chemikalien beherrschen, ist brillant«, bestätigte
Allart, »obwohl ich glaube, daß ich Angst hätte, einiges von dem zu
tun, was sie getan haben. Aber ihre Techniker sagen, daß eine
SechsundzwanzigEbenen-Matrix nicht gefährlicher als eine der
vierten Ebene sei, wenn man einmal die Gitternetze beherrscht. Ich
weiß nicht, ob ich mich der Konzentration von fünfundzwanzig
anderen Leuten anvertrauen würde.«
Donal lächelte wehmütig. »Ich wünschte, ich wüßte mehr von diesen
Dingen. Ich weiß nur, was Margali mir beigebracht hat. Der
Tramontana-Kreis hat immer nur wenig Zeit, und ich habe nur selten
die Erlaubnis erhalten, mehr als einen Tag dort zu
bleiben.«
»Ich glaube, aus dir wäre wirklich ein guter Mechaniker oder
Techniker geworden«, sagte Allart. Ihm fiel ein, wie schnell der
Junge auf seinen Unterricht angesprochen hatte. »Aber du hast nun
mal eine andere Bestimmung.«
»Wahrhaftig. Ich würde meinen Vater und meine Schwester auch nicht
verlassen. Sie brauchen mich hier«, gestand Donal. »Schon deswegen
wird es viele Dinge geben, die ich nie mit einer Matrix tun werde,
weil sie die Sicherheit eines Turms erfordert. Aber ich freue mich,
soviel wie möglich gelernt zu haben, und nichts stimmt mich froher
als das«, setzte er hinzu, während er die Gurte des aus Leder und
Holz konstruierten Gleiters berührte. »Sind wir so weit,
Cousin?«
Er trat an den Rand der Brustwehr, schlug mit den langen
Lederklappen der Gleiterschwingen, um den Luftstrom zu fassen, trat
dann in die Luft hinaus und flog aufwärts. Allart konnte mit
ausgestreckten Sinnen gerade den Randbereich des Stromes erfassen.
Er trat an die Brustwehrkante und spürte eine innere Verkrampfung,
die von der Höhe und dem Anblick des furchterregenden Abgrundes
hervorgerufen wurde. Aber wenn ein Junge wie Donal ohne Angst in
dieser Höhe fliegen konnte… Er konzentrierte sich auf die Matrix,
trat vor, spürte die plötzliche Benommenheit des langen
Abwärtsfluges und den Ruck des Stromes, der ihn nach oben trug.
Sein Körper fand schnell das Gleichgewicht, paßte sich dem Griff
der Gurte an und lehnte sich in die eine und andere Richtung, um
die Balance des Spielzeugs zu halten. Er sah Donals Gleiter
falkengleich über sich dahinschweben und erwischte einen Aufwind,
der ihn hochtrug, bis sie Seite an Seite flogen.
In den ersten Minuten war Allart so mit der Kontrolle des Gleiters
beschäftigt, daß er überhaupt nicht nach unten schaute. Sein
gesamtes Bewußtsein wurde von der feinen Balancearbeit in Anspruch
genommen, vom Druck der Luft und den Energieströmen, die er
verschwommen überall um sich fühlen konnte. Irgendwie ließ ihn das
an seine Tage in Nevarsin denken, als er zum ersten Mal sein
Laran gemeistert und gelernt hatte,
menschliche Wesen als Wirbel und Energienetze fließender Ströme zu
sehen. Und jetzt spürte er, daß die substanzlose Luft mit den
gleichen Energieströmen erfüllt war. Wenn ich
Donal viel beigebracht habe, hat er mir als Gegenleistung nicht
weniger gegeben, indem er mich die Kontrolle der Luftströmungen und
der Energieströme lehrte, die Luft, Land und Wasser durchdringen
… Allart hatte diese Luftströmungen vorher nie wahrgenommen;
jetzt konnte er sie beinahe sehen,
unter ihnen wählen, und auf ihnen reiten, bis zu einer Höhe hinauf,
in der die Winde gegen den zerbrechlichen Gleiter knallten, konnte
einen wilden Luftstrom entlangjagen, sich einen passenden Strom
aussuchen, um wieder hinabzutauchen. Im Gurtzeug liegend und nur
einen Bruchteil seines Bewußtseins darauf verwendend, den Gleiter
zu kontrollieren, schaute er auf das Bergpanorama hinab.
Unter ihm erstreckte sich eine ruhige Berglandschaft. Hügel um
Hügel war von dunklem Wald bedeckt. Hier und da machte er schräg
plazierten Baumreihen Platz, die geradlinig über einen Hügel
hinwegwuchsen – Nußfarmen oder Pilzplantagen, die inmitten des
Waldes lagen. Wo Herden grasten, hatte man den Wald abgeholzt, um
Wiesen zu schaffen. Sie waren mit kleinen Hütten übersät, in denen
die Hüter lebten, und ab und zu entdeckte er am Lauf eines
dahinrasenden Bergstromes ein Wasserrad, mit dessen Kraft man Käse
herstellte, oder die Fasern, die – dank der Matrix-Verstärker – aus
der Milch gewonnen wurden, nachdem Molke und Quark aus ihr
herausgepreßt worden waren. Allart schnupperte den merkwürdigen
Geruch einer Filzmühle und den einer anderen, in der Abfall aus der
Holzverarbeitung zu Papier gepreßt wurde. Auf einem felsigen Hügel
sah er den Eingang eines Höhlensystems, in dem das Schmiedevolk
lebte, und den Schein ihrer Feuer, deren fliegende Funken keine
Wälder oder bevölkerte Gebiete gefährden konnten. Während sie
weiterflogen, wurden die Hügel höher und öder. Allart fühlte, wie
Donal seine Gedanken berührte. Der Junge war dabei, sich zu einem
kunstfertigen Telepathien zu entwickeln, der Aufmerksamkeit erregen
konnte, ohne einen zu beunruhigen. Allart folgte ihm an einem
langen Luftstrom entlang hinunter zwischen zwei Hügel, wo die weiße
Säule des Tramontana-Turms im Licht der Mittagssonne funkelte. Ein
Wächter auf der Turmspitze hob die Hand zum Gruß. Als Donal
hinabjagte, die Flügel seines Gleiters zusammenfaltete, auf den
Füßen landete, federnd in die Knie sank, sich mit der gleichen
Bewegung aufrichtete und die Schwingen wie einen langen Schweif
abstreifte, folgte Allart ihm.
Er selbst schien für dieses Spiel allerdings weniger
Geschicklichkeit zu besitzen und wurde in einem Wirrwarr aus Gurten
und Leinen zu Boden geworfen. Lachend kam Donal auf ihn
zu.
»Macht nichts, Cousin. Ich bin selbst viele Male so gelandet«,
sagte er, und Allart fragte sich, wie viele Jahre vergangen sein
mochten, seit das zum letzten Mal geschehen war. »Komm, Arzi wird
deinen Gleiter nehmen und ihn bis zu unserer Rückkehr sicher
aufbewahren«, fügte Donal hinzu und wies auf den alten, gebeugten
Mann, der neben ihm stand. »Master Donal«, sagte der alte Mann in
einem so breiten Dialekt, daß selbst Allart, der die meisten
Hellers-Dialekte kannte, Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen, »es
ist mir wie immer eine Freude, Euch bei uns begrüßen zu dürfen. Ihr
erweist uns eine Ehre, Dom’yn«, setzte
er hinzu und schloß Allart in seine ungelenke Verbeugung
ein.
Donal sagte: »Das ist mein alter Freund Arzi, der dem Turm schon
diente, ehe ich geboren wurde, und mich hier drei- oder viermal im
Jahr begrüßte, seit ich zehn Jahre alt wurde. Arzi – mein Cousin,
Dom Allart Hastur von Elhalyn.«
» Vai Dom.« Arzis Verbeugung wirkte –
tief und ehrerbietig wie sie war – beinahe komisch. »Lord Hastur
erweist uns eine Ehre. Ah, das ist ein glücklicher Tag – die
Vai Lernyn werden wirklich glücklich
sein, Euch begrüßen zu können, Lord Hastur.«
»Nicht Lord Hastur«, sagte Allart freundlich, »nur Lord Allart,
mein guter Mann, aber ich danke dir für die Begrüßung.«
»Ah, es ist viele, viele Jahre her, seit ein Hastur zum letzten Mal
bei uns war«, sagte Arzi. »Bitte folgt mir, Vai Dom’yn.«
»Sieh, was der Wind uns gebracht hat«, rief eine fröhliche Stimme.
Ein junges Mädchen, groß und schlank, mit Haaren so bleich wie der
Schnee auf den weit entfernten Gipfeln, kam auf Donal zugelaufen
und hielt seine Hände zur Begrüßung ausgestreckt. »Donal, wie wir
uns freuen, dich wiederzusehen! Du hast uns einen Gast
mitgebracht?«
»Ich freue mich, wieder hier zu sein, Rosaura«, sagte Donal und
umarmte das Mädchen, als sei es eine langvermißte nahe Verwandte.
Das Mädchen streckte eine Hand aus, um Allart zu begrüßen. Sie
schenkte ihm die schnelle Berührung der Telepathen, für die dies
natürlicher als die Berührung von Fingerspitzen war. Allart hatte
natürlich gewußt, wer sie war, bevor Donal ihren Namen
ausgesprochen hatte, aber als sie einander berührten, erhellte ihr
Gesicht sich erneut mit einem schnellen Lächeln.
»Oh, du bist doch Allart, der ein halbes Jahr in Hali war. Ich habe
natürlich gehört, daß du in den Hellers bist, aber ich hatte keine
Ahnung, daß das Schicksal dich zu uns bringen würde, Verwandter.
Bist du hergekommen, um mit dem Tramontana-Turm zu arbeiten?« Donal
beobachtete die Begegnung verblüfft. »Aber du bist doch noch nie
hier gewesen, Cousin«, sagte er zu Allart.
»Das stimmt«, erklärte Rosaura. »Bis zu dieser Stunde hat keiner
von uns das Gesicht unseres Verwandten erblickt, aber wir haben ihn
in den Verstärkern berührt. Das ist ein glücklicher Tag für
Tramontana, Allart! Komm und lerne die anderen kennen.« Rosaura
nahm sie mit hinein, und bald waren sie von mehr als einem Dutzend
junger Männer und Frauen umringt – einige der anderen waren in den
Verstärkern an der Arbeit, andere schliefen nach einer
arbeitsreichen Nacht –, die Donal wie einen der ihren
begrüßten.
Allarts Gefühle waren gemischt. Er hatte es geschafft, nicht zuviel
darüber nachzudenken, was er im Hali-Turm zurückgelassen hatte, und
jetzt begegnete er – von Angesicht zu Angesicht – den Leuten, mit
denen er durch die Verstärker in Berührung gekommen war. Die ihm
bisher lediglich in der schwer zu erfassenden, körperlosen
Berührung des Geistes bekannten Personen nahmen nun Gestalt
an.
»Kommst du nach Tramontana, um zu bleiben, Cousin? Wir können einen
guten Techniker gebrauchen.«
Bedauernd schüttelte Allart den Kopf. »Ich bin woanders
verpflichtet, obwohl mich nichts mehr erfreuen würde, denke ich.
Aber ich bin lange in Aldaran gewesen, ohne Nachrichten aus der
Welt draußen. Was macht der Krieg?«
»Es ist alles beim alten«, sagte Ian-Mikhail, ein schlanker,
dunkler, junger Mann mit gelocktem Haar. »Es gab das Gerücht, daß
Alaric Ridenow, den sie den Rotfuchs nennen, getötet worden sei,
aber es stellte sich als falsch heraus. König Regis ist schwer
erkrankt. Prinz Felix hat den Rat einberufen. Sollte er sterben,
wäre während der Krönung von Prinz Felix ein weiterer
Waffenstillstand nötig – falls er jemals gekrönt werden sollte. Und
von deiner eigenen Familie, Allart, kam die Nachricht, daß die
Gattin deines Bruders in der ersten Dekade des Rosenmonats einen
Sohn geboren hat. Dem Jungen geht es gut, aber Cassilde hat ihre
Kräfte noch nicht wiedergewonnen und kann ihn nicht selbst nähren.
Man fürchtet, daß sie sich nicht erholen wird. Aber der Junge ist
zum Erben deines Bruders ernannt worden.«
»Den Göttern sei Dank. Evanda, die Gnadenreiche, möge über dem Kind
lächeln.« Allart sagte den zeremoniellen Satz mit wirklicher
Erleichterung.
Jetzt hatte Damon-Rafael einen legitimen Sohn. Es war keine Frage,
daß der Rat einem legitimen Bruder den Vorzug vor einem
Nedestro-Sohn gegeben hätte.
Und doch sah sich Allart in den auf ihn einstürmenden Möglichkeiten
der Zukunft selbst in Thendara gekrönt. Ärgerlich versuchte er, die
Tür vor seinem Laran und den
unwillkommenen Möglichkeiten zuzuschlagen. Besitze ich etwa doch den Ehrgeiz meines
Bruders?
»Und ich«, sagte Rosaura, »habe erst vor drei Tagen in den
Verstärkern mit deiner Gattin gesprochen.«
Allarts Herz schien sich schmerzhaft zusammenzupressen. Cassandra!
Wie lange war es her, seit er sich ihr Bild vorgestellt hatte? »Wie
geht es ihr?«
»Sie scheint wohlauf und zufrieden«, sagte Rosaura. »Du hast wohl
gewußt, daß sie zur Überwacherin von Coryns Kreis in Hali ernannt
worden ist, oder?«
»Nein, ich habe es nicht gehört.«
»Sie ist eine kraftvolle Telepathin in den Verstärkernetzen. Ich
frage mich, wie du es über dich bringen konntest, sie
zurückzulassen. Ihr seid noch nicht lange verheiratet, nicht
wahr?«
»Nicht einmal ein Jahr«, antwortete Allart. Nein, nicht lange, eine schmerzlich kurze Zeit, um eine
geliebte Frau zu verlassen … Er hatte vergessen, daß er sich
unter den geübten Telepathen eines Turm-Kreises befand. Einen
Moment lang senkten sich die Trennwände seines Geistes, und er sah
seinen eigenen inneren Schmerz überall reflektiert. Er sagte: »Das
Schicksal des Krieges, nehme ich an. Die Welt wird weitergehen, wie
sie will, und nicht, wie du oder ich es gerne hätten.« Er fühlte
sich würdevoll und geziert, als er das Klischee aussprach, und die
anderen spielten ihm den höflichen, nichtsenthüllenden
Nicht-Kontakt vor, das geistige Sich-Abwenden – ganz das höfliche
Verhalten unter Telepathen, wenn unbekannte Wahrheiten sich durch
Zufall enthüllen. Allart fand erst dann seine Fassung wieder, als
Donal von ihrem Auftrag berichtete.
»Mein Vater schickt mich, damit die ersten Feuerchemikalien zur
Station im Harzbaumwaldes gebracht werden. Die anderen können mit
Packtieren geschickt werden. Wir bauen auf dem Gipfel eine neue
Feuerstation.« Das Gespräch wandte sich allgemein der
Feuerbekämpfung, der Jahreszeit und den frühen Stürmen
zu.
Eine der Leroni nahm Donal mit, um ein
Chemikalienpaket zu schnüren, das sie auf den Gleitern
transportieren konnten. Rosaura zog Allart zur Seite.
»Ich bedaure die Notwendigkeiten, die dich so früh von deiner Braut
getrennt haben, Verwandter – aber wenn du möchtest, und Cassandra
in den Verstärkern ist, kannst du mit ihr sprechen.«
Mit dieser Möglichkeit konfrontiert, fühlte Allart, wie sein Herz
sich zusammenkrampfte. Er hatte sich gefügt, hatte sich gesagt, daß
sie zumindest die grausamste der Zukunftsentwicklungen, die er
gesehen hatte, vermeiden würden, wenn er Cassandra nie wiedersah.
Aber die Möglichkeit, mit ihr zu sprechen, durfte er nicht
übergehen. Die Matrixkammer war wie jede andere: Sie lag unter
einem gewölbten Dach und besaß blaue Oberlichter, die eine weiche
Strahlung einließen. Allarts Blick fiel auf den Überwachungsschirm,
das große Verstärkernetz. Eine junge Frau im weiten Gewand einer
Matrixarbeiterin kniete davor. Ihr Gesicht, leer und ruhig, zeigte
den abwesenden Blick einer Matrixtechnikerin, deren Geist auf etwas
anderes eingestimmt und deren Gedanken in den Verstärkernetzen
gefangen waren, die alle Telepathen in den Türmen Darkovers
miteinander verbanden.
Allart nahm neben dem Mädchen Platz. Im Innersten war er noch immer
beunruhigt.
Was soll ich ihr sagen? Wie kann ich ihr
wieder begegnen, selbst auf diese Weise?
Aber die alte Disziplin der rituellen Atemzüge, die den Geist
beruhigten, wirkte. Allarts Körper nahm eine mühelose Stellung ein,
die er ohne allzu große Ermüdung unendlich lange würde
aufrechthalten können. Er warf sich in die –weite, wirbelnde
Dunkelheit hinein und fühlte sich wie ein Gleiter über einem tiefen
Abgrund. Gedanken wirbelten wie weitentferntes Gerede in einem
überfüllten Raum an ihm vorbei. Es war ohne Bedeutung für ihn, da
er ihren Ursprung und Zusammenhang nicht wahrnahm. Dann, als er
sich des Verstärkernetzes bewußter wurde, spürte er eine
wahrnehmbare Berührung: Rosauras Stimme. Hali…
Wir sind hier, was wünscht
ihr?
Wenn die Lady Cassandra Aillard-Hastur unter
euch ist – ihr Mann ist bei uns in Tramontana und möchte mit ihr
sprechen …
Allart, bist du das? So erkennbar wie
ihr helles Haar und ihr fröhliches mädchenhaftes Lächeln berührte
er Arielle. Ich glaube, daß Cassandra gerade
schläft, aber für dich wird sie sich gerne wecken lassen. Bring
meiner Cousine Renata Grüße von mir. Ich denke oft an sie. Ich
werde Cassandra für dich wecken.
Arielle war fort. Allart befand sich wieder in der schwebenden
Stille, Botschaften glitten an ihm vorbei, ohne auf irgendeinen
Teil seines Geistes überzugreifen, der sich an sie erinnern oder
sie registrieren konnte. Dann, ohne Vorwarnung, war sie
da, neben ihm, um ihn herum, eine fast
körperliche Anwesenheit … Cassandra!
Allart, mein Geliebter…
Das Zusammenwirken von Tränen, Erstaunen, Unglauben,
Wiedervereinigung. Ein zeitloser Moment (drei Sekunden? drei
Stunden?) von absoluter, ekstatischer Begegnung, wie eine Umarmung.
Es war wie damals, als er sie zum ersten Mal besessen hatte. Er
fühlte, wie die Trennwände fielen, fühlte ihren Geist in den seinen
eindringen und sich mit ihm vermischen. Die Begegnung wurde zu
einer wechselseitigen Hingabe, die noch stärker als die Vereinigung
ihrer Körper war. Wortlos, aber vollständig. Allart versank in ihr
und fühlte, wie auch Cassandra sich verlor.
Auf dieser Ebene konnte der Kontakt nicht lange aufrechterhalten
werden. Allart fühlte, wie er dahinschwand, sich auf normales
Denken und normalen Kontakt reduzierte.
Allart, wie bist du nach Tramontana
gekommen?
Mit dem Pflegesohn von Aldaran, um die ersten
feuerbekämpfenden Chemikalien abzuholen, da die Jahreszeit der
Brände bevorsteht. In den Hellers machen sie einem schwer zu
schaffen. Er übermittelte ihr ein Bild des langen,
ekstatischen Flugs, zeigte ihr das Dahinjagen der Gleiter und wie
der Wind an Kopf und Körper vorbeiraste.
Wir haben hier auch Brände gehabt. Der
Hali-Turm ist mit Luftwagen und Brandbomben angegriffen
worden. Er sah Flammen am Ufer wüten, einen abstürzenden,
wie einen Meteor glühenden Luftwagen, den die miteinander
verbundenen Hirne von elf Hali-Bewohnern zur Explosion gebracht
hatten, die Todesschreie des Piloten, der unter Drogen stand und
kaum wußte, was er tat…
Aber du bist in Sicherheit, meine
Geliebte?
Ich bin in Sicherheit, auch wenn wir alle
erschöpft sind und Tag und Nacht arbeiten … Ich habe viel erlebt,
Allart. Ich werde dir viel zu erzählen haben. Wann kommst du
zurück?
Das liegt in der Hand der Götter, Cassandra,
aber ich werde nicht länger bleiben, als ich muß … Als er
die Wort-Gedanken formte, wußte er, daß sie zutrafen. Vielleicht
war es klüger, sie nie wiederzusehen. Aber schon konnte er einen
Tag voraussehen, an dem er sie wieder in den Armen hielt – und
wußte plötzlich, daß er sich nicht von ihr abwenden würde, selbst
wenn das seinen Tod bedeutete … und sie würde es auch
nicht.
Allart, müssen wir den Eintritt der Aldarans
in den Krieg fürchten? Seit du in die Hellers aufgebrochen bist,
haben wir das mehr als alles andere gefürchtet.
Nein, Aldaran wird von Streitigkeiten in
seiner eigenen Familie in Atem gehalten. Er ergreift für keine
Seite Partei. Ich bin hier, um Lord Aldarans Pflegesohn
Laran-Unterricht zu erteilen, während Renata sich um seine Tochter
kümmert…
Ist sie sehr schön? In Cassandras
Gedanken spürte er – unausgesprochen, aber eindeutig – Ärger und
Eifersucht. Galten sie Renata oder der ihr unbekannten Tochter
Aldarans? Er hörte die unausgesprochene Antwort: Beiden …
Sehr schön, ja … Allart übermittelte
heitere, vergnügte Gedanken. Sie ist elf Jahre
alt … und keine Frau der Welt, nicht einmal die selige Cassilda in
ihrem Schrein, ist auch nur halb so schön wie du, meine
Geliebte … Es folgte ein weiterer Augenblick glückseliger,
ekstatischer Begegnung, als seien sie mit allen Sinnen eins. Er
mußte es unterbrechen. Cassandra würde es, wenn sie als
Überwacherin arbeitete, nicht lange aushalten. Langsam und
widerwillig ließ er den Kontakt schwinden, aber Geist und Körper
waren noch immer von ihr erfüllt, als könne er die Berührung ihres
Kusses auf seinem Mund fühlen.
Benommen und erschöpft kehrte Allart ins Bewußtsein der
Matrixkammer und seines verkrampften und zitternden Körpers zurück.
Nach einer langen Zeit bewegte er sich langsam, stand auf und
verließ die Kammer auf Zehenspitzen, um die Arbeiter in den
Verstärkernetzen nicht zu stören. Wahrend er die Wendeltreppe
hinunterging, fragte er sich, ob er für die Möglichkeit, mit ihr zu
sprechen, dankbar sein sollte oder nicht.
Es hat ein neues Band geschmiedet, das besser
zerrissen worden wäre. In der langen Begegnung hatte er
viele Dinge aufgefangen, die sein Bewußtsein nicht wirklich
verstand, aber er fühlte, daß auch Cassandra auf ihre Weise
versucht hatte, das Band zu zerreißen. Er war nicht aufgebracht
deswegen. Sie waren noch immer verbunden, stärker denn je, durch
die Bande der Begierde und Enttäuschung.
Und Liebe? Und Liebe?
Was ist überhaupt Liebe? Allart war
nicht sicher, ob das sein eigener Gedanke war, oder einer, den er
irgendwie aus dem verstörten Geist seiner Frau aufgefangen
hatte.
Am Fuß der Treppe traf er Rosaura. Wenn sie seinen verwirrten Blick
und die Tränenspuren überhaupt bemerkt hatte, ging sie zumindest
darüber hinweg. Unter Turm-Telepathen, wo man keine starke
Empfindung verbergen konnte, gab es bestimmte Höflichkeitsrituale.
Sie sagte ziemlich sachlich: »Nach einem Kontakt über solch eine
Entfernung wirst du erschöpft und ausgelaugt sein. Komm, Cousin,
erfrische dich.«
Donal stieß beim Essen zu ihnen, wie auch ein halbes Dutzend
TurmArbeiter, die sich ausruhten. Die Aufhebung der Belastung und
das seltene Vergnügen, an ihrem isolierten Aufenthaltsort auf
Besucher zu stoßen, hatte alle ein wenig euphorisch gemacht.
Allarts Kummer und seine wiederbelebte Sehnsucht nach Cassandra
wurden auf einer Welle von Scherzen und Gelächter fortgeschwemmt.
Die Speisen waren ihm zwar fremd, aber gut: Es gab süßen, weißen
Bergwein, auf ein Dutzend verschiedener Arten zubereitete Pilze und
Schwämme, weiche, weiße gekochte Knollen oder Wurzeln, zu kleinen
Kuchen gebacken und in duftendem Öl geröstet, aber keinerlei
Fleisch. Rosaura erklärte ihm, daß man beschlossen hatte, mit einer
Diät ohne Tierfleisch zu experimentieren, um zu sehen, ob das ihre
Wahrnehmungsfähigkeit sensibilisierte. Allart erschien das
merkwürdig und ein wenig dumm, aber er hatte jahrelang mit einer
solchen Diät in Nevarsin gelebt.
»Bevor du gehst: Wir haben eine Nachricht für deinen Pflegevater,
Donal«, sagte Ian-Mikhail. »Scathfell hat Botschaften nach Sain
Scarp, Storn, Ardais, Scaravel und Castamir gesandt. Ich habe keine
Ahnung, um was es sich handelt, aber als oberster Lehnsherr von
Scathfell sollte Lord Aldaran davon wissen. Scathfell wollte die
Botschaften den Verstärkern nicht anvertrauen, daher fürchte ich,
daß es um eine geheime Verschwörung geht. Wir haben Gerüchte über
einen Bruch zwischen deinem Vater und Lord Scathfell gehört. Lord
Aldaran sollte gewarnt werden.«
Donal wirkte besorgt. »Ich danke dir im Namen meines Pflegevaters.
Natürlich wußten wir, daß solche Dinge geschehen würden, aber
unsere Leronis ist alt und war von
meiner Schwester sehr in Anspruch genommen, vielleicht haben wir
deswegen so wenig von Scathfells Plänen gehört.«
»Geht es deiner Schwester gut?« fragte Rosaura. »Wir hätten sie
gerne zur Untersuchung hier in Tramontana gehabt.«
»Renata Leynier ist von Hali gekommen, um sich um sie zu kümmern«,
sagte Donal, und Rosaura lächelte.
»Renata von Hali? Ich kenne sie aus den Verstärkern. Deine
Schwester wird bei ihr gut aufgehoben sein, Donal.«
Es wurde Zeit, sich auf die Rückkehr vorzubereiten. Eine der
Überwacherinnen brachte sorgfältig verschnürte Pakete mit
Chemikalien, die – mit Wasser oder anderen Flüssigkeiten vermischt
– sich beträchtlich ausdehnen und, zu weißem Schaum geworden, eine
große Fläche jedweden Feuers bedecken konnten. Sobald ein
Landkonvoi zusammengestellt werden konnte, würde man noch mehr
schicken. Donal ging den steilen Pfad hinter dem Turm hinauf und
musterte von dort aus den Himmel. Als er zurückkam, sah er ernst
aus.
»Vor Sonnenuntergang kann es zu Stürmen kommen«, sagte er. »Wir
sollten keine Zeit verlieren, Cousin.«
Diesmal zauderte Allart beim Übertreten der Kante nicht. Auf einem
steigenden Luftstrom schwebend und die Kraft der Matrix ausnutzend,
stieg er auf, höher und höher. Dennoch konnte er sich dem Vergnügen
des Erlebnisses nicht völlig hingeben.
Der Kontakt mit Cassandra – so schön er gewesen war – hatte ihn
erschöpft und besorgt gemacht. Er versuchte, diese Gedanken
beiseitezuschieben. Das Fliegen erforderte die Konzentration auf
die Matrix. Die Beschäftigung mit anderen Gedanken war ein Luxus,
den er sich nicht leisten konnte. Und doch sah er immer wieder
Gesichter, die sein Laran erzeugte:
einen großen, freundlichen Mann, der auf merkwürdige Art Dom
Mikhail von Aldaran ähnelte; Cassandra, die einsam in ihrem Zimmer
in Hali weinte, dann aufstand und sich für die Arbeit in den
Verstärkern zusammennahm; Renata, die Dorilys mit zorniger Gebärde
gegenüberstand … Mit Willenskraft brachte er sich wieder in die
Höhe, die aufsteigende Luft jagte an seinem Gleiter vorbei, die
Luftströme zerrten schmerzlich in seinen ausgestreckten
Fingerspitzen, als wäre jeder einzelne die Flügelspitze eines
auffliegenden Falken. Er jagte, weder Mensch noch Vogel, auf der
Luft daher. Allart wußte, daß er in diesem Augenblick an Donals
inneren Phantasien teilhatte.
»Vor uns gibt es Stürme«, warnte Donal. »Es tut mir leid, daß ich
dich so weit von unserem Kurs abbringen muß, aber wir müssen sie
umgehen. Es ist nicht ungefährlich, so nahe an einem Sturm zu
fliegen. Folge mir, Cousin.« Er erwischte einen nahen Luftstrom und
ließ sich mit Matrixhilfe von dem geraden Kurs nach Aldaran
wegtreiben. Allart konnte den Sturm vor ihnen sehen und spürte
mehr, als er sie sah, die elektrischen Entladungen, die von Wolke
zu Wolke sprangen. Sie kreisten in einer langen, langsamen Spirale
fast bis zum Boden. Er fühlte Donals Ärger.
Sollen wir irgendwo landen und den Sturm
abwarten? Ich würde es riskieren, aber Allart ist das Fliegen nicht
gewohnt… Ich werde riskieren, was du riskierst,
Donal.
Dann folge mir. Es ist, als weiche man einem Pfeilregen aus, aber ich habe es
mehr als einmal getan … Er senkte seine Flügel, schoß auf
einer schnellen Strömung nach oben und jagte dann schnell zwischen
zwei Wolken hindurch. Schnell! Gerade hat sich
ein Blitz entladen. Es wird nicht lange dauern, bis sich der
nächste aufbaut.
Allart spürte ein merkwürdiges schrilles
Klingeln, und erneut flogen sie wie bei einem Spießrutenlauf durch
die zuckenden Blitze. Normalerweise hätte er sich zurückfallen
lassen, aber er vertraute der Führung Donals, der wußte, wo und
wann der Blitz zuschlagen würde. Allart
fühlte dennoch, wie kalte Tropfen ihn trafen. Sie durchflogen einen
plötzlich auftauchenden kleinen Regenschauer, und er klammerte
sich, durchnäßt und frierend, an die Gurte des Gleiters. Seine
feuchten Kleider ließen die Haut eiskalt werden. Er folgte Donal
auf dem langen, Übelkeit verursachenden Sturzflug eines Abwinds,
erwischte in letzter Sekunde eine Aufwärtsströmung, die ihn höher
und höher trug, bis sie kreisend über den Hügeln von Burg Aldaran
schwebten.
Donal, nur eine Stimme in Allarts Kopf, sagte: Wir können nicht sofort hinunter. Auf den Gleitern und
unseren Kleidern ist zuviel Ladung. Sobald wir den Fuß auf den
Boden setzten, würde sie uns bewußtlos machen. Wir müssen eine
Weile kreisen. Schwebe und spreize die Hände, um sie allmählich
abzubauen …
Allart, den Anweisungen folgend, trieb in gemächlichen,
träumerischen Kreisen. Er wußte, daß Donal wieder in der
Falken-Rolle war, sich in den Geist und die Gedanken eines großen
Vogels projizierte. Während sie über der Burg dahinzogen, hatte
Allart genug Zeit, auf Aldaran hinabzublicken. In den vergangenen
Monaten war es ihm eine zweite Heimat geworden, aber nun sah er mit
einem Gefühl böser Vorahnung eine lange Reiterkarawane, die sich
den Toren näherte. Er sandte einen wortlosen Warnschrei zu Donal,
als der Führer der Karawane sein Schwert zog. Der Klang des
geistigen Schreis war für Allart, der hoch über den Zinnen und dem
steil hinabstürzenden Wasserfall dahinflog, beinahe
hörbar.
»Aber da ist doch niemand«, sagte Donal besorgt. »Was fehlt dir?
Was hast du gesehen? Wirklich, dort ist niemand.«
Allart blinzelte verwirrt, ein plötzliches Schwindelgefühl ließ
seine Schwingen flattern, und automatisch kippte er ab, um das
Gleichgewicht wiederzufinden. Die Straße nach Aldaran lag leer und
verlassen im zunehmenden Zwielicht. Er sah weder Reiter noch
bewaffnete Männer, noch Banner. Sein Laran hatte ihm wieder einmal gezeigt, was
geschehen konnte. Die Vision war verschwunden.
Donal flatterte, flog seitwärts. Seine erregte Warnung drängte
Allart, ihm schnell zu folgen. »Wir müssen hinunter, selbst wenn
wir dabei die Besinnung verlieren«, schrie er und sandte ihm einen
flüchtigen, erregten Gedanken zu: Ein neuer
Sturm kommt auf.
Aber ich sehe keine Wolken.
Dieser Sturm braucht keine Wolken,
dachte Donal bestürzt. Das ist der Zorn meiner
Schwester, der Blitze erzeugt. Die Wolken werden noch kommen. Sie
würde uns nicht wissentlich treffen, aber wir müssen dennoch so
schnell wie möglich nach unten.
Er ließ sich auf einer schnellen Strömung hinabsinken, verlagerte
sein Gewicht auf den Gleiter, daß er senkrecht in ihm hing, und
setzte es ein, um das Gefährt nach unten zu bringen. Allart,
vorsichtiger und weniger erfahren, folgte einer normalen
Abwärtsspirale, aber dennoch spürte er den Schlag schmerzender
Elektrizität, als seine Füße den Boden berührten. Donal, der sein
Gurtzeug losschnallte und den Gleiter in einem Durcheinander von
Leinen dem Diener zuwarf, der herbeigeeilt kam, murmelte: »Was kann
das sein? Was ist geschehen, daß Dorilys so erregt oder geängstigt
ist?« Mit einer knappen Entschuldigung an Allart eilte er
davon.
18
Ohne darüber nachzudenken hörte auch Renata das
Rollen des Sommerdonners, als sie sich durch die Flure des
Schlosses auf den Weg zu Dorilys’ Räumen machte, um den
Nachmittagsunterricht zu geben. Weil Dorilys jünger war als die
Novizen eines Turms – und auch, weil sie diese Ausbildung weder aus
freiem Willen gewählt noch gelobt hatte, die Unbequemlichkeiten und
Schwierigkeiten der Arbeit ohne Klagen zu ertragen –, hatte Renata
versucht, den Unterricht locker und vergnüglich zu gestalten,
Spiele und kleine Spaße zu ersinnen, die das Laran des Mädchens entwickeln konnten, ohne es
langwierigen, ermüdenden Übungen zu unterwerfen. Dorilys war noch
zu jung, um vorschriftsmäßig auf telepathische Fähigkeiten
untersucht zu werden, die sich selten vor Einsetzen der Pubertät
entwickelten. Renata schätzte, daß Dorilys beträchtliche Begabung
zum Hellsehen besaß und wahrscheinlich zusätzlich zu ihrer schwer
zu handhabenden Gabe, Blitze zu erzeugen, einige telekinetische
Kraft. Also hatte sie sie mit einfachen Spielen unterrichtet,
Süßigkeiten und Spielzeuge versteckt, und Dorilys sie mit ihrem
Laran finden lassen. Sie hatte ihre
Augen verbunden, sie den Weg durch komplizierte Hinderniskurse aus
Möbelstücken und unvertraute Teile des Schlosses suchen lassen und
ihr die Aufgabe gestellt, mit verbundenen Augen ihre eigenen
Besitztümer aus einem Wirrwarr ähnlicher Gegenstände
herauszufinden, indem sie den Magnetismus, der ihnen anhaftete,
»fühlte«. Dorilys war eine gelehrige Schülerin und fand an den
Unterrichtsstunden so viel Gefallen, daß es Margali bei zwei oder
drei Gelegenheiten tatsächlich gelungen war, ihren aufsässigen
Zögling mit der Drohung zur Raison zu bringen, den Unterricht
ausfallen zu lassen.
Soweit Renata feststellen konnte, fehlten Dorilys die beiden Gaben,
die sie zu einer Turm-Arbeiterin machen könnten, völlig:
Telepathie, definiert als die Fähigkeit, bewußtes Denken zu lesen
oder aufzugreifen; und Empathie, die darin bestand, die Gefühle
oder körperlichen Empfindungen eines anderen im eigenen Geist oder
Körper zu spüren. Aber beide Fähigkeiten konnten sich noch in den
Jugendjahren ausbilden, und wenn sie dann einige Kontrolle über
ihre Energieströme besaß, würde die gefürchtete Schwellenkrankheit
weniger Gefahr für sie heraufbeschwören.
Wenn es sich doch nur früher entwickeln ließe – oder später! Es war
die Geißel aller Laran besitzenden
Familien, daß diese Sorgen erzeugenden Anlagen sich gleichzeitig
dann entwickelten, wenn das Kind die körperlichen und seelischen
Umwälzungen der Pubertät durchlief. Viele von denen, die diese
Gaben trugen, erfuhren erst dann, daß das plötzliche Einsetzen der
Psi-Kräfte, die sich entwickelnde Sexualität und die hormonale und
gemütsmäßige Labilität dieser Periode für Körper und Geist eine zu
schwere Belastung waren. Man wurde enormen Umwälzungen unterworfen,
denen Krisen, Krämpfe und sogar der Tod folgte. Renata hatte selbst
einen Bruder durch die Schwellenkrankheit verloren. Keine
Laran-Familie überlebte ohne solche Verluste.
Dorilys hatte das Aldaran-Blut der Vaterseite in den Adern, nicht
das relativ stabile der Delleray, das dem der Hasturs ähnlich war.
Was Renata von den Erblinien der Aldaran und Rockraven wußte,
machte sie nicht übermäßig hoffnungsvoll, aber je mehr Dorilys von
den Energieströmen ihres Körpers, den Nerven- und Energieflüssen
wußte, um so wahrscheinlicher konnte sie diese Umwälzungen ohne
allzu große Schwierigkeiten überleben.
Während sie sich Dorilys Räumen näherte, spürte sie die Untertöne
von Zorn, erschöpfter Geduld (Renata hielt die alte Leronis für eine Heilige, da sie mit dem verzogenen
kleinen Mädchen fertig wurde) und Überheblichkeit, was bedeutete,
daß etwas nicht nach Dorilys Willen ging. Renata gegenüber hatte
sie diese kindliche Seite selten gezeigt, denn sie bewunderte die
junge Leronis und buhlte um ihre
Anerkennung und Sympathie. Aber weil sie nie streng erzogen worden
war, fand sie es schwierig zu gehorchen, wenn ihre Empfindungen ihr
eine andere Richtung wiesen. Ihre Aufgabe wurde keineswegs dadurch
leichter, daß Margali, die seit dem Tod Darren Scathfells Angst vor
ihrem Zögling hatte, dies nicht verbergen konnte.
Auch ich habe Angst vor ihr, dachte
Renata, aber sie weiß es nicht. Wenn ich sie
es je wissen lasse, werde ich nie mehr in der Lage sein, sie irgend
etwas zu lehren.
Hinter der Tür hörte sie Dorilys Stimme – ein gereiztes Grollen.
Sie erhöhte ihre Wahrnehmungsfähigkeit, um Margalis Antwort zu
hören.
»Nein, Kind. Deine Stickerei ist eine Schande. Es gibt keinen
Musikunterricht und keinen Unterricht mit Lady Renata, ehe du nicht
all diese unbeholfenen Stiche aufgetrennt und neugemacht hast.« In
schmeichelndem Tonfall setzte sie hinzu: »So unbeholfen bist du
doch nicht. Du bemühst dich einfach nicht. Du kannst sehr schön
nähen, wenn du willst, aber heute hast du offenbar beschlossen,
nichts zu tun und verpfuschst absichtlich alles. So, und jetzt
trenn die Stiche auf – nein, benutze das richtige Trennwerkzeug,
Kind! Versuche nicht, sie mit den Fingern aufzutrennen, sonst wirst
du den Stoff zerreißen! Dorilys, was ist heute mit dir
los?«
Dorilys gab zurück: »Ich mag nicht nähen. Wenn ich Lady Aldaran
bin, werde ich ein Dutzend Näherinnen haben. Es gibt keinen Grund,
daß ich es lerne. Und Lady Renata wird meinen Unterricht nicht
ausfallen lassen, weil du es
sagst.«
Der barsche und verächtliche Ton ihrer Worte bestimmte Renatas
Entscheidung. Das Nähen war nicht von Bedeutung, aber die
Selbstdisziplin – sorgfältig und gewissenhaft an einer Aufgabe zu
arbeiten, für die sie weder Begabung noch Neigung besaß – war
wichtig. Renata, die ausgebildete Empathin und Überwacherin, spürte
beim Öffnen der Tür den heftig brennenden Schmerz auf Margalis
Stirn und sah die Linien der Erschöpfung im Gesicht der alten Frau.
Dorilys wandte wieder ihren alten Trick an und versorgte Margali,
die nicht tat, was sie wollte, mit Kopfschmerzen. Sie saß über dem
verhaßten Nähzeug und sah lieb und folgsam aus, aber im Gegensatz
zu Margali konnte Renata, als sie durch die Tür trat, das
triumphierende Lächeln auf ihrem Gesicht sehen. Dorilys warf das
Nähzeug zu Boden, sprang auf und eilte auf Renata zu. »Ist es Zeit
für meinen Unterricht, Cousine?«
Renata sagte kalt: »Heb dein Nähzeug auf und leg es ordentlich in
die Schublade – oder noch besser: Setz dich und beende die Arbeit.«
»Ich will nicht nähen lernen«, erwiderte Dorilys schmollend. »Mein
Vater will, daß ich die Dinge lerne, die du mir beibringen kannst!« »Was ich dir am besten
beibringen kann«, sagte Renata bestimmt, »ist das zu tun, was
unerläßlich ist – und wann du es tust, ob du willst oder nicht. Mir
ist es egal, ob du exakt nähst oder deine Stiche wie ein von
Fallobst trunkenes Chervine schwanken«
– Dorilys ließ ein kurzes, triumphierendes Kichern hören – »aber du
wirst den Unterricht mit mir nicht dazu ausnutzen, deine
Pflegemutter auszuspielen oder zu ignorieren, was sie dir
aufträgt.« Sie blickte Margali, die bleich vor Schmerzen war, an
und kam zu dem Schluß, daß es zu einem Zweikampf kommen
würde.
»Verursacht sie dir wieder Kopfschmerzen?«
Margali sagte schwach: »Sie weiß es nicht besser.«
»Dann wird sie es besser lernen«, sagte Renata mit eisiger Stimme.
»Was du auch mit ihr anstellst, Dorilys, du wirst deine
Pflegemutter sofort davon befreien. Du wirst niederknien und sie um
Vergebung bitten. Dann werde ich vielleicht mit dem Unterricht fortfahren.«
»Sie um Vergebung bitten?« fragte
Dorilys ungläubig. »Das werde ich nicht!«
Irgend etwas in der Haltung des Kindes ließ Renata plötzlich an
Lord Aldaran denken, obwohl man von Dorilys behauptete, sie ähnele
ihrer verstorbenen Mutter. Sie hat ihres
Vaters Stolz, dachte sie, aber sie hat
noch nicht gelernt, ihn mit Höflichkeit, zweckdienlicher
Verbindlichkeit und Charme zu kaschieren. Sie ist noch jung, und
wir können diese Eigenwilligkeit in ihrer ganzen Häßlichkeit sehen.
Ihr ist es schon gleichgültig, wem sie weh tut, solange es nach
ihrem Kopf geht. Und Margali ist für sie nichts besseres als eine
Dienerin. Das gilt auch für mich. Sie gehorcht mir, weil es ihr
gefällt.
Sie sagte: »Ich warte, Dorilys. Bitte Margali um Verzeihung.« »Nur,
wenn sie mir verspricht, mich nie mehr herumzukommandieren«,
beharrte Dorilys trotzig.
Renata kniff die Lippen zusammen. Es würde also tatsächlich auf
einen Zweikampf hinauslaufen. Wenn ich
zurückstecke, wenn ich ihr gestatte, eigene Bedingungen zu setzen,
wird sie mir nie mehr gehorchen. Dabei kann diese Lehre ihr Leben
retten. Ich will keine Macht über sie, aber wenn ich sie
unterrichten soll, muß sie gehorsam sein und lernen, sich so lange
auf mein Urteil zu verlassen, bis sie ihrem eigenen trauen
kann.
»Ich habe dich nicht gefragt, unter welchen Bedingungen du sie um
Verzeihung bittest«, sagte Renata. »Ich habe dir nur gesagt, du
sollst es tun. Ich warte.«
»Renata«, begann Margali.
Aber Renata unterbrach sie ruhig: »Nein, Margali. Halte dich da
raus. Du weißt so gut wie ich, was sie als erstes lernen muß.« Zu
Dorilys sagte sie mit der geübten Befehlsstimme: »Knie dich sofort
hin und bitte deine Pflegemutter um Verzeihung!«
Automatisch sank Dorilys auf die Knie. Plötzlich stieß sie einen
schrillen Schrei aus und sprang auf: »Ich habe dir gesagt, du
sollst nie die Befehlsstimme gegen mich anwenden! Ich werde es
nicht zulassen, und mein Vater auch nicht! Er würde mich nicht erniedrigt sehen wollen, indem
ich sie um Verzeihung bitte!«
Dorilys, dachte Renata, hätte gründlich versohlt werden sollen, ehe sie stark
genug war, solch übersteigerte Ideen über ihre eigene Bedeutung zu
entwickeln. Aber jeder hatte Angst vor ihr und wollte ihr nicht in
die Quere kommen. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Auch ich habe
Angst vor ihr.
Sie wußte, daß sie einem zornigen Kind gegenüberstand, dessen Zorn
schon einmal getötet hatte. Aber noch habe ich
die Oberhand. Sie ist ein Kind, das weiß, daß es Unrecht hat, aber
ich bin eine geübte TurmTechnikerin und Überwacherin. Ich muß ihr
beibringen, daß ich stärker bin als sie. Denn der Tag wird kommen,
an dem sie erwachsen ist und niemand stark genug sein wird, sie zu
kontrollieren. Bevor es soweit ist, muß sie in der Lage sein, sich
zu beherrschen.
Ihre Stimme war wie eine Peitsche: »Dorilys, dein Vater hat mir in
allen Bereichen die Aufsicht über dich gegeben. Er hat mir gesagt,
ich hätte seine Erlaubnis, dich zu schlagen, wenn du ungehorsam
bist. Du bist ein großes Mädchen, und ich würde dich nicht gerne
auf diese Art demütigen. Aber eines
sage ich dir: Wenn du mir nicht sofort gehorchst und deine
Pflegemutter um Verzeihung bittest, werde ich tun, als seist du ein
Baby und zu jung, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Tu, was ich
dir sage, und zwar sofort!« ‘ »Nein, das werde ich nicht!« schrie
Dorilys. »Und du kannst mich auch nicht dazu zwingen!« Wie als Echo
ihrer Worte war von draußen ein rauhes Donnerrollen zu hören.
Dorilys war zu erregt, um es zu hören, aber sie spürte es und fuhr
zurück.
Renata dachte: Gut. Sie fürchtet sich immer
noch ein wenig vor ihrer eigenen Macht. Sie will nicht noch einmal
töten …
Plötzlich spürte sie auf ihrer Stirn den brennenden Schmerz eines
enger werdenden Bandes… Nahm sie das mit empathischer Kraft von
Margali auf? Nein. Ein schneller Blick zeigte ihr, daß Dorilys
angespannt und in zähneknirschendem Zorn konzentriert war. Sie tat
mit ihr das gleiche wie mit Margali.
Diese kleine Teufelin! dachte Renata,
hin- und hergerissen zwischen Zorn und unwillkürlicher Bewunderung
für die Kraft und den Geist des Kindes. Wenn
man diese Stärke und diesen Trotz einem sinnvollen Zweck zuführen
könnte – welch eine Frau würde sie sein! Sich auf ihre
Matrix konzentrierend – was sie in Dorilys Gegenwart noch nie getan
hatte, außer um sie zu überwachen –, begann Renata, dagegen
anzukämpfen und die Energie auf Dorilys zurückzuspiegeln. Langsam
verschwand der Schmerz, und sie sah das Gesicht des Mädchens vor
Anstrengung bleich werden. Mit Mühe hielt sie ihre Stimme ruhig.
»Siehst du? So kannst du nicht mit mir umspringen, Dorilys. Ich bin
stärker als du. Ich will dir nicht weh tun, und das weißt du auch.
Jetzt gehorche mir, und dann machen wir mit dem Unterricht weiter.«
Sie spürte, wie Dorilys zornig ausholte. Alle ihre Kraft
zusammennehmend, packte und hielt sie das Kind, als hätte sie es
körperlich mit den Armen umfangen.
Sie fesselte Körper und Geist, Stimme und Laran. Dorilys versuchte »Laß mich los!« zu
schreien, und entdeckte entsetzt, daß weder die Stimme ihr
gehorchte noch daß sie eine einzige Bewegung machen konnte …
Renata, sensitiv und empathisch wie sie war, spürte Dorilys
Entsetzen als sei es ihr eigenes.
Sie muß wissen, daß ich stark genug bin, um
sie vor ihren eigenen Trieben zu schützen, daß sie mich nicht
gedankenlos niederstrecken kann, wie sie es mit Darren getan hat.
Sie muß wissen, daß sie bei mir sicher ist; daß ich nicht zulasse,
daß sie sich selbst oder irgendeinem anderen
wehtut.
Jetzt hatte Dorilys wirklich Angst. Einen Moment lang, als sie die
hervortretenden Augen und krampfhaften behinderten Bewegungen ihrer
Muskeln sah, fühlte Renata soviel Mitleid, daß sie es nicht
ertragen konnte. Ich will ihr nicht weh tun
oder ihren Geist brechen, ich will ihr nur beibringen … sich vor
ihrer eigenen schrecklichen Kraft zu schützen! Eines Tages wird sie
es verstehen, aber jetzt ist sie so geängstigt. Armes kleines
Mädchen …
Sie sah, wie sich die kleinen Muskeln an Dorilys’ Hals bewegten,
wie sie sich zu sprechen bemühte und lockerte den Griff. In
Dorilys’ Augen standen Tränen.
»Laß mich los, laß mich los!«
Margali blickte Renata flehentlich an. Auch sie litt, als sie das
Mädchen so hilflos sah.
Die alte Leronis flüsterte: »Befreie
sie, Renata. Sie wird brav sein, nicht wahr, mein
Kleines?«
Renata sagte sehr freundlich: »Du siehst, Dorilys, daß ich immer
noch stärker bin als du. Ich werde nicht zulassen, daß du jemandem
wehtust, nicht einmal dir selbst. Ich weiß, daß du aus dem Zorn des
Augenblicks heraus niemandem wirklich schaden willst.«
Dorilys begann zu schluchzen. Noch immer hing sie bewegungslos im
Griff von Renatas Laran.
»Laß mich los, Cousine, bitte. Ich werde brav sein. Ich verspreche
es. Es tut mir leid.«
»Du mußt dich nicht bei mir entschuldigen, Kind, sondern bei deiner
Pflegemutter«, erinnerte Renata sie freundlich und löste den Griff
völlig.
Dorilys sank auf die Knie und schluchzte unter Mühen: »Es tut mir
leid, Margali. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich war nur wütend.«
Dann brach sie weinend zusammen.
Margalis dünne, vom Alter knotige Finger streichelten sanft
Dorilys’ Wange. »Das weiß ich, Liebes. Du wolltest nie jemandem
wehtun. Du denkst nur nicht darüber nach.«
Dorilys wandte sich Renata zu und flüsterte mit vor Entsetzen
geweiteten Augen: »Ich hätte … ich hätte dir antun können, was ich
mit Darren getan habe – und ich liebe dich, Cousine, ich liebe
dich.« Sie warf ihre Arme um Renata, die immer noch zitternd ihre
Arme um das schmächtige, zitternde Kind legte.
»Weine nicht mehr, Dorilys. Ich werde nicht zulassen, daß du
jemandem schadest, das verspreche ich«, sagte sie, das Mädchen fest
an sich drückend. Sie zog ein Tuch heraus und trocknete Dorilys’
Augen. »Jetzt leg dein Nähzeug ordentlich weg, und dann kommen wir
zu unserem Unterricht.«
Sie weiß jetzt, zu was sie fähig ist und wird
allmählich klug genug, um sich vor ihrer Kraft zu fürchten. Wenn
ich es nur schaffe, sie zu steuern, bis sie weit genug ist, es
selbst zu tun!
Draußen war der Sturm in einem fernen Rollen erstorben.