Stephen, Lord Elhalyn, wurde in der traditionellen Grabstätte an den Ufern von Hali zur letzten Ruhe gebettet. Die ganze Hastur-Verwandtschaft der Tiefland-Reiche, von den Aillards auf den Ebenen von Valeron, bis zu den Hasturs von Carcosa, war gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Selbst König Regis, gebeugt und greisenhaft, zum Reiten fast schon zu gebrechlich, hatte, gestützt auf den Arm seines einzigen Sohnes, am Grab seines Halbbruders gestanden.
Prinz Felix, Erbe des Throns von Thendara und der Krone der Reiche, war gekommen, um Allart und Damon-Rafael zu umarmen, wobei er sie »teure Cousins« nannte. Felix war ein schmächtiger, weichlicher junger Mann mit vergoldetem Haar und farblosen Augen, und er hatte das lange, schmale Gesicht und die Hände der Chieri-Blütigen. Als die Begräbniszeremonien beendet waren, gab es eine große Feier, Dann wurde der alte König, der auf sein hohes Alter und seine schwache Gesundheit hinwies, von seinen Höflingen nach Hause gebracht, aber Felix blieb, um den neuen Lord von Elhalyn, Damon-Rafael, zu ehren.
Selbst der Ridenow-Fürst hatte einen Abgesandten vom fernen Serrais geschickt, der unaufgefordert einen Waffenstillstand für zweimal vierzig Tage anbot.
Allart, der die Gäste in der Halle begrüßte, erblickte plötzlich ein Gesicht, das er kannte – obwohl er es nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Dunkles Haar, wie eine Wolke aus Dunkelheit unter einem blauen Schleier; graue Augen, aber von so dunklen Wimpern überschattet, daß sie einen Augenblick lang so dunkel wie die eines Tieres wirkten. Allart fühlte, als er auf das Gesicht der dunklen Frau blickte, deren Gesicht ihn so viele Tage verfolgt hatte, ein merkwürdiges Stechen in der Brust. »Cousin«, sagte sie höflich, und er konnte den Blick nicht, wie es der Brauch vor einer unverheirateten, ihm fremden Frau verlangte, von ihr abwenden.
Ich kenne dich gut. Du hast mich im Traum und Wachzustand verfolgt, und ich bin bereits mehr als nur halb in dich verliebt … Erotische Visionen stürmten, unpassend in dieser Umgebung, auf ihn ein. Er versuchte gegen sie anzukämpfen.
»Cousin«, sagte sie noch einmal, »warum starrst du mich auf so unziemliche Weise an?«
Allart spürte das Blut in seinen Kopf steigen; es war tatsächlich unhöflich, fast schon unverschämt, eine Frau, die ihm fremd war, so anzustarren, und er errötete bei dem Gedanken, daß sie Laran besitzen könnte und die Visionen, die ihn quälten, möglicherweise bemerkte. Schließlich fand er seine Stimme wieder.
»Aber ich bin kein Fremder für dich, Damisela. Und es ist auch keine Unhöflichkeit, daß ein Mann seiner Braut direkt ins Gesicht schaut. Ich bin Allart Hastur. Ich werde bald dein Gatte sein.«
Sie hob den Kopf und erwiderte offen seinen Blick, aber ihre Stimme verriet Spannung. »Ah, das ist es also? Aber ich kann schwerlich glauben, daß du mein Bild in dir getragen hast. Wir haben uns zum letzten Mal gesehen, als ich ein Mädchen von vier Jahren war. Ich habe gehört, Dom Allart, du solltest dich nach Nevarsin zurückgezogen haben, daß du krank warst, ein Mönch sein und dein Erbe aufgeben wolltest. War das alles nur müßiges Geschwätz?«
»Es stimmt, daß ich eine Zeitlang solche Pläne hatte. Ich habe sechs Jahre bei den Brüdern von Sankt-Valentin-im-Schnee gewohnt, und wäre gerne dort geblieben.«
Wenn ich diese Frau liebe, werde ich sie zerstören … Ich werde Kinder zeugen, die Monster sind… Und sie wird sterben, wenn sie sie zur Welt bringt… Gebenedeite Cassilda, Urmutter der Reiche, laß mich nicht so viel von meinem Schicksal sehen. Ich kann so wenig tun, um es abzuwenden …
»Ich bin weder krank noch verrückt, Damisela. Du brauchst mich nicht zu fürchten.«
»Tatsächlich«, sagte die junge Frau – und wieder begegneten sich ihre Blicke – »du scheinst keineswegs geisteskrank zu sein. Aber du siehst besorgt aus. Ist es der Gedanke an unsere Heirat, der dir Sorgen macht, Cousin?«
Nervös lächelnd erwiderte Allart: »Sollte ich nicht sehr zufrieden sein, zu sehen, welche Schönheit und Anmut die Götter meiner Braut gegeben haben?«
»Oh!« Ungeduldig bewegte sie ihren Kopf. »Das ist nicht die Zeit für hübsche Reden und Schmeicheleien, Cousin! Bist du einer von denen, die glauben, eine Frau sei ein törichtes Kind, das man mit ein oder zwei höflichen Komplimenten entläßt?«
»Glaub mir, ich wollte nicht unhöflich zu dir sein, Lady Cassandra«, sagte Allart, »aber man hat mich gelehrt, daß es ungebührlich ist, die eigenen Sorgen und Ängste mit anderen zu teilen, solange sie noch keine konkrete Gestalt angenommen haben.«
Erneut der schnelle, direkte Blick aus den wimpernbeschatteten Augen. »Ängste, Cousin? Aber ich bin harmlos und ein Mädchen! Ein Fürst der Hasturs fürchtet sicherlich gar nichts, und ganz gewiß nicht die ihm versprochene Braut!«
Vor ihrem Sarkasmus wich er zurück. »Willst du die Wahrheit hören? Ich besitze eine seltene Form des Laran; sie besteht nicht nur aus der Vorausschau. Ich sehe nicht nur die Zukunft, die sein wird, sondern alle Möglichkeiten, die sie bieten könnte. Ich sehe die Dinge, die sich bei Fehlschlägen ereignen könnten – und es gibt Momente, in denen ich weder sagen kann, welche davon durch Ursachen der Gegenwart hervorgerufen, noch, welche aus meiner Angst geboren werden. Ich bin nach Nevarsin gegangen, um dies zu bewältigen.«
Er hörte, wie sie überrascht einatmete.
»Avarras Gnade, welch ein Fluch, den du trägst! Und hast du ihn bewältigt, Cousin?«
»Irgendwie schon, Cassandra. Aber wenn ich besorgt oder unsicher bin, kommt er wieder über mich, so daß ich nicht allein die Freude sehe, die die Heirat mit einer Frau wie dir mir bringen könnte.« Wie körperlichen Schmerz in seinem Herzen spürte Allart das bittere Bewußtsein all der Freuden, die sie kennenlernen könnten, vorausgesetzt, er schaffte es, sie dazu zu bringen, seine Liebe zu erwidern. Er dachte an die künftigen Jahre, die hell und freundlich sein können … Dann schlug er heftig die innere Tür zu und verschloß seinen Geist vor allem. Cassandra war keine Riyachiya, die man für ein kurzes Vergnügen – ohne nachzudenken – nehmen konnte!
Barsch, ohne zu merken, wie der Schmerz seine Stimme rauh und seine Worte kalt machte, sagte er: »Aber ich sehe ebenso alle Sorgen und Katastrophen, die kommen können. Und bevor ich meinen Weg durch die falschen Möglichkeiten, die meinen eigenen Ängsten entstammen, nicht sehen kann, kann ich dem Gedanken an eine Heirat keine Freude abgewinnen. Aber das soll keine Unhöflichkeit gegen dich sein.« Cassandra erwiderte: »Ich bin froh, daß du mir das gesagt hast. Du weißt sicher, daß meine Verwandten verärgert sind, weil unsere Hochzeit nicht vor zwei Jahren, als ich das gesetzliche Alter erreichte, stattfand. Sie meinten, du hättest mich beleidigt, indem du in Nevarsin bliebst. Und sie wünschen jetzt, daß du ohne weitere Verzögerung deinen Anspruch auf mich erhebst.« Ihre Augen funkelten ironisch. »Nicht etwa, daß sie sich ein Sekal um mein Eheglück scheren, aber sie hören einfach nicht auf, mich daran zu erinnern, wie nahe du dem Thron stehst, wie glücklich ich mich schätzen kann, und wie ich dich mit meinem Charme umgarnen muß, damit du mir nicht entkommen wirst. Sie haben mich wie eine Modepuppe gekleidet, mein Haar mit Netzen aus Kupfer und Silber geschmückt und mich mit Edelsteinen beladen, als würdest du mich auf dem Markt kaufen wollen. Ich hatte beinahe erwartet, daß du mir den Mund aufmachst, meine Zähne untersuchst, und dich vergewisserst, daß meine Lenden und Fesseln kräftig sind!« Allart konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Was das betrifft, braucht deine Verwandtschaft keine Befürchtungen zu haben. Sicher könnte kein lebender Mann irgendeinen Makel an dir finden.«
»Oh, aber es gibt einen«, sagte sie offen. »Sie haben gehofft, daß du ihn nicht bemerkst, aber ich werde nicht versuchen, es vor dir zu verbergen.« Sie spreizte ihre schlanken, ringgeschmückten Hände. Die schmalen Finger waren mit Edelsteinen überladen, aber es waren sechs, und als sein Auge auf den überzähligen fiel, wurde Cassandra tiefrot und versuchte, sie unter dem Schleier zu verbergen. »Dom Allart, ich bitte dich, nicht auf meine Mißbildung zu starren.«
»Sie erscheint mir nicht als Mißbildung«, sagte er. »Spielst du die Rryl? Ich vermute, du kannst die Akkorde viel müheloser anschlagen.« »Ja, so ist es …«
»Dann wollen wir es nie mehr als einen Mangel oder eine Mißbildung betrachten, Cassandra«, sagte er, nahm die schlanken, sechsfingrigen Hände in die seinen und preßte seine Lippen auf sie. »In Nevarsin habe ich Kinder mit sechs oder sieben Fingern gesehen. Ihre Extrafinger waren knochenlos oder ohne Sehnen, und konnten weder bewegt, noch gebeugt werden. Aber wie ich sehe, kannst du sie völlig kontrollieren. Ein wenig kann ich auch musizieren.«
»Wirklich? Liegt das daran, daß du ein Mönch warst? Die meisten Männer haben keine Geduld für solche Dinge, oder wenig Zeit, sie neben der Kriegskunst zu erlernen.«
»Ich wäre lieber Musiker als Krieger«, sagte Allart und drückte ihre schlanken Finger erneut gegen seine Lippen. »Die Götter mögen uns in unserem Leben genug Frieden gewähren, um Lieder zu machen, anstatt Kriege zu führen.« Als sie ihn, ihre Hand noch immer an seinen Lippen, anlächelte, bemerkte er, daß Ysabet, Lady Aillard, sie beobachtete, und ebenso sein Bruder Damon-Rafael. Sie sahen so selbstzufrieden aus, daß es ihm Übelkeit bereitete. Sie manipulierten ihn trotz seiner Ablehnung, ihrem Willen Genüge zu tun! Er ließ Cassandras Hand los, als hätte er sich verbrannt.
»Darf ich dich zu deinen Verwandten führen, Damisela?«

Als der Abend bei der dezenten, aber nicht trüben Feier fortschritt – der alte Fürst war würdig zur Ruhe getragen, und er besaß einen geeigneten Erben, so daß sein Reich ohne Zweifel aufblühen würde –, suchte Damon-Rafael seinen Bruder auf. Allart bemerkte, daß er trotz des Festes ziemlich ernst war.
»Morgen reiten wir nach Thendara, wo ich zum Lord des Reiches ernannt werde. Du mußt, als Wächter und auserwählter Erbe Elhalyns mit uns reiten, Bruder. Ich habe keine ehelichen, sondern nur NedestroSöhne. Und man wird keinen von ihnen als meinen Erben anerkennen, bis nicht sicher ist, daß Cassilde mir keinen schenken wird.« Er blickte mit einem kalten, festen Blick durch den Raum zu seiner Frau hinüber. Cassilde Aillard-Hastur war eine blasse, schmächtige Frau von blassem und abgespanntem Aussehen.
»Das Reich wird in deinen Händen sein, Allart, und in einem gewissen Sinn bin ich auf deine Gnade angewiesen. Wie heißt doch das Sprichwort? ›Dein Rücken ist entblößt ohne Bruder .‹ «
Allart fragte sich, wie – bei allen Göttern – Brüder zu Freunden werden konnten, wenn solche Erbgesetze galten. Allart hatte keinerlei Ehrgeiz, seinen Bruder als Haupt des Reiches zu ersetzen – aber würde DamonRafael das jemals glauben? Er sagte: »Ich hätte es wirklich lieber, wenn du mich im Kloster gelassen hättest, Damon.«
Damon-Rafaels Lächeln war zweifelnd, als fürchte er, die Worte seines Bruders würden lediglich ein zwielichtiges Komplott verbergen. »Wirklich? Ich habe dich mit der Aillard-Frau sprechen sehen, und mir schien es offensichtlich zu sein, daß du die Trauungszeremonie kaum erwarten kannst. Es ist wahrscheinlich, daß du eher als ich einen ehelichen Sohn haben wirst. Cassilde ist schwächlich, und deine Braut sieht kräftig und gesund aus.«
Mit mühsam unterdrückter Wut erwiderte Allart: »Mich drängt es nicht, zu heiraten!«
Damon-Rafaels Blick war düster. »Aber der Rat wird einen Mann deiner Jahre nicht als Erben anerkennen, wenn du nicht zustimmst, sofort zu heiraten. Es ist schändlich, daß ein Mann in den Zwanzigern noch immer unverheiratet und ohne eigene Söhne ist.« Er blickte Allart scharf an. »Ist es möglich, daß ich mehr Glück habe, als ich erwarte? Bist du vielleicht ein Emmasca! Oder gar ein Männerfreund?«
Allart grinste gezwungen. »Ich bedaure, dich enttäuschen zu müssen. Aber was den Emmasca angeht: Du hast gesehen, wie ich ausgezogen und dem Rat vorgeführt wurde, als ich ins Mannesalter kam. Und wenn du gewollt hast, daß ich ein Männerfreund werde, hättest du verhindern sollen, daß ich zu den Cristoferos kam. Aber ich werde zum Kloster zurückkehren, wenn du möchtest.«
Einen Moment lang dachte er fast mit Heiterkeit daran, daß dies die beste Lösung seiner Qual und Konfusion sein würde. Damon-Rafael wollte nicht, daß er Söhne zeugte, die Rivalen seiner eigenen waren; und so konnte er vielleicht dem Fluch entrinnen, Kinder in die Welt zu setzen, die sein tragisches Laran weiterverbreiten würden. Wenn er nach Nevarsin zurückkehrte … Der Schmerz, den dieser Gedanke ihm bereitete, überraschte ihn.
Cassandra nie wiederzusehen …
Nicht ohne Bedauern schüttelte Damon-Rafael den Kopf. »Ich wage nicht, die Aillards zu erzürnen. Sie sind unsere stärksten Verbündeten in diesem Krieg. Und sie sind verärgert, daß Cassilde das Bündnis nicht zementiert hat, indem sie mir einen Erben vom Blut der Elhalyn und Aillard schenkte. Wenn du auf die Heirat verzichtest, werde ich noch einen Feind haben, und daß dies die Aillards werden, kann ich mir nicht leisten. Sie fürchten bereits jetzt, daß ich eine bessere Partie für dich gefunden habe. Ich weiß, daß unser Vater zwei Nedestro-Halbschwestern mit modifizierten Genen für dich ausgesucht hat. Was würdest du tun, wenn du von allen dreien Söhne bekommen solltest?«
Wie beim ersten Mal, als Dom Stephen davon gesprochen hatte, spürte Allart Widerwillen in sich aufsteigen. »Ich habe meinem Vater gesagt, daß ich das nicht wünsche.«
»Ich hätte es lieber, wenn alle Söhne von Aillard-Blut die meinen wären«, sagte Damon-Rafael, »aber ich kann das dir versprochene Mädchen nicht nehmen. Ich habe selbst eine Frau und kann eine Lady eines so hervorragenden Clans nicht zu meiner Barragana machen. Es würde den Anlaß zu einer Blutfehde geben! Wenn Cassilde bei der Geburt eines Kindes stürbe, wie es in den letzten zehn Jahren fast jedes Mal zu erwarten war, und künftig wieder geschehen kann, dann …« Sein Blick wanderte zu Cassandra, die bei ihren weiblichen Verwandten stand und musterte ihren Körper abschätzend vorn Scheitel bis zur Sohle. Allart fühlte einen überraschenden Zorn. Wie konnte Damon-Rafael es wagen, so zu reden? Cassandra war sein!
Damon-Rafael fuhr fort: »Fast bin ich geneigt, deine Heirat für ein Jahr hinauszuzögern. Sollte Cassilde bei der Geburt des Kindes, das sie jetzt trägt, sterben, besäße ich die Freiheit, Cassandra zu meiner Frau zu machen. Ich vermute, die Aillards würden sogar dankbar sein, wenn sie den Thron mit mir teilen könnte.«
»Deine Rede ist Verrat«, sagte Allart, der jetzt wirklich schockiert war. »König Regis sitzt noch auf dem Thron. Felix ist sein ehelicher Sohn und wird ihm nachfolgen.«
Damon-Rafael zuckte verächtlich die Schultern. »Der alte König? Er wird kein Jahr mehr leben. Ich stand heute neben ihm an Vaters Grab. Und auch ich besitze ein wenig vom Vorausblick der Hasturs von Elhalyn. Er wird vor dem nächsten Jahreszeitenwechsel ebenfalls dort liegen. Und was Felix angeht – nun, ich habe die Gerüchte gehört, und du zweifellos auch. Er ist Emmasca. Einer der Ältesten, die ihn ausgezogen gesehen haben, war bestochen, sagt man, und ein anderer hatte schlechte Augen. Was immer auch stimmen mag, er ist seit sieben Jahren verheiratet, und seine Frau macht nicht den Eindruck, als sei sie im Ehebett gut behandelt worden. Es hat bisher noch nicht einmal das Gerücht gegeben, daß sie schwanger sei. Nein, Allart, Verrat oder nicht, ich sage dir, daß ich innerhalb von sieben Jahren auf dem Thron sein werde. Sieh mit deiner eigenen Vorausschau in die Zukunft.« Allart sagte ganz ruhig: »Du wirst auf dem Thron sitzen oder tot sein, mein Bruder.«
Damon-Rafael sah in feindselig an und sagte: »Die weibischen alten Männer des Rates könnten den ehelichen Sohn eines jüngeren Bruders dem Nedestro des älteren vorziehen. Wirst du deine Hand in die Flamme Halis legen und geloben, daß du den Anspruch meines Sohnes unterstützen wirst, sei er nun ehelich oder nicht?«
Allart mühte sich, durch die vielen Bilder den richtigen Blick zu finden: ein Königreich in Flammen, ein Thron in seinem Griff, Stürme, die über die Hellers tobten, eine wankende Festung, als werde sie von einem Erdbeben erschüttert – nein! Er war ein Mann des Friedens. Er hatte nicht die Absicht, mit seinem Bruder um einen Thron zu kämpfen und die Reiche sich durch das Blut eines schrecklichen Bruderkrieges töten zu sehen. Allart beugte sein Haupt.
»Die Götter haben bestimmt, Damon-Rafael, daß du als ältester Sohn meines Vaters geboren wurdest. Ich werde jeden Eid schwören, den du forderst, mein Bruder und Fürst.«
In Damon-Rafaels Blick vermischte sich Triumph mit Verachtung. Allart wußte, daß er, wenn ihre Positionen vertauscht gewesen wären, bis zum Tod für sein Erbe hätte kämpfen müssen.
Sein Körper spannte sich vor Abneigung, als Damon-Rafael ihn umarmte und sagte: »Ich werde also deinen Eid haben, und deine starke Hand, um meine Söhne zu bewachen. Dann stimmt das alte Wort vielleicht doch, und ich brauche meinen Rücken weder entblößt noch mich bruderlos zu fühlen.«
Erneut blickte er bedauernd zu der in ihren blauen Schleier gehüllten Cassandra hinüber. »Ich schlage vor – nein, du mußt deine Braut nehmen. Alle Aillards wären beleidigt, machte ich sie zur Barragana, und ich kann euch auch angesichts der Möglichkeit, daß Cassilde sterben und ich frei sein könnte, mich erneut zu vermählen, nicht unverheiratet lassen.«
Cassandra in den Händen Damon-Rafaels, der sie nur als Schachfigur einer politischen Allianz sah, die ihm die Unterstützung ihrer Verwandten sicherte? Der Gedanke machte ihn krank. Doch Allart rief sich seinen eigenen Entschluß ins Gedächtnis: keine Frau zu nehmen und keine Söhne zu zeugen, die den Fluch seines Laran trugen. Er sagte: »Als Gegenleistung für meine Unterstützung, Bruder, erspare mir diese Hochzeit.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Damon-Rafael bedauernd, »obwohl ich Cassandra nur zu gerne selbst nehmen würde. Aber ich wage es nicht, die Aillards auf diese Weise zu beleidigen. Mach dir nichts daraus, vielleicht wird sie dir nicht lange eine Last sein. Sie ist jung, und viele von den Aillard-Frauen sind bereits gestorben, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachten. Es ist wahrscheinlich, daß auch ihr das widerfährt. Oder vielleicht ist sie wie Cassilde: zwar fruchtbar, aber nicht fähig, lebende Kinder zu gebären. Wenn du dafür sorgst, daß sie mehrere Jahre hintereinander schwanger wird und Fehlgeburten hat, würden meine Söhne sicher sein, und niemand könnte behaupten, daß du nicht das Beste für unseren Clan getan hättest. Es würde ihre Schuld sein, nicht deine.« »Ich würde eine Frau nicht so behandeln wollen!« warf Allart ein. »Bruder, mir ist es völlig gleichgültig, wie du sie behandelst, wenn du sie nur heiratest, mit ins Bett nimmst und die Aillards durch verwandtschaftliche Bande an uns gefesselt sind. Ich habe nur einen Weg vorgeschlagen, wie du sie loswerden kannst, ohne deine eigene Männlichkeit in Mißkredit zu bringen.« Er zuckte die Achseln und wechselte das Thema. »Aber genug davon. Morgen werden wir nach Thendara reiten. Wenn die Erbschaftsangelegenheit erledigt ist, werden wir zu deiner Hochzeit hierher zurückkehren. Trinkst du mit mir?«
»Ich habe genug getrunken«, log Allart, von dem Wunsch beseelt, jeden weiteren Kontakt mit seinem Bruder zu vermeiden. Sein Vorausblick hatte richtig gesehen. In keiner der Welten der Wahrscheinlichkeit stand irgendwo festgeschrieben, daß er und Damon-Rafael Freunde sein würden, und wenn Damon-Rafael auf den Thron gelangen sollte – und sein Laran sagte ihm, daß das sehr gut möglich war –, konnte es sein, daß er sein Leben und das seiner Söhne schützen mußte.
Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ein weiterer Grund, weswegen ich keine Söhne zeugen darf, die mir nachfolgen. Ich müßte wegen meines Bruders auch um sie fürchten!

7

Voller Liebenswürdigkeit und beseelt von dem Wunsch, seinen jungen Verwandten auszuzeichnen, hatte Seine Gnaden Regis II. die Zustimmung erteilt, die Hochzeitszeremonie durchzuführen. Sein runzliges Gesicht strahlte Freundlichkeit aus, als er die zeremoniellen Worte sprach und die getriebenen Kupfer-Armreife, die Catenas, zuerst um Allarts und dann um Cassandras Handgelenke legte.
»Sichtbar getrennt«, sagte er, während er die Armreifen aufschloß, »mögt ihr es nie im Geiste und im Herzen sein.« Sie küßten sich, und er fuhr fort: »Mögt ihr für immer eins sein.«
Allart spürte, wie Cassandra zitterte, als sie vor dem König standen, die Hände durch das kostbare Metall verbunden.
Sie hat Angst, dachte er, und das ist nicht verwunderlich. Sie weiß nichts von mir. Ihre Verwandten haben sie an mich verkauft, wie einen Falken oder eine Zuchtstute.
In früheren Zeiten (Allart hatte in Nevarsin einiges über die Reichsgeschichte gelesen) waren Trauungen wie diese undenkbar gewesen. Es wäre Frauen als eine Form von Selbstsucht ausgelegt worden, hätten sie nur einem Mann allein Kinder geboren, und die Gen-Auswahl war ausgeweitet worden, indem man die Anzahl der möglichen Verbindungen erhöhte. Allart wunderte sich flüchtig, ob dadurch das verdammenswerte Laran in ihre Rasse hineingezüchtet worden war. Oder stimmte es etwa doch, daß sie von den Götterkindern abstammten, die nach Hali gekommen waren und Söhne gezeugt hatten, um über ihren Stamm zu herrschen? Und stimmten die Geschichten der Kreuzungen mit den nichtmenschlichen Chieri, die ihrer Sippe sowohl die geschlechtlosen Emmasca, als auch die Gabe des Laran beschert hatten?
Was immer auch geschehen war, diese längst vergangenen und beinahe vergessenen Zeiten der Gruppenehe waren in dem Moment verschwunden, als die Familien anfingen, Macht zu erwerben. Erbfragen und das Zuchtprogramm hatten die genaue Kenntnis der Vaterschaft notwendig gemacht. Heute wird ein Mann nur an seinen Söhnen gemessen, und eine Frau an der Fähigkeit, Söhne zu gebären – und sie weiß, daß sie mir aus diesem Grund gegeben worden ist!
Die Zeremonie näherte sich dem Ende, und Allart fühlte die Hand seiner Frau kalt und zitternd in der seinen, als er sich vorbeugte, um ihre Lippen kurz für den rituellen Kuß zu berühren. Er führte sie in eine Explosion von Gratulationen, guten Wünschen und Beifall der versammelten Verwandten und Edlen zum Tanz hinaus. Hypersensibel, wie er war, spürte Allart die harschen Untertöne der Glückwünsche und dachte, daß nur wenige von ihnen Wohlwollen beinhalteten. Sein Bruder Damon-Rafael meinte seine guten Wünsche wahrscheinlich ernst. Allart hatte an diesem Morgen vor den heiligen Reliquien von Hali gestanden, seine Hand in das kalte Feuer gelegt, das nur dann zu brennen begann, wenn der Sprecher wußte, daß er einen Meineid schwor, und seine Ehre als Hastur dafür verpfändet, seines Bruders Führerstellung im Clan und die Nachfolge seiner Söhne auf den Thron zu unterstützen. Die anderen Verwandten gratulierten ihm, weil er eine politisch mächtige Allianz mit dem starken Clan der Aillards von Valeron geschlossen hatte. Vielleicht aber hofften sie auch nur, sich durch weitere Hochzeiten mit den Söhnen und Töchtern, die diese Vermählung hervorbringen konnte, selbst mit ihm zu verbünden. Aber vielleicht machte ihnen der Anblick einer Vermählung auch nur Freude, ebenso wie das Trinken, die Tänze und die Ausgelassenheit, was eine willkommene Unterbrechung der offiziellen Trauer um Dom Stephen darstellte. »Du bist so still, mein Gatte«, sagte Cassandra.
Allart schreckte auf. Er hatte einen flehenden Unterton in ihrer Stimme gehört. Für sie ist es noch schlimmer. Das arme Mädchen. Ich wurde – irgendwie – bei dieser Eheschließung berücksichtigt; ihr ist es noch nicht einmal erlaubt gewesen, ja oder nein zu sagen. Warum tun wir das unseren Frauen an? Sie sind es doch, durch die wir die kostbaren Erbeigenschaften, die uns inzwischen soviel bedeuten, erhalten!
Sanft sagte er zu ihr: »Mein Schweigen hat nichts mit dir zu tun, Damisela. Dieser Tag hat mir viel nachzudenken gegeben, das ist alles. Aber ich bin ein Flegel, in deiner Gegenwart so versunken zu grübeln.«
Ihre sanften Augen, von Wimpern so dicht überschattet, daß sie dunkel wirkten, begegneten den seinen mit einem humorvollen Funkeln. »Du behandelst mich schon wieder wie ein Mädchen, das man mit einem netten Kompliment zum Verstummen bringen kann. Ich nehme mir heraus, dich daran zu erinnern, daß es kaum geziemend ist, mich Damisela zu nennen, wenn ich deine Frau bin.«
»Oh Gott, ja«, sagte er zerknirscht. Sie blickte ihn an, und ein schwaches Runzeln stahl sich über ihre glatten Augenbrauen.
»Bist du so sehr abgeneigt, vermählt zu werden? Ich wurde seit meiner Kindheit mit dem Wissen erzogen, daß ich so heiraten müßte, wie meine Verwandten es von mir verlangten. Ich habe geglaubt, ein Mann könne freier wählen.«
»Ich glaube, kein Mann ist frei, zumindest in den Reichen nicht.« Er fragte sich, ob es deshalb soviel Lustbarkeiten bei einer Hochzeit gab – so viele Tänze und Getränke – um die Söhne und Töchter von Hastur und Cassilda vergessen zu lassen, daß sie um des verfluchten Laran willen, das ihrem Geschlecht Macht gab, wie Zuchthengste und Stuten herangezogen wurden!
Aber wie konnte er es vergessen? Allart befand sich wieder im Griff seines unscharf eingestellten Zeitgefühls, dem Fluch seines Laran. Genau in diesem Augenblick verzweigten sich wieder verschiedene Zukunftsentwicklungen: das Land, lodernd im Krieg und Kampf, schwebende Falken wie jene, die das Haftfeuer auf den Luftwagen geworfen hatten; große Gleiter mit weiten Flügeln, an denen Männer hingen; in den Wäldern aufflackernde Brände; merkwürdige schneebedeckte Gipfel aus den Gebieten jenseits von Nevarsin, die er noch nie gesehen hatte; das Gesicht eines Kindes, umgeben vom fahlen Glanz der Blitze… Sind das alles Dinge, die tatsächlich in mein Leben treten, oder nur solche, die möglich sind?
Hatte er überhaupt eine Kontrolle über irgendeine dieser Zukünfte, oder würde ein unerbittliches Schicksal ihm alle auferlegen? So wie es ihm Cassandra Aillard, die Frau, die jetzt vor ihm stand, vorgesetzt hatte … Ein Dutzend Cassandras, nicht nur eine, die zu ihm aufblickten – erhitzt von Liebe und Leidenschaft, die er, wie er wußte, erregen konnte, verzerrt vor Haß und Abscheu (ja, auch die konnte er erregen), schlaff vor Erschöpfung, mit einem Fluch auf den Lippen in seinen Armen sterbend … Allart schloß die Augen in dem vergeblichen Versuch, die Gesichter seiner Frau zu verbannen.
Spürbar erregt sagte Cassandra: »Mein Gatte! Allart! Sag mir, was mit dir nicht in Ordnung ist, ich bitte dich!«
Er wußte, daß er sie erschreckt hatte und versuchte, die auf ihn einstürmenden Zukunftsvisionen unter Kontrolle zu bekommen, die Techniken, die er in Nevarsin gelernt hatte, anzuwenden, das Dutzend Frauen, zu dem sie geworden war – werden konnte, werden würde – auf die eine zu reduzieren, die jetzt vor ihm stand.
»Es hat nichts mit dir zu tun, Cassandra. Ich habe dir gesagt, daß ich einen Fluch trage.«
»Gibt es nichts, das dir helfen kann?«
Ja, dachte er erregt, die beste Hilfe wäre gewesen, wenn keiner von uns je geboren worden wäre; wenn unsere Vorfahren – sie mögen in Zandrus schwärzester Hölle frieren – sich hätten zurückhalten können, diesen Fluch in unser Geschlecht hineinzutragen! Er sprach es nicht aus, aber sie fing den Gedanken auf, und ihre Augen weiteten sich voll Bestürzung.
Aber dann brachen die Familienmitglieder in ihr sekundenlanges Alleinsein ein. Damon-Rafael beanspruchte Cassandra mit einem arroganten »Sie wird schon früh genug ganz dein sein, Bruder!« für einen Tanz, und irgend jemand schob ein Glas in seine Hand und verlangte, daß er sich an dem Fest beteiligte, das schließlich zu seinen Ehren gegeben werde.
Im Versuch, inneren Aufruhr und Auflehnung zu verhehlen – schließlich konnte er seine Gäste nicht für alles verantwortlich machen –, ließ er sich überreden, zu trinken und mit jungen Mädchen zu tanzen, die offensichtlich so wenig mit seiner Zukunft zu tun hatten, daß ihre Gesichter beständig eines blieben und nicht von den sich überschneidenden Wahrscheinlichkeiten des Laran verändert wurden. Er sah Cassandra erst wieder, als Damon-Rafaels Frau Cassilde und ihre Cousine sie aus der Halle zur traditionellen Gute-Nacht-Zeremonie führten.
Der Brauch verlangte, daß die Braut und der Mann in der Gegenwart der versammelten Edlen zu Bett gebracht wurden, als Beweis, daß die Eheschließung gebührend vollzogen worden war. Allart hatte in Nevarsin gelesen, daß es kurz nach der Einführung der Heirat zu Zwecken der Vererbung eine Zeit gegeben hatte, in der auch der öffentliche Verkehr üblich gewesen war. Glücklicherweise wußte er, daß das nicht von ihm gefordert wurde. Es war ihm ohnehin unklar, wie jemand das hatte schaffen können.
Es dauerte nicht mehr lange, und sie führten ihn im Tumult der üblichen Scherze zu seiner Braut. Der Brauch verlangte ebenfalls, daß das Nachtgewand einer Braut offenherziger war als alles, was sie je zuvor getragen hatte – oder danach tragen würde. Das hatte den Zweck, dachte Allart sarkastisch, daß alle sehen konnten, daß sie keinen verborgenen Makel besaß, der ihren Wert als Zuchtobjekt beeinträchtigen könnte. Mögen die Götter geben, daß man sie nicht mit Drogen willfährig gemacht hat… Aufmerksam sah er sie an, und versuchte zu erkennen, ob ihre Pupillen durch Drogenanwendung geweitet waren oder ob man ihr Aphrodisiaka eingegeben hatte. Er nahm an, daß dies für ein Mädchen, das sich gegen einen völlig Fremden sträubte, barmherzig war; niemand, vermutete Allart, konnte das Herz besitzen, ein verängstigtes Mädchen zur Unterwerfung zu zwingen.
Und wieder einander widersprechende Zukunftsvisionen, gegensätzliche Möglichkeiten und Bindungen, die sich in seinem Geist zusammen mit Bildern der Begierde sammelten, und die anderen Möglichkeiten, die sie tot in seinen Armen liegend zeigten, verdrängen wollten. Was hatte Damon-Rafael gesagt? Daß alle ihre Schwestern bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben waren …
Mit einem Chor von Glückwünschen zogen die Verwandten sich zurück und ließen sie allein. Allart stand auf und warf den Riegel des Schlosses nach unten. Als er zurückkam, sah er die Furcht in ihrem Gesicht und die tapfere Anstrengung, sie zu verbergen.
Fürchtet sie, daß ich wie ein wildes Tier über sie herfalle? Laut sagte er: »Haben sie dich mit Aphrosone oder einem anderen Trank betäubt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es abgelehnt. Meine Pflegemutter wollte, daß ich es trinke, aber ich habe ihr gesagt, daß ich keine Angst vor dir habe.«
Allart fragte: »Warum zitterst du dann?«
Mit dem Anflug von Gewitztheit, den er schon vorher an ihr bemerkt hatte, sagte sie: »In diesem Gewand, das mich halbnackt läßt, und auf dem sie bestanden haben, ist mir kalt.«
Allart lachte. »Es scheint, daß ich nur besser dran bin, weil ich einen Pelz trage. Bedeck dich damit. Das Gewand wäre nicht nötig gewesen, um meine Begierde zu wecken – aber ich vergaß, daß du Komplimente und Schmeicheleien nicht magst.« Er trat näher und setzte sich auf den Rand des Bettes. »Darf ich dir etwas Wein einschenken, Domna?« »Danke.« Sie nahm das Glas, und als sie daran nippte, sah er die Farbe in ihr Gesicht zurückkehren. Dankbar zog sie den Fellumhang über die Schultern. Er schenkte sich auch etwas ein, und während er den Stiel des Kelchs zwischen den Fingern drehte, versuchte er darüber nachzudenken, wie er das, was gesagt werden mußte, sagen konnte, ohne sie zu beleidigen. Erneut drohten die vielfältigen Entwicklungen und Möglichkeiten, ihn zu überwältigen. Er sah sich seine eigenen Skrupel ignorieren, sie mit der ganzen aufgestauten Leidenschaft seines Lebens in die Arme nehmen. Wie sie mit Leidenschaft und Liebe zum Leben erwachte, die gemeinsamen Jahre voller Freude … Und dann wieder das Gesicht einer anderen Frau, goldbraun und lachend, von dichtem, kupferfarbenem Haar umgeben. Auf verwirrende Weise ließ es das Gesicht der Frau und die Situation vor ihm verschwimmen …
»Cassandra«, sagte er, »hast du diese Heirat gewollt?«
Sie sah ihn nicht an. »Ich bin durch diese Heirat geehrt. Wir wurden miteinander verlobt, als ich zu jung war, um mich noch daran zu erinnern. Für dich muß es anders sein, du bist ein Mann und hast die Möglichkeit zur Wahl. Ich nicht. Was ich als Kind auch tat, ich hörte immer nur, daß dieses oder jenes nicht angebracht sei, wenn man Allart Hastur von Elhalyn heiraten will.«
Seine Worte kamen gepreßt, als er sagte: »Welche Freude muß es sein, solche Gewißheit zu haben, nur eine Zukunft zu sehen, statt Dutzender, Hunderter, Tausender … Wenn man seinen Weg nicht wie ein Akrobat, der beim Jahrmarkt auf dem Hochseil tanzt, ausbalancieren muß.« »Daran habe ich nie gedacht. Ich dachte nur, daß ein Leben freier als meines ist, wenn man wählen darf …«
»Frei?« Er lachte amüsiert. »Mein Schicksal war so festgelegt wie das deine. Aber wir können noch immer unter den künftigen Möglichkeiten, die ich sehe, wählen, wenn du dazu bereit bist.«
Leise erwiderte sie: »Was ist uns jetzt noch zu wählen geblieben? Wir wurden vermählt und zu Bett gebracht. Mir scheint, daß nun keine weitere Wahl mehr möglich ist. Nur dies: Du kannst mich grausam oder sanft behandeln, und ich kann alles mit Geduld ertragen – oder meiner Sippe Schande machen, indem ich mich gegen dich zur Wehr setze und dich, wie der Geprellte in einem obszönen Lied, zwinge, die Zeichen meiner Nägel und Zähne zu tragen. Das allerdings«, schloß sie, wobei ihre Augen lachend aufblitzten, »würde ich auch für schändlich halten.«
»Die Götter mögen verhindern, daß du einen Grund dazu haben wirst,« sagte Allart. Einen Moment waren die Bilder, die sich aus seinen Worten ergaben, so scharf, daß alle anderen Zukunftsvisionen tatsächlich wie weggewischt erschienen.
Sie war seine Frau, ihm mit ihrem Einverständnis, sogar mit ihrem Willen gegeben worden, und ihm ganz ausgeliefert. Er konnte sie sogar dazu bringen, ihn zu lieben.
Warum fügen wir uns dann nicht gemeinsam unserem Schicksal, meine Liebe …?
Doch er zwang sich zu sagen: »Es bleibt noch eine dritte Möglichkeit. Du kennst das Gesetz. Ganz abgesehen von der Zeremonie: Dies ist solang keine Ehe, bis wir sie dazu machen, und die Catenas können geöffnet werden, wenn wir darum bitten.«
»Wenn ich meine Familie so erzürne und den Zorn der Hasturs gegen sie aufbringe, würde das Band der Bündnisse, auf dem die Herrschaft der Hasturs gegründet ist, zerreißen. Wenn du danach strebst, mich zu meiner Familie zurückzuschicken, weil ich kein Wohlgefallen bei dir fand, wird es für mich keinen Frieden und kein Glück mehr geben.« Ihre Augen waren weit geöffnet und schauten betrübt.
»Ich habe nur gedacht… es könnte ein Tag kommen, an dem du jemandem begegnen wirst, den du mehr magst, mein Mädchen.«
Scheu erwiderte sie: »Wie kommst du darauf, daß ich jemanden finden will, den ich mehr mag?«
Mit plötzlicher Furcht wurde ihm klar, daß das Schlimmste geschehen war. Aus Angst, sie könne einem gefühllosen Rohling gegeben werden, der sie nur als Zuchtstute betrachtete, und mit der Erfahrung, daß er statt dessen als Gleichgestellte mit ihr sprach, war sie bereit, ihn gern zu haben!
Wenn er auch nur ihre Hand berührte – das wußte er –, würde sein Entschluß nichtig werden. Er würde sie mit Küssen bedecken, sie in seine Arme ziehen – und sei es nur, um die zahlreichen Zukunftsvisionen, die er sich von diesem kritischen Moment an aufbauen sah, wegzuwischen, sie alle in einem einzigen Augenblick mit irgendeiner entschiedenen Handlung auszulöschen, egal wie sie auch aussehen mochte. Seine Stimme klang gepreßt, selbst für seine eigenen Ohren. »Du kennst meinen Fluch. Ich sehe nicht nur die wirkliche Zukunft, sondern ein Dutzend, und jede von ihnen kann eintreffen oder mich narren. Ich hatte beschlossen, nie zu heiraten, um diesen Fluch nie einem meiner Söhne zu übertragen. Ich wollte auf mein Erbe verzichten und ein Mönch werden. Ich kann nur zu deutlich sehen, was die Heirat mit dir in Gang setzen könnte. Bei den Göttern dort oben«, schrie er, »glaubst du, du seist mir gleichgültig?«
»Sind deine Visionen immer zutreffend, Allart?« fragte sie flehentlich. »Warum sollten wir unser Schicksal verleugnen? Wenn diese Dinge bestimmt sind, werden sie geschehen, ganz gleich, was wir jetzt tun; und wenn nicht, können sie uns nicht bekümmern.« Sie kniete sich hin und schlang ihre Arme um ihn. »Ich bin nicht unwillig, Allart. Ich … ich … ich liebe dich.«
Im ersten Augenblick konnte Allart nicht anders, als seine Arme um sie zu schließen. Doch dann, gegen die beschämende Erinnerung ankämpfend, wie er der Verlockung der Riyachiya erlegen war, packte er sie bei den Schultern und stieß sie mit aller Kraft fort. Er hörte seine eigene Stimme, hart und kalt, als gehörte sie jemand anderem, sagen: »Erwartest du immer noch, daß ich dir glaube, sie hätten dich nicht mit Aphrodisiaka aufgeputscht?«
Cassandras Körper wurde starr, Tränen des Zorns und der Demütigung schossen ihr in die Augen. Wie nie zuvor im Leben wollte er sie wieder an sich ziehen und an sein Herz drücken.
»Vergib mir«, bat er. »Versuch doch zu verstehen. Ich kämpfe darum … einen Weg aus der Falle zu finden, in die man uns geführt hat. Weißt du nicht, was ich gesehen habe? Alle Straßen führen dorthin, scheint es – daß ich tue, was von mir erwartet wird: Daß ich Monster zeugen muß, Kinder, die vom Laran schlimmer gequält werden als ich, die sterben, wie mein jüngerer Bruder, oder, noch schlimmer, leben werden, um uns dafür zu verfluchen, daß sie je geboren wurden. Und weißt du, was ich für dich am Ende einer jeden Straße sehe, mein armes Mädchen? Deinen Tod, Cassandra, deinen Tod bei der Geburt meines Kindes.« Ihr Gesicht war weiß, als sie flüsterte: »Zwei meiner Schwestern sind so gestorben.«
»Doch du fragst dich warum. Ich stoße dich nicht zurück, Cassandra. Ich versuche, das schreckliche Schicksal zu vermeiden, das ich für uns beide gesehen habe. Gott weiß, es wäre leicht genug… An den meisten Linien meiner Zukunft sehe ich ihn, den Weg, der am einfachsten einzuschlagen wäre: Daß ich dich liebe, daß du mich liebst, daß wir Hand in Hand in diese schreckliche Tragödie schreiten, die die Zukunft für uns enthält. Eine Tragödie für dich, Cassandra. Und für mich. Ich …« Allart schluckte, versuchte, seine Stimme zu bändigen. »Ich will nicht die Schuld an deinem Tod auf mich laden.«
Sie begann zu schluchzen. Allart wagte nicht, sie zu berühren; er schaute auf sie hinab, sein Herz zog sich zusammen. »Versuche, nicht zu weinen«, sagte er mit rauher Stimme. »Ich kann es nicht ertragen. Die Versuchung, das Einfachste zu tun und darauf zu vertrauen, daß das Glück uns hindurchführt, ist immer da; oder, wenn alles scheitert, zu sagen: ›Es ist unser Los, und kein Mensch kann gegen das Schicksal ankämpfen.‹ Denn es gibt andere Wahlmöglichkeiten. Du könntest unfruchtbar sein, eine Geburt überleben, unser Kind könnte dem Fluch unseres vereinigten Laran entrinnen. Es gibt so viele Möglichkeiten, so viele Versuchungen! Und ich habe mich entschlossen, daß diese Ehe keine sein soll, bis ich meinen Weg deutlich vor mir sehe. Ich bitte dich, dem zuzustimmen.«
»Es scheint, daß ich keine Wahl habe«, sagte sie und blickte betrübt zu ihm auf. »Aber es gibt in unserer Welt auch kein Glück für eine Frau, die nicht das Wohlgefallen ihres Mannes findet. Meine Tanten und Cousinen werden mir keine Ruhe lassen, bis ich schwanger bin. Auch sie haben Laran, und wenn diese Ehe nicht vollzogen wird, werden sie es früher oder später erfahren, und wir werden die gleichen Sorgen erleben, die wir vorausgesehen haben, hätten wir die Ehe zurückgewiesen. In jedem Fall, mein Gemahl, scheint es, daß wir das Wild sind, das in der Falle stecken bleibt oder in den Kochtopf wandern kann; jeder Weg bedeutet Verderben.«
Beruhigt von der Ernsthaftigkeit, mit der sie über ihre mißliche Lage nachzudenken suchte, sagte Allart: »Ich habe einen Plan, falls du einwilligst, Cassandra. Die meisten unserer Verwandten machen, bevor sie mein Alter erreichen, ihren Dienst in einem Turm, wo sie ihr Laran in einem Matrix-Kreis einsetzen, der unseren Leuten Energie, Macht und ein gutes Leben gibt. Ich bin wegen meiner schwächlichen Gesundheit von dieser Pflicht entbunden worden, aber eigentlich sollte ich sie jetzt nachholen. Zudem ist das Leben am Hof nicht das beste für eine Frau, die …« Er drohte an den Worten zu ersticken. »Die schwanger sein könnte. Ich werde um die Erlaubnis bitten, dich mit zum Turm von Hali. zu nehmen, wo wir unseren Teil an der Arbeit des Matrix-Kreises beitragen werden. Auf diese Weise werden wir deinen Verwandten und meinem Bruder nicht begegnen und können fern von ihnen wohnen, ohne Gerede hervorzurufen. Vielleicht finden wir einen Ausweg aus diesem Dilemma, während wir dort sind.«
Cassandras Stimme klang unterwürfig. »Es soll sein, wie du wünschst. Aber unsere Verwandtschaft wird es merkwürdig finden, daß wir uns dazu während der ersten Tage unserer Ehe entschließen.«
»Mögen sie denken, was sie wollen«, gab Allart zurück. »Ich halte es nicht für ein Verbrechen, Dieben falsche Münzen zu geben, oder zu lügen, wenn man über alle Höflichkeit hinaus verhört wird. Wenn ich von jemandem, der Recht auf eine Antwort hat, befragt werde, sage ich, daß ich während meiner frühen Mannesjahre dieser Pflicht aus dem Wege gegangen bin und sie jetzt erfüllen will, damit du und ich zusammen weggehen können, ohne daß unerfüllte Verpflichtungen unser Leben überschatten. Du kannst ihnen sagen, was du möchtest.« Ihr Lächeln strahlte ihn an; Allart spürte einen Stich durchs Herz. »Nun, ich werde überhaupt nichts sagen. Ich bin deine Frau, und ich gehe dorthin, wo du hinzugehen entscheidest, das bedarf keiner weiteren Erklärung! Ich sage nicht, daß ich diesen Brauch mag, und auch nicht, daß ich ohne Hader gehorche, wenn du es von mir verlangst. Ich bezweifle, daß du in mir eine unterwürfige Frau vorfindest, Dom Allart. Aber ich werde diesen Brauch nutzen, wenn er meinen Zwecken dient!« Lastenträger, warum konnte das Schicksal mir keine Frau geben, die ich mit Freuden verstoßen hätte, statt dieser einen, die zu lieben mir so leicht gefallen wäre! Erschöpft vor Erleichterung beugte er seinen Kopf vor, nahm ihre schmalen Hände und küßte sie.
Sie sah die Erschöpfung in seinem Gesicht und sagte: »Du bist sehr abgespannt, mein Gatte. Willst du dich nicht niederlegen und schlafen?«
Erneut marterten ihn die erotischen Bilder, aber er schüttelte sie ab. »Du weißt nicht viel von Männern, nicht wahr, Chiya?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich auch? Jetzt scheint es, daß es nicht mein Los ist«, sagte sie und sah so traurig aus, daß Allart bei aller Entschiedenheit ein fernes Bedauern fühlte.
»Leg dich nieder und schlafe, wenn du möchtest, Cassandra.« »Wirst du denn nicht schlafen?« fragte sie unschuldig. Er mußte lachen.
»Ich werde auf dem Boden schlafen. Ich habe an schlimmeren Orten gelegen, und nach den Steinzellen von Nevarsin ist das der reinste Luxus«, sagte Allart. »Gesegnet seist du, Cassandra, daß du meine Entscheidung akzeptierst.«
Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Oh, man hat mich gelehrt, daß es die Pflicht einer Frau ist, zu gehorchen. Auch wenn es ein anderer Gehorsam ist, als ich vorausgesehen habe, bin ich doch noch immer deine Frau und werde tun, was du befiehlst. Gute Nacht, mein Gatte.« Die Worte waren von zarter Ironie. Auf den weichen Matten des Zimmers ausgestreckt, faßte Allart die ganze Disziplin seiner Jahre in Nevarsin zusammen und schaffte es schließlich, aus seinem Geist die Bilder einer zur Liebe erweckten Cassandra auszulöschen. Nichts blieb, nur der Augenblick und sein Entschluß. Einmal jedoch, vor dem Morgendämmern, glaubte er, eine Frau weinen zu hören, ganz leise, als würden die Laute von Stoffen und Laken gedämpft.
Am nächsten Tag reisten sie zum Hali-Turm ab. Dort blieben sie ein halbes Jahr.

8

Früher Frühling in den Hellers. Donal Delleray, genannt Rockraven, stand auf den Zinnen von Burg Aldaran und sinnierte müßig, ob die Aldaran-Vorfahren diesen hohen Gipfel für ihre Festung gewählt hatten, weil er einen großen Bereich des Umlands beherrschte. Es neigte sich zu den fernen Ebenen und erhob sich dahinter zu den weiten, unpassierbaren Gipfeln, auf denen nichts menschliches, sondern nur die Schweifer und halblegendären Chieri von den fernen Hellers in ihren vom ewigen Schnee umgebenen Festen wohnten.
»Man sagt«, meinte er laut, »daß es hinter dem letzten dieser Berge, so weit im Schneegebiet, daß selbst der erfahrenste Bergsteiger scheitern würde, ehe er einen Weg durch Felsspitzen und Gletscherschluchten fände, ein Tal mit nie endendem Sommer gibt, und dorthin haben sich die Chieri zurückgezogen, seit die Kinder von Hastur gekommen sind. Deshalb sehen wir sie heutzutage nicht mehr. Dort wohnen die Chieri für immer, unsterblich und schön, und sie singen ihre fremdartigen Lieder und träumen unsterbliche Träume.«
»Sind die Chieri wirklich so schön?«
»Ich weiß es nicht, kleine Schwester. Ich habe nie eine gesehen«, antwortete Donal. Er war jetzt zwanzig, hochgewachsen und gertenschlank, dunkelhäutig, mit dunklen Brauen, ein aufrechter und ernster junger Mann, der älter aussah, als er tatsächlich war. »Aber als ich ganz klein war, hat meine Mutter mir einmal erzählt, daß sie eine Chieri in den Wäldern hinter einem Baum gesehen hat, und daß sie die Schönheit der Gesegneten Cassilda besaß. Man sagt auch, daß ein Sterblicher, der sich seinen Weg zum Tal der Chieri bahnt, von ihren Speisen ißt und ihren Zauberwassern trinkt, ebenfalls mit Unsterblichkeit versehen wird.« »Nein«, sagte Dorilys. »Jetzt erzählst du mir Märchen. Ich bin zu alt, um solche Sachen zu glauben.«
»Oh ja, du bist so alt«, neckte Donal. »Täglich warte ich darauf, wie sich dein Rücken beugt und dein Haar grau wird.«
»Ich bin alt genug, um verlobt zu werden«, sagte Dorilys würdevoll. »Ich bin elf Jahre alt, und Margali sagt, ich sähe aus, als sei ich fünfzehn.«
Donal widmete seiner Schwester einen langen, abwägenden Blick. Es stimmte. Mit elf war Dorilys schon größer als viele Frauen, und ihr geschmeidiger Körper zeigte durchaus schon Andeutungen hübscher Rundungen.
»Ich weiß nicht, ob ich verlobt werden will«, sagte sie plötzlich mißgelaunt. »Ich weiß gar nichts von meinem Cousin Darren! Kennst du ihn, Donal?«
»Ich kenne ihn«, sagte Donal, und sein Gesicht zeigte einen unfreundlichen Ausdruck. »Er ist hier aufgezogen worden, zusammen mit vielen anderen Knaben, als ich ein Junge war.«
»Sieht er gut aus? Ist er freundlich und wohlgelitten? Magst du ihn, Donal?«
Donal öffnete den Mund, um zu antworten, und schloß ihn wieder. Darren war der Sohn von Lord Aldarans jüngerem Bruder Rakhal. Mikhail, Lord Aldaran, hatte keine Söhne, und diese Heirat würde bedeuten, daß ihre Kinder die beiden Ländereien erben und festigen würden; auf diese Art wurden große Reiche aufgebaut. Es würde sinnlos sein, Dorilys wegen irgendwelcher Streitigkeiten unter Jungen gegen ihren versprochenen Gatten einzunehmen.
»Danach mußt du nicht urteilen, Dorilys. Wir waren Kinder, als wir einander kannten, und wir stritten, wie Jungen es tun. Aber jetzt ist er älter, und ich bin es auch. Ja, er sieht ziemlich gut aus, nehme ich an, so wie Frauen das beurteilen.«
»Mir scheint das kaum gerecht«, sagte Dorilys. »Du bist meinem Vater mehr als ein Sohn gewesen. Jawohl, das hat er selbst gesagt! Warum kannst du nicht seine Ländereien erben, wenn er keinen eigenen Sohn hat?«
Donal zwang sich ein Lachen ab. »Diese Dinge wirst du besser verstehen, wenn du älter bist, Dorilys. Ich bin mit Lord Aldaran nicht blutsverwandt, auch wenn er mir ein liebevoller Pflegevater war, und ich kann nicht mehr als den Anteil eines Pflegesohns an seinen Ländereien erwarten – und das auch nur, weil er meiner Mutter – und deiner – gelobt hat, gut für mich zu sorgen. Ich erwarte keine andere Erbschaft als diese.«
»Das ist ein dummes Gesetz«, beharrte Dorilys heftig, und Donal, der die Anzeichen zorniger Erregung in ihren Augen sah, sagte schnell: »Sieh dort unten, Dorilys! Schau doch, zwischen den Öffnungen der Hügel kannst du die Reiter und die Fahnen sehen. Das wird Lord Rakhal und sein Gefolge sein, die zur Burg hinauf reiten, um zu deiner Verlobung zu kommen. Du solltest zu deiner Zofe gehen und dich für die Zeremonie schön machen lassen.«
»Eine gute Idee«, sagte Dorilys abgelenkt, aber sie schaute finster drein, als sie auf die Treppe zuging. »Wenn ich ihn nicht mag, werde ich ihn nicht heiraten. Hörst du mich, Donal?«
»Ich höre dich«, erwiderte er, »aber das sind die Worte eines kleinen Mädchens, Chiya. Wenn du eine Frau bist, wirst du vernünftiger sein. Dein Vater hat sorgfältig gewählt, um eine angemessene Heirat in die Wege zu leiten; er würde dich nicht verheiraten, wenn er nicht sicher wäre, daß es das beste für dich ist.«
»Oh, das habe ich immer wieder gehört, von Vater und von Margali. Sie sagen alle dasselbe; daß ich tun muß, was man mir sagt, und daß ich verstehen werde, warum ich das muß, wenn ich älter bin! Aber wenn ich meinen Cousin Darren nicht mag, werde ich ihn nicht heiraten, und du weißt, daß es niemanden gibt, der mich dazu bringen kann, etwas zu tun, das ich nicht will!« Sie stampfte mit dem Fuß auf, ihr rosiges Gesicht errötete vor plötzlichem Ärger, und dann lief sie zur Treppe, die hinunter ins Schloß führte. Wie ein Echo ihrer Worte grollte ein leiser, weit entfernter Donner.
Donal blieb an der Brüstung stehen, in ernstes Nachdenken versunken. Dorilys hatte mit der unbewußten Arroganz einer Prinzessin gesprochen, wie die verzogene kleine Tochter von Lord Aldaran. Aber sie war mehr als nur das, und selbst Donal fühlte eine böse Vorahnung des Grauens, wenn Dorilys so bestimmt sprach.
Es gibt niemanden, der mich dazu bringen kann, etwas zu tun, das ich nicht will. Das war nur allzu wahr. Eigensinnig von Geburt an, hatte es niemand gewagt, wegen des seltsamen Laran, mit dem sie zur Welt gekommen war, ihr allzu ernst zu widersprechen. Niemand kannte annähernd die Reichweite dieser seltsamen Kraft; niemand hatte je gewagt, sie bewußt zu provozieren. Selbst als sie noch nicht entwöhnt war, hatte jeder, der sie gegen ihren Willen berührte, die Kraft gespürt, die sie auf einen schleudern konnte – damals nur als schmerzlichen Schock
-, aber das Gerede der Diener und Kindermädchen hatte ihre Wirkung übertrieben und schreckenserregende Geschichten verbreitet. Wenn sie – schon als Baby – vor Wut, Hunger oder Schmerz schrie, hatten Blitze und Donnerschläge um die Höhen der Burg gekracht; nicht nur die Diener, sondern auch die im Schloß aufgezogenen Kinder hatten gelernt, ihren Zorn zu fürchten. Einmal, als sie fünf gewesen war und Fieber sie ins Bett gefesselt hatte, hatte sie tagelang im Delirium gelegen, phantasiert, und nicht einmal Donal oder ihren Vater erkannt. Damals hatten Blitzschläge Tag und Nacht gekracht und waren unberechenbar, schreckenerregend nahe bei den Türmen der Burg eingeschlagen. Donal, der die Blitze selbst ein wenig kontrollieren konnte (wenn auch nicht auf diese Art), hatte sich gefragt, welche Gespenster und Alpträume sie in ihrem Delirium verfolgten, daß sie so heftig gegen sie wütete.
Glücklicherweise hatte sie, als sie älter wurde, nach Anerkennung und Zuneigung zu streben begonnen, und Lady Deonara, die Dorilys wie ihre eigene Tochter liebte, war in der Lage gewesen, sie einiges zu lehren. Das Kind besaß Alicianes Schönheit und ihre angenehmen Umgangsformen, und war in den letzten ein oder zwei Jahren weniger gefürchtet und besser gelitten. Aber die Diener und Kinder fürchteten sie noch immer und nannten sie, wenn sie es nicht hören konnte, Hexe und Zauberin. Nicht einmal das kühnste der Kinder wagte es, sie offen zu beleidigen. Dorilys hatte sich nie gegen Donal, ihren Vater und ihre Ziehmutter Margali, jene Leronis, die sie auf die Welt gebracht hatte, gewandt; ebensowenig hatte sie sich, solange Lady Deonara noch lebte, gegen deren Willen aufgelehnt.
Aber seit Deonaras Tod, überlegte Donal betrübt (denn auch er hatte die sanfte Lady Aldaran geliebt), hat nie jemand Dorilys widersprochen. Mikhail von Aldaran betete seine hübsche Tochter an und schlug ihr nichts ab, ob es nun vernünftig war oder nicht, so daß die Elfjährige die Edelsteine und Spielsachen einer Prinzessin besaß. Die Diener taten es nicht, weil sie ihren Zorn und die Kraft fürchteten, die vom Geschwätz so übertrieben aufgebauscht waren. Die anderen Kinder taten es auch nicht; zum Teil, weil sie unter ihnen die Ranghöchste, zum Teil, weil sie eine eigensinnige kleine Tyrannin war, die nie davor zurückschreckte, ihre herrschende Stellung mit Schlägen, Kniffen und Ohrfeigen zu erzwingen.
Es ist für ein kleines Mädchen – ein hübsches, verzogenes Mädchen – gar nicht so schlecht, über alle Vernunft eigensinnig zu sein – und daß jedermann sie fürchtet und ihr alles gibt, was sie will. Aber was wird geschehen, wenn sie zu einer Frau heranwächst, wenn sie nicht lernt, daß sie nicht alles haben kann, was sie will? Und wer wird sie das lehren, da alle ihre Macht fürchten?
Besorgt schritt Donal die Treppe hinunter und ging hinein, denn auch er mußte bei der Verlobung und den bevorstehenden Feierlichkeiten anwesend sein.

In seinem gewaltigen Empfangszimmer erwartete Mikhail Aldaran seine Gäste. Der Aldaran-Fürst war seit der Geburt seiner Tochter gealtert. Ein großer, schwerer Mann, jetzt gebeugt und ergrauend, hatte er noch immer etwas vom Aussehen eines alten, sich mausernden Falken; und wenn er seinen Kopf hob, ähnelte er einem angejahrten Vogel, der auf seinem Sitzklotz aufschreckte – mit gesträubtem Gefieder, einer Andeutung versteckter Kraft, die er zwar zurückhielt, aber nicht verloren hatte.
»Donal? Bist du es? In diesem Licht kann man schlecht sehen«, sagte Lord Aldaran. Donal, der wußte, daß sein Pflegevater nicht gerne zugab, daß seine Augen nicht mehr so scharf wie einst waren, trat zu ihm. »Ich bin es, mein Fürst.«
»Komm her, teurer Junge. Ist Dorilys für die Zeremonie vorbereitet? Glaubst du, sie ist mit dem Gedanken an diese Heirat zufrieden?« »Ich glaube, sie ist zu jung, um zu wissen, was sie bedeutet«, erwiderte Donal. Er hatte einen verzierten Anzug aus gefärbtem Leder und hohe Hausstiefel mit eingeritzten Mustern und Fransen angelegt. Sein Haar wurde von einem edelsteinbesetzten Band gehalten; an seinem Hals blitzte ein Feuerstein karminrot auf. »Aber sie ist sehr neugierig. Sie hat mich gefragt, ob Darren ansehnlich und wohlgelitten sei, und ob ich ihn mag. Ich habe ihr eine knappe Antwort darauf gegeben, fürchte ich, aber ich sagte ihr, daß sie einen Mann nicht an den Streitigkeiten von Jungen messen darf.«
»Genausowenig wie du, mein Junge«, sagte Aldaran, aber er sagte es freundlich.
»Pflegevater – ich habe eine Gunst von Euch zu erbitten«, sagte Donal.
Aldaran lächelte und sagte: »Du weißt längst, Donal, jedes Geschenk, das ich dir geben kann, ist deins, wenn du nur darum bittest.« »Dieses wird Euch nichts kosten, Fürst, außer etwas Wohlwollen. Wenn Lord Rakhal und Lord Darren heute vor Euch treten, um über Dorilys’ Mitgift zu diskutieren, würdet Ihr mich der Gruppe mit dem Namen meines Vaters vorstellen, und nicht als Donal von Rockraven, wie Ihr es gewöhnlich tut?«
Lord Aldarans kurzsichtige Augen zwinkerten und ließen ihn mehr denn je wie einen gigantischen, vom Licht geblendeten Raubvogel aussehen. »Warum das, Pflegesohn? Willst du den Namen deiner Mutter verleugnen, oder ihre Stellung hier? Oder etwa die deine?«
»Das mögen die Götter verhüten«, sagte Donal.
Er trat näher und kniete sich neben Aldaran. Der alte Mann legte eine Hand auf seine Schulter, und bei dieser Berührung wurde ihnen beiden die unausgesprochenen Worte verständlich: Nur ein Bastard trägt den Namen seiner Mutter. Ich bin eine Waise, aber kein Bastard. »Vergib mir, Donal«, sagte der alte Mann schließlich. »Ich habe einen Tadel verdient. Ich wollte… Ich wollte nicht daran erinnert werden, daß Aliciane je einem anderen Mann gehört hat. Selbst als sie … mich verließ, konnte ich nicht ertragen, daran zu denken, daß du in Wahrheit nicht mein eigener Sohn bist.« Es klang wie ein Schmerzensschrei. »Ich habe mir so oft gewünscht, du wärest es.«
»Ich auch«, sagte Donal. Er konnte sich an keinen anderen Vater erinnern und wünschte sich auch keinen. Aber Darrens einschüchternde Stimme von vor zehn Jahren klang in seinen Ohren, als wäre es erst gestern gewesen: »Donal von Rockraven. Ja, ich weiß, der Balg der Barragana. Weißt du überhaupt, wer dich gezeugt hat, oder bist du ein Sohn des Flusses? Hat deine Mutter während eines Geisterwindes im Wald gelegen und ist danach mit einem Niemands-Sohn in ihrem Bauch nach Hause gekommen?« Donal hatte sich auf ihn gestürzt wie eine Todesfee, kratzend und tretend, und sie mußten auseinandergezogen werden, wobei sie noch immer heulende Drohungen gegeneinander ausgestoßen hatten. Selbst heute war es nicht angenehm, an den Blick des jungen Darren und seine höhnischen Bemerkungen zu denken. In Aldarans Stimme klang eine späte Entschuldigung mit: »Wenn ich dir aus meiner Begierde, dich meinen Sohn zu nennen, Unrecht getan habe – glaube mir, ich habe nie beabsichtigt, Zweifel an der Ehrenhaftigkeit deines Geschlechts zu äußern. Ich glaube, an dem, was ich heute abend zu tun beabsichtige, wirst du sehen, daß ich dich aufrichtig schätze, Sohn.«
»Mehr als das brauche ich nicht«, sagte Donal und setzte sich auf eine niedrige Fußbank neben ihn.
Aldaran griff nach seiner Hand, und so saßen sie dort, bis ein Diener mit Leuchtern kam und ankündigte: »Lord Rakhal Aldaran von Scathfell, und Lord Darren.«
Rakhal von Scathfell war, wie sein Bruder es vor zehn Jahren gewesen war, ein großer, herzlicher Mann in der Blüte seines Lebens und einem offenen, jovialen Gesicht, das jene freundschaftliche Herzlichkeit ausstrahlte, die unaufrichtige Männer oft vorgeben, um zu zeigen, daß sie nichts zu verbergen haben. Darren war genauso, hochgewachsen und breitschultrig, mit sandrotem Haar, das aus einer hohen Stirn zurückfloß. Donal dachte auf den ersten Blick: Ja, er ist ansehnlich, so wie Mädchen diese Dinge einschätzen. Dorilys wird ihn mögen … Er sagte sich, daß das schwache Gefühl böser Vorahnung nicht mehr als das Mißfallen daran war, daß er seine Schwester aus seinem ausschließlichen Schutz in den Gewahrsam eines anderen übergeben mußte. Ich kann nicht erwarten, daß Dorilys immer bei mir bleibt. Sie ist Erbin eines großen Reiches. Ich bin ihr Halbbruder, nicht mehr, und ihr Wohlergehen muß in anderen Händen als den meinen liegen. Lord Aldaran erhob sich aus dem Sessel und ging einige Schritte auf seinen Bruder zu, um dessen Hände mit einer herzlichen Geste zu ergreifen.
»Ich grüße dich, Rakhal. Es ist sehr lange her, seit du das letzte Mal bei mir in Aldaran warst. Wie steht es in Scathfell? Und was macht Darren?« Er umarmte seine Verwandten und forderte sie auf, sich neben ihn zu setzen. »Du kennst meinen Pflegesohn, den Halbbruder deiner Braut, Darren. Donal Delleray, Alicianes Sohn.«
Ihn wiedererkennend zog Darren die Augenbrauen hoch und sagte: »Wir haben unter anderem zusammen Waffenunterricht erhalten. Irgendwie hatte ich gedacht, sein Name sei Rockraven.«
»Kinder verfallen leicht solchen Mißverständnissen« sagte Lord Aldaran fest. »Du mußt damals sehr jung gewesen sein, Neffe, und Herkunft bedeutet jungen Burschen nicht viel. Donals Großeltern waren Rafael Delleray und seine Gattin di Catenas Mirella Lindir. Donals Vater ist früh gestorben, und seine verwitwete Mutter kam als Sängerin hierher. Sie hat mein einziges lebendes Kind geboren. Deine Braut, Darren.« »Tatsächlich?« Rakhal von Scathfell blickte Donal mit höflichem Interesse an, aber Donal vermutete, daß es – ebenso wie seine gute Laune – geheuchelt war.
Und er fragte sich, warum es ihm etwas ausmachen sollte, was der Scathfell-Clan von ihm hielt.
Darren und ich werden Schwäger sein. Das ist keine Verwandtschaft, nach der ich mich gesehnt hätte. Er, Donal, war ehrenhaft geboren und ebenso in einem Großen Haus als Pflegekind aufgezogen worden; das hätte genügen sollen. Aber ein Blick auf Darren sagte ihm, daß das niemals ausreichen würde. Andererseits fragte er sich, weswegen Darren Aldaran, der Erbe von Scathfell, sich damit abgeben sollte, den Halbbruder der ihm versprochenen Frau, den Pflegesohn ihres Vaters, zu hassen und abzulehnen?
Dann, als er Darrens falsches Lächeln sah, wußte er plötzlich die Antwort. Er war kaum telepathisch veranlagt, aber Darren hätte es ihm ebensogut entgegenschreien können.
Zandrus Hölle, er fürchtet meinen Einfluß auf Lord Aldaran! Die Gesetze der Vererbung des Blutes sind in den Bergen noch nicht so gefestigt, daß er sicher sein kann, was geschehen wird. Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Adeliger danach trachtet, seinen ehelichen Erben zugunsten eines anderen, den er für würdiger hält, zu enterben. Und er weiß, daß mein Pflegevater mich als Sohn und nicht als Mündel betrachtet.
Um Donal gerecht zu werden: Dieser Gedanke war ihm vorher noch nie gekommen. Er hatte seine Stellung – Lord Aldaran durch Zuneigung, nicht durch Blut, verbunden – gekannt und akzeptiert. In diesem Bewußtsein, das daraus resultierte, daß die Männer von Scathfell ihn provoziert hatten, fragte er sich, wieso es nicht so kommen sollte. Warum konnte der Mann, den er Vater nannte, dem er ein ergebener Sohn gewesen war, nicht einen Erben seiner Wahl benennen? Die Scathfell besaßen dieses Erbe. Warum sollten sie ihre Güter fast zur Größe eines Königreichs anwachsen lassen, indem sie Aldaran ihren Ländereien hinzufügten?
Lord Rakhal hatte sich von Donal abgewandt und sagte herzlich: »Und jetzt werden wir durch diese Heirat zusammengebracht, damit die jungen Leute, wenn wir nicht mehr sind, unsere vereinigten Länder als doppeltes Erbteil halten. Können wir das Mädchen sehen, Mikhail?« Lord Aldaran gab zurück: »Sie wird kommen, um die Gäste zu begrüßen, aber ich hielt es für passender, den geschäftlichen Teil unseres Treffens ohne ihr Dabeisein zu erledigen. Sie ist ein Kind und nicht dazu geneigt, zuzuhören, wenn Graubärte Angelegenheiten wie Mitgift, Hochzeitsgeschenke und Erbschaften erledigen. Sie wird kommen, um ihr Gelöbnis abzulegen, Darren, und mit dir bei der Feier tanzen. Aber bitte, denke daran, daß sie noch sehr jung ist, und von einer wirklichen Heirat für die nächsten vier Jahre keine Rede sein kann.« Rakhal kicherte. »Väter glauben selten, daß ihre Töchter reif für die Ehe sind, Mikhail.«
»Aber in diesem Fall«, erwiderte Aldaran mit fester Stimme, »ist es so, daß Dorilys nicht älter als elf ist. Die Heirat di Catenas darf nicht eher als in vier Jahren stattfinden.«
»Na, komm. Mein Sohn ist bereits ein Mann. Wie lange soll er noch auf seine Braut warten?«
»Vier Jahre muß er warten können«, sagte Aldaran entschieden, »oder sich anderswo eine suchen.«
Darren zuckte die Achseln. »Wenn ich warten muß, bis das kleine Mädchen heranwächst, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Es ist ein barbarischer Brauch, einem erwachsenem Mann ein Mädchen zu versprechen, das noch nicht einmal seine Puppen weggelegt hat.«
»Zweifellos«, sagte Rakhal von Scathfell in der ihm eigenen herzlichen und jovialen Art, »aber seit Dorilys geboren wurde, habe ich immer gefühlt, wie wichtig diese Heirat ist. Ich habe während der letzten zehn Jahre oft mit meinem Bruder darüber gesprochen.«
Darren fragte: »Wenn mein Onkel bisher so sehr dagegen war, warum gibt er dann jetzt sein Einverständnis?«
Mit bekümmertem Schulterzucken antwortete Lord Aldaran: »Ich vermute, weil ich alt werde und mich endlich dem Wissen gefügt habe, daß ich keinen Sohn mehr haben werde. Und ich will Aldaran lieber in die Hände eines Verwandten, als die eines Fremden übergehen sehen.« Warum, fragte Aldaran sich, mußte er ausgerechnet in diesem Augenblick, nach zehn Jahren, an den Fluch denken, den eine seit vielen Jahren tote Zauberin ihm entgegengeschleudert hatte? Von diesem Tag an sollen deine Lenden leer sein. Es traf zu, daß er seit Alicianes Tod nie ernsthaft daran gedacht hatte, eine andere Frau in sein Bett zu nehmen. »Natürlich könnte eingewandt werden«, sagte Rakhal von Scathfell, »daß mein Sohn ohnehin der gesetzliche Erbe von Aldaran ist. Die Gesetzgeber könnten sehr wohl einwenden, daß Dorilys nicht mehr als ein Heirats-Erbteil zusteht, und daß ein ehelich geborener Neffe in der Erbfolge vor der Tochter einer Barragana steht.«
»Ich bestreite das Recht der sogenannten Gesetzgeber, in dieser Angelegenheit zu urteilen.«
Scathfell zuckte die Achseln. »In jedem Fall wird diese Ehe es ohne Anrufung des Gesetzes erledigen, da die beiden, die ihre Ansprüche anmelden, heiraten. Die Fürstentümer werden vereint werden. Ich bin bereit, Scathfell dem ältesten Sohn Dorilys’ zu vermachen, und Darren soll Schloß Aldaran als Wächter Dorilys’ erhalten.«
Aldaran schüttelte den Kopf.
»Nein. Im Heiratsvertrag ist vorgesehen, daß Donal Wächter seiner Schwester sein soll, bis sie fünfundzwanzig ist.«
»Das ist unsinnig«, protestierte Scathfell. »Weißt du keinen anderen Weg, das Nest deines Pflegekindes zu polstern? Wenn er schon kein Vermögen von Vater oder Mutter hat, kannst du ihm nicht etwas anderes vermachen?«
»Das habe ich bereits getan«, sagte Aldaran. »Als er in das Alter kam, habe ich ihm das Pachtgut Felsnadel gegeben. Es ist heruntergekommen, da die, denen es gehörte, die Zeit damit verbrachten, ihre Nachbarn zu bekriegen, anstatt es zu bewirtschaften. Aber Donal, glaube ich, kann es wieder zum Blühen bringen. Es bleibt nur noch, eine passende Frau für ihn zu finden, was noch geschehen wird. Aber dennoch soll er Dorilys’ Wächter sein.«
»Es sieht so aus, als trautet Ihr uns nicht, Onkel«, protestierte Darren. »Glaubt Ihr wirklich, wir würden Dorilys ihres rechtmäßigen Erbes berauben?«
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Aldaran. »Und da ihr solche Gedanken nicht hegt – was kann es euch da ausmachen, wer Wächter ihres Vermögens ist? Nur wenn ihr tatsächlich solche Absichten hättet, müßtet ihr Donals Wahl ablehnen. Ein bezahlter Mietling könnte bestochen werden, ein Bruder gewiß nicht.«
Donal hörte das alles voll Verwunderung an. Er hatte nicht gewußt, daß Aldaran das Gut für ihn bestimmt hatte, als er ihn ausgeschickt hatte, über das Anwesen Felsnadel Bericht zu erstatten. Er hatte ehrlich über die Arbeit berichtet, die nötig sein würde, um es in Ordnung zu bringen, und über die vorzüglichen Möglichkeiten die es bot, ohne jedoch zu glauben, daß Aldaran ihm ein Gut wie dieses vermachen würde. Und ebensowenig hatte Donal vermutet, daß er diesen Heiratsvertrag nutzen würde, ihn zu Dorilys’ Wächter zu ernennen.
Als er darüber nachdachte, erschien es ihm vernünftig. Dorilys bedeutete den Aldarans von Scathfell nichts – außer, daß sie ein Hindernis auf dem Weg zu Darrens Erbschaft war. Sollte Lord Aldaran morgen sterben, könnte nur er, als Wächter, Darren daran hindern, Dorilys trotz ihrer Jugend sofort zu seiner Frau zu machen und ihren Besitz nach Gutdünken zu verwenden. Es wäre nicht das erste Mal, daß eine Frau stillschweigend beseitigt wurde, wenn das Erbe einmal sicher in den Händen ihres Gatten war. Sie konnten auch warten, bis sie ein Kind zur Welt brachte, um es rechtmäßig aussehen zu lassen. Jedermann wußte, daß junge Frauen häufig bei Geburten starben, und je jünger sie waren, desto eher waren sie diesem Schicksal ausgesetzt. Es war natürlich tragisch, aber nicht ungewöhnlich.
Mit Donal als Wächter – und das, bis Dorilys fünfundzwanzig, und nicht nur alt genug war, zu heiraten und Kinder zu gebären – wäre er, selbst wenn sie sterben sollte, der Hüter aller ihrer eventuellen Kinder, und ihr Vermögen würde nicht widerspruchslos in Darrens Hände fallen. Er dachte: Mein Pflegevater hat die Wahrheit gesprochen, als er sagte, ich würde am heutigen Abend erfahren, wie sehr er mich schätzt. Es kann sein, daß er mir vertraut, weil er keinen anderen hat. Zumindest weiß er, daß ich Dorilys’ Interessen vor meinen eigenen schützen werde.
Scathfell freilich hatte das noch immer nicht friedlich akzeptiert; er diskutierte weiter über diesen Punkt und ließ erst davon ab, als Aldaran ihn daran erinnerte, daß drei andere Bergfürsten um Dorilys geworben hatten, und sie jederzeit mit jedem, den ihr Vater auswählte, verlobt werden konnte, selbst mit einem der Tiefland-Hasturs oder der Altons.
»Sie war tatsächlich schon einmal versprochen, da Deonaras Verwandtschaft begierig darauf war, sie mit einem ihrer Söhne zu verloben. Sie meinten, sie hätten den ersten Anspruch, da Deonara mir nie einen lebenden Sohn schenkte. Aber der Junge starb kurz darauf.« »Er starb? Wie ist er gestorben?«
Aldaran zuckte die Achseln. »Irgendein Unfall, habe ich gehört. Ich kenne die Einzelheiten nicht.«
Donal kannte sie ebensowenig. Dorilys hatte zu dieser Zeit ihre ArdaisVerwandtschaft besucht und war, schockiert vom Tod ihres versprochenen Ehemannes, nach Hause gekommen, obwohl sie ihn kaum gekannt und nicht besonders gemocht hatte. Zu Donal sagte sie: »Er war ein großer, grober und rüder Junge, und er hat meine Puppe kaputt gemacht.« Er hatte ihr damals keine Fragen gestellt. Jetzt wunderte er sich. So jung er auch sein mochte, Donal wußte, daß ein Kind, das einer vorteilhaften Allianz im Wege stand, sehr bald sein Leben beenden konnte.
Und dasselbe könnte man von Dorilys sagen …
»In diesem Punkt steht meine Meinung fest«, sagte Lord Alderan mit einem Anflug von bestimmter Herzlichkeit. »Donal, und nur Donal, wird Wächter seiner Schwester sein.«
»Das ist eine Beleidigung für deine Verwandten, Onkel«, protestierte Darren, aber Lord Scathfell brachte seinen Sohn zum Schweigen. »Wenn es sein muß, muß es sein«, sagte er. »Wir sollten dankbar sein, daß das Mädchen, das dabei ist, ein Mitglied unserer Familie zu werden, einen so vertrauenswürdigen Verwandten zu ihrem Schutz hat. Ihre Interessen sind natürlich die unseren. Es soll sein, wie du wünschst, Mikhail.« Aber der Blick, den er Donal zuwarf, war verschleiert und nachdenklich und erregte die Wachsamkeit des jungen Mannes. Ich muß auf mich achtgeben, dachte er. Wahrscheinlich besteht keine Gefahr, bis Dorilys erwachsen und die Heirat vollzogen ist, denn wenn Aldaran noch lebt, könnte er einen anderen Wächter benennen. Sollte er aber sterben, und Dorilys, einmal vermählt, nach Scathfell gebracht werden, wären meine Chancen, lange zu leben, nicht sehr groß. Er verspürte den plötzlichen Wunsch, Aldaran daran zu hindern, mit seinen Verwandten zu verhandeln. Hätte er dies mit Fremden getan, wäre eine Leronis hinzugezogen worden, deren Wahrzauber Lügen oder Doppelzüngigkeit unmöglich gemacht hätte. Aber Aldaran konnte – auch wenn er seinen Verwandten nicht allzusehr traute – sie nicht dadurch beleidigen, daß er darauf bestand, eine Zauberin einzusetzen, um den Handel zu besiegeln.
Schließlich bekräftigten sie ihn mit einem Händedruck und unterzeichneten den vorbereiteten Vertrag – auch Donal wurde zum Unterzeichnen aufgefordert –, und damit war die Angelegenheit erledigt. Man tauschte brüderliche Umarmungen aus und ging in den Saal hinunter, wo die anderen Gäste sich versammelt hatten, um das Ereignis dieses Tages mit Bankett, Tanz und Lustbarkeiten zu feiern.
Aber Donal, der Darrens Augen auf sich gerichtet sah, dachte erneut: Ich muß auf der Hut sein. Dieser Mann ist mein Feind.

9

Als sie in die große Halle kamen, empfing Dorilys, zusammen mit ihrer Pflegemutter, der Leronis Margali, dort ihre Gäste. Zum ersten Mal war sie nicht wie ein kleines Mädchen, sondern wie eine Frau gekleidet und trug ein langes blaues Kleid, das an Halsöffnung und Ärmeln mit goldenen Stickereien verziert war. Ihr leuchtendes, kupferfarbenes Haar war zu einem Zopf geflochten und wurde von einer Schmetterlings-Spange gehalten.
Sie sah weit älter aus, als sie tatsächlich war und hätte durchaus fünfzehn oder sechzehn sein können. Donal war von ihrer Schönheit wie vor den Kopf geschlagen, aber er war nicht nur erfreut, diese plötzliche Veränderung zu sehen.
Seine Vorahnung bestätigte sich, als Darren, der Dorilys vorgestellt wurde, sie blinzelnd ansah. Er war offensichtlich hingerissen, neigte sich über ihre Hand und sagte galant: »Cousine, es ist mir eine Freude. Dein Vater hat mich glauben gemacht, daß ich mit einem kleinen Mädchen verlobt werde, und plötzlich sehe ich eine liebenswerte Frau, die mich erwartet. Es ist genauso, wie ich dachte: Kein Vater glaubt, daß seine Tochter jemals reif zur Heirat ist.«
Donal verspürte plötzlich eine böse Ahnung. Warum hatte Margali das getan? Aldaran hatte mit Absicht in den Heiratsvertrag geschrieben, daß es keine Vermählung geben sollte, bevor Dorilys nicht fünfzehn war. Er hatte deutlich betont, daß sie nur ein kleines Mädchen sei, und jetzt hatte man diese Behauptung Lügen gestraft, indem man Dorilys vor allen versammelten Gästen wie eine erwachsene Frau präsentierte. Als Darren – immer noch Schmeicheleien flüsternd – Dorilys zum ersten Tanz führte, blickte Donal ihnen besorgt hinterher. Er fragte Margali, aber sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe das nicht gewollt, Donal, es war Dorilys’ Wille. Ich wollte ihr nicht widersprechen, da sie sich so sehr darauf versteift hatte. Du weißt so gut wie ich, daß es nicht klug ist, Dorilys zu reizen, wenn sie etwas haben will. Das Kleid gehörte ihrer Mutter, und wenn es mir auch leid tut, mein kleines Mädchen so erwachsen zu sehen, so ist sie nun einmal in es hineingewachsen …«
»Aber das ist sie nicht«, unterbrach Donal. »Mein Pflegevater hat beträchtliche Zeit damit verbracht, Lord Scathfell zu überzeugen, daß Dorilys noch ein Kind ist und viel zu jung, um verheiratet zu werden. Margali, sie ist wirklich nur ein kleines Kind, du weißt es so gut wie ich!«
»Ja, ich weiß es, und ein ausgesprochen kindliches dazu«, sagte Margali, »aber ich konnte am Abend eines Festes nicht mit ihr streiten. Sie hätte ihr Mißvergnügen alle deutlich spüren lassen! Ich kann sie manchmal dazu bringen, in wichtigen Fragen meinen Willen zu erfüllen. Aber wenn ich versuchen würde, ihn ihr bei kleinen Dingen aufzuzwingen, würde sie mir nicht mehr zuhören, wenn ich versuchte, ihr in ernsteren Angelegenheiten Anordnungen zu geben. Macht es wirklich etwas aus, welches Kleid sie bei ihrer Verlobung trägt, da doch Lord Aldaran in den Heiratsvertrag aufgenommen hat, daß sie nicht vermählt werden soll, ehe sie fünfzehn ist?«
»Ich vermute nicht, solange mein Pflegevater noch gesund und kräftig genug ist, seinen Willen durchzusetzen«, sagte Donal. »Aber die Erinnerung daran könnte später Ärger verursachen, wenn in den nächsten Jahren etwas passieren sollte.«
Margali würde ihn nicht verraten (sie war seit seiner frühesten Kindheit nett zu ihm und außerdem eine Freundin seiner Mutter gewesen), aber dennoch war es unklug, so vom Fürsten eines Reiches zu sprechen. Er senkte seine Stimme: »Lord Scathfell würde keine Skrupel kennen, das Kind seiner ehrgeizigen Pläne wegen in eine Ehe zu zwingen und Aldaran festzusetzen; das gleiche gilt für Darren. Wäre sie heute als Kind aufgetreten, könnte die öffentliche Meinung solchen Absichten einen Dämpfer – und sei er noch so klein – aufsetzen. Jetzt werden die, die sie heute abend in den Kleidern einer Frau sehen und für erwachsen halten, keine Veranlassung sehen, sich nach ihrem wirklichen Alter zu erkundigen. Sie werden sich nur an eine erwachsene Frau erinnern und annehmen, daß die Scathfells das Recht auf ihrer Seite haben.«
Jetzt sah Margali ebenfalls besorgt aus, aber sie versuchte, es mit einem Schulterzucken abzutun. »Ich glaube, du steigerst dich grundlos in Alpträume hinein, Donal. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Lord Aldaran nicht noch viele Jahre lebt. Sicherlich wird er lang genug unter uns sein, um seine Tochter davor zu bewahren, verheiratet zu werden, bevor sie alt genug ist. Und du weißt, Donal, daß sie ein launisches Geschöpf ist. Heute mag es ihr gefallen, mit den Kleidern und Edelsteinen ihrer Mutter die Dame zu spielen. Morgen wird das vergessen sein. Dann spielt sie wieder Bockspringen und Murmeln mit den anderen Kindern, und keine Menschenseele wird sie für etwas anderes halten, als das Kind, das sie in Wahrheit ist.«
»Gnädiger Avarra, gebe, daß es so ist«, sagte Donal ernst.
»Nun, ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, Donal… Aber jetzt mußt du deine Pflicht den Gästen deines Vaters gegenüber erfüllen. Hier sind viele Frauen, die darauf warten, mit dir zu tanzen. Ebenso wie Dorilys, die sich vermutlich wundert, warum ihr Bruder sie nicht zum Tanz führt.«
Donal versuchte zu lachen, als er Dorilys, die neben Darren von der Tanzfläche zurückkehrte, von einer Gruppe junger Männer umringt sah. Es handelte sich um den niederen Adel aus den Hügeln, Aldarans Gefolgsleute. Es mochte stimmen, daß sich Dorilys damit vergnügte, die Dame zu spielen, aber sie machte ein sehr erfolgreiches Spiel daraus, lachend und flirtend und allzu offensichtlich Schmeicheleien und Bewunderung genießend. Vater wird sie nicht zurechtweisen. Sie sieht ihrer Mutter allzu ähnlich. Und er ist auf seine schöne Tochter stolz. Warum sollte ich mich sorgen, oder Dorilys ihr Vergnügen mißgönnen? Inmitten unserer Verwandten kann ihr bei einer Tanzveranstaltung nichts geschehen. Morgen wird es ohne Zweifel so sein, wie Margali vorhergesehen hat. Dorilys wird mit dem bis zu den Knien hochgebundenem Rock und einem langen Pferdeschwanz wieder wie ein Wildfang herumtollen, und Darren wird erkennen, daß die wirkliche Dorilys ein Kind ist, das lediglich Spaß daran hat, sich in das Gewand seiner Mutter zu kleiden. Sie ist noch weit entfernt davon, eine Frau zu sein Donal versuchte, seine Befürchtungen zur Seite zu schieben, wandte sich seinen Pflichten als Gastgeber zu, plauderte höflich mit einigen älteren Witwen, tanzte mit jungen Frauen, die irgendwie vergessen oder vernachlässigt worden waren und trat unauffällig zwischen Lord Aldaran und die aufdringlichen Schmarotzer, die ihm Verdruß bereiten konnten, indem sie unpassende Bittgesuche an ihn richteten, die er nicht zurückweisen konnte, weil man sie in aller Öffentlichkeit äußerte. Jedesmal, wenn sein Blick Dorilys fand, sah er sie von immer wiederkehrenden Wellen junger Männer umringt. Sie genoß ihre Beliebtheit sehr deutlich.
Der Abend war weit fortgeschritten, als Donal endlich die Gelegenheit bekam, mit seiner Schwester zu tanzen. Sie schürzte die Lippen und schmollte wie ein Kind, als er auf sie zutrat.
»Ich hatte schon gedacht, du würdest überhaupt nicht mit mir tanzen, Bruder, und mich all diesen Fremden überlassen.«
Ihr Atem roch süß, und so fragte er mit einem leichten Stirnrunzeln: »Dorilys, wieviel hast du getrunken?«
Schuldbewußt senkte sie den Blick. »Margali hat mir gesagt, ich solle nicht mehr als einen Becher Wein trinken, aber ich finde es traurig, wenn ich bei meiner eigenen Verlobung wie ein kleines Mädchen behandelt werde, das mit Einbruch der Nacht zu Bett gebracht wird.« »Ich glaube allerdings, daß du nichts anderes bist«, sagte Donal, der über das beschwipste Mädchen beinahe lachen mußte. »Ich werde Margali sagen, sie soll dich zu deiner Zofe bringen. Dir wird übel werden, Dorilys, und dann wird dich niemand mehr für eine Dame halten.« »Ich fühle mich nicht übel, nur glücklich«, sagte sie, legte dabei ihren Kopf in den Nacken und lächelte zu ihm auf. »Komm, Donal, schimpf mich nicht aus. Den ganzen Abend habe ich darauf gewartet, mit meinem Bruder zu tanzen; willst du es überhaupt?«
»Wie du wünschst, Chiya.« Er führte sie auf die Tanzfläche. Sie war eine vorzügliche Tänzerin, aber mitten im Tanz stolperte sie über den ungewohnt langen Rock ihres Gewandes und fiel schwer gegen ihn. Er hielt sie, um sie vor einem Sturz zu bewahren, fest, und sie warf ihre Arme um seinen Hals und legte lachend den Kopf an seine Schulter. »Oh, oh, vielleicht habe ich doch zuviel getrunken. Aber alle meine Partner haben mich nach dem Tanz gebeten, mit ihnen zu trinken, und ich wußte nicht, wie ich zugleich höflich sein und sie abweisen konnte. Ich muß Margali fragen, was unter diesen Umständen höf… höffisch ist.« Ihre Zunge strauchelte über das Wort, und sie kicherte. »Ist es so, wenn man sich betrunken fühlt, Donal, schwindlig und als wären alle meine Glieder aus zusammengebundenen Kügelchen gemacht, wie die Puppen, die die alten Frauen auf dem Markt von Caer Donn verkaufen? Wenn es so ist, dann mag ich es, glaube ich.«
»Wo ist Margali?« fragte Donal und spähte rund um die Tanzfläche nach der Leronis. Innerlich faßte er den Beschluß, mit der Dame einige harte Worte zu sprechen. »Ich werde dich sofort zu ihr bringen, Dori.« »Oh, arme Margali«, sagte Dorilys mit unschuldigem Blick. »Ihr geht es nicht gut. Sie sagte, ihre Kopfschmerzen wirkten so heftig auf ihre Augen, daß sie nichts sehen könne, und ich habe sie dazu gebracht, sich hinzulegen und auszuruhen.« Mit abwehrendem Trotz fuhr sie fort: »Ich hatte genug davon, daß sie mit diesem vorwurfsvollen Blick herumstand, als sei sie Lady Aldaran, und ich nur eine Dienerin! Ich lasse mich von Dienern nicht herumkommandieren!«
»Dorilys!« meinte Donal zornig. »So darfst du nicht reden. Margali ist eine Leronis und Edelfrau. Und sie ist eine Verwandte deines Vaters. Sie ist keine Dienerin! Dein Vater hat recht daran getan, dich in ihre Obhut zu geben, und es ist deine Pflicht, ihr zu gehorchen, bis du alt genug bist, für dich selbst verantwortlich zu sein! Du bist ein ungezogenes kleines Mädchen! Du solltest deiner Pflegemutter weder Kopfschmerzen bereiten noch grob mit ihr sprechen. Sieh doch – du hast dir selbst Schande gemacht, indem du in Gesellschaft beschwipst bist, als wärst du ein Bauernmädchen aus den Ställen! Und Margali ist nicht hier, um dich unter ihre Fittiche zu nehmen!« Er war bestürzt. Donal selbst, ihr Vater und Margali waren die einzigen Menschen, gegen die Dorilys ihren Eigensinn noch nie durchgesetzt hatte. Wenn sie nicht länger zuläßt, von Margali angeleitet zu werden, was sollen wir dann mit ihr anstellen? Sie ist verzogen und unkontrollierbar, aber ich hatte gehofft, Margali könnte sie im Zaum halten, bis sie erwachsen ist.
»Ich schäme mich wirklich für dich, Dorilys, und Vater wird sehr verärgert sein, wenn er erfährt, was du mit Margali, die immer nett und freundlich zu dir gewesen ist, angestellt hast.«
Ihr störrisches kleines Kinn reckend sagte sie: »Ich bin Lady Aldaran, und ich kann tun, was ich will.«
Bestürzt schüttelte Donal den Kopf. Dieses Mißverhältnis traf ihn: Daß sie wie eine erwachsene Frau aussah – und eine sehr hübsche zudem – und redete und handelte wie das verwöhnte, hitzige Kind, das sie in Wirklichkeit war. Ich wünschte, Darren könnte sie jetzt sehen. Ihm würde klar werden, welches Kind sie trotz des Gewandes und der Edelsteine einer Dame ist.
Und doch, überlegte Donal, war sie nicht nur ein Kind; ihr Laran, schon so stark wie seins, hatte ihr ermöglicht, Margali heftige Kopfschmerzen zu verursachen. Vielleicht sollten wir uns glücklich schätzen, daß sie nicht danach trachtet, Donner und Blitz über uns zu bringen. Das könnte sie sicher, wenn sie wirklich erzürnt ist! Er dankte den Göttern, daß Dorilys trotz ihres seltenen Laran keine Telepathin war und seine Gedanken nicht lesen konnte.
Schmeichelnd sagte er: »Du solltest nicht hier in der Gesellschaft bleiben, wenn du betrunken bist, Chiya. Laß mich dich nach oben bringen. Es ist schon spät, und unsere Gäste werden bald zu Bett gehen. Laß uns gehen, Dorilys.«
»Ich will nicht zu Bett gehen«, sagte Dorilys schmollend. »Ich habe erst diesen einen Tanz mit dir gehabt, und Vater hat überhaupt noch nicht mit mir getanzt. Außerdem mußte ich Darren versprechen, daß ich später noch einmal mit ihm tanze. Schau – da kommt er, um mich zu holen.«
Verzweifelt flüsternd drängte Donal: »Aber du bist nicht in der Verfassung zu tanzen, Dorilys. Du wirst über deine eigenen Füße fallen.« »Nein, das werde ich nicht, wirklich … Darren«, sagte sie und ging, einen listigen Blick in den Augen, der erwachsen wirkte, auf ihren Verlobten zu.»Tanz mit mir; Donal hat mich ausgeschimpft, weil er als älterer Bruder das Recht dazu zu haben glaubt, und ich bin es leid, ihm zuzuhören.«
Donal sagte: »Ich habe versucht, meine Schwester zu überzeugen, daß das Fest für ein junges Mädchen wie sie lange genug gedauert hat. Vielleicht ist sie eher bereit, sich von dir, ihrem künftigen Gatten, belehren zu lassen, Darren.«
Wenn er betrunken ist, dachte Donal, werde ich sie nicht in seine Obhut geben, selbst wenn ich mich mit ihm in aller Öffentlichkeit streiten muß.
Aber Darren schien sich ganz in der Hand zu haben. Er sagte: »Es ist tatsächlich schon spät, Dorilys. Was hältst du davon …«
Plötzlich erklang am anderen Ende der Halle ein Aufschrei.
»Großer Gott!« rief Darren, der sich dem Lärm zuwandte. »Lord Storns jüngster Sohn und dieser junge Bursche von Daniel Forst. Sie werden sich schlagen. Sie werden ihre Waffe ziehen.«
»Ich muß gehen«, sagte Donal bestürzt. Er erinnerte sich an die Pflichten, die ihm als Protokollchef des offiziellen Gastgebers oblagen. Er blickte Dorilys besorgt an. Mit ungewöhnlicher Freundlichkeit sagte Darren: »Ich werde mich um Dorilys kümmern, Donal. Geh und kümmere dich um sie.«
»Danke«, sagte Donal hastig. Darren war nüchtern, und es lag in seinem ureigensten Interesse, seine Verlobte davon abzuhalten, sich in der Öffentlichkeit aufsehenerregend zu verhalten. Donal eilte auf die Stelle zu, an der die beiden jüngsten Mitglieder zweier rivalisierender Familien in einen lauten und wütenden Streit verwickelt waren. Er war für solche Situationen geschult, gesellte sich zu ihnen, schaltete sich in ihre Auseinandersetzung ein und überzeugte jeden der beiden Streitenden davon, daß er auf seiner Seite stand. Dann brachte er sie taktvoll auseinander. Lord Storn nahm sich seines streitbaren Sohns an, und Donal nahm den jungen Padreik Daniel in seine Obhut. Es dauerte einige Zeit, bis der junge Mann besonnener wurde, sich entschuldigte und nach seinen Verwandten suchte, um sich zu verabschieden. Danach schaute sich Donal im Ballsaal nach seiner Schwester und Darren um. Als er keine Spur von ihnen entdeckte, fragte er sich, ob es Darren gelungen war, seine Schwester zu überreden, die Tanzfläche zu verlassen und zu ihrer Zofe zu gehen.
Wenn er Dorilys beeinflussen kann, sollten wir vielleicht sogar dankbar dafür sein. Einige der Aldarans besitzen die Befehlsstimme. Vater hatte sie, als er jünger war. Hat Darren es geschafft, sie Dorilys gegenüber anzuwenden?
Suchend hielt er nach ihm Ausschau, aber erfolglos. Ein vages Gefühl böser Vorahnungen beschlich ihn. Wie zur Bestärkung seiner Ängste hörte er ein schwaches, entferntes Donnergrollen. Er ermahnte sich, sich nicht selbst lächerlich zu machen. Es war die Jahreszeit für Stürme in den Bergen. Und trotzdem fürchtete er sich. Wo war Dorilys?

Sobald Donal zu den streitenden Gästen geeilt war, legte Darren seine Hand unter Dorilys’ Arm und sagte zu ihr: »Deine Wangen sind gerötet, Damisela. Ist es die Hitze des Ballsaals mit den vielen Leuten, oder bist du vom Tanzen erschöpft?«
»Nein«, sagte Dorilys und drückte die Hand an ihr erhitztes Gesicht, »aber Donal meint, ich hätte zuviel Wein getrunken, und deshalb hat er mit mir geschimpft. Als wäre ich ein kleines Mädchen, auf das er noch immer aufpassen muß, wollte er mich zu Bett schicken.«
»Mir scheint nicht, daß du ein Kind bist«, sagte Darren lächelnd, und sie ging näher auf ihn zu.
»Ich wußte, daß du mir recht geben würdest.«
Darren dachte: Warum haben sie mir erzählt, sie sei ein kleines Mädchen? Er musterte den schlanken Körper, dessen Konturen von dem langen, enganliegenden Kleid betont wurden, von oben bis unten. Sie ist kein Kind! Und doch glauben sie, sie könnten mich noch länger vertrösten! Hat dieser alte Bock von meinem Onkel vor, mit mir eine Zeitlang zu spielen, in der Hoffnung, eine vorteilhaftere Ehe zu arrangieren, oder um sich Zeit zu verschaffen, den Bastard von Rockraven zu seinem Erben zu erklären?
»Wirklich, es ist heiß hier«, sagte Dorilys und trat noch näher auf Darren zu. Ihre Finger, warm und schweißbedeckt, legten sich auf seinen Arm, und er lächelte zu ihr hinab.
»Dann komm! Gehen wir auf den Balkon, wo es kühler ist«, drängte Darren, während er sie zu einer der vorhanggeschützten Türen zog. Dorilys zögerte, denn sie war von Margali sorgsam erzogen worden und wußte, daß es für eine junge Frau nicht als schicklich galt, den Tanzboden mit jemand anderem als einem Verwandten zu verlassen. Aber störrisch dachte sie: Darren ist mein Cousin und mir als Ehemann versprochen.
Dorilys spürte die kühle Luft, die von den Bergen her über Schloß Aldaran wehte, und tat, gegen die Balkonbrüstung gelehnt, einen tiefen Atemzug.
»Oh, es war so heiß dort drinnen. Danke, Darren. Ich bin froh, aus dem überfüllten Saal herauszukommen. Du bist so nett zu mir«, sagte sie mit solcher Unschuld, daß Darren die junge Frau stirnrunzelnd und überrascht anschaute.
Wie kindlich sie für ein Mädchen war, das so offensichtlich erwachsen schien! Flüchtig fragte er sich, ob sie dumm oder sogar schwachsinnig sein konnte. Aber was machte das schon? Sie war Erbin des Reiches von Aldaran. Er mußte nur noch ihre Zuneigung gewinnen, dann würde sie sich schon von allein auflehnen, wenn ihre Verwandten nach einem Grund suchten, ihn seines Anspruchs zu berauben. Je eher die Hochzeit stattfand, desto besser. Es war eine Schande, daß sein Onkel ihn vier Jahre warten lassen wollte! Das Mädchen war offensichtlich heiratsfähig, und das Bestehen auf Aufschub schien ihm völlig unvernünftig zu sein.
Wenn sie so kindisch war, machte das seine Aufgabe leichter! Er drückte die Hand, die sie vertrauensvoll in seine legte, und sagte: »Kein Mann dieser Welt würde auch nur einen Moment zögern, dir solche Nettigkeit zu erweisen, Dorilys – sich einen Augenblick mit seiner versprochenen Braut zurückzuziehen! Und wenn sie schön ist wie du, dann ist diese Nettigkeit eher Vergnügen als Pflicht.«
Dorilys fühlte, wie sie bei diesem Kompliment erneut errötete. Begierig fragte sie: »Bin ich schön? Margali sagte mir, ich sei es, aber sie ist nur eine alte Frau, und ich glaube nicht, daß sie so etwas beurteilen kann.« »Du bist in der Tat außerordentlich schön, Dorilys«, sagte Darren, und in dem düsteren Licht, das in Streifen aus dem Ballraum schien, sah sie sein Lächeln.
Sie dachte: Er meint es tatsächlich. Er ist nicht nur nett zu mir! Sie fühlte die erste kindliche Erregung des Bewußtseins ihrer Macht, der Macht der Schönheit über die Männer. Sie sagte: »Man hat mir gesagt, meine Mutter sei schön gewesen. Sie starb, als ich geboren wurde. Vater sagte, ich sähe wie sie aus. Hast du sie einmal gesehen, Darren?« »Nur, als ich ein Junge war«, erwiderte Darren. »Aber es stimmt. Aliciane von Rockraven wurde für eine der schönsten Frauen von Kadarin bis zur Mauer um die Welt gehalten. Es gab Leute, die sagten, sie hätte deinen Vater verzaubert, aber sie brauchte keine Hexerei außer ihrer eigenen Schönheit. Du bist wirklich wie sie. Besitzt du auch ihre Singstimme?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Dorilys. »Ich kann zwar gut singen, wie meine Erzieherin sagt, aber sie meint auch, ich sei zu jung, als daß man jetzt schon schließen könne, ob ich eine schöne Stimme haben werde oder nur die Liebe zur Musik und einige Kunstfertigkeit. Magst du Musik, Darren?«
»Ich verstehe ein wenig davon«, sagte er lächelnd und rückte näher an sie heran, »und es bedarf keiner schönen Stimme, um eine Frau in meinen Augen liebenswert zu machen. Komm – ich bin dein Cousin und versprochener Ehemann. Willst du mich küssen, Dorilys?«
»Wenn du es wünschst«, sagte sie entgegenkommend und wandte ihm ihre Wange zu. Darren, der sich erneut fragte, ob das Mädchen ihn aufzog oder blöde war, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, schlang beide Arme um sie und küßte sie auf die Lippen.
Dorilys, die sich dem Kuß hingab, spürte durch die alkoholbeeinflußte Verschwommenheit ihrer Gefühle eine schwache Mahnung zur Vorsicht. Margali hatte sie gewarnt. Oh, Margali versucht dauernd, mir den Spaß zu verderben! Sie lehnte sich an Darren, ließ sich von ihm fest an sich ziehen, genoß die Berührung und öffnete seinen wiederholten Küssen den Mund. Dorilys war kein Telepath, aber sie besaß Laran, und sie erfaßte den verschwommenen Fleck einer in ihm aufsteigenden Empfindung. Vielleicht ist es doch gar nicht so schlecht. Sie fragte sich, wieso ihn das überraschen konnte. Nun, schließlich, vermutete sie, muß es für einen jungen Mann ärgerlich sein, wenn man ihm sagt, daß er mit einer Cousine verheiratet wird, die er nicht kennt. Sie fühlte sich irgendwie glücklich, weil Darren sie für schön hielt. Er fuhr fort sie zu küssen, langsam, regelmäßig, und spürte, daß sie sich ihm nicht widersetzte. Dorilys war zu betrunken, zu unaufmerksam, um sich klarzumachen, was geschah, aber als seine Finger ihr Mieder öffneten, hineinglitten, und sich über ihre bloßen Brüste legten, fühlte sie plötzlich Scham und stieß ihn zurück.
»Nein, Darren, das ziemt sich nicht. Wirklich, das darfst du nicht«, protestierte sie und merkte, wie schwer ihre Zunge geworden war. Zum ersten Mal wurde sie sich bewußt, daß Donal vielleicht Recht gehabt hatte: Sie hätte nicht soviel trinken sollen. Darrens Gesicht war gerötet. Er schien nicht willens, sie loszulassen. Sie nahm seine Hände fest zwischen ihre kleinen Finger und schob sie weg.
»Nein, Darren, nicht!« Ihre Hände fuhren nach oben, um die entblößten Brüste zu bedecken. Mit unsicheren Händen bemühte sie sich die Schnüre wieder zuzuknüpfen.
»Nein, Dorilys«, sagte Darren mit solch schwerer Zunge, daß Dorilys sich fragte, ob auch er zuviel getrunken hatte. »Es ist alles in Ordnung. Es ist nicht unziemlich. Wir können verheiratet werden, sobald du willst. Du wärst doch gern mit mir verheiratet, oder?« Er zog sie an sich und küßte sie erneut, fest und bestimmt. Er murmelte: »Dorilys, hör mir zu. Wenn du möchtest, nehme ich dich jetzt, dann muß dein Vater erlauben, daß die Hochzeitszeremonie sofort stattfindet.«
Jetzt begann Dorilys vorsichtig zu werden. Sie entzog ihm den Mund, trat einen Schritt zurück und begann sich, wie durch einen geistigen Nebel, zu fragen, warum sie überhaupt allein mit ihm hinausgegangen war. Sie war immer noch unschuldig genug, um nicht ganz sicher zu sein, was er von ihr wollte, aber sie wußte, daß es das war, was sie nicht tun durfte, und – was noch schwerer wog – er wirklich nicht verlangen sollte. Während sie mit zitternden Händen versuchte, ihr Mieder zuzuschnüren, sagte sie: »Mein Vater – Margali sagt, ich sei noch nicht alt genug, um zu heiraten.«
»Ach, die Leronis. Was weiß eine alte Jungfer von Liebe und Ehe?« wandte Darren ein. »Komm und küß mich, meine kleine Geliebte. Nein, bleib ruhig in meinen Armen. Laß mich dich noch einmal küssen …« Sie spürte die Bestimmtheit, die in seinem Kuß lag, jetzt auf erschrekkende Weise. Sein Gesicht war das Gesicht eines Fremden, aufgedunsen, dunkel vor Entschlossenheit, und seine Hände nicht mehr sanft, sondern stark und fordernd.
»Darren, laß mich los«, bat sie. »Wirklich, wirklich, das darfst du nicht!« Ihre Stimme zitterte vor Angst. »Mein Vater wird es nicht mögen. Ich bitte dich, Cousin!« Sie stieß ihn fort, aber sie war ein Kind und noch halb betrunken, und Darren ein erwachsener Mann, nüchtern und eiskalt. Ihr trübes Laran erfaßte seine Entschlossenheit, seine Absicht und den dahinterliegenden Anflug von Grausamkeit.
»Nein, wehr dich nicht gegen mich«, murmelte er. »Wenn es vorbei ist, wird dein Vater nur zu froh sein, dich mir sofort zu geben. Es wird dir nicht mißfallen; nicht wahr, meine Kleine, meine Schöne? Hier, ich halte dich fest.«
Dorilys begann sich in plötzlichem Schrecken zu wehren. »Laß mich los, Darren! Laß mich los! Mein Vater wird sehr wütend sein; Donal wird wütend auf dich sein. Laß mich los, Darren, oder ich schreie um Hilfe!«
Sie sah in seinen Augen plötzlich Furcht und öffnete den Mund, um ihre Drohung wahrzumachen. Darren erkannte ihre Absicht sofort, und seine Hand legte sich fest und entschlossen über ihren Mund und dämpfte den Schrei, indem er sie enger an sich zog. Die Angst machte in Dorilys plötzlicher Wut Platz. Wie kann er es wagen! In zunehmender Erregung streckte sie ihre Kräfte aus, (so wie sie es als Kleinkind schon getan hatte, wenn jemand sie gegen ihren Willen berührte) und schlug zu …
Darrens Hände ließen sie los. Er stieß einen gedämpften Schmerzensschrei aus. »Oh, du kleiner Teufel, wie kannst du es wagen!« Er holte aus und schlug ihr so heftig auf die Wange, daß sie fast ohnmächtig wurde. »Das macht keine Frau der Welt mit mir! Du bist nicht unwillig; du willst nur umworben und umschmeichelt werden! Das ist jetzt vorbei. Dafür ist es zu spät!«
Als sie zu Boden fiel, kniete er sofort neben ihr nieder und zerrte an ihren Kleidern. Dorilys, in wildem Zorn und voll Entsetzen, schlug erneut zu, hörte das Krachen des Donners durch ihren eigenen Aufschrei und sah das gleißende Licht, das Darren traf. Mit verzerrtem Gesicht rollte er zurück und fiel schwerfällig über sie. Erschreckt stieß sie ihn fort und rappelte sich auf, keuchend, erschöpft. Darren lag bewußtlos am Boden, ohne eine Bewegung. Nie, noch nie hatte sie so fest zugeschlagen, … Oh, was habe ich getan!
»Darren«, flehte sie, während sie neben der bewegungslosen Gestalt kauerte, »Darren, steh auf! Ich wollte dich nicht verletzen, du darfst nur nicht so grob mit mir umgehen! Das mag ich nicht. Darren! Darren! Habe ich dich wirklich verletzt? Cousin, sprich mit mir!« Aber er war stumm, und in plötzlichem Entsetzen und ohne einen Gedanken an ihr zerzaustes Haar und das zerrissene Kleid zu verschwenden, rannte sie auf die Tür zum Ballsaal zu.
Donal! war ihr einziger Gedanke. Donal wird wissen, was zu tun ist! Ich muß ihn finden!
Donal war durch den Angstschrei seiner Schwester aufgeschreckt worden. Er hatte in seinem Kopf widergehallt, obwohl er im Ballsaal nicht zu hören gewesen war. Mit einer hastigen Entschuldigung an die Freunde seines Großvaters, die mit ihm sprechen wollten, hatte er sich von ihnen gelöst und befand sich nun, geführt von Dorilys’ lautlosem Schrei, auf der Suche.
Dieser Bastard Darren! Er öffnete die Balkontür, und Dorilys fiel mit aufgelöstem Haar und dem am Hals geöffneten Kleid in seine Arme. »Dorilys! Chiya, was ist passiert?« fragte er. Sein Herz klopfte. Die Kehle war ihm vor Angst wie zugeschnürt. Oh, Gott, hatte Darren sich erdreistet, Hand an ein elfjähriges Kind zu legen?
»Komm, Bredilla. In diesem Zustand darf dich keiner sehen. Komm, ordne dein Haar, Chiya. Und schließe dein Mieder, schnell«, drängte er sie und überlegte, wie er es anstellen sollte, sie an ihrem Vater vorbeizubekommen. Lord Aldaran würde sich mit seinen Verwandten von Scathfell auseinandersetzen. Donal kam überhaupt nicht auf den Gedanken, daß ein solcher Streit ihm selbst zum Vorteil gereichen konnte. »Weine nicht, kleine Schwester. Er war sicher betrunken und wußte nicht, was er tat. Jetzt siehst du, warum eine junge Frau nicht so viel trinken darf: Um nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Nur so verhindert sie, daß junge Männer auf solche Ideen kommen. Komm, Dorilys, weine nicht«, flehte er.
Mit bebender Stimme sagte sie: »Darren … Ich habe ihn verletzt. Ich weiß nicht, aber etwas ist passiert. Er liegt da und spricht nicht mit mir. Zuerst wollte ich, daß er mich küßte, aber dann wurde er grob. Ich habe ihm Einhalt geboten, da schlug er mich. Ich wurde wütend und – habe den Blitz kommen lassen. Aber ich wollte ihn nicht verletzen, wirklich, das wollte ich nicht. Bitte, Donal, bleib hier und sieh dir an, was mit ihm los ist.«
Avarra, gnädige Gottheit! Donal, dessen Atem in Stößen kam, folgte seiner Schwester auf den dunklen Balkon, kniete neben Darren nieder und wußte im gleichen Moment, was er entdecken würde. Darren, das Gesicht zum dunklen Himmel gerichtet, lag bewegungslos, sein Körper wurde schon kalt.
»Er ist tot, Dorilys. Du hast ihn getötet«, sagte er und zog sie schützend in seine Arme. Er spürte, daß ihr Körper wie ein Baum im Wind zitterte. Um die Höhen von Burg Aldaran krachten und grollten Donnerschläge, die allmählich verstummten.

10

»Und jetzt«, sagte Lord Scathfell düster, »hören wir, wenn die Götter es wollen, die Wahrheit über diese schreckliche Angelegenheit.« Die Gäste waren verabschiedet und auf ihre Zimmer oder zu den Pferden gebracht worden. Über den Höhen von Schloß Aldaran zeigte die blutige, rote Sonne durch schwere Wolken die ersten Anzeichen ihres Gesichts. Man hatte Darrens Körper in die Burgkapelle gebracht, und obwohl sie nicht miteinander befreundet gewesen waren, hatte Donal ein Gefühl des Bedauerns nicht unterdrücken können, als er den jungen Mann starr und erstaunt, mit unordentlicher Kleidung, den Kopf in einem Krampf von Schmerz und Entsetzen zurückgeworfen, dort liegen sah. Er hat ein unwürdiges Ende gehabt, war sein erster Gedanke gewesen. Es drängte ihn, die Kleidung des jungen Manns in Ordnung zu bringen; doch dann wurde ihm klar, daß dies alle Spuren von Dorilys einziger Verteidigung beseitigen würde.
Blutschuld auf einem so jungen Kind, hatte er schaudernd gedacht, war von dem Leichnam zurückgetreten und in Lord Aldarans Empfangszimmer gegangen.
Margali war aus dem tiefen Schlaf geweckt worden, der sie übermannt hatte, als ihre Schmerzen aufhörten. Mit einem dicken Schal über dem Nachtkleid saß sie da, während Dorilys in ihren Armen schluchzte. Das Mädchen sah jetzt wie ein erschöpftes Kind aus, ihr Gesicht vom langen Weinen fleckig, ihr Haar in strähnigen Locken herabfallend, die geschwollenen Augenlider schläfrig über die Augen gesenkt. Einmal hatte sie beinahe aufgehört, aber immer wieder schüttelte ein neues, krampfhaftes Schluchzen ihre schmalen Schultern. Ungeachtet der Tatsache, daß ihre Beine den Boden berührten, wirkte sie auf Margalis Schoß wie ein kleines Kind. Ihr kunstvolles Kleid war beschmutzt und zerknittert.
Über den Kopf des Kindes hinweg sah Margali Lord Mikhail von Aldaran an und sagte: »Ihr wollt also den Wahrzauber, mein Fürst? Gut, aber laßt mich wenigstens die Zofe rufen und das Kind zu Bett bringen. Sie ist die ganze Nacht wach gewesen, und Ihr könnt sehen –« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die aufgelöst weinende Dorilys, die sich an sie klammerte.
»Es tut mir leid, Mestra, aber Dorilys muß bleiben«, sagte Aldaran. »Wir müssen, fürchte ich, auch hören, was sie zu sagen hat, und zwar unter Wahrzauber … Dorilys« – seine Stimme war sanft – »laß deine Pflegemutter los, mein Kind, und setz dich neben Donal. Niemand wird dir weh tun. Wir wollen nur wissen, was geschehen ist.«
Widerstrebend löste Dorilys ihren Griff von Margalis Hals. Sie war steif, von Entsetzen gepackt. Donal mußte an ein kleines Kaninchen denken, das vor einem Raubtierrudel in den Bergen saß. Sie setzte sich auf die niedrige Bank neben ihn. Er streckte seine Hand nach ihr aus, und ihre kleinen Finger ergriffen sie und packten sie mit schmerzendem Druck. Sie wischte ihr verschmiertes Gesicht mit dem Ärmel ihres Gewandes ab.
Margali nahm die Matrix aus dem um ihren Hals hängenden seidenen Beutel, blickte einen Augenblick in den blauen Edelstein, und dann war ihre leise, klare Stimme in der Stille des Empfangszimmers deutlich zu hören – obwohl sie beinahe flüsterte.
»Im Licht des Feuers dieses Edelsteins, laß die Wahrheit den Raum, in dem wir stehen, erhellen.«
Donal, der die Anwendung des Wahrzaubers viele Male gesehen hatte, war mit Ehrfurcht erfüllt. Der kleine Edelstein begann zu glühen. Das Licht überschwemmte langsam das Gesicht der Leronis, kroch in den Raum hinein und stahl sich nach und nach auf jedes Gesicht. Donal spürte, wie der Schimmer auch ihn erfaßte, sah ihn auf dem fleckigen Gesicht des neben ihm sitzenden Kindes, auf den Zügen Rakhal Scathfells, und denen des Friedensmannes, der bewegungslos hinter ihm stand.
In dem blauen Licht sah Mikhail von Aldaran mehr denn je wie ein alter, bewegungslos auf seinem Klotz hockender Raubvogel aus. Als er den Kopf hob, waren die Kraft und die Bedrohung wieder da, still, aber vorhanden.
Margali sagte: »Es ist getan, mein Fürst. Allein die Wahrheit möge hier gesprochen werden, solange dieses Licht andauert.«
Donal wußte: Wenn unter dem Wahrzauber die Unwahrheit gesprochen wurde, verschwand das Licht vom Gesicht des Sprechers und zeigte sofort an, daß er log.
»Jetzt«, sagte Mikhail von Aldaran, »mußt du uns sagen, was du weißt, Dorilys. Wie ist Darren zu Tode gekommen?«
Dorilys hob den Kopf. Sie sah bedauernswert aus. Erneut wischte sie ihre Nase an den kunstvollen Ärmeln ihres Gewandes ab. Sie klammerte sich so fest an Donals Hand, daß er ihr Zittern spüren konnte. Aldaran hatte die Befehlsstimme noch nie zuvor bei seiner Tochter angewandt. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich habe nicht gewußt, daß er tot ist.« Ihre Augenlider klapperten heftig, als wolle sie wieder zu weinen anfangen.
Rakhal von Scathfell sagte: »Er ist tot. Mein ältester Sohn ist tot. Daran gibt es keinen Zweifel, du …«
»Still!« Beim Klang der Befehlsstimme ließ selbst Lord Scathfell seine Stimme ersterben. »Und jetzt, Dorilys, erzähle uns, was zwischen dir und Darren vorgefallen ist. Wie kam es, daß der Blitz ihn traf?« Allmählich gewann Dorilys die Gewalt über ihre Stimme wieder. »Wir waren vom Tanzen erhitzt. Er sagte, wir sollten auf den Balkon hinausgehen. Er begann mich zu küssen, und …« Unkontrolliert bebte ihre Stimme. »Er hat mein Mieder aufgeschnürt und mich angefaßt, und wollte nicht aufhören, als ich ihn darum bat.« Sie blinzelte heftig, aber das Wahrlicht auf ihrem Gesicht schwankte nicht. »Er sagte, ich solle zulassen, daß er mich nimmt, damit Vater die Heirat nicht verzögern könne. Und er hat mich sehr grob geküßt und mir wehgetan.« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und wurde erneut von einem Schluchzen geschüttelt.
Aldarans Gesicht war wie versteinert. Er sagte: »Hab keine Angst, meine Tochter; aber du mußt unseren Verwandten dein Gesicht sehen lassen.«
Donal griff nach Dorilys’ Hand. Er konnte die Qual der Angst und des Entsetzens so deutlich spüren, als pulsiere sie durch ihre kleinen Hände.
Stammelnd, dem nichtflackernden Schein des Wahrlichts ausgesetzt, sagte Dorilys: »Er … er hat mich geschlagen, als ich ihn zurückstieß. Er hat mich niedergeschlagen. Und dann kniete er neben mir am Boden, und ich hatte … ich hatte Angst und habe ihn mit dem Blitz geschlagen. Ich wollte ihm nicht weh tun. Ich wollte nur, daß er seine Hände von mir nimmt!«
»Du! Du hast ihn also umgebracht! Du hast ihn mit deinem Hexenblitz getroffen, du Satan aus der Hölle!« Scathfell stand auf, ging auf sie zu, die Hand wie zum Schlag erhoben.
»Vater! Laß nicht zu, daß er mir weh tut!« schrie Dorilys entsetzt. Ein blauer Blitzstrahl zuckte auf, und Rakhal von Scathfell stoppte mitten im Schritt zurück, taumelte und faßte sich ans Herz. Der Friedensmann kam hinzu und stützte den schwankenden Fürsten, bis er wieder in seinem Sessel saß.
Donal sagte: »Meine Herren, wenn Dorilys ihn nicht niedergestreckt hätte, hätte ich ihn gefordert! Ein elfjähriges Mädchen zu vergewaltigen!« Seine Hand umklammerte das Schwert, als stünde der tote Mann vor ihm.
Aldarans Stimme drückte Kummer und Bestürzung aus, als er sich Lord Scathfell zuwandte. »Nun, mein Bruder, du hast es gesehen. Ich bedauere es mehr, als ich ausdrücken kann. Aber du hast das Wahrlicht auf dem Gesicht des Kindes gesehen, und in ihr scheint keine Falschheit zu sein. Wie kam dein Sohn dazu, etwas so Ungebührliches auf seiner eigenen Verlobung zu versuchen – seine künftige Braut zu vergewaltigen?«
»Ich hätte nie gedacht, daß es soweit kommen würde«, sagte Scathfell zornbebend. »Ich war es, der ihm riet, sich ihrer zu versichern. Hast du wirklich geglaubt, wir würden jahrelang warten, während du nach einer vorteilhafteren Heirat suchst? Ein Blinder konnte sehen, daß das Mädchen heiratsfähig ist, und das Gesetz ist eindeutig: Wenn ein verlebtes Paar miteinander schläft, ist die Ehe von diesem Moment an legal. Ich war es, ich habe meinem Sohn geraten, sich seiner Braut zu versichern.«
»Ich hätte es wissen sollen«, sagte Aldaran bitter. »Du hast mir nicht getraut, Bruder? Aber hier steht die Leronis, die meine Tochter ans Licht der Welt gebracht hat. Unter Wahrzauber, Margali: Wie alt ist Dorilys?«
»Es stimmt«, bestätigte die Leronis im blauen Wahrlicht. »Ich selbst habe sie vor elf Sommern von Alicianes totem Körper entbunden. Aber selbst, wenn sie im heiratsfähigen Alter gewesen wäre, Lord Scathfell: Wie hättet Ihr dulden können, daß Eurer eigenen Nichte Gewalt angetan wird?«
»Ja, das sollten wir auch noch erfahren«, sagte Mikhail von Aldaran. »Warum, mein Bruder? Warst du nicht fähig, den Verpflichtungen des Blutes zu trauen?«
»Du bist es, der sie vergessen hat«, schleuderte Scathfell ihm entgegen. »Mußt du noch fragen, Bruder? Du wolltest Darren doch dazu bringen, Jahre zu warten, während du hintenherum eine Methode aushecktest, alles dem Bastard von Rockraven, den du deinen Pflegesohn nennst, zu geben! In Wirklichkeit ist er doch einer deiner Bastarde, die du nicht einmal anerkennst.«
Ohne nachzudenken, erhob sich Donal von seinem Platz und nahm drei Schritte hinter Mikhail von Aldaran den Platz des Friedensmannes ein. Seine Hand schwebte wenige Zentimeter über dem Griff seines Schwertes. Lord Aldaran sah sich nicht nach Donal um, aber seine Worte kamen gequält.
»Gäben doch die Götter, daß deine Worte wahr sind! Wäre jener Donal doch nur von meinem Blut geboren, ob ehelich oder nicht! Kein Mann könnte von einem Verwandten und Sohn mehr erwarten! Aber leider, leider – ich sage es voll Gram und im Licht des Wahrzaubers –, Donal ist nicht mein Sohn.«
»Nicht dein Sohn? Wirklich?« Scathfells Stimme war vor Erregung verzerrt. »Warum sonst würde ein alter Mann seine Blutspflichten vergessen, wenn er nicht in diesen Jungen vernarrt wäre? Wenn er nicht dein Sohn ist, dann muß er dein Geliebter sein!«
Donals Hand fuhr zum Schwertgriff. Aldaran, der seine Absicht spürte, griff zu und packte Donals Handgelenk mit stählernen Fingern. Er drückte so lange zu, bis Donals Hand sich löste und er das Schwert in die Scheide zurückgleiten ließ.
»Nicht unter diesem Dach, Pflegesohn. Er ist immer noch unser Gast.« Er ließ das Handgelenk los, trat auf Scathfell zu, und Donal dachte erneut an einen Falken, der über seinem Opfer schwebte. »Hätte ein anderer Mann als mein Bruder dies gesagt – ich würde ihm die Lüge aus der Kehle reißen. Pack dich! Nimm den Leichnam dieses widerlichen Schänders, den du deinen Sohn nanntest, deine Lakaien, und verschwinde aus meinem Haus, bevor ich tatsächlich meine verwandtschaftlichen Pflichten vergesse!«
»Dein Haus, in der Tat. Aber nicht mehr lange, mein Bruder«, sagte Scathfell gepreßt. »Ich werde Stein um Stein rund um deinen Kopf niederreißen, ehe es an den Bastard von Rockraven geht.«
»Und ich werde es über meinem Kopf niederbrennen, bevor es an einen Scathfell geht«, gab Lord Aldaran zurück. »Verlasse mein Haus vor der Mittagsstunde, sonst werden meine Diener dich mit Peitschen hinaustreiben! Geh zurück nach Scathfell und schätze dich glücklich, daß ich dich nicht auch von dieser Feste treibe, die du dank meiner Gunst besitzt. Ich habe Nachsicht wegen deines Kummers, sonst würde ich für das, was du gesagt und getan hast, Rache im Blut deines Herzens suchen! Mach dich nach Scathfell davon, oder wohin du immer willst, aber wage dich nicht mehr in meine Nähe und nenne mich Bruder!« »Weder Bruder noch Großfürst«, sagte Scathfell erregt. »Den Göttern sei Dank habe ich noch andere Söhne, und der Tag wird kommen, an dem ich Scathfell aus eigenem Recht besitze, und nicht durch deine Erlaubnis und Gnade. Der Tag wird kommen, an dem wir auch Aldaran besitzen –, und jene mörderische Zauberin da, die sich hinter der Maske eines weinenden Mädchens verbirgt, wird mit ihrem Blut Rechenschaft abgeben! Von nun an, Mikhail von Aldaran, paß auf dich und deine Hexentochter auf, und auch auf den Bastard Rockraven, der niemals dein Sohn sein wird! Die Götter allein wissen, welchen Einfluß er auf dich hat! Irgendeinen üblen Zauberbann der Hexerei! Ich will die Luft dieses Ortes nicht länger atmen, die von ekligen Zaubereien verschmutzt ist!«
Sich umwendend, seinen Friedensmann im Schlepptau, verließ Lord Scathfell ruhigen und gemessenen Schrittes das Empfangszimmer. Sein letzter Blick galt Dorilys, und er war mit soviel Abscheu erfüllt, daß Donal schauderte.
Wenn Brüder sich streiten, treten Feinde auf, um diesen Spalt zu vertiefen, dachte Donal. Jetzt hatte sein Pflegevater sich mit der gesamten Verwandtschaft überworfen. Und ich, der allein noch zu ihm steht – bin nicht einmal sein Sohn!

Als die Leute von Scathfell gegangen waren, sagte Margali bestimmt: »Jetzt, mein Fürst, mit Eurer Erlaubnis, werde ich Dorilys zu Bett bringen.«
Aldaran, der aus brütender Apathie aufschreckte, erwiderte: »Ja, ja, bring das Kind weg. Aber komm zu mir zurück, sobald es schläft.« Margali brachte Dorilys hinaus. Aldaran saß bewegungslos, mit gesenktem Kopf, in Gedanken versunken.
Donal vermied es, ihn zu stören, aber als Margali zurückkehrte, fragte er: »Soll ich gehen?«
»Nein, nein, Junge, das betrifft auch dich«, sagte Aldaran. Seufzend blickte er zu der Leronis auf. »Kein Vorwurf gegen dich, Margali, aber was sollen wir jetzt tun?«
Kopfschüttelnd erwiderte Margali: »Ich kann sie nicht mehr kontrollieren, mein Fürst. Sie ist stark und eigenwillig, und schon bald wird sie der Belastung der Pubertät ausgesetzt sein. Ich bitte Euch, Dom Mikhail, sie jemandem anzuvertrauen, der stärker ist als ich, und besser geeignet, sie zu lehren, ihr Laran zu kontrollieren. Sonst kann Schlimmeres als dies geschehen.«
Donal fragte sich: Was könnte schlimmer sein als dies?
Als griffe er die unausgesprochene Frage auf, sagte Aldaran: »Jedes andere Kind, das ich gezeugt habe, ist im jugendlichen Alter an der Schwellenkrankheit gestorben. Das ist der Fluch unseres Geschlechts. Muß ich auch das noch für sie fürchten?«
Margali erwiderte: »Habt Ihr schon einmal daran gedacht, sie zu den Vai Leronis des Tramontana-Turms zu schicken? Sie würden sich um Dorilys kümmern und sie lehren, das Laran zu benutzen. Wenn irgend jemand sie unbeschadet durch die Jugend bringen kann, dann die Mitglieder einer Turmgemeinschaft.«
Donal dachte: Das ist mit Sicherheit die richtige Lösung. »Ja, Vater«, sagte er eifrig. »Ihr werdet Euch erinnern, wie freundlich sie jedesmal waren, wenn wir dorthin gingen. Sie waren erfreut, mich unter sich zu haben, wenn Ihr mich entbehren konntet, haben mich immer als Gast und Freund willkommen geheißen, und mich viel über die Anwendung meines Laran gelehrt. Sie hätten mir mit Freuden mehr beigebracht. Schickt Dorilys zu ihnen.«
Fast unmerklich hatte sich Aldarans Gesicht aufgehellt. Plötzlich blickte er wieder finster. »Nach Tramontana? Willst du mich vor meinen Nachbarn beschämen, Donal? Soll ich meine Schwäche zeigen, damit sie allen Leuten in den Hellers davon berichten? Soll ich mich zur Zielscheibe von Klatsch und Spott machen lassen?«
»Vater, ich glaube, Ihr tut den Leuten von Tramontana Unrecht«, widersprach Donal, aber er wußte, daß es sinnlos war. Er hatte nicht mit Dom Mikhails Stolz gerechnet.
Margali sagte: »Wenn Ihr sie nicht euren Nachbarn in Tramontana anvertrauen wollt, Dom Mikhail, bitte ich Euch, sie nach Hali oder Neskaya zu schicken, oder zu einem der Türme im Tiefland. Ich bin weder jung noch stark genug, sie Selbstkontrolle zu lehren. – Die Götter wissen, daß ich nicht wünsche, von ihr getrennt zu werden. Ich liebe sie, als wäre sie mein eigenes Kind, aber ich kann mit ihr nicht mehr fertigwerden. In einem Turm hingegen ist man dafür ausgebildet.« Aldaran dachte eine Weile darüber nach. Schließlich sagte er: »Ich glaube, sie ist zu jung, um zu einem Turm geschickt zu werden. Aber zwischen Aldaran und Elhalyn gibt es alte Freundschaftsbande. Um dieser alten Freundschaft willen, vielleicht wird der Fürst von Elhalyn eine Leronis vom Hali-Turm schicken, die sich um Dorilys kümmert. Das würde zumindest keine Gerüchte aufbringen, da jeder Haushalt mit Laran solch eine Person braucht, um die jungen Leute auszubilden. Willst du dich aufmachen, Donal, und darum bitten, daß jemand nach Aldaran kommt, um hier zu wohnen und deine Schwester zu unterrichten?«
Donal stand auf und verbeugte sich. Der Gedanke, Dorilys sicher unter seinen Freunden im Tramontana-Turm zu wissen, hatte ihn angezogen; aber vielleicht hatte er von seinem Pflegevater zuviel verlangt, seine Schwäche den Nachbarn bekannt zu machen. »Ich werde noch heute reiten, wenn Ihr wollt, sobald ich eine Eskorte zusammengestellt habe, die Eurem Rang und Eurer Würde angemessen ist.«
»Nein«, sagte Aldaran bedächtig. »Du wirst allein reiten, Donal, wie es sich für einen Bittsteller geziemt. Ich habe gehört, daß zwischen Elhalyn und Ridenow ein Waffenstillstand existiert. Du wirst sicher sein. Und wenn du allein gehst, wird ihnen klar sein, daß ich um ihre Hilfe ersuche.«
»Wie Ihr wünscht«, sagte Donal. »Ich kann morgen reiten. Oder noch heute.«
»Morgen wird zeitig genug sein«, sagte Aldaran. »Warte erst ab, bis die Leute von Scathfell zuhause sind. Ich will nicht, daß sich das in den Bergen herumspricht.«

11

Am entgegengesetzten Ende des Sees von Hali erhob sich der Turm, ein schlankes, hohes Gebäude aus blassem, durchschimmerndem Stein. Der größte Teil der wichtigeren Arbeit des Matrix-Kreises wurde bei Nacht getan. Zuerst hatte Allart das nicht verstanden und es für Aberglaube oder einen bedeutungslosen Brauch gehalten. Erst nach einiger Zeit war ihm allmählich klar geworden, daß die Nachtstunden, während der die meisten Menschen schliefen, am freiesten von störenden Gedanken – den Zufallsvibrationen anderer Hirne – waren. In den einsamen Nachtstunden waren die Kreismitarbeiter frei, ihren miteinander verbundenen Geist in die Matrixkristalle zu senden, die die elektronischen und energetischen Schwingungen des Gehirns verstärkten und ihre Kraft in Energie umsetzten.
Mit der ungeheuerlichen Kraft der verknüpften Gehirne und den gigantischen künstlichen Matrixgittern, die die Techniker errichteten, konnten diese geistigen Energien tief im Erdboden verborgene Metalle in einem reinen Schmelzfluß an die Erdoberfläche bringen. Sie konnten Batterien für den Betrieb von Luftwagen oder großer Generatoren, die die Burgen von Elhalyn und Thendara mit Licht versorgten, aufladen. Ein solcher Kreis hatte auch die glänzend weißen Türme der Burg Thendara aus dem Felsgestein des Berggipfels hochgezogen. Aus vielen Türmen, die diesem glichen, floß die gesamte Energie und Technologie von Darkover, und es waren die Männer und Frauen der Turm-Kreise, die sie erzeugten.
Jetzt saß Allart Hastur in der abgeschirmten Matrixkammer – nicht nur durch ein Tabu, die Tradition und Isolation von Hali abgeschirmt, sondern auch von Kraftfeldern, die einen Eindringling zu Tode bringen oder zum Wahnsinn treiben konnten – vor einem niedrigen runden Tisch. Seine Hände und sein Geist waren mit den sechs anderen des Kreises verbunden. Sämtliche Energien von Körper und Geist waren in einem einzigen Fluß auf den Bewahrer des Kreises konzentriert. Der Bewahrer war ein schlanker, kräftiger junger Mann. Sein Name war Coryn. Er war ein Cousin Allarts, von etwa gleichem Alter, und faßte, vor einem künstlichen Kristall sitzend, die gewaltigen Energieströme der sechs Personen zusammen. Er ließ sie durch die komplizierten inneren Kristallgitter fließen und dirigierte den Strom der Energie in die Batteriereihen, die vor ihnen auf dem niedrigen Tisch standen. Coryn sprach und bewegte sich nicht, aber sobald er mit seiner schmalen Hand auf die Batterien wies, ergossen die ausdruckslos blickenden Mitglieder des Kreises jedes Atom ihrer zusammengefaßten Energie in die Matrix, durch den Körper des Bewahrers, und sandten dadurch enorme Energieladungen in eine Batterie nach der anderen.
Allart war eiskalt, verkrampft, aber er spürte davon nichts. Er war sich seines Körpers nicht bewußt. Alles was er fühlte, war der fließende Strom der Energie, der durch ihn hindurchraste. Verschwommen, ohne einen echten Gedanken, erinnerte ihn dieses Gefühl an die ekstatische Vereinigung der Gehirne und Stimmen während der Morgenhymnen von Nevarsin. Es war ein Gefühl einmaliger Harmonie, als habe man seinen Platz in der Musik des Universums gefunden.
Außerhalb des Kreises saß eine weißgekleidete Frau, das Gesicht in den Händen vergraben. Außer den herabfallenden Fluten ihres langen, kupferfarbenen Haars war von ihrem Gesicht nichts zu sehen. Ihr Geist bewegte sich ohne Unterlaß im Kreis herum und kontrollierte nacheinander die bewegungslosen Gestalten der anderen. Hier lockerte sie die Spannung eines Muskels, bevor er die Konzentration mindern konnte, dort milderte sie einen plötzlichen Krampf oder ein Jucken. Sie stellte sicher, daß die Atmung der sechs nicht schwankte und kümmerte sich um die kleinen, unwillkürlichen Bewegungen, die die vernachlässigten Körper stabil hielten: das rhythmische Augenzwinkern, um der Belastung zu entgehen; das schwache Verändern der Stellung. Die aneinandergeketteten Mitglieder des Kreises waren sich ihrer eigenen Körper nicht bewußt, und das schon seit mehreren Stunden. Alles was sie spürten, war die Verknüpfung ihrer Gehirne, die innerhalb der lodernden Energie schwebten, die sie in die Batterien gössen. Die Zeit hatte für sie in einem endlosen Augenblick stärkster Vereinigung angehalten, und nur die Überwacherin war sich der verstreichenden Stunden bewußt. Jetzt, als sie zwar nicht sah, aber fühlte, daß die Stunde des Sonnenaufgangs noch einige Zeit entfernt war, spürte sie innerhalb des Kreises eine Spannung, die es eigentlich nicht geben durfte.
Sie sandte ihren fragenden Geist nacheinander jedem der sechs entgegen.
Coryn. Der Bewahrer, jahrelang geistig und körperlich ausgebildet, um diese Belastung auszuhalten… Nein, er war nicht in Bedrängnis. Er war verkrampft, und sie untersuchte seine Blutzirkulation. Sein Körper war kalt, aber er spürte nichts davon. Seine Verfassung hatte sich seit den frühen Nachtstunden nicht verändert. Wenn sein Körper einmal verbunden und in eine wohlabgewogene Position gebracht war, konnte er stundenlang unbeweglich bleiben. Um ihn stand es gut.
Mira? Nein, die alte Frau, die vor Renata Überwacherin gewesen war, war ruhig und ohne Bewußtsein. Sie schwebte friedlich in den Energienetzen, konzentriert auf Energieausflüsse, Zufallsträume, Glückseligkeit.
Barak? Der stämmige, dunkelhäutige Mann, der Techniker, der das künstliche Matrixgitter den Anforderungen des Kreises entsprechend gebaut hatte, war verkrampft. Automatisch sank Renata in sein KörperBewußtsein und lockerte einen Muskel, ehe der Schmerz Barak in seiner Konzentration stören konnte. Sonst mangelte es ihm an nichts. Allart? Wie schaffte es dieser Neuankömmling nur, sich dermaßen unter Kontrolle zu halten? War es die Ausbildung von Nevarsin? Seine Atmung war tief und langsam, ohne jede Schwankung, der Fluß des Sauerstoffs zum Herzen und zu den Gliedern regelmäßig. Er hatte sogar den schwierigsten Kunstgriff des Kreises erlernt: die stundenlange Unbeweglichkeit ohne übermäßigen Schmerz und Verkrampfung. Arielle? Sie war an Jahren die jüngste des Kreises, hatte mit sechzehn aber volle zwei Jahre hier in Hali verbracht und den Rang einer Mechanikerin erworben. Renata untersuchte sie sorgfältig: Atmung, Herzschlag, die Stirnhöhlen, die Arielle manchmal wegen der Feuchtigkeit des Sumpflandes Sorgen bereiteten. Arielle stammte aus den südlichen Ebenen. Da sie keinen Fehler fand, suchte Renata weiter. Nein, keine Probleme, nicht einmal eine gefüllte Harnblase, die Anspannung erzeugte. Renata dachte: Ich habe mich gefragt, ob Coryn sie geschwängert hat, aber das trifft nicht zu. Ich habe sie sorgfältig untersucht, bevor sie in den Kreis eingetreten ist, aber dazu ist Arielle zu klug… Dann muß es der andere Neuling sein, Cassandra … Sorgfältig horchend untersuchte sie Herz, Atmung, Kreislauf. Cassandra war verkrampft, ohne aber große Schmerzen zu haben. Renata spürte in Cassandras Bewußtsein eine leichte innere Erregung. Sie sandte einen schnellen, besänftigenden Gedanken aus, um sie zu beruhigen, damit sie die anderen nicht störte. Für Cassandra war diese Arbeit neu, und sie hatte noch nicht gelernt, das routinemäßige Eindringen einer Überwacherin in Körper und Geist mit völliger Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Es kostete Renata einige Sekunden, Cassandra zu beruhigen, bevor sie zu einen tieferen Horchen übergehen konnte.
jawohl, es ist Cassandra. Es ist ihre Belastung, an der wir alle teilhaben. Sie hätte nicht in den Kreis kommen sollen, jetzt, wo ihre Periode bevorsteht. Ich hätte sie für klüger gehalten … Aber Renata dachte keinesfalls daran, Cassandra einen Vorwurf zu machen. Ich hätte mir darüber Gewißheit verschaffen sollen. Renata wußte, wie schwer es war, in den ersten Tagen des Lernens Schwächen einzugestehen oder Beschränkungen zuzugeben.
Sie ging eine enge Verbindung mit Cassandra ein, versuchte, ihre Spannung zu lockern und mußte feststellen, daß sie noch nicht in der Lage war, mit ihr in dieser absoluten Dichte zusammenzuarbeiten. Sie sandte Coryn einen vorsichtigen, warnenden Gedanken zu, der nicht mehr als eine sanfte Berührung war.
Wir müssen bald aufhören … Sei bereit, wenn ich das Zeichen gebe. Ohne daß der Energiefluß stockte, sagte ihr Coryns äußerliches Zittern: Noch nicht. Eine ganze Reihe der Batterien muß noch aufgeladen werden. Dann sank er harmonisch in die Verbindung des Kreises zurück. Jetzt war Renata besorgt. Das Wort des Bewahrers war in dem Kreis Gesetz; doch es lag in der Verantwortlichkeit der Überwacherin, auf das Wohlbefinden der Mitglieder zu achten. Bisher hatte sie ihre Betroffenheit vor ihnen allen abgeschirmt, aber nun spürte sie irgendwo ein schwaches Bewußtsein, das dem Kreis Energie entzog. Allart ist sich Cassandras zu sehr bewußt. Auf diese Art mit dem Kreis verbunden, dürfte er sie nicht mehr wahrnehmen als jeden anderen. Bis jetzt war es nur ein Flackern, das sie auffing, indem sie Allarts Bewußtsein sanft auf seinen Energiebrennpunkt hinwies. Sie versuchte, Cassandra aufrechtzuhalten, als hätte sie der anderen Frau auf einer steilen Treppe den Arm zur Stütze gereicht. Aber da die Intensität der Konzentration einmal unterbrochen war, schwankte etwas in dem Strom der Energien und wellte sich wie eine vom Wind gekräuselte Wasseroberfläche. Sie spürte, wie die Störung durch den Kreis wanderte. Es war zwar nur ein leichtes Flackern, konnte auf dieser Ebene der Konzentration aber zerstörerisch wirken. Baraks Körper wankte unruhig, Coryn hustete, Arielle schniefte, und Renata spürte, wie Cassandras Atem schwankte und schwer wurde. Entschiedener sandte sie eine zweite Warnung: Wir müssen unterbrechen. Es ist bald soweit …
Diesmal war die Reaktion eindeutig erregt und hallte in den miteinander verbundenen Köpfen wie eine Alarmglocke wider. Allart hörte den Klang, wie er die lautlosen Glocken von Nevarsin gehört hatte, und begann langsam, seinen unabhängigen Brennpunkt zurückzuerlangen. Coryns Gereiztheit war wie ein Stechen. Er spürte sie wie das Verdrehen eines inneren Fadens, als er Cassandras Bewußtsein schwinden fühlte. Einer nach dem anderen zog sich aus dem Kreis zurück und löste ihn auf, aber nicht wie früher sanft, sondern in einem schmerzlichen Auseinanderfallen. Er hörte Miras angestrengtes Keuchen. Arielle schnüffelte, als werde sie gleich zu weinen beginnen. Barak ächzte und streckte ein schmerzhaft verkrampftes Bein. Allart war erfahren genug, sich am Anfang nicht zu schnell zu bewegen. Er versuchte es mit langsamen, behutsamen Bewegungen, als erwache er aus einem tiefen Schlaf. Aber er war besorgt und bekümmert. Was war mit dem Kreis geschehen? Ihre Arbeit war mit Sicherheit nicht vollständig getan …
Nach und nach kamen auch die anderen aus den Tiefen der Matrixtrance hervor. Coryn sah bleich und verstört aus. Er sagte kein Wort, aber die Intensität seines auf Renata gerichteten Zorns war schmerzlich für sie alle.
Ich habe gesagt: Noch nicht! Jetzt werden wir das alles noch einmal machen müssen, denn weniger als ein Dutzend Batterien … Warum hast du gerade jetzt unterbrochen? War irgend jemand im Kreis zu schwach, um noch länger durchzuhalten? Sind wir Kinder, die Murmeln spielen, oder ein verantwortungsvoller Kreis von Mechanikern? Aber Renata schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Allart, der nun völlig erwacht war, sah Cassandra zur Seite fallen. Ihr langes schwarzes Haar breitete sich auf der Tischplatte aus. Er stieß seinen Stuhl zurück, aber Renata war vor ihm bei ihr.
»Nein«, sagte sie, und mit einem Aufflackern von Bestürzung hörte Allart die Befehlsstimme gegen sich gerichtet. »Faß sie nicht an! Das ist meine Verantwortung!« In seiner extremen Empfänglichkeit erfaßte Allart den Gedanken, den Renata nicht laut ausgesprochen hatte: Du hast bereits genug angerichtet. Für dies hier bist du verantwortlich … Ich? Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ich, Renata?
Renata kniete sich hin. Ihre Fingerspitzen lagen auf Cassandras Nacken und berührten ihr Nervenzentrum. Cassandra bewegte sich, und Renata sagte besänftigend: »Alles in Ordnung, Liebes. Du bist jetzt wieder in Ordnung.«
Cassandra murmelte: »Mir ist so kalt, so kalt.«
»Ich weiß, in wenigen Minuten wird das vorbei sein.«
»Es tut mir so leid. Ich wollte nicht … Ich war sicher …« Benommen blickte Cassandra umher, sie war den Tränen nahe. Vor Coryns zornigem Blick fuhr sie zurück.
»Laß sie in Ruhe, Coryn. Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Renata ohne aufzusehen.
Mit einer Geste tiefer Ironie sagte Coryn: –»Z’par Servu, Vai Leronis … Haben wir deine Erlaubnis, die Batterien zu testen? Während du unserer Braut Hilfe leistest?«
Cassandra unterdrückte mühsam ein Schluchzen. Renata tröstete sie: »Kümmere dich nicht um Coryn. Er ist so müde wie wir alle. Er hat es nicht so gemeint, wie es sich anhörte.«
Arielle ging zu einem Nebentisch, nahm ein metallenes Instrument – die Matrixkreise besaßen den ersten Anspruch auf alle knappen Metalle von Darkover – und eilte, ihre Hand in nichtleitendes Material hüllend, zu den Batterien, die sie eine nach der anderen, um den Funken hervorzulocken, der anzeigte, daß sie voll geladen waren, berührte. Die anderen erhoben sich behutsam und streckten ihre verkrampften Körper. Renata kniete noch immer neben Cassandra. Schließlich zog sie ihre Hände von den Pulsstellen ihres Halses zurück.
»Versuche jetzt aufzustehen. Bewege dich hin und her, wenn du kannst.«
Cassandra rieb ihre dünnen Hände. »Mir ist so kalt, als hätte ich die Nacht in Zandrus kältester Hölle zugebracht. Danke, Renata. Woher hast du es gewußt?«
»Ich bin eine Überwacherin. Es ist meine Pflicht, solche Dinge zu wissen.« Renata Leynier war eine schlanke junge Frau mit gelbbrauner Hautfarbe und dichtem, kupfer-goldenem Haar. Aber um eine Schönheit zu sein, war ihr Mund zu breit, ihre Zähne ein wenig zu schief, und ihre Nase mit zu vielen Sommersprossen übersät. Ihre Augen allerdings waren groß, grau und schön.
»Wenn du ein wenig mehr Übung hast, Cassandra, wirst du es selbst spüren und kannst uns sagen, wenn du dich nicht wohl genug fühlst, um einem Kreis anzugehören. In dieser Zeit – und ich hatte gedacht, du weißt das – verläßt die psychische Energie deinen Körper mit dem Blut, und du benötigst all deine Kraft für dich selbst. Geh jetzt zu Bett und ruhe dich ein oder zwei Tage aus. Mit Sicherheit darfst du nicht wieder im Kreis arbeiten oder irgendeine Arbeit tun, die soviel Anstrengung und Konzentration erfordert.«
Besorgt trat Allart zu ihnen. »Bist du krank, Cassandra?«
Renata antwortete: »Überarbeitet, das ist alles. Sie braucht Essen und Ruhe.« Mira brachte etwas von den Speisen- und Weinvorräten, die in einem Schrank aufbewahrt wurden, damit der Kreis sich sofort von den enormen Energieverlusten seiner Arbeit erholen konnte. Renata suchte aus den Vorräten einen langen Riegel honigverklebter, gepreßter Nüsse heraus. Sie steckte ihn Cassandra in die Hand, aber die dunkelhaarige Frau schüttelte den Kopf.
»Ich mag keine Süßigkeiten. Ich warte auf ein richtiges Frühstück.« »Iß das«, sagte Renata mit Befehlsstimme. »Du brauchst die Kraft.« Cassandra brach ein Stück der klebrigen Süßspeise ab, steckte es in den Mund, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, kaute es aber gehorsam weiter. Arielle gesellte sich zu ihnen, legte das Instrument weg und nahm eine Handvoll getrockneter Früchte, die sie gierig in den Mund steckte. Als sie wieder deutlich sprechen konnte, sagte sie: »Das letzte Dutzend der Batterien ist nicht aufgeladen, und die letzten drei, bei denen wir aufhörten, haben keine volle Kapazität.«
»Wie ärgerlich!« Coryn blickte Cassandra an.
»Laß sie in Ruhe!« beharrte Renata. »Wir haben uns alle wie Anfänger verhalten!«
Coryn schenkte sich etwas Wein ein und nahm einen Schluck. »Es tut mir leid«, sagte er schließlich und lächelte Cassandra an. Seine gute Laune kehrte zurück.
Arielle wischte ihre von den honiggetränkten Früchten klebenden Finger ab. »Falls es eine ermüdendere Arbeit zwischen Dalereuth und den Hellers gibt, als Batterien aufzuladen, kann ich mir sie nicht vorstellen.« »Besser das, als Metall fördern«, sagte Coryn. »Immer wenn ich mit Metall arbeite, bin ich einen halben Mond erschöpft. Ich bin froh, daß es dieses Jahr keine Arbeit mehr zu tun gibt. Jedesmal, wenn wir zum Fördern in die Erde gehen und ich ins Bewußtsein zurückkehre, fühle ich mich, als hätte ich jedes Gramm mit meinen eigenen Händen hochgeholt.«
Allart, durch die Jahre mühseligen körperlichen und geistigen Trainings in Nevarsin abgehärtet, war weniger erschöpft als die anderen, aber seine Muskeln schmerzten vor Spannung und der langen Bewegungslosigkeit. Cassandra brach noch ein Stück des klebrigen Honig-NußNaschwerks ab und zog, als sie es in den Mund steckte, eine weitere Grimasse. Sie standen noch immer in enger Verbindung, und er spürte ihren Widerwillen vor dem übersüßen Stoff, als äße er ihn selbst. »Iß es nicht, wenn du es nicht magst. Sicher steht auf den Regalen etwas, das dir besser schmeckt«, sagte er und ging hinüber, um sie zu durchstöbern.
Cassandra zuckte die Schultern. »Renata meint, das würde mich eher als alles andere wiederherstellen. Mir macht es nichts aus.«
Allart nahm sich ein Stück. Barak, der an einem Kelch Wein genippt hatte, stellte ihn ab und kam zu ihnen hinüber.
»Bist du erholt, Cousine? Die Arbeit ist in der Tat ermüdend, wenn sie einem neu ist, und hier gibt es keine passenden Stärkungsmittel.« Er lachte laut. »Vielleicht solltest du einen Löffel Kireseth-Honig nehmen. Es ist das beste Stärkungsmittel nach erschöpfender Arbeit, und besonders du solltest…» Unvermittelt hustete er und wandte sich ab, wobei er vorgab, sich am letzten Schluck aus seinem Glas verschluckt zu haben. Dennoch vernahm jeder seine Gedanken, als hätte er sie laut ausgesprochen. Besonders du solltest solche Stärkungsmittel nehmen, weil du erst seit kurzem verheiratet bist und sie um so nötiger brauchst… Noch ehe die Worte seiner Zunge entschlüpfen konnten, war Barak eingefallen, was alle kannten, die in enger telepathischer Verbindung mit Allart und Cassandra standen: den tatsächlichen Stand der Beziehungen zwischen den beiden.
Er konnte den geschmacklosen Scherz nur abschwächen, indem er sich abwandte und so tat, als seien die Worte ebenso ungedacht wie ungesagt. In der Matrixkammer herrschte momentan Schweigen, dann fingen alle an, sehr laut und gleichzeitig über irgend etwas anderes zu sprechen. Coryn nahm das Metallgerät und untersuchte selbst ein paar Batterien. Mira rieb ihre kalten Hände und sagte, sie wolle ein heißes Bad und eine Massage nehmen.
Renata legte ihren Arm um Cassandras Taille.
»Das solltest du auch, Herzchen. Du bist kalt und verkrampft. Geh jetzt hinunter. Laß dir ein ordentliches Frühstück bringen und nimm ein heißes Bad. Ich werde dir meine Badefrau schicken. Sie ist in der Massage ausgebildet und wird deine verkrampften Muskeln und Nerven lockern, damit du schlafen kannst. Fühl dich nicht schuldig. Wir alle haben uns in unserer Anfangszeit überarbeitet, und niemand gibt seine Schwäche gern zu. Wenn du eine warme Mahlzeit, ein Bad und eine Massage gehabt hast, leg dich zum Schlafen hin. Man soll dir heiße Ziegelsteine an die Füße legen und dich gut zudecken.«
Cassandra sagte: »Ich beraube dich nicht gern der Dienste deiner Badefrau.«
» Chiya, ich lasse mich nicht mehr in solch einen Zustand bringen. Geht jetzt. Sag Lucetta, ich hätte den Auftrag gegeben, daß sie dich pflegt wie mich; wenn ich aus dem Kreis komme. Tu, was man dir sagt, Cousine. Es ist meine Aufgabe, zu wissen, was du brauchst, selbst wenn du es nicht weißt«, sagte sie. Allart fiel auf, wie mütterlich sie klang, obwohl sie nicht älter war als Cassandra.
»Ich werde auch hinuntergehen«, sagte Mira. Coryn zog Arielle am Arm, und zusammen gingen sie hinaus. Allart wollte ihnen folgen, als Renata eine federleichte Hand auf seinen Arm legte.
»Allart, wenn du nicht zu müde bist, möchte ich mich mit dir ein wenig unterhalten.«
Allart war in Gedanken zwar schon in seinem wohlausgestatteten Zimmer im untersten Stockwerk und einem kalten Bad, aber er war nicht wirklich müde. Er sagte es ihr, und Renata nickte.
»Wenn das eine Folge der Ausbildung der Nevarsin-Brüder ist, sollten wir sie vielleicht in unsere Kreise einführen. Du bist ebenso ausdauernd und frisch wie Barak. Du solltest uns etwas über deine Geheimnisse lehren! Oder haben die Brüder dich zur Verschwiegenheit verpflichtet?«
Allart schüttelte den Kopf. »Es ist nur die Beherrschung der Atmung.«
»Komm. Sollen wir nach draußen in den Sonnenschein gehen?« Zusammen gingen sie zum Erdgeschoß hinab und traten durch das Kraftfeld, das den Turmkreis vor Störungen schützte, solange sie bei der Arbeit waren, in den zunehmenden Glanz des Morgens hinaus. Schweigend ging Allart neben Renata her. Er war nicht übermäßig müde, aber seine Nerven waren durch die Anspannung und die lange Zeit ohne Schlaf gespannt. Wie immer, wenn er es sich erlaubte, ließ sein Laran ein Gewebe einander widersprechender Zukunftsentwicklungen um ihn herum entstehen.
Schweigend gingen sie nebeneinander am Ufer entlang. Liriel, der violette Mond, der gerade sein volles Stadium überschritten hatte, ging verschwommen über dem See unter. Der grüne Idriel, die blasseste der Sicheln, hing hoch und bleich über dem weit entfernten Gebirgskamm.
Allart wußte – es war ihm klar geworden, als er Renata zum ersten Mal gesehen hatte –, daß sie die zweite der beiden Frauen war, auf die er wieder und wieder in den verzweigten Zukunftsentwicklungen seines Lebens gestoßen war. Vom ersten Tag im Turm an war er ihr gegenüber wachsam gewesen, hatte kaum mehr als die unerläßlichsten Höflichkeiten mit ihr ausgetauscht und sie gemieden, so weit man jemanden in den begrenzten Quartieren des Turms meiden konnte. Er hatte ihre Fähigkeit als Überwacherin respektieren und ihr schnelles Lachen und ihre gute Laune schätzen gelernt. Die Freundlichkeit, mit der sie sich um Cassandra kümmerte, berührte ihn. Aber bis zu diesem Augenblick hatte er mit ihr kein einziges Wort außerhalb der Grenzen ihrer Pflichten gewechselt.
Seine Übermüdung hinderte ihn daran, Renata so zu sehen, wie sie wirklich war – freundlich, unpersönlich, zurückgezogen, eine im Turm ausgebildete Überwacherin, die über Berufsangelegenheiten sprach –, sondern wie sie in irgendeiner der sich fächerförmig ausbreitenden Möglichkeiten der Zukunft sein würde, die möglicherweise in Erfüllung gehen konnten. Obwohl er sich selbst dagegen abgeschirmt und sich nie gestattet hatte, solche Gedanken freizusetzen, hatte er sie von Liebe erwärmt gesehen, die Zärtlichkeit, zu der sie fähig war, erfahren, sie wie in einem Traum besessen. Es überschattete den wirklichen Stand ihrer Beziehungen und verwirrte ihn, als stünde er einer Frau gegenüber, die ihn in erotische Träume versetzte, die er vor ihr verbergen mußte. Nein. Keine Frau außer Cassandra spielte in seinem Leben irgendeine Rolle, und sogar bei ihr stand fest, wie beschränkt diese Rolle war. Er wappnete sich gegen jeden Angriff auf diese Schranken und sah Renata mit dem kalten, unpersönlichen, fast feindseligen Blick des Nevarsin-Mönchs an.
Sie gingen nebeneinander her und hörten den flüsternden Klang der weichen Wolkenwellen. Allart war an den Ufern von Hali aufgewachsen und hat diesen Klang sein Leben lang gehört, aber jetzt erschien er ihm durch Renatas Ohren völlig neu.
»Ich werde dieses Klangs nie müde. Er ist dem Wasser gleichsam ähnlich und unähnlich. Ich nehme an, daß niemand in diesem See schwimmen kann?«
»Du würdest sinken. Langsam zwar, das stimmt, aber du würdest sinken. Er wird dich nicht tragen. Aber man kann ihn atmen, also macht es nichts, wenn man sinkt. Als Junge bin ich unzählige Male über den Grund des Sees gegangen, um die merkwürdigen Dinge in ihm zu beobachten.«
»Man kann ihn atmen? Und man ertrinkt nicht?«
»Nein, nein, er besteht überhaupt nicht aus Wasser – ich weiß nicht, was es ist. Wenn man ihn zulange einatmet, fühlt man sich schwach und müde und verliert die Lust, überhaupt noch Luft zu holen. Es besteht dann die Gefahr, daß man ohnmächtig wird und stirbt, weil man das Atmen vergißt. Aber eine kurze Zeitlang ist es anregend. Und es gibt merkwürdige Lebewesen dort. Ich weiß nicht, ob ich sie Fische oder Vögel nennen soll und könnte auch nicht sagen, ob sie in der Wolke schwimmen oder durch sie fliegen, aber sie sind sehr schön. Man sagt gewöhnlich, daß es ein langes Leben gibt, die Wolke des Sees zu atmen, und daß die Hasturs deshalb so langlebig sind. Man sagt auch, daß Hastur, der Sohn des Herrn des Lichts, denen, die dort wohnten, als er an die Ufer von Hali fiel, Unsterblichkeit gab, und wir Hasturs diese Gabe wegen unseres sündigen Lebens verloren. Aber das sind alles Märchen.«
»Glaubst du das, weil du ein Cristofero bist?«
»Das glaube ich, weil ich ein Mensch der Vernunft bin«, erwiderte Allart lächelnd. »Ich kann mir keinen Gott vorstellen, der sich in die Gesetze der Welt, die er erschaffen hat, einmischt.«
»Aber die Hasturs sind doch wirklich langlebig.«
»In Nevarsin hat man mir gesagt, daß alle vom Blut Hasturs Chieri-Blut in sich haben. Und die Chieri sind nahezu unsterblich.«
Renata seufzte. »Ich habe aber auch gehört, daß sie Emmasca sind, weder Mann noch Frau, und frei von der Gefahr, eins von beiden zu werden. Ich glaube, darum beneide ich sie.«
Allart fiel ein, daß Renata unermüdlich von ihrer eigenen Kraft gab. Aber es gab niemanden, der sich um sie kümmerte, wenn sie selbst erschöpft war.
»Geh jetzt zur Ruhe, Cousine. Was immer du mir sagen willst: Es kann nicht so dringend sein, daß es nicht warten kann, bis du die Mahlzeit und die Ruhe, die du meiner Frau so schnell verordnetest, selbst genossen hast.«
»Ich würde es lieber sagen, solange Cassandra schläft. Einem von euch muß ich es sagen, auch wenn ich weiß, daß es für dich eine Einmischung bedeutet. Aber du bist älter als Cassandra und wirst besser ertragen, was ich sagen muß. Aber genug der Entschuldigung und Vorrede … Du hättest erst nach dem Vollzug deiner Ehe hierherkommen sollen.« Allart öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Denk daran, ich habe dich gewarnt, daß du es als Einmischung in deine Privatsphäre einschätzen würdest. Ich bin im Turm, seit ich vierzehn war und kenne die höfliche Zurückhaltung bei solchen Dingen. Aber ich bin als Überwacherin auch für das Wohlergehen aller verantwortlich. Alles, was störend ist – nein, laß mich ausreden, Allart –, alles, was deine Arbeit beeinträchtigt, zerbricht auch uns. Du warst noch keine drei Tage hier, da wußte ich, daß deine Frau noch Jungfrau ist, aber ich habe mich nicht eingeschaltet. Ich dachte, ihr seid vielleicht aus politischen Gründen miteinander verheiratet worden und liebtet euch nicht. Aber jetzt, nach einem halben Jahr, ist offenkundig, wie verliebt ihr seid. Die Spannung zwischen euch zersplittert uns und macht Cassandra krank. Sie ist so angespannt, daß sie nicht einmal den Zustand ihrer Nerven und ihres Körpers überwachen kann, und dazu sollte sie jetzt eigentlich in der Lage sein. Ich kann ein wenig für sie tun, wenn du im Kreis bist, aber nicht die ganze Zeit über. Und ich sollte nicht für sie tun, was sie lernen muß, um für sich selbst zu sorgen. Nun, ich bin sicher, daß ihr gute Gründe hattet, in diesem Zustand hierher zu kommen, aber welche es auch waren: Ihr habt zuwenig davon gewußt, wie ein Turmkreis arbeitet. Du kannst es ertragen; du verfügst über das Nevarsin-Training und kannst auch dann zufriedenstellend arbeiten, wenn du unglücklich bist. Cassandra kann es nicht. Es ist so einfach, wie es klingt.«
Entschuldigend sagte Allart: »Ich habe nicht gewußt, daß Cassandra so unglücklich ist.«
Renata blickte ihn an und schüttelte den Kopf. »Wenn du es nicht weißt, dann nur deshalb, weil du es dir nicht erlaubt hast. Das Klügste würde sein, sie fortzubringen, bis die Dinge zwischen euch bereinigt sind. Sie könnte zurückkehren, wann sie will. Wir brauchen ständig ausgebildete Arbeiter, und deine Ausbildung in Nevarsin ist sehr wertvoll. Was Cassandra angeht, glaube ich, daß sie das Talent hat, eine Überwacherin zu werden, oder sogar eine Technikerin, wenn die Arbeit sie interessiert. Aber nicht jetzt. Jetzt ist es an der Zeit, daß ihr beide euch trennt und uns nicht mit unerfüllten Bedürfnissen zersplittert.«
Bestürzt hörte Allart ihr zu. Sein eigenes Leben war so lange einer eisernen Disziplin unterworfen gewesen, daß ihm nie der Gedanke gekommen war, seine eigenen Bedürfnisse oder Cassandras Unglück könnten den Kreis auch nur im entferntesten stören. Aber er hätte es natürlich wissen müssen.
»Nimm sie, Allart. Heute abend wäre nicht zu früh.« Sich elend fühlend sagte Allart: »Ich würde meinen ganzen Besitz hergeben, wenn ich die Freiheit dazu hätte. Aber Cassandra und ich haben einander versprochen …«
Er wandte sich ab. Aber die Gedanken in seinem Kopf waren so deutlich, daß Renata ihn bestürzt ansah.
»Cousin, was konnte dich zu einem so vorschnellen Gelübde veranlassen? Ich spreche nicht nur von deiner Pflicht den Verwandten und dem Clan gegenüber.«
»Nein«, gab Allart zurück, »sprich nicht davon, Renata. Nicht einmal in Freundschaft. Davon habe ich allzuviel gehört, und ich brauche niemanden, um mich daran zu erinnern. Du weißt, welches Laran ich besitze, und welchem Fluch ich unterworfen war. Ich wollte es nicht in Söhnen und Enkeln fortleben lassen. Das Zuchtprogramm der Familien, das dich veranlaßt, von Pflicht gegenüber Verwandten und Clan zu sprechen, ist falsch. Es ist ein Übel. Ich werde es nicht weitergeben!« Er sprach heftig und versuchte, den Anblick von Renatas Gesicht wegzuwischen – nicht das, das von freundschaftlicher Betroffenheit zeugte, sondern das andere, mitleidsvolle, zärtliche und leidenschaftliche.
»Ein Fluch, in der Tat, Allart! Auch ich bin wegen des Zuchtprogramms voller Angst und Zweifel. Ich glaube nicht, daß irgendeine Frau in den Reichen frei von ihnen ist. Aber Cassandras Unglück, und deines, ist sinnlos.«
»Da ist noch mehr, und Schlimmeres«, sagte Allart verzweifelt. »Am Ende jeder Straße, die ich, wie es scheint, voraussehen kann, stirbt Cassandra, wenn sie mein Kind zur Welt bringt. Selbst wenn ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, ein Kind zu zeugen, das möglicherweise diesen Fluch trägt, könnte ich dieses Los nicht über sie bringen. Deshalb haben wir uns gelobt, getrennt zu leben.«
»Cassandra ist sehr jung und sie ist Jungfrau«, sagte Renata. »Das mag eine Entschuldigung dafür sein, daß sie es nicht besser weiß; aber mir scheint es verderblich, eine Frau in Unwissenheit über das zu halten, was ihr Leben so entscheidend beeinflussen kann. Sicher ist die Entscheidung, die ihr getroffen habt, zu extrem, denn selbst Außenstehenden ist offenbar, daß ihr einander liebt. Du kannst dir kaum im Unklaren darüber sein, daß es Wege gibt…« Sie wandte ihr Gesicht verlegen ab. Selbst zwischen Ehemann und Ehefrau wurde über solche Dinge nicht oft gesprochen. Auch Allart war verlegen.

Sie kann nicht älter als Cassandra sein! Im Namen aller Götter, wie kommt eine junge Frau, wohlbehütet aufgezogen, aus guter Familie und noch unverheiratet, dazu, über solche Dinge Bescheid zu wissen? Der Gedanke in seinem Kopf war deutlich, und Renata konnte nicht anders, als ihn aufzugreifen. Trocken erwiderte sie: »Du bist ein Mönch gewesen, Cousin, und einzig aus diesem Grund bin ich bereit zuzugestehen, daß du die Antwort auf diese Frage wirklich nicht kennst. Vielleicht glaubst du immer noch, daß es nur die Männer sind, die solche Bedürfnisse haben, und daß die Frauen immer dagegen sind. Ich will dich nicht schockieren, Allart, aber Frauen im Turm brauchen – und können – nicht nach den närrischen Gesetzen und Sitten dieser Zeit, die so tun, als seien sie nicht mehr als Spielzeuge, die den Begierden der Männer dienen, ohne eigene Wünsche außer dem, Söhne für ihre Clans zu gebären, leben. Ich bin keine Jungfrau, Allart. Jeder von uns – ob Mann oder Frau – muß nach kurzer Zeit im Kreis lernen, sich über seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche klar zu sein, sonst können wir nicht all unsere Kraft in unsere Arbeit stecken. Wenn wir es dennoch versuchen, passieren solche Dinge wie heute morgen – wenn nicht noch viel, viel Schlimmeres.«
Verlegen blickte Allart von ihr weg. Sein erster, beinahe automatischer Gedanke war eine reine Reaktion seiner Kindheitserziehung. Die Männer der Reiche wissen das und lassen trotzdem ihre Frauen hierher kommen?
Renata zuckte die Achseln.
»Das ist der Preis, den sie für die Arbeit zahlen, die wir tun – daß wir Frauen in gewissem Ausmaß für unsere Aufgabe von den Gesetzen, die Vererbung und Aufzucht betonen, befreit werden. Ich glaube, die meisten von ihnen ziehen es vor, sich nicht zu genau zu erkundigen. Und es ist für eine Frau, die in einem Kreis arbeitet, nicht ungefährlich, ihren Dienst durch eine Schwangerschaft zu unterbrechen.« Einen Moment später fügte sie hinzu: »Wenn du wünschst, kann Mira Cassandra aufklären – oder ich. Vielleicht würde sie es von einem Mädchen in ihrem eigenen Alter leichter aufnehmen.«
Hätte mir während meiner Zeit in Nevarsin jemand erzählt, daß es eine Frau gibt, mit der ich mich über solche Dinge offen unterhalten kann, und daß diese Frau weder mit mir verheiratet noch eine Blutsverwandte ist, hätte ich das nie geglaubt. Ich hätte nie gedacht, daß es zwischen Mann und Frau eine solche Aufrichtigkeit geben kann.
»Das hat unsere ärgsten Befürchtungen tatsächlich ausgeräumt, solange wir im Turm wohnten. Vielleicht können wir – immerhin so viel haben. Es stimmt, wir haben darüber gesprochen, ein wenig.« Cassandras Worte hallten in seinem Kopf wieder, als wären sie erst Sekunden vorher und nicht schon vor einem halben Jahr gesagt worden: »So wie die Dinge jetzt liegen, kann ich es ertragen, Allart, aber ich weiß nicht, ob ich diesem Entschluß treu bleiben kann. Ich liebe dich, Allart. Ich kann mir selbst nicht trauen. Früher oder später würde ich dein Kind wollen, und so ist es leichter, ohne die Möglichkeit und die Versuchung …« Renata, die die Worte in seinem Geist hörte, sagte empört: »Leichter für sie, vielleicht…« Sie unterbrach sich. »Verzeih mir, ich habe kein Recht dazu. Auch Cassandra hat Anspruch auf ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche, nicht auf das, was sie nach deiner oder meiner Meinung fühlen sollte. Wenn einem Mädchen, sobald es alt genug ist, beigebracht wird, daß der Sinn des Lebens darin besteht, dem Clan ihres Mannes Kinder zu gebären, ist es nicht leicht, das zu ändern oder einen anderen Lebenszweck zu finden.« Sie verstummte, und Allart fand, daß Renatas Stimme angesichts ihrer Jugend zu bitter klang. Er fragte sich, wie alt sie wohl war, aber sie befanden sich schon in so enger Verbindung, daß Renata die unausgesprochene Frage beantwortete.
»Ich bin nur ein oder zwei Monate älter als Cassandra. Ich bin nicht ganz frei von dem Wunsch, eines Tages ein Kind zur Welt zu bringen, aber meine Sorgen über das Zuchtprogramm ähneln den deinen. Natürlich sind es nur die Männer, denen es erlaubt ist, solche Sorgen und Zweifel zu äußern. Von den Frauen erwartet man, daß sie nicht an solche Dinge denken. Manchmal habe ich das Gefühl, daß man von uns erwartet, daß wir überhaupt nicht denken! Aber mein Vater war mir gegenüber sehr nachgiebig, und ich habe ihm das Versprechen abgerungen, nicht verheiratet zu werden, bis ich zwanzig und in einem Turm ausgebildet worden bin. Ich habe viel gelernt. Zum Beispiel folgendes, Allart: Wenn du und Cassandra beschließen solltet, ein Kind zu haben, könnte man mit Hilfe einer Überwacherin das Ungeborene tief im Keimplasma untersuchen. Sollte das Kind das Laran, vor dem du dich fürchtest, oder sonst ein rezessives Merkmal tragen, das Cassandra bei der Geburt töten könnte, würde sie es nicht zur Welt bringen müssen.«
Heftig entgegnete Allart: »Es ist übel genug, daß wir Hasturs uns damit befassen, Riyachiyas und andere Abscheulichkeiten durch genetische Manipulationen unseres Samens zu züchten! Aber das mit meinen eigenen Söhnen und Töchtern tun? Willkürlich ein Leben zerstören, das ich selbst gegeben habe? Der Gedanke daran macht mich krank!« »Ich bin nicht der Bewahrer deines Gewissens, oder Cassandras«, sagte Renata. »Das ist nur eine Möglichkeit. Es wird andere geben, die dir besser gefallen. Aber ich halte sie für das kleinere Übel. Ich weiß, daß ich eines Tages zur Heirat gezwungen und verpflichtet werde, meiner Kaste Kinder zu gebären. Ich werde mich dann vor zwei Alternativen gestellt sehen, die mir fast gleichermaßen grausam erscheinen: meiner Kaste Monster zu gebären, oder sie noch in meinem Leib zu vernichten.« Allart konnte ihr Entsetzen sehen.
»Ich bin Überwacherin geworden, um nicht unwissentlich zu diesem Zuchtprogramm beizutragen, das diese Monstrositäten in unser Volk gebracht hat. Jetzt, da ich weiß, was ich tun muß, ist es noch weniger erträglich geworden. Ich bin kein Gott, daß ich bestimmen könnte, wer leben und wer sterben wird. Vielleicht haben du und Cassandra letztlich doch richtig gehandelt, indem ihr kein Leben gebt, das ihr später wieder entziehen müßtet.«
»Und während wir auf diese Wahlmöglichkeiten warten«, sagte Allart bitter, »laden wir Batterien auf, damit Müßiggänger mit Luftwagen spielen können. Wir erleuchten ihre Häuser, damit sie sich die Hände nicht mit Harz schmutzig zu machen brauchen. Wir fördern Metalle, um anderen die Arbeit zu ersparen, sie zutage zu bringen, und schaffen immer schrecklichere Waffen, mit denen man Leben vernichtet, über die wir nicht den Schatten eines Rechts haben.«
Renata erblaßte. »Nein! Das habe ich nicht gehört. Allart, ist das dein Vorausblick, wird wieder Krieg ausbrechen?«
»Ich habe es gesehen und unbedacht ausgesprochen«, sagte Allart und schaute sie verzweifelt an. Die Klänge und Bilder des Krieges waren schon da und verwischten die Gegenwart. Er dachte: Vielleicht werde ich im Gefecht getötet und davor bewahrt, weiterhin mit dem Schicksal oder meinem Gewissen zu hadern!
»Es ist dein Krieg und nicht meine Angelegenheit«, sagte Renata. »Mein Vater hat mit Serrais keinen Streit und keinen Bündnisvertrag mit Hastur. Wenn der Krieg erneut ausbricht, wird er nach mir schicken und verlangen, daß ich nach Hause zurückkehre und heirate. Oh, gnädiger Avarra, da gebe ich dir Ratschläge, wie du und deine Frau eure Ehe führen sollt, und habe selbst weder den Mut noch die Vernunft, meiner eigenen entgegenzusehen! Ich wünschte, ich hätte deinen Vorausblick, Allart, um zu wissen, welche der Wahlmöglichkeiten mir das geringste Übel bringt.«
»Ich wünschte, ich könnte es dir sagen«, entgegnete er und ergriff einen Augenblick lang ihre Hände. Sein Laran zeigte jetzt deutlich, daß Renata und er zusammen nach Norden ritten … wohin? Zu welchem Zweck?
Das Bild verblaßte und wurde durch einen Wirbel von neuen ersetzt: dem schwebenden Flug eines großen Vogels – war es wirklich ein Vogel?
-, dem entsetzten Gesicht eines Kindes, erstarrt im Glanz von Blitzen. Ein Regen herabfallenden Haftfeuers, ein großer Turm, der zusammenbrach, zermalmt wurde, zu Schutt zerschmettert. Renatas Gesicht, von Zärtlichkeit entflammt, ihr Körper unter seinem… Von den wirbelnden Bildern benommen, versuchte Allart, die sich anhäufenden Zukunftsmöglichkeiten zu verdrängen.
»Vielleicht ist das die Antwort«, meinte Renata mit plötzlicher Heftigkeit. »Ungeheuer zu züchten und sie auf unser Volk loszulassen, immer schrecklichere Waffen zu bauen, unser verfluchtes Volk wegzuwischen und die Götter ein neues erschaffen zu lassen, das nicht den entsetzlichen Fluch des Laran trägt!«
Es war plötzlich so still, daß Allart die Morgengeräusche erwachender, zirpender Vögel und die weichen, feuchten Laute der Wolkenwellen an den Ufern von Hali hören konnte. Renata zog zitternd den Atem ein. Aber als sie weitersprach, war sie wieder ruhig, ganz die disziplinierte Überwacherin.
»Aber das ist weit entfernt von dem, was mir dir zu sagen auferlegt worden ist. Um unserer Arbeit willen, du und Cassandra dürft nicht wieder im selben Matrixkreis arbeiten, bis mit euch alles in Ordnung ist; bis ihr Liebe gegeben und empfangen habt und euch einig seid, ohne Wankelmut und Begehren Freunde sein zu können. Im Moment könnt ihr vielleicht in verschiedenen Kreisen untergebracht werden. Immerhin gibt es hier achtzehn, und ihr könntet getrennt arbeiten. Aber wenn ihr uns nicht zusammen verlaßt, muß zumindest einer von euch gehen. Selbst in getrennten Kreisen würde es, da ihr zusammen unter einem Dach wohnt, zu Spannungen kommen. Ich glaube, du solltest gehen, Allart. Du hast in Nevarsin gelernt, dein Laran zu beherrschen, aber Cassandra nicht. Aber du mußt selbst darüber entscheiden. Das Gesetz hat dich zu Cassandras Herrn gemacht, und auch zum Wahrer ihres Willens und Gewissens, wenn du dieses Recht ausüben willst.« Er überhörte die Ironie. »Wenn du glaubst, es wäre besser für meine Ehefrau, zu bleiben«, sagte er, »dann wird sie bleiben, und ich werde gehen.« Trostlosigkeit überfiel ihn. In Nevarsin hatte er Glück gefunden, aber er war dort weggegangen, um nie mehr zurückzukehren. Sollte er nun auch von hier fortgehen?
Gibt es auf dieser Welt keinen Platz für mich? Muß ich für immer, heimatlos, von den Winden der äußeren Bedingung getrieben werden? Er amüsierte sich auf merkwürdige Art über sich selbst: Er beklagte sich, weil das Laran ihm zuviele Zukunftsmöglichkeiten zeigte, und jetzt war er betrübt, weil er keine sah. Auch Renata wurde von Entscheidungen getrieben, die nicht ihrer Kontrolle unterlagen.
»Du hast die ganze Nacht gearbeitet, Cousine«, sagte er, »und bist hier geblieben, um dich mit meinen und den Sorgen meiner Frau zu plagen, anstatt dich selbst auszuruhen.«
Ihre Augen lächelten, ohne daß ihre Lippen sich bewegten. »Oh, es hat mich erleichtert, an andere Sorgen als die meinen zu denken, wußtest du das nicht? Die Lasten anderer sind leichter zu tragen. Aber ich werde jetzt schlafen gehen. Und du?«
Allart schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht müde. Ich glaube, ich werde eine Zeitlang im See Spazierengehen, mir die merkwürdigen Fische oder Vögel anschauen und mir darüber klarzuwerden versuchen, was sie tatsächlich sind. Ich frage mich, ob unsere Vorväter sie gezüchtet haben. Vielleicht werde ich Frieden finden, wenn ich etwas betrachte, das meine Sorgen nicht betrifft. Sei gesegnet, Cousine für deine Freundlichkeit.« »Warum? Ich habe nichts gelöst. Ich habe dir mehr Sorgen verschafft, das ist alles«, sagte Renata. »Aber ich werde schlafen gehen und vielleicht eine Antwort auf unsere Sorgen träumen. Ich frage mich, ob es ein solches Laran, gibt.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Allart. »Aber es ist zweifellos jemandem gegeben worden, der es nicht zu seinem eigenen Besten anwenden kann. So sind die Dinge in dieser Welt nun einmal. Wären sie anders, könnten wir den Weg aus allen Sorgen heraus finden und wie eine Spielfigur sein, die es schafft, sich vom Brett zu lösen, ohne gefangen zu werden. Geh schlafen, Renata. Die Götter mögen verhüten, daß du die Last unserer Ängste und Sorgen sogar noch im Traum trägst.«

12

Als Allart sich an diesem Abend in der unteren Halle zu den Mitgliedern seines Kreises gesellte, war dort ein aufgeregtes Gespräch im Gange. Alle waren anwesend, nicht nur die sechs, mit denen er an diesem Morgen gearbeitet hatte. Er fing Renatas Blick auf. Sie war blaß vor Angst. Er fragte Barak, der am Rande der Gruppe stand: »Was ist los? Was ist passiert?«
»Wir haben Krieg. Die Ridenows haben mit Bogenschützen und Haftfeuer-Pfeilen einen Angriff auf Burg Hastur gestartet und belagern die Kilghard-Hügel mit Luftwagen. Jeder taugliche Mann der Hasturs und Aillards ist ausgerückt, um das in den Wäldern wütende Feuer zu bekämpfen oder die Burg zu verteidigen. Wir haben es von den Verstärkern in Neskaya erfahren. Arielle war in den Verstärkernetzen und hat gehört…«
»Alle Götter!« entfuhr es Allart. Cassandra erschien und blickte besorgt zu ihm auf.
»Wird Lord Damon-Rafael nach dir schicken, mein Gatte? Mußt du in den Krieg ziehen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Allart. »Ich war lange im Kloster, und mein Bruder wird möglicherweise glauben, daß ich in Kriegsführung und Strategie zu wenig geübt bin. Vielleicht macht er einen seiner Friedensmänner zum Kommandanten.« Er schwieg nachdenklich. Wenn einer von uns gehen muß, ist es vielleicht besser, wenn ich es bin. Wenn ich nicht zurückkehre, wird Cassandra frei sein. Wir würden dann dieser hoffnungslosen Situation entkommen. Mit tränenerfülltem Blick sah Cassandra zu ihm auf, aber sein Gesicht blieb kalt und gefühllos. Er sagte: »Warum ruhst du nicht? Renata sagte, du seist krank. Solltest du nicht besser das Bett hüten?«
»Ich habe das Gerede über den Krieg gehört und Angst bekommen«, antwortete sie und versuchte, seine Hand zu nehmen. Allart zog sie behutsam zurück und wandte sich Coryn zu.
Der Bewahrer sagte: »Ich hielte es für besser, wenn du hierbliebst, Allart. Du besitzt die Kraft, die unsere Arbeit erleichtert. Zweifellos wird man uns bald auffordern, Haftfeuer herzustellen. Und da wir Renata verlieren werden …«
»Wird sie uns verlassen?«
Coryn nickte. »Sie ist in diesem Krieg neutral. Ihr Vater hat uns wissen lassen, daß sie mit einem Geleitschutz nach Hause geschickt werden soll. Er wünscht, daß sie den Kampfbereich sofort verläßt. Es tut mir immer leid, eine gute Überwacherin zu verlieren,« sagte er, »aber ich glaube, Cassandra wird nach einiger Übung ebenso geschickt sein. Die Überwachertätigkeit ist nicht schwer, aber Arielle ist als Technikerin besser. Glaubst du Renata, daß du genug Zeit hast, Cassandra in der Technik des Überwachens zu unterrichten, bevor du gehst?«
»Ich werde es versuchen«, sagte Renata, die gerade zu ihnen trat. »Solange ich kann, werde ich hierbleiben. Ich will den Turm nicht verlassen …« Sie warf Allart einen hilfesuchenden Blick zu. Er erinnerte sich daran, was sie ihm erst an diesem Morgen erzählt hatte.
»Mir würde es leid tun, dich gehen zu sehen, Cousine«, sagte er, und nahm ihre Hände sanft in die seinen.
»Ich würde lieber bei euch bleiben«, sagte Renata. »Wäre ich doch nur ein Mann und könnte frei wählen!«
»Ach, Renata«, erwiderte Allart, »auch uns steht es nicht frei, dem Krieg oder den Gefahren auszuweichen. Ich kann als Hastur-Fürst ebenso gegen meinen Willen in die Schlacht geschickt werden, wie der rangniedrigste Vasall meines Bruders.«
Sekundenlang standen sie mit verschränkten Händen, ohne zu sehen, daß Cassandras sie ansah und die Halle verließ. Schließlich gesellte sich Coryn wieder zu ihnen.
»Wie wir dich brauchen werden, Renata! Lord Damon-Rafael hat uns bereits beauftragt, einen neuen Vorrat an Haftfeuer anzulegen, und ich habe eine neue Waffe entwickelt, die ich unbedingt ausprobieren will.« Er nahm so unbefangen und vergnügt im Fensterbogen Platz, als entwickele er eine neue Sportart oder ein Gesellschaftsspiel. »Es ist eine Vorrichtung, die zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Sie ist auf eine Fallen-Matrix eingestellt und so gerichtet, daß sie nur einen bestimmten Feind tötet, dem es nichts nützt, wenn sich Friedensmänner schützend vor ihn werfen. Selbstverständlich ist es unerläßlich, ein Gedankenmuster des Opfers zur Hand zu haben, vielleicht Schwingungen eines erbeuteten Kleidungsstückes oder ein Schmuckstück, das er am Körper getragen hat. Eine solche Waffe kann keinem anderen schaden, da sie von dem besonderen Muster seines Verstandes ausgelöst wird.« Renata schauderte. Allart streichelte geistesabwesend ihre Hand. »Haftfeuer ist zu schwierig herzustellen«, sagte Arielle. »Ich wünschte, man könnte eine bessere Waffe erfinden. Zuerst müssen wir den roten Stoff aus der Erde fördern und ihn Atom für Atom trennen, indem wir ihn bei großer Hitze destillieren. Das ist sehr gefährlich. Als ich das letzte Mal damit arbeitete, ist einer der gläsernen Behälter explodiert. Zum Glück trug ich Schutzkleidung, aber selbst damit…« Sie streckte eine Hand aus, damit man die häßliche, vernarbte Wunde, die einen tiefen Eindruck in ihrem Fleisch hinterlassen hatte, sehen konnte. »Nur ein Körnchen, aber es brannte bis auf den Knochen und mußte herausgeschnitten werden.«
Coryn hob die Hand des Mädchens an seine Lippen und küßte sie. »Du trägst eine ehrenvolle Kriegsnarbe, Preciosa. Das können nicht viele Frauen von sich sagen. Ich habe Kessel entwickelt, die auch bei größter Hitze nicht zerbrechen. Wir haben einen Bindezauber über sie gelegt, der sie am Zerplatzen hindert, ganz gleich, was passiert. Selbst wenn sie zerbrechen, wird der Bindezauber sie zusammenhalten, daß sie ihre Form behalten, anstatt auseinanderzufliegen und die Umherstehenden zu verletzen.«
»Wie ist dir das gelungen?« fragte Mira.
»Das war einfach«, erwiderte Coryn. »Man stellt ihr Muster auf eine Matrix ein, damit sie keine andere Form annehmen können. Sie können splittern, und ihr Inhalt kann ausfließen, aber sie können nicht auseinanderbrechen. Zerschmettert man sie, werden die Bruchstücke früher oder später sachte zu Boden gleiten – wir können die Schwerkraft nicht ganz ausschalten –, aber sie besitzen dann nicht mehr genug Energie, um jemanden zu schneiden. Aber um mit einer Matrix auf der NeunerEbene zu arbeiten, wie es bei der Herstellung von Haftfeuer notwendig ist, brauchen wir einen Kreis von neun Mitgliedern und einen Techniker oder Bewahrer, um den Bindezauber über die Kessel aufrechtzuerhalten. Ich frage mich«, fuhr Coryn mit einem Blick auf Allart fort, »ob du mit etwas Übung nicht Bewahrer werden könntest.«
»Ich habe keinerlei Ehrgeiz in dieser Richtung.«
»Aber es würde dich vom Krieg fernhalten«, sagte Coryn offen. »Wenn er dir Gewissensbisse bereitet, denke daran, daß du hier nützlicher bist und durchaus nicht ungefährdet. Keiner von uns ist ohne Narben.« Er hob seine Hände, die tiefe, längst verheilte Brandwunden aufwiesen. »Ich habe einmal einen Rückfluß auffangen müssen, als ein Techniker zauderte. Die Matrix war wie glühende Kohle. Ich dachte, sie würde wie Haftfeuer bis auf meine Knochen brennen. Und was das Leiden angeht – wenn wir in Neuner-Kreisen Tag und Nacht Waffen herstellen – nun, das werden wir haben, und ebenso unsere Frauen.«
Arielle wurde rot, als die umherstehenden Männer leise zu lachen begannen. Sie wußten alle, was Coryn meinte: Bei Männern war der wesentliche Nebeneffekt der Matrix-Arbeit langanhaltende Impotenz. Als er Allarts gezwungenes Lächeln sah, kicherte Coryn erneut. »Vielleicht sollten wir alle Mönche und dafür geübt sein, das zusammen mit Kälte und Hunger zu ertragen«, meinte er lachend. »Allart, sag mir: Ich habe gehört, daß du auf dem Weg von Nevarsin von einem explodierenden Haftfeuer-Gerät angegriffen wurdest und es schafftest, es abzuwehren. Erzähl mir davon.«
Allart berichtete von dem Zwischenfall, soweit er sich daran erinnern konnte. Coryn nickte ernst. »An solch ein Geschoß hatte ich gedacht. Man müßte es hochzerbrechlich konstruieren und mit Haftfeuer oder gewöhnlichen Brandstoffen füllen. Ich habe eines, das einen ganzen Wald in Brand setzt, daß man Männer vom Kampf abziehen muß, um das Feuer zu bekämpfen. Und ich habe eine Waffe, die den ausgefallenen Ohrringen ähnelt, die unsere Handwerker herstellen. Man kann mit Hämmern auf sie einschlagen und Tiere können auf ihnen herumtrampeln, ohne daß sie zerbrechen. Aber die kleinste Berührung eines langen Glasschwanzes reicht aus, um sie in tausend Stücke zersplittern zu lassen. Man kann diese Waffe nicht wie jene, die man gegen deinen Vater ausschickte, vorzeitig zur Explosion bringen. Absolut nichts wird sie detonieren lassen, außer den auslösenden Gedanken desjenigen, der sie ausgeschickt hat. Mir tut es nicht leid, daß der Waffenstillstand beendet ist. Wir müssen eine Möglichkeit haben, diese Waffen irgendwo auszuprobieren!«
»Würden sie doch für immer unerprobt bleiben!« sagte Allart schaudernd.
»Ah, da spricht der Mönch«, meinte Barak. »Einige weitere Jahre werden dich von solch verräterischem Unsinn kurieren, mein Junge. Die Ridenow-Usurpatoren, die in unser Reich eindringen, sind zahlreich und fruchtbar – einige sogar Väter von sechs oder sieben Söhnen –, und sie sind alle hungrig nach Land. Von den sieben Söhnen meines Vaters starben zwei bei der Geburt und ein dritter, als das Laran über ihn kam. Dennoch scheint es mir fast noch schlimmer zu sein, viele Söhne zu haben, die das Mannesalter erreichen. Denn dann muß jeder Besitz in Stückchen geschnitten werden, um sie alle zu unterstützen. Oder sie müssen ausziehen, wie es die Ridenows getan haben, um sich Land zu erobern, über das sie herrschen können.«
Coryn lächelte ohne Heiterkeit. »Das ist wahr«, bekräftigte er. »Ein Sohn ist notwendig, so notwendig, daß man alles tun wird, um sein Überleben sicherzustellen. Wenn man aber zwei hat, ist es schon zuviel. Ich war der jüngere Sohn. Mein älterer Bruder ist hocherfreut, daß ich hier als Bewahrer lebe, machtlos in den großen Geschehnissen unserer Tage. Dein Bruder ist liebevoller, Allart – zumindest hat er dich in die Ehe gegeben.«
»Ja«, gab Allart zurück, »aber ich habe geschworen, seinen Anspruch auf den Thron zu unterstützen, wenn König Regis – lang möge seine Herrschaft währen – etwas zustoßen sollte.«
»Seine Herrschaft dauert schon zu lange«, sagte ein Bewahrer aus einem der anderen Kreise. »Aber ich freue mich nicht gerade auf das, was geschehen wird, wenn dein Bruder und Prinz Felix anfangen, um den Thron zu streiten. Krieg mit Ridenow ist übel genug, aber ein Bruderkrieg im Hastur-Reich wäre weit schlimmer.«
»Prinz Felix ist ein Emmasca, habe ich gehört«, sagte Barak. »Ich glaube nicht, daß er um den Erhalt seiner Krone kämpfen wird – Eier können gegen Steine nichts ausrichten.«
»Nun, er ist einigermaßen sicher, solange der alte König lebt«, warf Coryn ein. »Aber danach ist es nur eine Frage der Zeit, bis er herausgefordert und öffentlich vorgeführt wird. Wen, frage ich mich, haben sie bestochen, um ihn als ersten Erben zu benennen? Aber vielleicht hast du Glück gehabt, Allart, denn dein Bruder braucht deine Unterstützung dringend genug, daß er eine Frau für dich wählte, die in der Tat liebenswürdig und einnehmend ist.«
»Ich glaubte sie noch vor einem Augenblick gesehen zu haben«, sagte der andere Bewahrer, »aber jetzt ist sie fort.«
Allart blickte suchend umher. Er war plötzlich von einer namenlosen Angst erfüllt. Eine Gruppe jüngerer Frauen des Turms tanzte am anderen Ende des langen Raums; er hatte sie unter ihnen vermutet. Erneut sah er sie tot in seinen Armen liegen … und verscheuchte das Bild als eine Illusion, die seiner Angst und geistigen Unruhe entsprang. »Vielleicht ist sie wieder auf ihr Zimmer gegangen. Renata hat ihr empfohlen, das Bett zu hüten, denn sie fühlte sich nicht wohl. Ich war überrascht, daß sie überhaupt heruntergekommen ist.«
»Aber in ihrem Zimmer ist sie nicht«, sagte Renata, die sich ihnen näherte. Allarts Gedanken aufgreifend wurde sie blaß. »Wo kann sie hingegangen sein, Allart? Ich bin hinaufgegangen, sie zu fragen, ob ich sie als Überwacherin einweisen solle, aber sie ist überhaupt nicht im Turm.«
»Gnädiger Avarra!« Plötzlich brachen die sich verzweigenden Zukunftsmöglichkeiten wieder über ihn herein, und Allart wußte, wohin Cassandra gegangen war. Ohne ein Wort der Erklärung wandte er sich von den Männern ab, eilte hinaus, ging durch Hallen und Flure und verließ durch das Kraftfeld den Turm.
Die Sonne, eine große rote Kugel, hing wie Feuer auf den fernen Hügeln und bedeckte den See mit Flammen.
Sie hat mich bei Renata gesehen. Ich wollte ihre Hand nicht berühren, obwohl sie weinte – aber Renata habe ich vor ihren Augen geküßt. Es war rein freundschaftlich gemeint, wie man einer Schwester gegenüber zärtlich ist, und nur, weil ich Renata ohne diese Qual aus Liebe und Schuld berühren kann. Cassandra hat zugesehen, aber nichts verstanden …
Er rief Cassandras Namen, bekam aber außer den weichen, plätschernden Lauten des Wolkenwassers keine Antwort. Allart warf den Umhang ab und fing an zu laufen. Am äußersten Rand des Ufersandes sah er zwei kleine, hochhackige Sandalen, blau gefärbt. Cassandra hatte sie nicht achtlos ausgezogen, sondern mit äußerster Gewissenhaftigkeit nebeneinander gestellt, als sei sie zaudernd hier niedergekniet. Allart zog hastig seine Stiefel aus und rannte in den See hinein.
Die merkwürdigen Wolkenwasser hüllten ihn trübe und fremdartig ein. Das dichte, neblige Gefühl umgab ihn. Er atmete, spürte die merkwürdige anregende Wirkung und konnte ziemlich deutlich sehen, wie durch den dünnen Nebel glänzende Gestalten – Fische oder Vögel? – an ihm vorbeiglitten. Das schimmernde Orange und Grün ähnelte keiner Farbe, die er je gesehen hatte, außer den Lichtern hinter seinen Augen, wenn er eine Dosis der telepathischen Droge Kirian eingenommen hatte, die das Gehirn öffnete … Allart spürte, wie leicht sich seine Füße auf dem pflanzenbewachsenen Grund bewegten, als er anfing, durch den See zu laufen.
Irgend etwas war hier vorbeigekommen, ganz sicher. Die Fischvögel sammelten sich in Gruppen, die in den Wolkenströmen umhertrieben. Allart spürte, wie seine Füße langsamer wurden. Das schwere Gas fing nun an, ihn zu bedrücken. Er sandte einen verzweifelten Schrei aus: »Cassandra!« Aber die Wolke schien keinen Laut weiterzuleiten. Es war wie auf dem Grund eines tiefen Brunnens, dessen Stille ihn verschlang. Selbst in Nevarsin hatte er solche Ruhe nie erfahren. Lautlos trieben die Fisch-Vögel an ihm vorbei. Ihre leuchtenden Farben erzeugten in seinem Gehirn Reflexionen. Er war benommen, fühlte sich schwindlig. Er zwang sich zu atmen, als ihm einfiel, daß in dieser seltsamen Wolke das Element, das den Atemreflex in seinem Gehirn auslöste, nicht vorhanden war. Er mußte mit Mühe und Willenskraft Luft holen.
»Cassandra!«
Ein schwaches, fernes Flackern …
»Geh weg …« Und schon war es wieder fort.
Atmen! Allart begann zu ermüden. Die Pflanzen wuchsen hier tiefer und dichter, und er mußte sich seinen Weg durch sie erkämpfen. Atmen! Ein und aus, denk daran, zu atmen … Er spürte wie sich ein langer, schleimiger Pflanzenarm um seinen Knöchel legte, bückte sich und löste ihn. Atmen! Er zwang sich vorwärts, selbst als die leuchtend gefärbten Fisch-Vögel sich um ihn scharten und ihre Farben vor seinen Augen zu verschwimmen begannen. Sein Laran überfiel ihn, wie immer, wenn er besorgt oder ermüdet war, und er sah sich selbst hinabsinken, hinab in Gas und Schlick, sah sich still und zufrieden dort liegen, in glücklichem Frieden ersticken, weil er vergessen hatte, wie man atmete … Atmen! Allart kämpfte, zog noch einen feuchten Atemzug des Gases ein und erinnerte sich daran, daß es sein Leben verlängerte. Die einzige Gefahr bestand darin, daß man das Atmen vergaß. Hatte Cassandra diesen Punkt schon erreicht? Lag sie schon, einen schmerzlosen, ekstatischen Tod sterbend, auf dem Grunde des Sees?
Sie wollte sterben, und ich bin schuldig … Atmen! Denk jetzt an nichts anderes, denk nur ans Atmen …
Er sah sich eine stille, leblose Cassandra aus dem See tragen. Ihr langes Haar lag schwarz und tropfend über seinem Arm … Sah, wie er sich über sie beugte, während sie in den wogenden Gräsern des Sees lag; sah sich sie in die Arme nehmend, neben ihr niedersinken …
Die Fisch-Vögel bewegten sich hektisch. Vor seinen Füßen sah er ein blasses Blau aufflackern, eine Farbe, die auf dem Grund des Sees nie zu sehen war. War es der lange Ärmel von Cassandras Gewand? Atmen … Allart beugte sich über sie. Sie lag auf der Seite, ihre Augen waren offen und regungslos. Ein schwaches, erfreutes Lächeln war auf ihren Lippen, aber sie war zu weit fort, um ihn zu sehen. Sein Herz zog sich zusammen, als er sich über sie beugte. Leicht hob er sie in seine Arme. Sie war bewußtlos, schwach, ihr Körper lehnte sich in der wogenden Umgebung schlaff gegen ihn. Atmen’. Atme in ihren Mund. Es ist das Gas unseres ausgestoßenen Atems, das den Vorgang auslöst… Allart verstärkte den Griff der Arme, legte seine Lippen auf die ihren und zwang seinen Atem in ihre Lungen. Wie im Reflex holte sie Luft, ein langer, tiefer Atemzug, und war wieder reglos.
Allart hob sie hoch. Er begann sie über den Grund des Sees zu tragen, durch das trübe wolkige Licht, das jetzt von der untergehenden Sonne rötlich gefärbt wurde, und plötzlich packte ihn Entsetzen. Wenn es dunkel wird, wenn die Sonne untergeht, werde ich den Weg zum Ufer niemals finden. Wir werden hier zusammen sterben. Er beugte sich wieder über sie und zwang seinen ausgestoßenen Atem in ihren Mund. Erneut spürte er, wie sie sich regte. Aber der automatische Atmungsmechanismus Cassandras war verschwunden. Er wußte nicht, wie lange sie ohne ihn überleben konnte, selbst mit dem Sauerstoff der reflexhaften Atemzüge, die er sie alle zwei oder drei Schritte zu nehmen zwang. Er mußte sich beeilen, bevor das Licht verschwand. Allart kämpfte sich mit ihr durch die zunehmende Dunkelheit und mußte alle zwei oder drei Schritte anhalten, um ihr wieder Leben einzuatmen. Ihr Herz schlug. Wenn sie doch nur Luft holte … Wenn er sie doch nur weit genug aus der Ohnmacht holen konnte, damit ihr klar wurde, daß sie atmen mußte …
Die letzten Schritte waren wie ein Alptraum. Cassandra war eine schlanke, zarte Frau, aber Allart war auch kein übermäßig großer Mann. Als der Nebel niedriger wurde, gab er schließlich den Versuch auf, und zerrte sie weiter, indem er sich hinabbeugte und ihr unter die Achseln griff. Alle zwei oder drei Schritte blieb er stehen, um seinen Atem in ihre Lungen zu zwingen. Endlich stieß sein Kopf wieder auf Sauerstoff, den er zitternd, mit rasselnden Lungen, einatmete. Allart zerrte Cassandra mit letzter Mühe hoch, hielt ihren Kopf aus dem nebelhaften Gas heraus, taumelte wie betäubt aufs Ufer zu und brach neben ihr auf dem Gras zusammen. Er lag da, atmete in ihren Mund und drückte ihre Rippen, bis Cassandra anfing zu keuchen und einen klagenden Schrei ausstieß, der dem eines neugeborenen Kindes, dessen Lungen sich mit dem ersten Atemzug füllten, nicht unähnlich war. Schließlich atmete sie wieder normal. Obwohl sie noch immer bewußtlos war, spürte er nach kurzer Zeit in der zunehmenden Dunkelheit, wie ihre Gedanken die seinen berührten. Dann flüsterte sie, noch immer geschwächt: »Allart? Bist du es?«
»Ich bin hier, mein Liebes.«
»Mir ist so kalt.«
Allart hob seinen Umhang auf und wickelte sie ein. Er hielt sie fest umarmt und murmelte endlose Koseworte.
»Preciosa … Bredhiva … Mein Schatz, mein Geliebtes, warum… Wie … Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren. Warum wolltest du mich verlassen?«
»Dich verlassen?«, flüsterte sie. »Nein. Aber es war so friedlich im See, und ich wollte nicht mehr, als für immer in der Stille zu bleiben, keine Furcht mehr zu haben und nicht mehr zu weinen. Ich glaubte, dich nach mir rufen zu hören, aber ich war so müde … Ich habe mich nur hingelegt, um ein wenig auszuruhen. Ich war schläfrig und konnte nicht mehr aufstehen. Ich konnte plötzlich nicht mehr atmen und hatte Angst… Und dann bist du gekommen … Aber ich weiß, daß du mich nicht liebst.«
»Ich soll dich nicht lieben? Nicht wollen? Cassandra …« Allart merkte, daß er nicht sprechen konnte. Er zog sie fest an sich und küßte ihre kalten Lippen.
Später nahm er sie wieder auf die Arme und trug sie in den Turm. Die Mitglieder der Matrixkreise, die dort versammelt waren, starrten ihn erschreckt und überrascht an, aber in Allarts Blick war etwas, das sie davon abhielt, zu reden oder sich dem Paar zu nähern. Er fühlte, daß Renata ihn beobachtete und die Neugier und das Entsetzen aller. Ohne darüber nachzudenken, sah er sich, wie sie in ihren Augen erscheinen mußten: durchnäßt und mit verschmutzten Kleidern, ohne Stiefel, Cassandras aufgeweichte Kleider, die den um sie gewickelten Umhang durchnäßten, ihr langes schwarzes Haar, aus dem Feuchtigkeit strömte. Der ernste Ausdruck seines Gesichts ließ sie, als er durch die Halle und die lange Treppe hinauf schritt, zur Seite treten. Allart brachte sie zu seinem eigenen Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und verschloß sie. Er kniete neben Cassandra hin, zog ihr mit zitternden Händen die durchnäßte Kleidung aus und wickelte sie warm ein. Sie war still wie der Tod, lag bleich und bewegungslos auf dem Kissen, ihr feuchtes Haar hing leblos herab.
»Nein«, flüsterte sie, »du willst den Turm verlassen und hast mir nicht einmal davon erzählt. Ich wäre besser gestorben, als allein mit all den andern hierzubleiben, die mich verspotten, weil sie wissen, daß ich verheiratet, aber keine Ehefrau bin und du mich weder liebst noch begehrst.«
»Ich soll dich nicht lieben?« flüsterte Allart. »Ich liebe dich, wie mein gesegneter Ahnherr vor Jahrhunderten Robardins Tochter an den Ufern von Hali liebte. Und ich soll dich nicht begehren, Cassandra?« Er drückte sie an sich, bedeckte sie mit Küssen, und spürte, wie er Leben in sie hauchte, wie der Atem seiner Lungen ihr in den Tiefen des Sees Leben gegeben hatte. Er war fast jenseits aller Vernunft, jenseits der Erinnerung an das Gelöbnis, das sie einander gemacht hatten, aber ein letzter verzweifelter Gedanke durchzuckte seinen Verstand, bevor er die Dekken beiseite zog.
Ich darf sie nie fortlassen, nicht jetzt. Gnädiger Avarra, habe Erbarmen mit uns!

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