Stephen, Lord Elhalyn, wurde in der
traditionellen Grabstätte an den Ufern von Hali zur letzten Ruhe
gebettet. Die ganze Hastur-Verwandtschaft der Tiefland-Reiche, von
den Aillards auf den Ebenen von Valeron, bis zu den Hasturs von
Carcosa, war gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Selbst
König Regis, gebeugt und greisenhaft, zum Reiten fast schon zu
gebrechlich, hatte, gestützt auf den Arm seines einzigen Sohnes, am
Grab seines Halbbruders gestanden.
Prinz Felix, Erbe des Throns von Thendara und der Krone der Reiche,
war gekommen, um Allart und Damon-Rafael zu umarmen, wobei er sie
»teure Cousins« nannte. Felix war ein schmächtiger, weichlicher
junger Mann mit vergoldetem Haar und farblosen Augen, und er hatte
das lange, schmale Gesicht und die Hände der Chieri-Blütigen. Als
die Begräbniszeremonien beendet waren, gab es eine große Feier,
Dann wurde der alte König, der auf sein hohes Alter und seine
schwache Gesundheit hinwies, von seinen Höflingen nach Hause
gebracht, aber Felix blieb, um den neuen Lord von Elhalyn,
Damon-Rafael, zu ehren.
Selbst der Ridenow-Fürst hatte einen Abgesandten vom fernen Serrais
geschickt, der unaufgefordert einen Waffenstillstand für zweimal
vierzig Tage anbot.
Allart, der die Gäste in der Halle begrüßte, erblickte plötzlich
ein Gesicht, das er kannte – obwohl er es nie mit eigenen Augen
gesehen hatte. Dunkles Haar, wie eine Wolke aus Dunkelheit unter
einem blauen Schleier; graue Augen, aber von so dunklen Wimpern
überschattet, daß sie einen Augenblick lang so dunkel wie die eines
Tieres wirkten. Allart fühlte, als er auf das Gesicht der dunklen
Frau blickte, deren Gesicht ihn so viele Tage verfolgt hatte, ein
merkwürdiges Stechen in der Brust. »Cousin«, sagte sie höflich, und
er konnte den Blick nicht, wie es der Brauch vor einer
unverheirateten, ihm fremden Frau verlangte, von ihr
abwenden.
Ich kenne dich gut. Du hast mich im Traum und
Wachzustand verfolgt, und ich bin bereits mehr als nur halb in dich
verliebt … Erotische Visionen stürmten, unpassend in dieser
Umgebung, auf ihn ein. Er versuchte gegen sie
anzukämpfen.
»Cousin«, sagte sie noch einmal, »warum starrst du mich auf so
unziemliche Weise an?«
Allart spürte das Blut in seinen Kopf steigen; es war tatsächlich
unhöflich, fast schon unverschämt, eine Frau, die ihm fremd war, so
anzustarren, und er errötete bei dem Gedanken, daß sie Laran besitzen könnte und die Visionen, die ihn
quälten, möglicherweise bemerkte. Schließlich fand er seine Stimme
wieder.
»Aber ich bin kein Fremder für dich, Damisela. Und es ist auch keine Unhöflichkeit, daß
ein Mann seiner Braut direkt ins Gesicht schaut. Ich bin Allart
Hastur. Ich werde bald dein Gatte sein.«
Sie hob den Kopf und erwiderte offen seinen Blick, aber ihre Stimme
verriet Spannung. »Ah, das ist es also? Aber ich kann schwerlich
glauben, daß du mein Bild in dir getragen hast. Wir haben uns zum
letzten Mal gesehen, als ich ein Mädchen von vier Jahren war. Ich
habe gehört, Dom Allart, du solltest dich nach Nevarsin
zurückgezogen haben, daß du krank warst, ein Mönch sein und dein
Erbe aufgeben wolltest. War das alles nur müßiges
Geschwätz?«
»Es stimmt, daß ich eine Zeitlang solche Pläne hatte. Ich habe
sechs Jahre bei den Brüdern von Sankt-Valentin-im-Schnee gewohnt,
und wäre gerne dort geblieben.«
Wenn ich diese Frau liebe, werde ich sie
zerstören … Ich werde Kinder zeugen, die Monster sind… Und sie wird
sterben, wenn sie sie zur Welt bringt… Gebenedeite Cassilda,
Urmutter der Reiche, laß mich nicht so viel von meinem Schicksal
sehen. Ich kann so wenig tun, um es abzuwenden …
»Ich bin weder krank noch verrückt, Damisela. Du brauchst mich nicht zu
fürchten.«
»Tatsächlich«, sagte die junge Frau – und wieder begegneten sich
ihre Blicke – »du scheinst keineswegs geisteskrank zu sein. Aber du
siehst besorgt aus. Ist es der Gedanke an unsere Heirat, der dir
Sorgen macht, Cousin?«
Nervös lächelnd erwiderte Allart: »Sollte ich nicht sehr zufrieden
sein, zu sehen, welche Schönheit und Anmut die Götter meiner Braut
gegeben haben?«
»Oh!« Ungeduldig bewegte sie ihren Kopf. »Das ist nicht die Zeit
für hübsche Reden und Schmeicheleien, Cousin! Bist du einer von
denen, die glauben, eine Frau sei ein törichtes Kind, das man mit
ein oder zwei höflichen Komplimenten entläßt?«
»Glaub mir, ich wollte nicht unhöflich zu dir sein, Lady
Cassandra«, sagte Allart, »aber man hat mich gelehrt, daß es
ungebührlich ist, die eigenen Sorgen und Ängste mit anderen zu
teilen, solange sie noch keine konkrete Gestalt angenommen
haben.«
Erneut der schnelle, direkte Blick aus den wimpernbeschatteten
Augen. »Ängste, Cousin? Aber ich bin harmlos und ein Mädchen! Ein
Fürst der Hasturs fürchtet sicherlich gar nichts, und ganz gewiß
nicht die ihm versprochene Braut!«
Vor ihrem Sarkasmus wich er zurück. »Willst du die Wahrheit hören?
Ich besitze eine seltene Form des Laran; sie besteht nicht nur aus der Vorausschau.
Ich sehe nicht nur die Zukunft, die sein wird, sondern alle
Möglichkeiten, die sie bieten könnte. Ich sehe die Dinge, die sich
bei Fehlschlägen ereignen könnten – und es gibt Momente, in denen
ich weder sagen kann, welche davon durch Ursachen der Gegenwart
hervorgerufen, noch, welche aus meiner Angst geboren werden. Ich
bin nach Nevarsin gegangen, um dies zu bewältigen.«
Er hörte, wie sie überrascht einatmete.
»Avarras Gnade, welch ein Fluch, den du trägst! Und hast du ihn
bewältigt, Cousin?«
»Irgendwie schon, Cassandra. Aber wenn ich besorgt oder unsicher
bin, kommt er wieder über mich, so daß ich nicht allein die Freude
sehe, die die Heirat mit einer Frau wie dir mir bringen könnte.«
Wie körperlichen Schmerz in seinem Herzen spürte Allart das bittere
Bewußtsein all der Freuden, die sie kennenlernen könnten, vorausgesetzt, er schaffte es, sie dazu zu
bringen, seine Liebe zu erwidern. Er dachte an die künftigen Jahre,
die hell und freundlich sein können … Dann schlug er heftig die
innere Tür zu und verschloß seinen Geist vor allem. Cassandra war
keine Riyachiya, die man für ein kurzes
Vergnügen – ohne nachzudenken – nehmen konnte!
Barsch, ohne zu merken, wie der Schmerz seine Stimme rauh und seine
Worte kalt machte, sagte er: »Aber ich sehe ebenso alle Sorgen und
Katastrophen, die kommen können. Und bevor ich meinen Weg durch die
falschen Möglichkeiten, die meinen eigenen Ängsten entstammen,
nicht sehen kann, kann ich dem Gedanken an eine Heirat keine Freude
abgewinnen. Aber das soll keine Unhöflichkeit gegen dich sein.«
Cassandra erwiderte: »Ich bin froh, daß du mir das gesagt hast. Du
weißt sicher, daß meine Verwandten verärgert sind, weil unsere
Hochzeit nicht vor zwei Jahren, als ich das gesetzliche Alter
erreichte, stattfand. Sie meinten, du hättest mich beleidigt, indem
du in Nevarsin bliebst. Und sie wünschen jetzt, daß du ohne weitere
Verzögerung deinen Anspruch auf mich erhebst.« Ihre Augen funkelten
ironisch. »Nicht etwa, daß sie sich ein Sekal um mein Eheglück scheren, aber sie hören
einfach nicht auf, mich daran zu erinnern, wie nahe du dem Thron
stehst, wie glücklich ich mich schätzen kann, und wie ich dich mit
meinem Charme umgarnen muß, damit du mir nicht entkommen wirst. Sie
haben mich wie eine Modepuppe gekleidet, mein Haar mit Netzen aus
Kupfer und Silber geschmückt und mich mit Edelsteinen beladen, als
würdest du mich auf dem Markt kaufen wollen. Ich hatte beinahe
erwartet, daß du mir den Mund aufmachst, meine Zähne untersuchst,
und dich vergewisserst, daß meine Lenden und Fesseln kräftig sind!«
Allart konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Was das betrifft,
braucht deine Verwandtschaft keine Befürchtungen zu haben. Sicher
könnte kein lebender Mann irgendeinen Makel an dir
finden.«
»Oh, aber es gibt einen«, sagte sie offen. »Sie haben gehofft, daß
du ihn nicht bemerkst, aber ich werde nicht versuchen, es vor dir
zu verbergen.« Sie spreizte ihre schlanken, ringgeschmückten Hände.
Die schmalen Finger waren mit Edelsteinen überladen, aber es waren
sechs, und als sein Auge auf den
überzähligen fiel, wurde Cassandra tiefrot und versuchte, sie unter
dem Schleier zu verbergen. »Dom Allart, ich bitte dich, nicht auf
meine Mißbildung zu starren.«
»Sie erscheint mir nicht als Mißbildung«, sagte er. »Spielst du die
Rryl? Ich vermute, du kannst die
Akkorde viel müheloser anschlagen.« »Ja, so ist es …«
»Dann wollen wir es nie mehr als einen Mangel oder eine Mißbildung
betrachten, Cassandra«, sagte er, nahm die schlanken,
sechsfingrigen Hände in die seinen und preßte seine Lippen auf sie.
»In Nevarsin habe ich Kinder mit sechs oder sieben Fingern gesehen.
Ihre Extrafinger waren knochenlos oder ohne Sehnen, und konnten
weder bewegt, noch gebeugt werden. Aber wie ich sehe, kannst du sie
völlig kontrollieren. Ein wenig kann ich auch
musizieren.«
»Wirklich? Liegt das daran, daß du ein Mönch warst? Die meisten
Männer haben keine Geduld für solche Dinge, oder wenig Zeit, sie
neben der Kriegskunst zu erlernen.«
»Ich wäre lieber Musiker als Krieger«, sagte Allart und drückte
ihre schlanken Finger erneut gegen seine Lippen. »Die Götter mögen
uns in unserem Leben genug Frieden gewähren, um Lieder zu machen,
anstatt Kriege zu führen.« Als sie ihn, ihre Hand noch immer an
seinen Lippen, anlächelte, bemerkte er, daß Ysabet, Lady Aillard,
sie beobachtete, und ebenso sein Bruder Damon-Rafael. Sie sahen so
selbstzufrieden aus, daß es ihm Übelkeit bereitete. Sie
manipulierten ihn trotz seiner Ablehnung, ihrem Willen Genüge zu
tun! Er ließ Cassandras Hand los, als hätte er sich
verbrannt.
»Darf ich dich zu deinen Verwandten führen, Damisela?«
Als der Abend bei der dezenten, aber nicht
trüben Feier fortschritt – der alte Fürst war würdig zur Ruhe
getragen, und er besaß einen geeigneten Erben, so daß sein Reich
ohne Zweifel aufblühen würde –, suchte Damon-Rafael seinen Bruder
auf. Allart bemerkte, daß er trotz des Festes ziemlich ernst
war.
»Morgen reiten wir nach Thendara, wo ich zum Lord des Reiches
ernannt werde. Du mußt, als Wächter und auserwählter Erbe Elhalyns
mit uns reiten, Bruder. Ich habe keine ehelichen, sondern nur
NedestroSöhne. Und man wird keinen von
ihnen als meinen Erben anerkennen, bis nicht sicher ist, daß
Cassilde mir keinen schenken wird.« Er blickte mit einem kalten,
festen Blick durch den Raum zu seiner Frau hinüber. Cassilde
Aillard-Hastur war eine blasse, schmächtige Frau von blassem und
abgespanntem Aussehen.
»Das Reich wird in deinen Händen sein, Allart, und in einem
gewissen Sinn bin ich auf deine Gnade angewiesen. Wie heißt doch
das Sprichwort? ›Dein Rücken ist entblößt ohne Bruder .‹
«
Allart fragte sich, wie – bei allen Göttern – Brüder zu Freunden
werden konnten, wenn solche Erbgesetze galten. Allart hatte
keinerlei Ehrgeiz, seinen Bruder als Haupt des Reiches zu ersetzen
– aber würde DamonRafael das jemals glauben? Er sagte: »Ich hätte
es wirklich lieber, wenn du mich im Kloster gelassen hättest,
Damon.«
Damon-Rafaels Lächeln war zweifelnd, als fürchte er, die Worte
seines Bruders würden lediglich ein zwielichtiges Komplott
verbergen. »Wirklich? Ich habe dich mit der Aillard-Frau sprechen
sehen, und mir schien es offensichtlich zu sein, daß du die
Trauungszeremonie kaum erwarten kannst. Es ist wahrscheinlich, daß
du eher als ich einen ehelichen Sohn haben wirst. Cassilde ist
schwächlich, und deine Braut sieht kräftig und gesund
aus.«
Mit mühsam unterdrückter Wut erwiderte Allart: »Mich drängt es
nicht, zu heiraten!«
Damon-Rafaels Blick war düster. »Aber der Rat wird einen Mann
deiner Jahre nicht als Erben anerkennen, wenn du nicht zustimmst,
sofort zu heiraten. Es ist schändlich, daß ein Mann in den
Zwanzigern noch immer unverheiratet und ohne eigene Söhne ist.« Er
blickte Allart scharf an. »Ist es möglich, daß ich mehr Glück habe,
als ich erwarte? Bist du vielleicht ein Emmasca! Oder gar ein Männerfreund?«
Allart grinste gezwungen. »Ich bedaure, dich enttäuschen zu müssen.
Aber was den Emmasca angeht: Du hast
gesehen, wie ich ausgezogen und dem Rat vorgeführt wurde, als ich
ins Mannesalter kam. Und wenn du gewollt hast, daß ich ein
Männerfreund werde, hättest du verhindern sollen, daß ich zu den
Cristoferos kam. Aber ich werde zum
Kloster zurückkehren, wenn du möchtest.«
Einen Moment lang dachte er fast mit Heiterkeit daran, daß dies die
beste Lösung seiner Qual und Konfusion sein würde. Damon-Rafael
wollte nicht, daß er Söhne zeugte, die Rivalen seiner eigenen
waren; und so konnte er vielleicht dem Fluch entrinnen, Kinder in
die Welt zu setzen, die sein tragisches Laran weiterverbreiten würden. Wenn er nach
Nevarsin zurückkehrte … Der Schmerz, den dieser Gedanke ihm
bereitete, überraschte ihn.
Cassandra nie wiederzusehen …
Nicht ohne Bedauern schüttelte Damon-Rafael den Kopf. »Ich wage
nicht, die Aillards zu erzürnen. Sie sind unsere stärksten
Verbündeten in diesem Krieg. Und sie sind verärgert, daß Cassilde
das Bündnis nicht zementiert hat, indem sie mir einen Erben vom
Blut der Elhalyn und Aillard schenkte. Wenn du auf die Heirat
verzichtest, werde ich noch einen Feind haben, und daß dies die
Aillards werden, kann ich mir nicht leisten. Sie fürchten bereits
jetzt, daß ich eine bessere Partie für dich gefunden habe. Ich
weiß, daß unser Vater zwei Nedestro-Halbschwestern mit
modifizierten Genen für dich ausgesucht hat. Was würdest du tun,
wenn du von allen dreien Söhne bekommen solltest?«
Wie beim ersten Mal, als Dom Stephen davon gesprochen hatte, spürte
Allart Widerwillen in sich aufsteigen. »Ich habe meinem Vater
gesagt, daß ich das nicht wünsche.«
»Ich hätte es lieber, wenn alle Söhne von Aillard-Blut die meinen
wären«, sagte Damon-Rafael, »aber ich kann das dir versprochene
Mädchen nicht nehmen. Ich habe selbst eine Frau und kann eine Lady
eines so hervorragenden Clans nicht zu meiner Barragana machen. Es würde den Anlaß zu einer
Blutfehde geben! Wenn Cassilde bei der Geburt eines Kindes stürbe,
wie es in den letzten zehn Jahren fast jedes Mal zu erwarten war,
und künftig wieder geschehen kann, dann …« Sein Blick wanderte zu
Cassandra, die bei ihren weiblichen Verwandten stand und musterte
ihren Körper abschätzend vorn Scheitel bis zur Sohle. Allart fühlte
einen überraschenden Zorn. Wie konnte Damon-Rafael es wagen, so zu
reden? Cassandra war sein!
Damon-Rafael fuhr fort: »Fast bin ich geneigt, deine Heirat für ein
Jahr hinauszuzögern. Sollte Cassilde bei der Geburt des Kindes, das
sie jetzt trägt, sterben, besäße ich die Freiheit, Cassandra zu
meiner Frau zu machen. Ich vermute, die
Aillards würden sogar dankbar sein, wenn sie den Thron mit mir
teilen könnte.«
»Deine Rede ist Verrat«, sagte Allart, der jetzt wirklich
schockiert war. »König Regis sitzt noch auf dem Thron. Felix ist
sein ehelicher Sohn und wird ihm nachfolgen.«
Damon-Rafael zuckte verächtlich die Schultern. »Der alte König? Er
wird kein Jahr mehr leben. Ich stand heute neben ihm an Vaters
Grab. Und auch ich besitze ein wenig vom Vorausblick der Hasturs
von Elhalyn. Er wird vor dem nächsten Jahreszeitenwechsel ebenfalls
dort liegen. Und was Felix angeht – nun, ich habe die Gerüchte
gehört, und du zweifellos auch. Er ist Emmasca. Einer der Ältesten, die ihn ausgezogen
gesehen haben, war bestochen, sagt man, und ein anderer hatte
schlechte Augen. Was immer auch stimmen mag, er ist seit sieben
Jahren verheiratet, und seine Frau macht nicht den Eindruck, als
sei sie im Ehebett gut behandelt worden. Es hat bisher noch nicht
einmal das Gerücht gegeben, daß sie schwanger sei. Nein, Allart,
Verrat oder nicht, ich sage dir, daß ich innerhalb von sieben
Jahren auf dem Thron sein werde. Sieh mit deiner eigenen
Vorausschau in die Zukunft.« Allart sagte ganz ruhig: »Du wirst auf
dem Thron sitzen oder tot sein, mein Bruder.«
Damon-Rafael sah in feindselig an und sagte: »Die weibischen alten
Männer des Rates könnten den ehelichen Sohn eines jüngeren Bruders
dem Nedestro des älteren vorziehen.
Wirst du deine Hand in die Flamme Halis legen und geloben, daß du
den Anspruch meines Sohnes unterstützen wirst, sei er nun ehelich
oder nicht?«
Allart mühte sich, durch die vielen Bilder den richtigen Blick zu
finden: ein Königreich in Flammen, ein Thron in seinem Griff,
Stürme, die über die Hellers tobten, eine wankende Festung, als
werde sie von einem Erdbeben erschüttert – nein! Er war ein Mann des Friedens. Er hatte nicht
die Absicht, mit seinem Bruder um einen Thron zu kämpfen und die
Reiche sich durch das Blut eines schrecklichen Bruderkrieges töten
zu sehen. Allart beugte sein Haupt.
»Die Götter haben bestimmt, Damon-Rafael, daß du als ältester Sohn
meines Vaters geboren wurdest. Ich werde jeden Eid schwören, den du
forderst, mein Bruder und Fürst.«
In Damon-Rafaels Blick vermischte sich Triumph mit Verachtung.
Allart wußte, daß er, wenn ihre Positionen vertauscht gewesen
wären, bis zum Tod für sein Erbe hätte kämpfen müssen.
Sein Körper spannte sich vor Abneigung, als Damon-Rafael ihn
umarmte und sagte: »Ich werde also deinen Eid haben, und deine
starke Hand, um meine Söhne zu bewachen. Dann stimmt das alte Wort
vielleicht doch, und ich brauche meinen Rücken weder entblößt noch
mich bruderlos zu fühlen.«
Erneut blickte er bedauernd zu der in ihren blauen Schleier
gehüllten Cassandra hinüber. »Ich schlage vor – nein, du mußt deine
Braut nehmen. Alle Aillards wären beleidigt, machte ich sie zur
Barragana, und ich kann euch auch
angesichts der Möglichkeit, daß Cassilde sterben und ich frei sein
könnte, mich erneut zu vermählen, nicht unverheiratet
lassen.«
Cassandra in den Händen Damon-Rafaels, der sie nur als Schachfigur
einer politischen Allianz sah, die ihm die Unterstützung ihrer
Verwandten sicherte? Der Gedanke machte ihn krank. Doch Allart rief
sich seinen eigenen Entschluß ins Gedächtnis: keine Frau zu nehmen
und keine Söhne zu zeugen, die den Fluch seines Laran trugen. Er sagte: »Als Gegenleistung für
meine Unterstützung, Bruder, erspare mir diese Hochzeit.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Damon-Rafael bedauernd, »obwohl ich
Cassandra nur zu gerne selbst nehmen würde. Aber ich wage es nicht,
die Aillards auf diese Weise zu beleidigen. Mach dir nichts daraus,
vielleicht wird sie dir nicht lange eine Last sein. Sie ist jung,
und viele von den Aillard-Frauen sind bereits gestorben, als sie
ihr erstes Kind zur Welt brachten. Es ist wahrscheinlich, daß auch
ihr das widerfährt. Oder vielleicht ist sie wie Cassilde: zwar
fruchtbar, aber nicht fähig, lebende Kinder zu gebären. Wenn du
dafür sorgst, daß sie mehrere Jahre hintereinander schwanger wird
und Fehlgeburten hat, würden meine Söhne sicher sein, und niemand
könnte behaupten, daß du nicht das Beste für unseren Clan getan
hättest. Es würde ihre Schuld sein,
nicht deine.« »Ich würde eine Frau nicht so behandeln wollen!« warf
Allart ein. »Bruder, mir ist es völlig gleichgültig, wie du sie
behandelst, wenn du sie nur heiratest, mit ins Bett nimmst und die
Aillards durch verwandtschaftliche Bande an uns gefesselt sind. Ich
habe nur einen Weg vorgeschlagen, wie du sie loswerden kannst, ohne
deine eigene Männlichkeit in Mißkredit zu bringen.« Er zuckte die
Achseln und wechselte das Thema. »Aber genug davon. Morgen werden
wir nach Thendara reiten. Wenn die Erbschaftsangelegenheit erledigt
ist, werden wir zu deiner Hochzeit hierher zurückkehren. Trinkst du
mit mir?«
»Ich habe genug getrunken«, log Allart, von dem Wunsch beseelt,
jeden weiteren Kontakt mit seinem Bruder zu vermeiden. Sein
Vorausblick hatte richtig gesehen. In keiner der Welten der
Wahrscheinlichkeit stand irgendwo festgeschrieben, daß er und
Damon-Rafael Freunde sein würden, und wenn Damon-Rafael auf den
Thron gelangen sollte – und sein Laran
sagte ihm, daß das sehr gut möglich war –, konnte es sein, daß er
sein Leben und das seiner Söhne schützen mußte.
Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ein
weiterer Grund, weswegen ich keine Söhne zeugen darf, die mir
nachfolgen. Ich müßte wegen meines Bruders auch um sie
fürchten!
7
Voller Liebenswürdigkeit und beseelt von dem
Wunsch, seinen jungen Verwandten auszuzeichnen, hatte Seine Gnaden
Regis II. die Zustimmung erteilt, die Hochzeitszeremonie
durchzuführen. Sein runzliges Gesicht strahlte Freundlichkeit aus,
als er die zeremoniellen Worte sprach und die getriebenen
Kupfer-Armreife, die Catenas, zuerst um
Allarts und dann um Cassandras Handgelenke legte.
»Sichtbar getrennt«, sagte er, während er die Armreifen aufschloß,
»mögt ihr es nie im Geiste und im Herzen sein.« Sie küßten sich,
und er fuhr fort: »Mögt ihr für immer eins sein.«
Allart spürte, wie Cassandra zitterte, als sie vor dem König
standen, die Hände durch das kostbare Metall verbunden.
Sie hat Angst, dachte er, und das ist nicht verwunderlich. Sie weiß nichts von mir.
Ihre Verwandten haben sie an mich verkauft, wie einen Falken oder
eine Zuchtstute.
In früheren Zeiten (Allart hatte in Nevarsin einiges über die
Reichsgeschichte gelesen) waren Trauungen wie diese undenkbar
gewesen. Es wäre Frauen als eine Form von Selbstsucht ausgelegt
worden, hätten sie nur einem Mann allein Kinder geboren, und die
Gen-Auswahl war ausgeweitet worden, indem man die Anzahl der
möglichen Verbindungen erhöhte. Allart wunderte sich flüchtig, ob
dadurch das verdammenswerte Laran in
ihre Rasse hineingezüchtet worden war. Oder stimmte es etwa doch,
daß sie von den Götterkindern abstammten, die nach Hali gekommen
waren und Söhne gezeugt hatten, um über ihren Stamm zu herrschen?
Und stimmten die Geschichten der Kreuzungen mit den
nichtmenschlichen Chieri, die ihrer
Sippe sowohl die geschlechtlosen Emmasca, als auch die Gabe des Laran beschert hatten?
Was immer auch geschehen war, diese längst vergangenen und beinahe
vergessenen Zeiten der Gruppenehe waren in dem Moment verschwunden,
als die Familien anfingen, Macht zu erwerben. Erbfragen und das
Zuchtprogramm hatten die genaue Kenntnis der Vaterschaft notwendig
gemacht. Heute wird ein Mann nur an seinen
Söhnen gemessen, und eine Frau an der Fähigkeit, Söhne zu gebären –
und sie weiß, daß sie mir aus diesem Grund gegeben worden
ist!
Die Zeremonie näherte sich dem Ende, und Allart fühlte die Hand
seiner Frau kalt und zitternd in der seinen, als er sich vorbeugte,
um ihre Lippen kurz für den rituellen Kuß zu berühren. Er führte
sie in eine Explosion von Gratulationen, guten Wünschen und Beifall
der versammelten Verwandten und Edlen zum Tanz hinaus.
Hypersensibel, wie er war, spürte Allart die harschen Untertöne der
Glückwünsche und dachte, daß nur wenige von ihnen Wohlwollen
beinhalteten. Sein Bruder Damon-Rafael meinte seine guten Wünsche
wahrscheinlich ernst. Allart hatte an diesem Morgen vor den
heiligen Reliquien von Hali gestanden, seine Hand in das kalte
Feuer gelegt, das nur dann zu brennen begann, wenn der Sprecher
wußte, daß er einen Meineid schwor, und seine Ehre als Hastur dafür
verpfändet, seines Bruders Führerstellung im Clan und die Nachfolge
seiner Söhne auf den Thron zu unterstützen. Die anderen Verwandten
gratulierten ihm, weil er eine politisch mächtige Allianz mit dem
starken Clan der Aillards von Valeron geschlossen hatte. Vielleicht
aber hofften sie auch nur, sich durch weitere Hochzeiten mit den
Söhnen und Töchtern, die diese Vermählung hervorbringen konnte,
selbst mit ihm zu verbünden. Aber vielleicht machte ihnen der
Anblick einer Vermählung auch nur Freude, ebenso wie das Trinken,
die Tänze und die Ausgelassenheit, was eine willkommene
Unterbrechung der offiziellen Trauer um Dom Stephen darstellte. »Du
bist so still, mein Gatte«, sagte Cassandra.
Allart schreckte auf. Er hatte einen flehenden Unterton in ihrer
Stimme gehört. Für sie ist es noch schlimmer.
Das arme Mädchen. Ich wurde – irgendwie – bei dieser Eheschließung
berücksichtigt; ihr ist es noch nicht einmal erlaubt gewesen, ja
oder nein zu sagen. Warum tun wir das unseren Frauen an? Sie sind
es doch, durch die wir die kostbaren Erbeigenschaften, die uns
inzwischen soviel bedeuten, erhalten!
Sanft sagte er zu ihr: »Mein Schweigen hat nichts mit dir zu tun,
Damisela. Dieser Tag hat mir viel
nachzudenken gegeben, das ist alles. Aber ich bin ein Flegel, in
deiner Gegenwart so versunken zu grübeln.«
Ihre sanften Augen, von Wimpern so dicht überschattet, daß sie
dunkel wirkten, begegneten den seinen mit einem humorvollen
Funkeln. »Du behandelst mich schon wieder wie ein Mädchen, das man
mit einem netten Kompliment zum Verstummen bringen kann. Ich nehme
mir heraus, dich daran zu erinnern, daß es kaum geziemend ist, mich
Damisela zu nennen, wenn ich deine Frau
bin.«
»Oh Gott, ja«, sagte er zerknirscht. Sie blickte ihn an, und ein
schwaches Runzeln stahl sich über ihre glatten
Augenbrauen.
»Bist du so sehr abgeneigt, vermählt zu werden? Ich wurde seit
meiner Kindheit mit dem Wissen erzogen, daß ich so heiraten müßte,
wie meine Verwandten es von mir verlangten. Ich habe geglaubt, ein
Mann könne freier wählen.«
»Ich glaube, kein Mann ist frei, zumindest in den Reichen nicht.«
Er fragte sich, ob es deshalb soviel Lustbarkeiten bei einer
Hochzeit gab – so viele Tänze und Getränke – um die Söhne und
Töchter von Hastur und Cassilda vergessen zu lassen, daß sie um des
verfluchten Laran willen, das ihrem
Geschlecht Macht gab, wie Zuchthengste und Stuten herangezogen
wurden!
Aber wie konnte er es vergessen? Allart befand sich wieder im Griff
seines unscharf eingestellten Zeitgefühls, dem Fluch seines
Laran. Genau in diesem Augenblick
verzweigten sich wieder verschiedene Zukunftsentwicklungen: das
Land, lodernd im Krieg und Kampf, schwebende Falken wie jene, die
das Haftfeuer auf den Luftwagen geworfen hatten; große Gleiter mit
weiten Flügeln, an denen Männer hingen; in den Wäldern
aufflackernde Brände; merkwürdige schneebedeckte Gipfel aus den
Gebieten jenseits von Nevarsin, die er noch nie gesehen hatte; das
Gesicht eines Kindes, umgeben vom fahlen Glanz der Blitze…
Sind das alles Dinge, die tatsächlich in mein
Leben treten, oder nur solche, die möglich sind?
Hatte er überhaupt eine Kontrolle über irgendeine dieser Zukünfte,
oder würde ein unerbittliches Schicksal ihm alle auferlegen? So wie
es ihm Cassandra Aillard, die Frau, die jetzt vor ihm stand,
vorgesetzt hatte … Ein Dutzend Cassandras, nicht nur eine, die zu
ihm aufblickten – erhitzt von Liebe und Leidenschaft, die er, wie
er wußte, erregen konnte, verzerrt vor Haß und Abscheu (ja, auch
die konnte er erregen), schlaff vor Erschöpfung, mit einem Fluch
auf den Lippen in seinen Armen sterbend … Allart schloß die Augen
in dem vergeblichen Versuch, die Gesichter seiner Frau zu
verbannen.
Spürbar erregt sagte Cassandra: »Mein Gatte! Allart! Sag mir, was
mit dir nicht in Ordnung ist, ich bitte dich!«
Er wußte, daß er sie erschreckt hatte und versuchte, die auf ihn
einstürmenden Zukunftsvisionen unter Kontrolle zu bekommen, die
Techniken, die er in Nevarsin gelernt hatte, anzuwenden, das
Dutzend Frauen, zu dem sie geworden war – werden konnte, werden
würde – auf die eine zu reduzieren, die
jetzt vor ihm stand.
»Es hat nichts mit dir zu tun, Cassandra. Ich habe dir gesagt, daß
ich einen Fluch trage.«
»Gibt es nichts, das dir helfen kann?«
Ja, dachte er erregt, die beste Hilfe wäre gewesen, wenn keiner von uns je
geboren worden wäre; wenn unsere Vorfahren – sie mögen in Zandrus
schwärzester Hölle frieren – sich hätten zurückhalten können,
diesen Fluch in unser Geschlecht hineinzutragen! Er sprach
es nicht aus, aber sie fing den Gedanken auf, und ihre Augen
weiteten sich voll Bestürzung.
Aber dann brachen die Familienmitglieder in ihr sekundenlanges
Alleinsein ein. Damon-Rafael beanspruchte Cassandra mit einem
arroganten »Sie wird schon früh genug ganz dein sein, Bruder!« für
einen Tanz, und irgend jemand schob ein Glas in seine Hand und
verlangte, daß er sich an dem Fest beteiligte, das schließlich zu
seinen Ehren gegeben werde.
Im Versuch, inneren Aufruhr und Auflehnung zu verhehlen –
schließlich konnte er seine Gäste nicht für alles verantwortlich
machen –, ließ er sich überreden, zu trinken und mit jungen Mädchen
zu tanzen, die offensichtlich so wenig mit seiner Zukunft zu tun
hatten, daß ihre Gesichter beständig eines blieben und nicht von
den sich überschneidenden Wahrscheinlichkeiten des Laran verändert wurden. Er sah Cassandra erst
wieder, als Damon-Rafaels Frau Cassilde und ihre Cousine sie aus
der Halle zur traditionellen Gute-Nacht-Zeremonie
führten.
Der Brauch verlangte, daß die Braut und der Mann in der Gegenwart
der versammelten Edlen zu Bett gebracht wurden, als Beweis, daß die
Eheschließung gebührend vollzogen worden war. Allart hatte in
Nevarsin gelesen, daß es kurz nach der Einführung der Heirat zu
Zwecken der Vererbung eine Zeit gegeben hatte, in der auch der
öffentliche Verkehr üblich gewesen war. Glücklicherweise wußte er,
daß das nicht von ihm gefordert wurde. Es war ihm ohnehin unklar,
wie jemand das hatte schaffen können.
Es dauerte nicht mehr lange, und sie führten ihn im Tumult der
üblichen Scherze zu seiner Braut. Der Brauch verlangte ebenfalls,
daß das Nachtgewand einer Braut offenherziger war als alles, was
sie je zuvor getragen hatte – oder danach tragen würde. Das hatte
den Zweck, dachte Allart sarkastisch, daß alle sehen konnten, daß
sie keinen verborgenen Makel besaß, der ihren Wert als Zuchtobjekt
beeinträchtigen könnte. Mögen die Götter
geben, daß man sie nicht mit Drogen willfährig gemacht hat…
Aufmerksam sah er sie an, und versuchte zu erkennen, ob ihre
Pupillen durch Drogenanwendung geweitet waren oder ob man ihr
Aphrodisiaka eingegeben hatte. Er nahm an, daß dies für ein
Mädchen, das sich gegen einen völlig Fremden sträubte, barmherzig
war; niemand, vermutete Allart, konnte das Herz besitzen, ein
verängstigtes Mädchen zur Unterwerfung zu zwingen.
Und wieder einander widersprechende Zukunftsvisionen,
gegensätzliche Möglichkeiten und Bindungen, die sich in seinem
Geist zusammen mit Bildern der Begierde sammelten, und die anderen
Möglichkeiten, die sie tot in seinen Armen liegend zeigten,
verdrängen wollten. Was hatte Damon-Rafael gesagt? Daß alle ihre
Schwestern bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben waren
…
Mit einem Chor von Glückwünschen zogen die Verwandten sich zurück
und ließen sie allein. Allart stand auf und warf den Riegel des
Schlosses nach unten. Als er zurückkam, sah er die Furcht in ihrem
Gesicht und die tapfere Anstrengung, sie zu verbergen.
Fürchtet sie, daß ich wie ein wildes Tier über
sie herfalle? Laut sagte er: »Haben sie dich mit Aphrosone
oder einem anderen Trank betäubt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich
habe es abgelehnt. Meine Pflegemutter wollte, daß ich es trinke,
aber ich habe ihr gesagt, daß ich keine Angst vor dir
habe.«
Allart fragte: »Warum zitterst du dann?«
Mit dem Anflug von Gewitztheit, den er schon vorher an ihr bemerkt
hatte, sagte sie: »In diesem Gewand, das mich halbnackt läßt, und
auf dem sie bestanden haben, ist mir kalt.«
Allart lachte. »Es scheint, daß ich nur besser dran bin, weil ich
einen Pelz trage. Bedeck dich damit. Das Gewand wäre nicht nötig
gewesen, um meine Begierde zu wecken – aber ich vergaß, daß du
Komplimente und Schmeicheleien nicht magst.« Er trat näher und
setzte sich auf den Rand des Bettes. »Darf ich dir etwas Wein
einschenken, Domna?« »Danke.« Sie nahm
das Glas, und als sie daran nippte, sah er die Farbe in ihr Gesicht
zurückkehren. Dankbar zog sie den Fellumhang über die Schultern. Er
schenkte sich auch etwas ein, und während er den Stiel des Kelchs
zwischen den Fingern drehte, versuchte er darüber nachzudenken, wie
er das, was gesagt werden mußte, sagen konnte, ohne sie zu
beleidigen. Erneut drohten die vielfältigen Entwicklungen und
Möglichkeiten, ihn zu überwältigen. Er sah sich seine eigenen
Skrupel ignorieren, sie mit der ganzen aufgestauten Leidenschaft
seines Lebens in die Arme nehmen. Wie sie mit Leidenschaft und
Liebe zum Leben erwachte, die gemeinsamen Jahre voller Freude … Und
dann wieder das Gesicht einer anderen Frau, goldbraun und lachend,
von dichtem, kupferfarbenem Haar umgeben. Auf verwirrende Weise
ließ es das Gesicht der Frau und die Situation vor ihm verschwimmen
…
»Cassandra«, sagte er, »hast du diese Heirat gewollt?«
Sie sah ihn nicht an. »Ich bin durch diese Heirat geehrt. Wir wurden miteinander verlobt, als ich zu
jung war, um mich noch daran zu erinnern. Für dich muß es anders
sein, du bist ein Mann und hast die Möglichkeit zur Wahl. Ich
nicht. Was ich als Kind auch tat, ich hörte immer nur, daß dieses
oder jenes nicht angebracht sei, wenn man Allart Hastur von Elhalyn
heiraten will.«
Seine Worte kamen gepreßt, als er sagte: »Welche Freude muß es
sein, solche Gewißheit zu haben, nur eine Zukunft zu sehen, statt
Dutzender, Hunderter, Tausender … Wenn man seinen Weg nicht wie ein
Akrobat, der beim Jahrmarkt auf dem Hochseil tanzt, ausbalancieren
muß.« »Daran habe ich nie gedacht. Ich dachte nur, daß ein Leben
freier als meines ist, wenn man wählen darf …«
»Frei?« Er lachte amüsiert. »Mein Schicksal war so festgelegt wie
das deine. Aber wir können noch immer unter den künftigen
Möglichkeiten, die ich sehe, wählen, wenn du dazu bereit
bist.«
Leise erwiderte sie: »Was ist uns jetzt noch zu wählen geblieben?
Wir wurden vermählt und zu Bett gebracht. Mir scheint, daß nun
keine weitere Wahl mehr möglich ist. Nur dies: Du kannst mich
grausam oder sanft behandeln, und ich kann alles mit Geduld
ertragen – oder meiner Sippe Schande machen, indem ich mich gegen
dich zur Wehr setze und dich, wie der Geprellte in einem obszönen
Lied, zwinge, die Zeichen meiner Nägel und Zähne zu tragen. Das
allerdings«, schloß sie, wobei ihre Augen lachend aufblitzten,
»würde ich auch für schändlich halten.«
»Die Götter mögen verhindern, daß du einen Grund dazu haben wirst,«
sagte Allart. Einen Moment waren die Bilder, die sich aus seinen
Worten ergaben, so scharf, daß alle anderen Zukunftsvisionen
tatsächlich wie weggewischt erschienen.
Sie war seine Frau, ihm mit ihrem Einverständnis, sogar mit ihrem
Willen gegeben worden, und ihm ganz ausgeliefert. Er konnte sie
sogar dazu bringen, ihn zu lieben.
Warum fügen wir uns dann nicht gemeinsam
unserem Schicksal, meine Liebe …?
Doch er zwang sich zu sagen: »Es bleibt noch eine dritte
Möglichkeit. Du kennst das Gesetz. Ganz abgesehen von der
Zeremonie: Dies ist solang keine Ehe, bis wir sie dazu machen, und
die Catenas können geöffnet werden,
wenn wir darum bitten.«
»Wenn ich meine Familie so erzürne und den Zorn der Hasturs gegen
sie aufbringe, würde das Band der Bündnisse, auf dem die Herrschaft
der Hasturs gegründet ist, zerreißen. Wenn du danach strebst, mich
zu meiner Familie zurückzuschicken, weil ich kein Wohlgefallen bei
dir fand, wird es für mich keinen Frieden und kein Glück mehr
geben.« Ihre Augen waren weit geöffnet und schauten
betrübt.
»Ich habe nur gedacht… es könnte ein Tag kommen, an dem du jemandem
begegnen wirst, den du mehr magst, mein Mädchen.«
Scheu erwiderte sie: »Wie kommst du darauf, daß ich jemanden finden
will, den ich mehr mag?«
Mit plötzlicher Furcht wurde ihm klar, daß das Schlimmste geschehen
war. Aus Angst, sie könne einem gefühllosen Rohling gegeben werden,
der sie nur als Zuchtstute betrachtete, und mit der Erfahrung, daß
er statt dessen als Gleichgestellte mit ihr sprach, war sie bereit,
ihn gern zu haben!
Wenn er auch nur ihre Hand berührte – das wußte er –, würde sein
Entschluß nichtig werden. Er würde sie mit Küssen bedecken, sie in
seine Arme ziehen – und sei es nur, um die zahlreichen
Zukunftsvisionen, die er sich von diesem kritischen Moment an
aufbauen sah, wegzuwischen, sie alle in einem einzigen Augenblick
mit irgendeiner entschiedenen Handlung
auszulöschen, egal wie sie auch aussehen mochte. Seine Stimme klang
gepreßt, selbst für seine eigenen Ohren. »Du kennst meinen Fluch.
Ich sehe nicht nur die wirkliche Zukunft, sondern ein Dutzend, und
jede von ihnen kann eintreffen oder mich narren. Ich hatte
beschlossen, nie zu heiraten, um diesen Fluch nie einem meiner
Söhne zu übertragen. Ich wollte auf mein Erbe verzichten und ein
Mönch werden. Ich kann nur zu deutlich sehen, was die Heirat mit
dir in Gang setzen könnte. Bei den Göttern dort oben«, schrie er,
»glaubst du, du seist mir gleichgültig?«
»Sind deine Visionen immer zutreffend, Allart?« fragte sie
flehentlich. »Warum sollten wir unser Schicksal verleugnen? Wenn
diese Dinge bestimmt sind, werden sie geschehen, ganz gleich, was
wir jetzt tun; und wenn nicht, können sie uns nicht bekümmern.« Sie
kniete sich hin und schlang ihre Arme um ihn. »Ich bin nicht
unwillig, Allart. Ich … ich … ich liebe dich.«
Im ersten Augenblick konnte Allart nicht anders, als seine Arme um
sie zu schließen. Doch dann, gegen die beschämende Erinnerung
ankämpfend, wie er der Verlockung der Riyachiya erlegen war, packte er sie bei den
Schultern und stieß sie mit aller Kraft fort. Er hörte seine eigene
Stimme, hart und kalt, als gehörte sie jemand anderem, sagen:
»Erwartest du immer noch, daß ich dir glaube, sie hätten dich nicht
mit Aphrodisiaka aufgeputscht?«
Cassandras Körper wurde starr, Tränen des Zorns und der Demütigung
schossen ihr in die Augen. Wie nie zuvor im Leben wollte er sie
wieder an sich ziehen und an sein Herz drücken.
»Vergib mir«, bat er. »Versuch doch zu verstehen. Ich kämpfe darum
… einen Weg aus der Falle zu finden, in die man uns geführt hat.
Weißt du nicht, was ich gesehen habe? Alle Straßen führen dorthin,
scheint es – daß ich tue, was von mir erwartet wird: Daß ich
Monster zeugen muß, Kinder, die vom Laran schlimmer gequält werden als ich, die
sterben, wie mein jüngerer Bruder, oder, noch schlimmer, leben
werden, um uns dafür zu verfluchen, daß sie je geboren wurden. Und
weißt du, was ich für dich am Ende einer jeden Straße sehe, mein
armes Mädchen? Deinen Tod, Cassandra, deinen Tod bei der Geburt
meines Kindes.« Ihr Gesicht war weiß, als sie flüsterte: »Zwei
meiner Schwestern sind so gestorben.«
»Doch du fragst dich warum. Ich stoße dich nicht zurück, Cassandra.
Ich versuche, das schreckliche Schicksal zu vermeiden, das ich für
uns beide gesehen habe. Gott weiß, es wäre leicht genug… An den
meisten Linien meiner Zukunft sehe ich ihn, den Weg, der am
einfachsten einzuschlagen wäre: Daß ich dich liebe, daß du mich
liebst, daß wir Hand in Hand in diese schreckliche Tragödie
schreiten, die die Zukunft für uns enthält. Eine Tragödie für dich,
Cassandra. Und für mich. Ich …« Allart schluckte, versuchte, seine
Stimme zu bändigen. »Ich will nicht die Schuld an deinem Tod auf
mich laden.«
Sie begann zu schluchzen. Allart wagte nicht, sie zu berühren; er
schaute auf sie hinab, sein Herz zog sich zusammen. »Versuche,
nicht zu weinen«, sagte er mit rauher Stimme. »Ich kann es nicht
ertragen. Die Versuchung, das Einfachste zu tun und darauf zu
vertrauen, daß das Glück uns hindurchführt, ist immer da; oder,
wenn alles scheitert, zu sagen: ›Es ist unser Los, und kein Mensch
kann gegen das Schicksal ankämpfen.‹ Denn es gibt andere
Wahlmöglichkeiten. Du könntest unfruchtbar sein, eine Geburt
überleben, unser Kind könnte dem Fluch unseres vereinigten
Laran entrinnen. Es gibt so viele
Möglichkeiten, so viele Versuchungen! Und ich habe mich
entschlossen, daß diese Ehe keine sein soll, bis ich meinen Weg
deutlich vor mir sehe. Ich bitte dich, dem zuzustimmen.«
»Es scheint, daß ich keine Wahl habe«, sagte sie und blickte
betrübt zu ihm auf. »Aber es gibt in unserer Welt auch kein Glück
für eine Frau, die nicht das Wohlgefallen ihres Mannes findet.
Meine Tanten und Cousinen werden mir keine Ruhe lassen, bis ich
schwanger bin. Auch sie haben Laran,
und wenn diese Ehe nicht vollzogen wird, werden sie es früher oder
später erfahren, und wir werden die gleichen Sorgen erleben, die
wir vorausgesehen haben, hätten wir die Ehe zurückgewiesen. In
jedem Fall, mein Gemahl, scheint es, daß wir das Wild sind, das in
der Falle stecken bleibt oder in den Kochtopf wandern kann; jeder
Weg bedeutet Verderben.«
Beruhigt von der Ernsthaftigkeit, mit der sie über ihre mißliche
Lage nachzudenken suchte, sagte Allart: »Ich habe einen Plan, falls
du einwilligst, Cassandra. Die meisten unserer Verwandten machen,
bevor sie mein Alter erreichen, ihren Dienst in einem Turm, wo sie
ihr Laran in einem Matrix-Kreis
einsetzen, der unseren Leuten Energie, Macht und ein gutes Leben
gibt. Ich bin wegen meiner schwächlichen Gesundheit von dieser
Pflicht entbunden worden, aber eigentlich sollte ich sie jetzt
nachholen. Zudem ist das Leben am Hof nicht das beste für eine
Frau, die …« Er drohte an den Worten zu ersticken. »Die schwanger
sein könnte. Ich werde um die Erlaubnis bitten, dich mit zum Turm
von Hali. zu nehmen, wo wir unseren Teil an der Arbeit des
Matrix-Kreises beitragen werden. Auf diese Weise werden wir deinen
Verwandten und meinem Bruder nicht begegnen und können fern von
ihnen wohnen, ohne Gerede hervorzurufen. Vielleicht finden wir
einen Ausweg aus diesem Dilemma, während wir dort sind.«
Cassandras Stimme klang unterwürfig. »Es soll sein, wie du
wünschst. Aber unsere Verwandtschaft wird es merkwürdig finden, daß
wir uns dazu während der ersten Tage unserer Ehe
entschließen.«
»Mögen sie denken, was sie wollen«, gab Allart zurück. »Ich halte
es nicht für ein Verbrechen, Dieben falsche Münzen zu geben, oder
zu lügen, wenn man über alle Höflichkeit hinaus verhört wird. Wenn
ich von jemandem, der Recht auf eine Antwort hat, befragt werde,
sage ich, daß ich während meiner frühen Mannesjahre dieser Pflicht
aus dem Wege gegangen bin und sie jetzt erfüllen will, damit du und
ich zusammen weggehen können, ohne daß unerfüllte Verpflichtungen
unser Leben überschatten. Du kannst ihnen sagen, was du möchtest.«
Ihr Lächeln strahlte ihn an; Allart spürte einen Stich durchs Herz.
»Nun, ich werde überhaupt nichts sagen. Ich bin deine Frau, und ich
gehe dorthin, wo du hinzugehen entscheidest, das bedarf keiner
weiteren Erklärung! Ich sage nicht, daß ich diesen Brauch mag, und
auch nicht, daß ich ohne Hader gehorche, wenn du es von mir
verlangst. Ich bezweifle, daß du in mir eine unterwürfige Frau
vorfindest, Dom Allart. Aber ich werde diesen Brauch nutzen, wenn
er meinen Zwecken dient!« Lastenträger, warum
konnte das Schicksal mir keine Frau geben, die ich mit Freuden
verstoßen hätte, statt dieser einen, die zu lieben mir so leicht
gefallen wäre! Erschöpft vor Erleichterung beugte er seinen
Kopf vor, nahm ihre schmalen Hände und küßte sie.
Sie sah die Erschöpfung in seinem Gesicht und sagte: »Du bist sehr
abgespannt, mein Gatte. Willst du dich nicht niederlegen und
schlafen?«
Erneut marterten ihn die erotischen Bilder, aber er schüttelte sie
ab. »Du weißt nicht viel von Männern, nicht wahr, Chiya?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich
auch? Jetzt scheint es, daß es nicht mein Los ist«, sagte sie und
sah so traurig aus, daß Allart bei aller Entschiedenheit ein fernes
Bedauern fühlte.
»Leg dich nieder und schlafe, wenn du möchtest, Cassandra.« »Wirst
du denn nicht schlafen?« fragte sie unschuldig. Er mußte
lachen.
»Ich werde auf dem Boden schlafen. Ich habe an schlimmeren Orten
gelegen, und nach den Steinzellen von Nevarsin ist das der reinste
Luxus«, sagte Allart. »Gesegnet seist du, Cassandra, daß du meine
Entscheidung akzeptierst.«
Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Oh, man hat mich gelehrt,
daß es die Pflicht einer Frau ist, zu gehorchen. Auch wenn es ein
anderer Gehorsam ist, als ich vorausgesehen habe, bin ich doch noch
immer deine Frau und werde tun, was du befiehlst. Gute Nacht, mein
Gatte.« Die Worte waren von zarter Ironie. Auf den weichen Matten
des Zimmers ausgestreckt, faßte Allart die ganze Disziplin seiner
Jahre in Nevarsin zusammen und schaffte es schließlich, aus seinem
Geist die Bilder einer zur Liebe erweckten Cassandra auszulöschen.
Nichts blieb, nur der Augenblick und sein Entschluß. Einmal jedoch,
vor dem Morgendämmern, glaubte er, eine Frau weinen zu hören, ganz
leise, als würden die Laute von Stoffen und Laken
gedämpft.
Am nächsten Tag reisten sie zum Hali-Turm ab. Dort blieben sie ein
halbes Jahr.
8
Früher Frühling in den Hellers. Donal Delleray,
genannt Rockraven, stand auf den Zinnen von Burg Aldaran und
sinnierte müßig, ob die Aldaran-Vorfahren diesen hohen Gipfel für
ihre Festung gewählt hatten, weil er einen großen Bereich des
Umlands beherrschte. Es neigte sich zu den fernen Ebenen und erhob
sich dahinter zu den weiten, unpassierbaren Gipfeln, auf denen
nichts menschliches, sondern nur die Schweifer und halblegendären
Chieri von den fernen Hellers in ihren
vom ewigen Schnee umgebenen Festen wohnten.
»Man sagt«, meinte er laut, »daß es hinter dem letzten dieser
Berge, so weit im Schneegebiet, daß selbst der erfahrenste
Bergsteiger scheitern würde, ehe er einen Weg durch Felsspitzen und
Gletscherschluchten fände, ein Tal mit nie endendem Sommer gibt,
und dorthin haben sich die Chieri
zurückgezogen, seit die Kinder von Hastur gekommen sind. Deshalb
sehen wir sie heutzutage nicht mehr. Dort wohnen die Chieri für immer, unsterblich und schön, und sie
singen ihre fremdartigen Lieder und träumen unsterbliche
Träume.«
»Sind die Chieri wirklich so
schön?«
»Ich weiß es nicht, kleine Schwester. Ich habe nie eine gesehen«,
antwortete Donal. Er war jetzt zwanzig, hochgewachsen und
gertenschlank, dunkelhäutig, mit dunklen Brauen, ein aufrechter und
ernster junger Mann, der älter aussah, als er tatsächlich war.
»Aber als ich ganz klein war, hat meine Mutter mir einmal erzählt,
daß sie eine Chieri in den Wäldern
hinter einem Baum gesehen hat, und daß sie die Schönheit der
Gesegneten Cassilda besaß. Man sagt auch, daß ein Sterblicher, der
sich seinen Weg zum Tal der Chieri
bahnt, von ihren Speisen ißt und ihren Zauberwassern trinkt,
ebenfalls mit Unsterblichkeit versehen wird.« »Nein«, sagte
Dorilys. »Jetzt erzählst du mir Märchen. Ich bin zu alt, um solche
Sachen zu glauben.«
»Oh ja, du bist so alt«, neckte Donal. »Täglich warte ich darauf,
wie sich dein Rücken beugt und dein Haar grau wird.«
»Ich bin alt genug, um verlobt zu werden«, sagte Dorilys würdevoll.
»Ich bin elf Jahre alt, und Margali sagt, ich sähe aus, als sei ich
fünfzehn.«
Donal widmete seiner Schwester einen langen, abwägenden Blick. Es
stimmte. Mit elf war Dorilys schon größer als viele Frauen, und ihr
geschmeidiger Körper zeigte durchaus schon Andeutungen hübscher
Rundungen.
»Ich weiß nicht, ob ich verlobt werden will«, sagte sie plötzlich
mißgelaunt. »Ich weiß gar nichts von meinem Cousin Darren! Kennst
du ihn, Donal?«
»Ich kenne ihn«, sagte Donal, und sein Gesicht zeigte einen
unfreundlichen Ausdruck. »Er ist hier aufgezogen worden, zusammen
mit vielen anderen Knaben, als ich ein Junge war.«
»Sieht er gut aus? Ist er freundlich und wohlgelitten? Magst du
ihn, Donal?«
Donal öffnete den Mund, um zu antworten, und schloß ihn wieder.
Darren war der Sohn von Lord Aldarans jüngerem Bruder Rakhal.
Mikhail, Lord Aldaran, hatte keine Söhne, und diese Heirat würde
bedeuten, daß ihre Kinder die beiden Ländereien erben und festigen
würden; auf diese Art wurden große Reiche aufgebaut. Es würde
sinnlos sein, Dorilys wegen irgendwelcher Streitigkeiten unter
Jungen gegen ihren versprochenen Gatten einzunehmen.
»Danach mußt du nicht urteilen, Dorilys. Wir waren Kinder, als wir
einander kannten, und wir stritten, wie Jungen es tun. Aber jetzt
ist er älter, und ich bin es auch. Ja, er sieht ziemlich gut aus,
nehme ich an, so wie Frauen das beurteilen.«
»Mir scheint das kaum gerecht«, sagte Dorilys. »Du bist meinem
Vater mehr als ein Sohn gewesen. Jawohl, das hat er selbst gesagt!
Warum kannst du nicht seine Ländereien erben, wenn er keinen
eigenen Sohn hat?«
Donal zwang sich ein Lachen ab. »Diese Dinge wirst du besser
verstehen, wenn du älter bist, Dorilys. Ich bin mit Lord Aldaran
nicht blutsverwandt, auch wenn er mir ein liebevoller Pflegevater
war, und ich kann nicht mehr als den Anteil eines Pflegesohns an
seinen Ländereien erwarten – und das auch nur, weil er meiner
Mutter – und deiner – gelobt hat, gut für mich zu sorgen. Ich
erwarte keine andere Erbschaft als diese.«
»Das ist ein dummes Gesetz«, beharrte Dorilys heftig, und Donal,
der die Anzeichen zorniger Erregung in ihren Augen sah, sagte
schnell: »Sieh dort unten, Dorilys! Schau doch, zwischen den
Öffnungen der Hügel kannst du die Reiter und die Fahnen sehen. Das
wird Lord Rakhal und sein Gefolge sein, die zur Burg hinauf reiten,
um zu deiner Verlobung zu kommen. Du solltest zu deiner Zofe gehen
und dich für die Zeremonie schön machen lassen.«
»Eine gute Idee«, sagte Dorilys abgelenkt, aber sie schaute finster
drein, als sie auf die Treppe zuging. »Wenn ich ihn nicht mag,
werde ich ihn nicht heiraten. Hörst du mich, Donal?«
»Ich höre dich«, erwiderte er, »aber das sind die Worte eines
kleinen Mädchens, Chiya. Wenn du eine
Frau bist, wirst du vernünftiger sein. Dein Vater hat sorgfältig
gewählt, um eine angemessene Heirat in die Wege zu leiten; er würde
dich nicht verheiraten, wenn er nicht sicher wäre, daß es das beste
für dich ist.«
»Oh, das habe ich immer wieder gehört, von Vater und von Margali.
Sie sagen alle dasselbe; daß ich tun muß, was man mir sagt, und daß
ich verstehen werde, warum ich das muß, wenn ich älter bin! Aber
wenn ich meinen Cousin Darren nicht mag, werde ich ihn nicht
heiraten, und du weißt, daß es niemanden gibt, der mich dazu
bringen kann, etwas zu tun, das ich nicht will!« Sie stampfte mit
dem Fuß auf, ihr rosiges Gesicht errötete vor plötzlichem Ärger,
und dann lief sie zur Treppe, die hinunter ins Schloß führte. Wie
ein Echo ihrer Worte grollte ein leiser, weit entfernter
Donner.
Donal blieb an der Brüstung stehen, in ernstes Nachdenken
versunken. Dorilys hatte mit der unbewußten Arroganz einer
Prinzessin gesprochen, wie die verzogene kleine Tochter von Lord
Aldaran. Aber sie war mehr als nur das, und selbst Donal fühlte
eine böse Vorahnung des Grauens, wenn Dorilys so bestimmt
sprach.
Es gibt niemanden, der mich dazu bringen kann,
etwas zu tun, das ich nicht will. Das war nur allzu wahr.
Eigensinnig von Geburt an, hatte es niemand gewagt, wegen des
seltsamen Laran, mit dem sie zur Welt
gekommen war, ihr allzu ernst zu widersprechen. Niemand kannte
annähernd die Reichweite dieser seltsamen Kraft; niemand hatte je
gewagt, sie bewußt zu provozieren. Selbst als sie noch nicht
entwöhnt war, hatte jeder, der sie gegen ihren Willen berührte, die
Kraft gespürt, die sie auf einen schleudern konnte – damals nur als
schmerzlichen Schock
-, aber das Gerede der Diener und Kindermädchen hatte ihre Wirkung
übertrieben und schreckenserregende Geschichten verbreitet. Wenn
sie – schon als Baby – vor Wut, Hunger oder Schmerz schrie, hatten
Blitze und Donnerschläge um die Höhen der Burg gekracht; nicht nur
die Diener, sondern auch die im Schloß aufgezogenen Kinder hatten
gelernt, ihren Zorn zu fürchten. Einmal, als sie fünf gewesen war
und Fieber sie ins Bett gefesselt hatte, hatte sie tagelang im
Delirium gelegen, phantasiert, und nicht einmal Donal oder ihren
Vater erkannt. Damals hatten Blitzschläge Tag und Nacht gekracht
und waren unberechenbar, schreckenerregend nahe bei den Türmen der
Burg eingeschlagen. Donal, der die Blitze selbst ein wenig
kontrollieren konnte (wenn auch nicht auf diese Art), hatte sich
gefragt, welche Gespenster und Alpträume sie in ihrem Delirium
verfolgten, daß sie so heftig gegen sie wütete.
Glücklicherweise hatte sie, als sie älter wurde, nach Anerkennung
und Zuneigung zu streben begonnen, und Lady Deonara, die Dorilys
wie ihre eigene Tochter liebte, war in der Lage gewesen, sie
einiges zu lehren. Das Kind besaß Alicianes Schönheit und ihre
angenehmen Umgangsformen, und war in den letzten ein oder zwei
Jahren weniger gefürchtet und besser gelitten. Aber die Diener und
Kinder fürchteten sie noch immer und nannten sie, wenn sie es nicht
hören konnte, Hexe und Zauberin. Nicht einmal das kühnste der
Kinder wagte es, sie offen zu beleidigen. Dorilys hatte sich nie
gegen Donal, ihren Vater und ihre Ziehmutter Margali, jene
Leronis, die sie auf die Welt gebracht
hatte, gewandt; ebensowenig hatte sie sich, solange Lady Deonara
noch lebte, gegen deren Willen aufgelehnt.
Aber seit Deonaras Tod, überlegte Donal
betrübt (denn auch er hatte die sanfte Lady Aldaran geliebt),
hat nie jemand Dorilys widersprochen.
Mikhail von Aldaran betete seine hübsche Tochter an und schlug ihr
nichts ab, ob es nun vernünftig war oder nicht, so daß die
Elfjährige die Edelsteine und Spielsachen einer Prinzessin besaß.
Die Diener taten es nicht, weil sie ihren Zorn und die Kraft
fürchteten, die vom Geschwätz so übertrieben aufgebauscht waren.
Die anderen Kinder taten es auch nicht; zum Teil, weil sie unter
ihnen die Ranghöchste, zum Teil, weil sie eine eigensinnige kleine
Tyrannin war, die nie davor zurückschreckte, ihre herrschende
Stellung mit Schlägen, Kniffen und Ohrfeigen zu
erzwingen.
Es ist für ein kleines Mädchen – ein hübsches,
verzogenes Mädchen – gar nicht so schlecht, über alle Vernunft
eigensinnig zu sein – und daß jedermann sie fürchtet und ihr alles
gibt, was sie will. Aber was wird geschehen, wenn sie zu einer Frau
heranwächst, wenn sie nicht lernt, daß sie nicht alles haben kann,
was sie will? Und wer wird sie das lehren, da alle ihre Macht
fürchten?
Besorgt schritt Donal die Treppe hinunter und ging hinein, denn
auch er mußte bei der Verlobung und den bevorstehenden
Feierlichkeiten anwesend sein.
In seinem gewaltigen Empfangszimmer erwartete
Mikhail Aldaran seine Gäste. Der Aldaran-Fürst war seit der Geburt
seiner Tochter gealtert. Ein großer, schwerer Mann, jetzt gebeugt
und ergrauend, hatte er noch immer etwas vom Aussehen eines alten,
sich mausernden Falken; und wenn er seinen Kopf hob, ähnelte er
einem angejahrten Vogel, der auf seinem Sitzklotz aufschreckte –
mit gesträubtem Gefieder, einer Andeutung versteckter Kraft, die er
zwar zurückhielt, aber nicht verloren hatte.
»Donal? Bist du es? In diesem Licht kann man schlecht sehen«, sagte
Lord Aldaran. Donal, der wußte, daß sein Pflegevater nicht gerne
zugab, daß seine Augen nicht mehr so scharf wie einst waren, trat
zu ihm. »Ich bin es, mein Fürst.«
»Komm her, teurer Junge. Ist Dorilys für die Zeremonie vorbereitet?
Glaubst du, sie ist mit dem Gedanken an diese Heirat zufrieden?«
»Ich glaube, sie ist zu jung, um zu wissen, was sie bedeutet«,
erwiderte Donal. Er hatte einen verzierten Anzug aus gefärbtem
Leder und hohe Hausstiefel mit eingeritzten Mustern und Fransen
angelegt. Sein Haar wurde von einem edelsteinbesetzten Band
gehalten; an seinem Hals blitzte ein Feuerstein karminrot auf.
»Aber sie ist sehr neugierig. Sie hat mich gefragt, ob Darren
ansehnlich und wohlgelitten sei, und ob ich ihn mag. Ich habe ihr
eine knappe Antwort darauf gegeben, fürchte ich, aber ich sagte
ihr, daß sie einen Mann nicht an den Streitigkeiten von Jungen
messen darf.«
»Genausowenig wie du, mein Junge«, sagte Aldaran, aber er sagte es
freundlich.
»Pflegevater – ich habe eine Gunst von Euch zu erbitten«, sagte
Donal.
Aldaran lächelte und sagte: »Du weißt längst, Donal, jedes
Geschenk, das ich dir geben kann, ist deins, wenn du nur darum
bittest.« »Dieses wird Euch nichts kosten, Fürst, außer etwas
Wohlwollen. Wenn Lord Rakhal und Lord Darren heute vor Euch treten,
um über Dorilys’ Mitgift zu diskutieren, würdet Ihr mich der Gruppe
mit dem Namen meines Vaters vorstellen, und nicht als Donal von
Rockraven, wie Ihr es gewöhnlich tut?«
Lord Aldarans kurzsichtige Augen zwinkerten und ließen ihn mehr
denn je wie einen gigantischen, vom Licht geblendeten Raubvogel
aussehen. »Warum das, Pflegesohn? Willst du den Namen deiner Mutter
verleugnen, oder ihre Stellung hier? Oder etwa die
deine?«
»Das mögen die Götter verhüten«, sagte Donal.
Er trat näher und kniete sich neben Aldaran. Der alte Mann legte
eine Hand auf seine Schulter, und bei dieser Berührung wurde ihnen
beiden die unausgesprochenen Worte verständlich: Nur ein Bastard trägt den Namen seiner Mutter. Ich bin
eine Waise, aber kein Bastard. »Vergib mir, Donal«, sagte
der alte Mann schließlich. »Ich habe einen Tadel verdient. Ich
wollte… Ich wollte nicht daran erinnert werden, daß Aliciane je
einem anderen Mann gehört hat. Selbst als sie … mich verließ,
konnte ich nicht ertragen, daran zu denken, daß du in Wahrheit
nicht mein eigener Sohn bist.« Es klang wie ein Schmerzensschrei.
»Ich habe mir so oft gewünscht, du wärest es.«
»Ich auch«, sagte Donal. Er konnte sich an keinen anderen Vater
erinnern und wünschte sich auch keinen. Aber Darrens
einschüchternde Stimme von vor zehn Jahren klang in seinen Ohren,
als wäre es erst gestern gewesen: »Donal von Rockraven. Ja, ich
weiß, der Balg der Barragana. Weißt du
überhaupt, wer dich gezeugt hat, oder bist du ein Sohn des Flusses?
Hat deine Mutter während eines Geisterwindes im Wald gelegen und
ist danach mit einem Niemands-Sohn in ihrem Bauch nach Hause
gekommen?« Donal hatte sich auf ihn gestürzt wie eine Todesfee,
kratzend und tretend, und sie mußten auseinandergezogen werden,
wobei sie noch immer heulende Drohungen gegeneinander ausgestoßen
hatten. Selbst heute war es nicht angenehm, an den Blick des jungen
Darren und seine höhnischen Bemerkungen zu denken. In Aldarans
Stimme klang eine späte Entschuldigung mit: »Wenn ich dir aus
meiner Begierde, dich meinen Sohn zu nennen, Unrecht getan habe –
glaube mir, ich habe nie beabsichtigt, Zweifel an der
Ehrenhaftigkeit deines Geschlechts zu äußern. Ich glaube, an dem,
was ich heute abend zu tun beabsichtige, wirst du sehen, daß ich
dich aufrichtig schätze, Sohn.«
»Mehr als das brauche ich nicht«, sagte Donal und setzte sich auf
eine niedrige Fußbank neben ihn.
Aldaran griff nach seiner Hand, und so saßen sie dort, bis ein
Diener mit Leuchtern kam und ankündigte: »Lord Rakhal Aldaran von
Scathfell, und Lord Darren.«
Rakhal von Scathfell war, wie sein Bruder es vor zehn Jahren
gewesen war, ein großer, herzlicher Mann in der Blüte seines Lebens
und einem offenen, jovialen Gesicht, das jene freundschaftliche
Herzlichkeit ausstrahlte, die unaufrichtige Männer oft vorgeben, um
zu zeigen, daß sie nichts zu verbergen haben. Darren war genauso,
hochgewachsen und breitschultrig, mit sandrotem Haar, das aus einer
hohen Stirn zurückfloß. Donal dachte auf den ersten Blick:
Ja, er ist ansehnlich, so wie Mädchen diese
Dinge einschätzen. Dorilys wird ihn mögen … Er sagte sich,
daß das schwache Gefühl böser Vorahnung nicht mehr als das
Mißfallen daran war, daß er seine Schwester aus seinem
ausschließlichen Schutz in den Gewahrsam eines anderen übergeben
mußte. Ich kann nicht erwarten, daß Dorilys
immer bei mir bleibt. Sie ist Erbin eines großen Reiches. Ich bin
ihr Halbbruder, nicht mehr, und ihr Wohlergehen muß in anderen
Händen als den meinen liegen. Lord Aldaran erhob sich aus
dem Sessel und ging einige Schritte auf seinen Bruder zu, um dessen
Hände mit einer herzlichen Geste zu ergreifen.
»Ich grüße dich, Rakhal. Es ist sehr lange her, seit du das letzte
Mal bei mir in Aldaran warst. Wie steht es in Scathfell? Und was
macht Darren?« Er umarmte seine Verwandten und forderte sie auf,
sich neben ihn zu setzen. »Du kennst meinen Pflegesohn, den
Halbbruder deiner Braut, Darren. Donal Delleray, Alicianes
Sohn.«
Ihn wiedererkennend zog Darren die Augenbrauen hoch und sagte: »Wir
haben unter anderem zusammen Waffenunterricht erhalten. Irgendwie
hatte ich gedacht, sein Name sei Rockraven.«
»Kinder verfallen leicht solchen Mißverständnissen« sagte Lord
Aldaran fest. »Du mußt damals sehr jung gewesen sein, Neffe, und
Herkunft bedeutet jungen Burschen nicht viel. Donals Großeltern
waren Rafael Delleray und seine Gattin di
Catenas Mirella Lindir. Donals Vater ist früh gestorben, und
seine verwitwete Mutter kam als Sängerin hierher. Sie hat mein
einziges lebendes Kind geboren. Deine Braut, Darren.«
»Tatsächlich?« Rakhal von Scathfell blickte Donal mit höflichem
Interesse an, aber Donal vermutete, daß es – ebenso wie seine gute
Laune – geheuchelt war.
Und er fragte sich, warum es ihm etwas ausmachen sollte, was der
Scathfell-Clan von ihm hielt.
Darren und ich werden Schwäger sein. Das ist
keine Verwandtschaft, nach der ich mich gesehnt hätte. Er,
Donal, war ehrenhaft geboren und ebenso in einem Großen Haus als
Pflegekind aufgezogen worden; das hätte genügen sollen. Aber ein
Blick auf Darren sagte ihm, daß das niemals ausreichen würde.
Andererseits fragte er sich, weswegen Darren Aldaran, der Erbe von
Scathfell, sich damit abgeben sollte, den Halbbruder der ihm
versprochenen Frau, den Pflegesohn ihres Vaters, zu hassen und
abzulehnen?
Dann, als er Darrens falsches Lächeln sah, wußte er plötzlich die
Antwort. Er war kaum telepathisch veranlagt, aber Darren hätte es
ihm ebensogut entgegenschreien können.
Zandrus Hölle, er fürchtet meinen Einfluß auf
Lord Aldaran! Die Gesetze der Vererbung des Blutes sind in den
Bergen noch nicht so gefestigt, daß er sicher sein kann, was
geschehen wird. Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Adeliger
danach trachtet, seinen ehelichen Erben zugunsten eines anderen,
den er für würdiger hält, zu enterben. Und er weiß, daß mein
Pflegevater mich als Sohn und nicht als Mündel
betrachtet.
Um Donal gerecht zu werden: Dieser Gedanke war ihm vorher noch nie
gekommen. Er hatte seine Stellung – Lord Aldaran durch Zuneigung,
nicht durch Blut, verbunden – gekannt und akzeptiert. In diesem
Bewußtsein, das daraus resultierte, daß die Männer von Scathfell
ihn provoziert hatten, fragte er sich, wieso es nicht so kommen sollte. Warum konnte der Mann, den
er Vater nannte, dem er ein ergebener Sohn gewesen war, nicht einen
Erben seiner Wahl benennen? Die Scathfell besaßen dieses Erbe. Warum sollten sie ihre Güter fast zur
Größe eines Königreichs anwachsen lassen, indem sie Aldaran ihren
Ländereien hinzufügten?
Lord Rakhal hatte sich von Donal abgewandt und sagte herzlich: »Und
jetzt werden wir durch diese Heirat zusammengebracht, damit die
jungen Leute, wenn wir nicht mehr sind, unsere vereinigten Länder
als doppeltes Erbteil halten. Können wir das Mädchen sehen,
Mikhail?« Lord Aldaran gab zurück: »Sie wird kommen, um die Gäste
zu begrüßen, aber ich hielt es für passender, den geschäftlichen
Teil unseres Treffens ohne ihr Dabeisein zu erledigen. Sie ist ein
Kind und nicht dazu geneigt, zuzuhören, wenn Graubärte
Angelegenheiten wie Mitgift, Hochzeitsgeschenke und Erbschaften
erledigen. Sie wird kommen, um ihr Gelöbnis abzulegen, Darren, und
mit dir bei der Feier tanzen. Aber bitte, denke daran, daß sie noch
sehr jung ist, und von einer wirklichen Heirat für die nächsten
vier Jahre keine Rede sein kann.« Rakhal kicherte. »Väter glauben
selten, daß ihre Töchter reif für die Ehe sind, Mikhail.«
»Aber in diesem Fall«, erwiderte Aldaran mit fester Stimme, »ist es
so, daß Dorilys nicht älter als elf ist. Die Heirat di Catenas darf nicht eher als in vier Jahren
stattfinden.«
»Na, komm. Mein Sohn ist bereits ein Mann. Wie lange soll er noch
auf seine Braut warten?«
»Vier Jahre muß er warten können«, sagte Aldaran entschieden, »oder
sich anderswo eine suchen.«
Darren zuckte die Achseln. »Wenn ich warten muß, bis das kleine
Mädchen heranwächst, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Es ist
ein barbarischer Brauch, einem erwachsenem Mann ein Mädchen zu
versprechen, das noch nicht einmal seine Puppen weggelegt
hat.«
»Zweifellos«, sagte Rakhal von Scathfell in der ihm eigenen
herzlichen und jovialen Art, »aber seit Dorilys geboren wurde, habe
ich immer gefühlt, wie wichtig diese Heirat ist. Ich habe während
der letzten zehn Jahre oft mit meinem Bruder darüber
gesprochen.«
Darren fragte: »Wenn mein Onkel bisher so sehr dagegen war, warum
gibt er dann jetzt sein Einverständnis?«
Mit bekümmertem Schulterzucken antwortete Lord Aldaran: »Ich
vermute, weil ich alt werde und mich endlich dem Wissen gefügt
habe, daß ich keinen Sohn mehr haben werde. Und ich will Aldaran
lieber in die Hände eines Verwandten, als die eines Fremden
übergehen sehen.« Warum, fragte Aldaran sich, mußte er ausgerechnet
in diesem Augenblick, nach zehn Jahren, an den Fluch denken, den
eine seit vielen Jahren tote Zauberin ihm entgegengeschleudert
hatte? Von diesem Tag an sollen deine Lenden
leer sein. Es traf zu, daß er seit Alicianes Tod nie
ernsthaft daran gedacht hatte, eine andere Frau in sein Bett zu
nehmen. »Natürlich könnte eingewandt werden«, sagte Rakhal von
Scathfell, »daß mein Sohn ohnehin der
gesetzliche Erbe von Aldaran ist. Die Gesetzgeber könnten sehr wohl
einwenden, daß Dorilys nicht mehr als ein Heirats-Erbteil zusteht,
und daß ein ehelich geborener Neffe in der Erbfolge vor der Tochter
einer Barragana steht.«
»Ich bestreite das Recht der sogenannten Gesetzgeber, in dieser
Angelegenheit zu urteilen.«
Scathfell zuckte die Achseln. »In jedem Fall wird diese Ehe es ohne
Anrufung des Gesetzes erledigen, da die beiden, die ihre Ansprüche
anmelden, heiraten. Die Fürstentümer werden vereint werden. Ich bin
bereit, Scathfell dem ältesten Sohn Dorilys’ zu vermachen, und
Darren soll Schloß Aldaran als Wächter Dorilys’
erhalten.«
Aldaran schüttelte den Kopf.
»Nein. Im Heiratsvertrag ist vorgesehen, daß Donal Wächter seiner
Schwester sein soll, bis sie fünfundzwanzig ist.«
»Das ist unsinnig«, protestierte Scathfell. »Weißt du keinen
anderen Weg, das Nest deines Pflegekindes zu polstern? Wenn er
schon kein Vermögen von Vater oder Mutter hat, kannst du ihm nicht
etwas anderes vermachen?«
»Das habe ich bereits getan«, sagte Aldaran. »Als er in das Alter
kam, habe ich ihm das Pachtgut Felsnadel gegeben. Es ist
heruntergekommen, da die, denen es gehörte, die Zeit damit
verbrachten, ihre Nachbarn zu bekriegen, anstatt es zu
bewirtschaften. Aber Donal, glaube ich, kann es wieder zum Blühen
bringen. Es bleibt nur noch, eine passende Frau für ihn zu finden,
was noch geschehen wird. Aber dennoch soll er Dorilys’ Wächter
sein.«
»Es sieht so aus, als trautet Ihr uns nicht, Onkel«, protestierte
Darren. »Glaubt Ihr wirklich, wir würden Dorilys ihres rechtmäßigen
Erbes berauben?«
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Aldaran. »Und da ihr solche
Gedanken nicht hegt – was kann es euch da ausmachen, wer Wächter
ihres Vermögens ist? Nur wenn ihr tatsächlich solche Absichten
hättet, müßtet ihr Donals Wahl ablehnen. Ein bezahlter Mietling
könnte bestochen werden, ein Bruder gewiß nicht.«
Donal hörte das alles voll Verwunderung an. Er hatte nicht gewußt,
daß Aldaran das Gut für ihn bestimmt
hatte, als er ihn ausgeschickt hatte, über das Anwesen Felsnadel
Bericht zu erstatten. Er hatte ehrlich über die Arbeit berichtet,
die nötig sein würde, um es in Ordnung zu bringen, und über die
vorzüglichen Möglichkeiten die es bot, ohne jedoch zu glauben, daß
Aldaran ihm ein Gut wie dieses vermachen würde. Und ebensowenig
hatte Donal vermutet, daß er diesen Heiratsvertrag nutzen würde,
ihn zu Dorilys’ Wächter zu ernennen.
Als er darüber nachdachte, erschien es ihm vernünftig. Dorilys
bedeutete den Aldarans von Scathfell nichts – außer, daß sie ein
Hindernis auf dem Weg zu Darrens Erbschaft war. Sollte Lord Aldaran
morgen sterben, könnte nur er, als Wächter, Darren daran hindern,
Dorilys trotz ihrer Jugend sofort zu seiner Frau zu machen und
ihren Besitz nach Gutdünken zu verwenden. Es wäre nicht das erste
Mal, daß eine Frau stillschweigend beseitigt wurde, wenn das Erbe
einmal sicher in den Händen ihres Gatten war. Sie konnten auch
warten, bis sie ein Kind zur Welt brachte, um es rechtmäßig
aussehen zu lassen. Jedermann wußte, daß junge Frauen häufig bei
Geburten starben, und je jünger sie waren, desto eher waren sie
diesem Schicksal ausgesetzt. Es war natürlich tragisch, aber nicht
ungewöhnlich.
Mit Donal als Wächter – und das, bis Dorilys fünfundzwanzig, und
nicht nur alt genug war, zu heiraten und Kinder zu gebären – wäre
er, selbst wenn sie sterben sollte, der Hüter aller ihrer
eventuellen Kinder, und ihr Vermögen würde nicht widerspruchslos in
Darrens Hände fallen. Er dachte: Mein
Pflegevater hat die Wahrheit gesprochen, als er sagte, ich würde am
heutigen Abend erfahren, wie sehr er mich schätzt. Es kann sein,
daß er mir vertraut, weil er keinen anderen hat. Zumindest weiß er,
daß ich Dorilys’ Interessen vor meinen eigenen schützen
werde.
Scathfell freilich hatte das noch immer nicht friedlich akzeptiert;
er diskutierte weiter über diesen Punkt und ließ erst davon ab, als
Aldaran ihn daran erinnerte, daß drei andere Bergfürsten um Dorilys
geworben hatten, und sie jederzeit mit jedem, den ihr Vater
auswählte, verlobt werden konnte, selbst mit einem der
Tiefland-Hasturs oder der Altons.
»Sie war tatsächlich schon einmal versprochen, da Deonaras
Verwandtschaft begierig darauf war, sie mit einem ihrer Söhne zu
verloben. Sie meinten, sie hätten den ersten Anspruch, da Deonara
mir nie einen lebenden Sohn schenkte. Aber der Junge starb kurz
darauf.« »Er starb? Wie ist er gestorben?«
Aldaran zuckte die Achseln. »Irgendein Unfall, habe ich gehört. Ich
kenne die Einzelheiten nicht.«
Donal kannte sie ebensowenig. Dorilys hatte zu dieser Zeit ihre
ArdaisVerwandtschaft besucht und war, schockiert vom Tod ihres
versprochenen Ehemannes, nach Hause gekommen, obwohl sie ihn kaum
gekannt und nicht besonders gemocht hatte. Zu Donal sagte sie: »Er
war ein großer, grober und rüder Junge, und er hat meine Puppe
kaputt gemacht.« Er hatte ihr damals keine Fragen gestellt. Jetzt
wunderte er sich. So jung er auch sein mochte, Donal wußte, daß ein
Kind, das einer vorteilhaften Allianz im Wege stand, sehr bald sein
Leben beenden konnte.
Und dasselbe könnte man von Dorilys sagen
…
»In diesem Punkt steht meine Meinung fest«, sagte Lord Alderan mit
einem Anflug von bestimmter Herzlichkeit. »Donal, und nur Donal,
wird Wächter seiner Schwester sein.«
»Das ist eine Beleidigung für deine Verwandten, Onkel«,
protestierte Darren, aber Lord Scathfell brachte seinen Sohn zum
Schweigen. »Wenn es sein muß, muß es sein«, sagte er. »Wir sollten
dankbar sein, daß das Mädchen, das dabei ist, ein Mitglied unserer
Familie zu werden, einen so vertrauenswürdigen Verwandten zu ihrem
Schutz hat. Ihre Interessen sind natürlich die unseren. Es soll
sein, wie du wünschst, Mikhail.« Aber der Blick, den er Donal
zuwarf, war verschleiert und nachdenklich und erregte die
Wachsamkeit des jungen Mannes. Ich muß auf
mich achtgeben, dachte er. Wahrscheinlich besteht keine Gefahr, bis Dorilys erwachsen
und die Heirat vollzogen ist, denn wenn Aldaran noch lebt, könnte
er einen anderen Wächter benennen. Sollte er aber sterben, und
Dorilys, einmal vermählt, nach Scathfell gebracht werden, wären
meine Chancen, lange zu leben, nicht sehr groß. Er verspürte
den plötzlichen Wunsch, Aldaran daran zu hindern, mit seinen
Verwandten zu verhandeln. Hätte er dies mit Fremden getan, wäre
eine Leronis hinzugezogen worden, deren
Wahrzauber Lügen oder Doppelzüngigkeit unmöglich gemacht hätte.
Aber Aldaran konnte – auch wenn er seinen Verwandten nicht
allzusehr traute – sie nicht dadurch beleidigen, daß er darauf
bestand, eine Zauberin einzusetzen, um den Handel zu
besiegeln.
Schließlich bekräftigten sie ihn mit einem Händedruck und
unterzeichneten den vorbereiteten Vertrag – auch Donal wurde zum
Unterzeichnen aufgefordert –, und damit war die Angelegenheit
erledigt. Man tauschte brüderliche Umarmungen aus und ging in den
Saal hinunter, wo die anderen Gäste sich versammelt hatten, um das
Ereignis dieses Tages mit Bankett, Tanz und Lustbarkeiten zu
feiern.
Aber Donal, der Darrens Augen auf sich gerichtet sah, dachte
erneut: Ich muß auf der Hut sein. Dieser Mann
ist mein Feind.
9
Als sie in die große Halle kamen, empfing
Dorilys, zusammen mit ihrer Pflegemutter, der Leronis Margali, dort ihre Gäste. Zum ersten Mal
war sie nicht wie ein kleines Mädchen, sondern wie eine Frau
gekleidet und trug ein langes blaues Kleid, das an Halsöffnung und
Ärmeln mit goldenen Stickereien verziert war. Ihr leuchtendes,
kupferfarbenes Haar war zu einem Zopf geflochten und wurde von
einer Schmetterlings-Spange gehalten.
Sie sah weit älter aus, als sie tatsächlich war und hätte durchaus
fünfzehn oder sechzehn sein können. Donal war von ihrer Schönheit
wie vor den Kopf geschlagen, aber er war nicht nur erfreut, diese plötzliche Veränderung zu
sehen.
Seine Vorahnung bestätigte sich, als Darren, der Dorilys
vorgestellt wurde, sie blinzelnd ansah. Er war offensichtlich
hingerissen, neigte sich über ihre Hand und sagte galant: »Cousine,
es ist mir eine Freude. Dein Vater hat mich glauben gemacht, daß
ich mit einem kleinen Mädchen verlobt werde, und plötzlich sehe ich
eine liebenswerte Frau, die mich erwartet. Es ist genauso, wie ich
dachte: Kein Vater glaubt, daß seine Tochter jemals reif zur Heirat
ist.«
Donal verspürte plötzlich eine böse Ahnung. Warum hatte Margali das
getan? Aldaran hatte mit Absicht in den Heiratsvertrag geschrieben,
daß es keine Vermählung geben sollte, bevor Dorilys nicht fünfzehn
war. Er hatte deutlich betont, daß sie nur ein kleines Mädchen sei,
und jetzt hatte man diese Behauptung Lügen gestraft, indem man
Dorilys vor allen versammelten Gästen wie eine erwachsene Frau
präsentierte. Als Darren – immer noch Schmeicheleien flüsternd –
Dorilys zum ersten Tanz führte, blickte Donal ihnen besorgt
hinterher. Er fragte Margali, aber sie schüttelte den
Kopf.
»Ich habe das nicht gewollt, Donal, es war Dorilys’ Wille. Ich
wollte ihr nicht widersprechen, da sie sich so sehr darauf
versteift hatte. Du weißt so gut wie ich, daß es nicht klug ist,
Dorilys zu reizen, wenn sie etwas haben will. Das Kleid gehörte ihrer Mutter, und wenn es
mir auch leid tut, mein kleines Mädchen so erwachsen zu sehen, so
ist sie nun einmal in es hineingewachsen …«
»Aber das ist sie nicht«, unterbrach
Donal. »Mein Pflegevater hat beträchtliche Zeit damit verbracht,
Lord Scathfell zu überzeugen, daß Dorilys noch ein Kind ist und
viel zu jung, um verheiratet zu werden. Margali, sie ist wirklich
nur ein kleines Kind, du weißt es so gut wie ich!«
»Ja, ich weiß es, und ein ausgesprochen kindliches dazu«, sagte
Margali, »aber ich konnte am Abend eines Festes nicht mit ihr
streiten. Sie hätte ihr Mißvergnügen alle deutlich spüren lassen!
Ich kann sie manchmal dazu bringen, in wichtigen Fragen meinen
Willen zu erfüllen. Aber wenn ich versuchen würde, ihn ihr bei
kleinen Dingen aufzuzwingen, würde sie mir nicht mehr zuhören, wenn
ich versuchte, ihr in ernsteren Angelegenheiten Anordnungen zu
geben. Macht es wirklich etwas aus, welches Kleid sie bei ihrer
Verlobung trägt, da doch Lord Aldaran in den Heiratsvertrag
aufgenommen hat, daß sie nicht vermählt werden soll, ehe sie
fünfzehn ist?«
»Ich vermute nicht, solange mein Pflegevater noch gesund und
kräftig genug ist, seinen Willen durchzusetzen«, sagte Donal. »Aber
die Erinnerung daran könnte später Ärger verursachen, wenn in den
nächsten Jahren etwas passieren sollte.«
Margali würde ihn nicht verraten (sie war seit seiner frühesten
Kindheit nett zu ihm und außerdem eine Freundin seiner Mutter
gewesen), aber dennoch war es unklug, so vom Fürsten eines Reiches
zu sprechen. Er senkte seine Stimme: »Lord Scathfell würde keine
Skrupel kennen, das Kind seiner ehrgeizigen Pläne wegen in eine Ehe
zu zwingen und Aldaran festzusetzen; das gleiche gilt für Darren.
Wäre sie heute als Kind aufgetreten, könnte die öffentliche Meinung
solchen Absichten einen Dämpfer – und sei er noch so klein –
aufsetzen. Jetzt werden die, die sie heute abend in den Kleidern
einer Frau sehen und für erwachsen halten, keine Veranlassung
sehen, sich nach ihrem wirklichen Alter zu erkundigen. Sie werden
sich nur an eine erwachsene Frau erinnern und annehmen, daß die
Scathfells das Recht auf ihrer Seite haben.«
Jetzt sah Margali ebenfalls besorgt aus, aber sie versuchte, es mit
einem Schulterzucken abzutun. »Ich glaube, du steigerst dich
grundlos in Alpträume hinein, Donal. Es gibt keinen Grund
anzunehmen, daß Lord Aldaran nicht noch viele Jahre lebt.
Sicherlich wird er lang genug unter uns sein, um seine Tochter
davor zu bewahren, verheiratet zu werden, bevor sie alt genug ist.
Und du weißt, Donal, daß sie ein launisches Geschöpf ist. Heute mag
es ihr gefallen, mit den Kleidern und Edelsteinen ihrer Mutter die
Dame zu spielen. Morgen wird das vergessen sein. Dann spielt sie
wieder Bockspringen und Murmeln mit den anderen Kindern, und keine
Menschenseele wird sie für etwas anderes halten, als das Kind, das
sie in Wahrheit ist.«
»Gnädiger Avarra, gebe, daß es so ist«, sagte Donal
ernst.
»Nun, ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, Donal… Aber jetzt
mußt du deine Pflicht den Gästen deines Vaters gegenüber erfüllen.
Hier sind viele Frauen, die darauf warten, mit dir zu tanzen.
Ebenso wie Dorilys, die sich vermutlich wundert, warum ihr Bruder
sie nicht zum Tanz führt.«
Donal versuchte zu lachen, als er Dorilys, die neben Darren von der
Tanzfläche zurückkehrte, von einer Gruppe junger Männer umringt
sah. Es handelte sich um den niederen Adel aus den Hügeln, Aldarans
Gefolgsleute. Es mochte stimmen, daß sich Dorilys damit vergnügte,
die Dame zu spielen, aber sie machte ein sehr erfolgreiches Spiel
daraus, lachend und flirtend und allzu offensichtlich
Schmeicheleien und Bewunderung genießend. Vater wird sie nicht zurechtweisen. Sie sieht ihrer Mutter
allzu ähnlich. Und er ist auf seine schöne Tochter stolz. Warum
sollte ich mich sorgen, oder Dorilys ihr Vergnügen mißgönnen?
Inmitten unserer Verwandten kann ihr bei einer Tanzveranstaltung
nichts geschehen. Morgen wird es ohne Zweifel so sein, wie Margali
vorhergesehen hat. Dorilys wird mit dem bis zu den Knien
hochgebundenem Rock und einem langen Pferdeschwanz wieder wie ein
Wildfang herumtollen, und Darren wird erkennen, daß die wirkliche
Dorilys ein Kind ist, das lediglich Spaß daran hat, sich in das
Gewand seiner Mutter zu kleiden. Sie ist noch weit entfernt davon,
eine Frau zu sein Donal versuchte, seine Befürchtungen zur
Seite zu schieben, wandte sich seinen Pflichten als Gastgeber zu,
plauderte höflich mit einigen älteren Witwen, tanzte mit jungen
Frauen, die irgendwie vergessen oder vernachlässigt worden waren
und trat unauffällig zwischen Lord Aldaran und die aufdringlichen
Schmarotzer, die ihm Verdruß bereiten konnten, indem sie unpassende
Bittgesuche an ihn richteten, die er nicht zurückweisen konnte,
weil man sie in aller Öffentlichkeit äußerte. Jedesmal, wenn sein
Blick Dorilys fand, sah er sie von immer wiederkehrenden Wellen
junger Männer umringt. Sie genoß ihre Beliebtheit sehr
deutlich.
Der Abend war weit fortgeschritten, als Donal endlich die
Gelegenheit bekam, mit seiner Schwester zu tanzen. Sie schürzte die
Lippen und schmollte wie ein Kind, als er auf sie zutrat.
»Ich hatte schon gedacht, du würdest überhaupt nicht mit mir
tanzen, Bruder, und mich all diesen Fremden überlassen.«
Ihr Atem roch süß, und so fragte er mit einem leichten
Stirnrunzeln: »Dorilys, wieviel hast du getrunken?«
Schuldbewußt senkte sie den Blick. »Margali hat mir gesagt, ich
solle nicht mehr als einen Becher Wein trinken, aber ich finde es
traurig, wenn ich bei meiner eigenen Verlobung wie ein kleines
Mädchen behandelt werde, das mit Einbruch der Nacht zu Bett
gebracht wird.« »Ich glaube allerdings, daß du nichts anderes
bist«, sagte Donal, der über das beschwipste Mädchen beinahe lachen
mußte. »Ich werde Margali sagen, sie soll dich zu deiner Zofe
bringen. Dir wird übel werden, Dorilys, und dann wird dich niemand
mehr für eine Dame halten.« »Ich fühle mich nicht übel, nur
glücklich«, sagte sie, legte dabei ihren Kopf in den Nacken und
lächelte zu ihm auf. »Komm, Donal, schimpf mich nicht aus. Den
ganzen Abend habe ich darauf gewartet, mit meinem Bruder zu tanzen;
willst du es überhaupt?«
»Wie du wünschst, Chiya.« Er führte sie
auf die Tanzfläche. Sie war eine vorzügliche Tänzerin, aber mitten
im Tanz stolperte sie über den ungewohnt langen Rock ihres Gewandes
und fiel schwer gegen ihn. Er hielt sie, um sie vor einem Sturz zu
bewahren, fest, und sie warf ihre Arme um seinen Hals und legte
lachend den Kopf an seine Schulter. »Oh, oh, vielleicht habe ich
doch zuviel getrunken. Aber alle meine Partner haben mich nach dem
Tanz gebeten, mit ihnen zu trinken, und ich wußte nicht, wie ich
zugleich höflich sein und sie abweisen konnte. Ich muß Margali
fragen, was unter diesen Umständen höf… höffisch ist.« Ihre Zunge
strauchelte über das Wort, und sie kicherte. »Ist es so, wenn man sich betrunken fühlt, Donal,
schwindlig und als wären alle meine Glieder aus zusammengebundenen
Kügelchen gemacht, wie die Puppen, die die alten Frauen auf dem
Markt von Caer Donn verkaufen? Wenn es so ist, dann mag ich es,
glaube ich.«
»Wo ist Margali?« fragte Donal und spähte rund um die Tanzfläche
nach der Leronis. Innerlich faßte er
den Beschluß, mit der Dame einige harte Worte zu sprechen. »Ich
werde dich sofort zu ihr bringen, Dori.« »Oh, arme Margali«, sagte
Dorilys mit unschuldigem Blick. »Ihr geht es nicht gut. Sie sagte,
ihre Kopfschmerzen wirkten so heftig auf ihre Augen, daß sie nichts
sehen könne, und ich habe sie dazu gebracht, sich hinzulegen und
auszuruhen.« Mit abwehrendem Trotz fuhr sie fort: »Ich hatte genug
davon, daß sie mit diesem vorwurfsvollen Blick herumstand, als sei
sie Lady Aldaran, und ich nur eine
Dienerin! Ich lasse mich von Dienern nicht
herumkommandieren!«
»Dorilys!« meinte Donal zornig. »So darfst du nicht reden. Margali
ist eine Leronis und Edelfrau. Und sie
ist eine Verwandte deines Vaters. Sie ist keine Dienerin! Dein
Vater hat recht daran getan, dich in ihre Obhut zu geben, und es
ist deine Pflicht, ihr zu gehorchen, bis du alt genug bist, für
dich selbst verantwortlich zu sein! Du bist ein ungezogenes kleines
Mädchen! Du solltest deiner Pflegemutter weder Kopfschmerzen
bereiten noch grob mit ihr sprechen. Sieh doch – du hast dir selbst
Schande gemacht, indem du in Gesellschaft beschwipst bist, als
wärst du ein Bauernmädchen aus den Ställen! Und Margali ist nicht
hier, um dich unter ihre Fittiche zu nehmen!« Er war bestürzt.
Donal selbst, ihr Vater und Margali waren die einzigen Menschen,
gegen die Dorilys ihren Eigensinn noch nie durchgesetzt hatte.
Wenn sie nicht länger zuläßt, von Margali
angeleitet zu werden, was sollen wir dann mit ihr anstellen? Sie
ist verzogen und unkontrollierbar, aber ich hatte gehofft, Margali
könnte sie im Zaum halten, bis sie erwachsen ist.
»Ich schäme mich wirklich für dich, Dorilys, und Vater wird sehr
verärgert sein, wenn er erfährt, was du mit Margali, die immer nett
und freundlich zu dir gewesen ist, angestellt hast.«
Ihr störrisches kleines Kinn reckend sagte sie: »Ich bin Lady
Aldaran, und ich kann tun, was ich will.«
Bestürzt schüttelte Donal den Kopf. Dieses Mißverhältnis traf ihn:
Daß sie wie eine erwachsene Frau aussah – und eine sehr hübsche
zudem – und redete und handelte wie das verwöhnte, hitzige Kind,
das sie in Wirklichkeit war. Ich wünschte,
Darren könnte sie jetzt sehen. Ihm würde klar werden, welches Kind
sie trotz des Gewandes und der Edelsteine einer Dame
ist.
Und doch, überlegte Donal, war sie nicht nur ein Kind; ihr
Laran, schon so stark wie seins, hatte
ihr ermöglicht, Margali heftige Kopfschmerzen zu verursachen.
Vielleicht sollten wir uns glücklich schätzen,
daß sie nicht danach trachtet, Donner und Blitz über uns zu
bringen. Das könnte sie sicher, wenn sie wirklich erzürnt
ist! Er dankte den Göttern, daß Dorilys trotz ihres seltenen
Laran keine Telepathin war und seine
Gedanken nicht lesen konnte.
Schmeichelnd sagte er: »Du solltest nicht hier in der Gesellschaft
bleiben, wenn du betrunken bist, Chiya.
Laß mich dich nach oben bringen. Es ist schon spät, und unsere
Gäste werden bald zu Bett gehen. Laß uns gehen, Dorilys.«
»Ich will nicht zu Bett gehen«, sagte Dorilys schmollend. »Ich habe
erst diesen einen Tanz mit dir gehabt, und Vater hat überhaupt noch
nicht mit mir getanzt. Außerdem mußte ich Darren versprechen, daß
ich später noch einmal mit ihm tanze. Schau – da kommt er, um mich
zu holen.«
Verzweifelt flüsternd drängte Donal: »Aber du bist nicht in der
Verfassung zu tanzen, Dorilys. Du wirst über deine eigenen Füße
fallen.« »Nein, das werde ich nicht, wirklich … Darren«, sagte sie
und ging, einen listigen Blick in den Augen, der erwachsen wirkte,
auf ihren Verlobten zu.»Tanz mit mir; Donal hat mich ausgeschimpft,
weil er als älterer Bruder das Recht dazu zu haben glaubt, und ich
bin es leid, ihm zuzuhören.«
Donal sagte: »Ich habe versucht, meine Schwester zu überzeugen, daß
das Fest für ein junges Mädchen wie sie lange genug gedauert hat.
Vielleicht ist sie eher bereit, sich von dir, ihrem künftigen
Gatten, belehren zu lassen, Darren.«
Wenn er betrunken ist, dachte Donal,
werde ich sie nicht in seine Obhut geben,
selbst wenn ich mich mit ihm in aller Öffentlichkeit streiten
muß.
Aber Darren schien sich ganz in der Hand zu haben. Er sagte: »Es
ist tatsächlich schon spät, Dorilys. Was hältst du davon
…«
Plötzlich erklang am anderen Ende der Halle ein
Aufschrei.
»Großer Gott!« rief Darren, der sich dem Lärm zuwandte. »Lord
Storns jüngster Sohn und dieser junge Bursche von Daniel Forst. Sie
werden sich schlagen. Sie werden ihre Waffe ziehen.«
»Ich muß gehen«, sagte Donal bestürzt. Er erinnerte sich an die
Pflichten, die ihm als Protokollchef des offiziellen Gastgebers
oblagen. Er blickte Dorilys besorgt an. Mit ungewöhnlicher
Freundlichkeit sagte Darren: »Ich werde mich um Dorilys kümmern,
Donal. Geh und kümmere dich um sie.«
»Danke«, sagte Donal hastig. Darren war nüchtern, und es lag in
seinem ureigensten Interesse, seine Verlobte davon abzuhalten, sich
in der Öffentlichkeit aufsehenerregend zu verhalten. Donal eilte
auf die Stelle zu, an der die beiden jüngsten Mitglieder zweier
rivalisierender Familien in einen lauten und wütenden Streit
verwickelt waren. Er war für solche Situationen geschult, gesellte
sich zu ihnen, schaltete sich in ihre Auseinandersetzung ein und
überzeugte jeden der beiden Streitenden davon, daß er auf seiner
Seite stand. Dann brachte er sie taktvoll auseinander. Lord Storn
nahm sich seines streitbaren Sohns an, und Donal nahm den jungen
Padreik Daniel in seine Obhut. Es dauerte einige Zeit, bis der
junge Mann besonnener wurde, sich entschuldigte und nach seinen
Verwandten suchte, um sich zu verabschieden. Danach schaute sich
Donal im Ballsaal nach seiner Schwester und Darren um. Als er keine
Spur von ihnen entdeckte, fragte er sich, ob es Darren gelungen
war, seine Schwester zu überreden, die Tanzfläche zu verlassen und
zu ihrer Zofe zu gehen.
Wenn er Dorilys beeinflussen kann, sollten wir
vielleicht sogar dankbar dafür sein. Einige der Aldarans besitzen
die Befehlsstimme. Vater hatte sie, als er jünger war. Hat Darren
es geschafft, sie Dorilys gegenüber anzuwenden?
Suchend hielt er nach ihm Ausschau, aber erfolglos. Ein vages
Gefühl böser Vorahnungen beschlich ihn. Wie zur Bestärkung seiner
Ängste hörte er ein schwaches, entferntes Donnergrollen. Er
ermahnte sich, sich nicht selbst lächerlich zu machen. Es war die
Jahreszeit für Stürme in den Bergen. Und trotzdem fürchtete er
sich. Wo war Dorilys?
Sobald Donal zu den streitenden Gästen geeilt
war, legte Darren seine Hand unter Dorilys’ Arm und sagte zu ihr:
»Deine Wangen sind gerötet, Damisela.
Ist es die Hitze des Ballsaals mit den vielen Leuten, oder bist du
vom Tanzen erschöpft?«
»Nein«, sagte Dorilys und drückte die Hand an ihr erhitztes
Gesicht, »aber Donal meint, ich hätte zuviel Wein getrunken, und
deshalb hat er mit mir geschimpft. Als wäre ich ein kleines
Mädchen, auf das er noch immer aufpassen muß, wollte er mich zu
Bett schicken.«
»Mir scheint nicht, daß du ein Kind bist«, sagte Darren lächelnd,
und sie ging näher auf ihn zu.
»Ich wußte, daß du mir recht geben würdest.«
Darren dachte: Warum haben sie mir erzählt,
sie sei ein kleines Mädchen? Er musterte den schlanken
Körper, dessen Konturen von dem langen, enganliegenden Kleid betont
wurden, von oben bis unten. Sie ist kein Kind!
Und doch glauben sie, sie könnten mich noch länger vertrösten! Hat
dieser alte Bock von meinem Onkel vor, mit mir eine Zeitlang zu
spielen, in der Hoffnung, eine vorteilhaftere Ehe zu arrangieren,
oder um sich Zeit zu verschaffen, den Bastard von Rockraven zu
seinem Erben zu erklären?
»Wirklich, es ist heiß hier«, sagte Dorilys und trat noch näher auf
Darren zu. Ihre Finger, warm und schweißbedeckt, legten sich auf
seinen Arm, und er lächelte zu ihr hinab.
»Dann komm! Gehen wir auf den Balkon, wo es kühler ist«, drängte
Darren, während er sie zu einer der vorhanggeschützten Türen zog.
Dorilys zögerte, denn sie war von Margali sorgsam erzogen worden
und wußte, daß es für eine junge Frau nicht als schicklich galt,
den Tanzboden mit jemand anderem als einem Verwandten zu verlassen.
Aber störrisch dachte sie: Darren ist mein
Cousin und mir als Ehemann versprochen.
Dorilys spürte die kühle Luft, die von den Bergen her über Schloß
Aldaran wehte, und tat, gegen die Balkonbrüstung gelehnt, einen
tiefen Atemzug.
»Oh, es war so heiß dort drinnen. Danke, Darren. Ich bin froh, aus
dem überfüllten Saal herauszukommen. Du bist so nett zu mir«, sagte
sie mit solcher Unschuld, daß Darren die junge Frau stirnrunzelnd
und überrascht anschaute.
Wie kindlich sie für ein Mädchen war, das so offensichtlich
erwachsen schien! Flüchtig fragte er sich, ob sie dumm oder sogar
schwachsinnig sein konnte. Aber was machte das schon? Sie war Erbin
des Reiches von Aldaran. Er mußte nur noch ihre Zuneigung gewinnen,
dann würde sie sich schon von allein auflehnen, wenn ihre
Verwandten nach einem Grund suchten, ihn seines Anspruchs zu
berauben. Je eher die Hochzeit stattfand, desto besser. Es war eine
Schande, daß sein Onkel ihn vier Jahre warten lassen wollte! Das
Mädchen war offensichtlich heiratsfähig, und das Bestehen auf
Aufschub schien ihm völlig unvernünftig zu sein.
Wenn sie so kindisch war, machte das seine Aufgabe leichter! Er
drückte die Hand, die sie vertrauensvoll in seine legte, und sagte:
»Kein Mann dieser Welt würde auch nur einen Moment zögern, dir
solche Nettigkeit zu erweisen, Dorilys
– sich einen Augenblick mit seiner versprochenen Braut
zurückzuziehen! Und wenn sie schön ist wie du, dann ist diese
Nettigkeit eher Vergnügen als Pflicht.«
Dorilys fühlte, wie sie bei diesem Kompliment erneut errötete.
Begierig fragte sie: »Bin ich schön? Margali sagte mir, ich sei es,
aber sie ist nur eine alte Frau, und ich glaube nicht, daß sie so
etwas beurteilen kann.« »Du bist in der Tat außerordentlich schön,
Dorilys«, sagte Darren, und in dem düsteren Licht, das in Streifen
aus dem Ballraum schien, sah sie sein Lächeln.
Sie dachte: Er meint es tatsächlich. Er ist
nicht nur nett zu mir! Sie fühlte die erste kindliche
Erregung des Bewußtseins ihrer Macht, der Macht der Schönheit über
die Männer. Sie sagte: »Man hat mir gesagt, meine Mutter sei schön
gewesen. Sie starb, als ich geboren wurde. Vater sagte, ich sähe
wie sie aus. Hast du sie einmal gesehen, Darren?« »Nur, als ich ein
Junge war«, erwiderte Darren. »Aber es stimmt. Aliciane von
Rockraven wurde für eine der schönsten Frauen von Kadarin bis zur
Mauer um die Welt gehalten. Es gab Leute, die sagten, sie hätte
deinen Vater verzaubert, aber sie brauchte keine Hexerei außer
ihrer eigenen Schönheit. Du bist wirklich wie sie. Besitzt du auch
ihre Singstimme?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Dorilys. »Ich kann zwar gut singen,
wie meine Erzieherin sagt, aber sie meint auch, ich sei zu jung,
als daß man jetzt schon schließen könne, ob ich eine schöne Stimme
haben werde oder nur die Liebe zur Musik und einige
Kunstfertigkeit. Magst du Musik, Darren?«
»Ich verstehe ein wenig davon«, sagte er lächelnd und rückte näher
an sie heran, »und es bedarf keiner schönen Stimme, um eine Frau in
meinen Augen liebenswert zu machen. Komm – ich bin dein Cousin und
versprochener Ehemann. Willst du mich küssen, Dorilys?«
»Wenn du es wünschst«, sagte sie entgegenkommend und wandte ihm
ihre Wange zu. Darren, der sich erneut fragte, ob das Mädchen ihn
aufzog oder blöde war, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände,
schlang beide Arme um sie und küßte sie auf die Lippen.
Dorilys, die sich dem Kuß hingab, spürte durch die
alkoholbeeinflußte Verschwommenheit ihrer Gefühle eine schwache
Mahnung zur Vorsicht. Margali hatte sie gewarnt. Oh, Margali versucht dauernd, mir den Spaß zu
verderben! Sie lehnte sich an Darren, ließ sich von ihm fest
an sich ziehen, genoß die Berührung und öffnete seinen wiederholten
Küssen den Mund. Dorilys war kein Telepath, aber sie besaß
Laran, und sie erfaßte den
verschwommenen Fleck einer in ihm aufsteigenden Empfindung.
Vielleicht ist es doch gar nicht so
schlecht. Sie fragte sich, wieso ihn das überraschen konnte.
Nun, schließlich, vermutete sie, muß es für einen jungen Mann
ärgerlich sein, wenn man ihm sagt, daß er mit einer Cousine
verheiratet wird, die er nicht kennt. Sie fühlte sich irgendwie
glücklich, weil Darren sie für schön hielt. Er fuhr fort sie zu
küssen, langsam, regelmäßig, und spürte, daß sie sich ihm nicht
widersetzte. Dorilys war zu betrunken, zu unaufmerksam, um sich
klarzumachen, was geschah, aber als seine Finger ihr Mieder
öffneten, hineinglitten, und sich über ihre bloßen Brüste legten,
fühlte sie plötzlich Scham und stieß ihn zurück.
»Nein, Darren, das ziemt sich nicht. Wirklich, das darfst du
nicht«, protestierte sie und merkte, wie schwer ihre Zunge geworden
war. Zum ersten Mal wurde sie sich bewußt, daß Donal vielleicht
Recht gehabt hatte: Sie hätte nicht soviel trinken sollen. Darrens
Gesicht war gerötet. Er schien nicht willens, sie loszulassen. Sie
nahm seine Hände fest zwischen ihre kleinen Finger und schob sie
weg.
»Nein, Darren, nicht!« Ihre Hände fuhren nach oben, um die
entblößten Brüste zu bedecken. Mit unsicheren Händen bemühte sie
sich die Schnüre wieder zuzuknüpfen.
»Nein, Dorilys«, sagte Darren mit solch schwerer Zunge, daß Dorilys
sich fragte, ob auch er zuviel getrunken hatte. »Es ist alles in
Ordnung. Es ist nicht unziemlich. Wir können verheiratet werden,
sobald du willst. Du wärst doch gern mit mir verheiratet, oder?« Er
zog sie an sich und küßte sie erneut, fest und bestimmt. Er
murmelte: »Dorilys, hör mir zu. Wenn du möchtest, nehme ich dich
jetzt, dann muß dein Vater erlauben, daß die Hochzeitszeremonie
sofort stattfindet.«
Jetzt begann Dorilys vorsichtig zu werden. Sie entzog ihm den Mund,
trat einen Schritt zurück und begann sich, wie durch einen
geistigen Nebel, zu fragen, warum sie überhaupt allein mit ihm
hinausgegangen war. Sie war immer noch unschuldig genug, um nicht
ganz sicher zu sein, was er von ihr wollte, aber sie wußte, daß es
das war, was sie nicht tun durfte, und – was noch schwerer wog – er
wirklich nicht verlangen sollte. Während sie mit zitternden Händen
versuchte, ihr Mieder zuzuschnüren, sagte sie: »Mein Vater –
Margali sagt, ich sei noch nicht alt genug, um zu
heiraten.«
»Ach, die Leronis. Was weiß eine alte
Jungfer von Liebe und Ehe?« wandte Darren ein. »Komm und küß mich,
meine kleine Geliebte. Nein, bleib ruhig in meinen Armen. Laß mich
dich noch einmal küssen …« Sie spürte die Bestimmtheit, die in
seinem Kuß lag, jetzt auf erschrekkende Weise. Sein Gesicht war das
Gesicht eines Fremden, aufgedunsen, dunkel vor Entschlossenheit,
und seine Hände nicht mehr sanft, sondern stark und
fordernd.
»Darren, laß mich los«, bat sie. »Wirklich, wirklich, das darfst du
nicht!« Ihre Stimme zitterte vor Angst. »Mein Vater wird es nicht
mögen. Ich bitte dich, Cousin!« Sie stieß ihn fort, aber sie war
ein Kind und noch halb betrunken, und Darren ein erwachsener Mann,
nüchtern und eiskalt. Ihr trübes Laran
erfaßte seine Entschlossenheit, seine Absicht und den
dahinterliegenden Anflug von Grausamkeit.
»Nein, wehr dich nicht gegen mich«, murmelte er. »Wenn es vorbei
ist, wird dein Vater nur zu froh sein, dich mir sofort zu geben. Es
wird dir nicht mißfallen; nicht wahr, meine Kleine, meine Schöne?
Hier, ich halte dich fest.«
Dorilys begann sich in plötzlichem Schrecken zu wehren. »Laß mich
los, Darren! Laß mich los! Mein Vater wird sehr wütend sein; Donal
wird wütend auf dich sein. Laß mich los, Darren, oder ich schreie
um Hilfe!«
Sie sah in seinen Augen plötzlich Furcht und öffnete den Mund, um
ihre Drohung wahrzumachen. Darren erkannte ihre Absicht sofort, und
seine Hand legte sich fest und entschlossen über ihren Mund und
dämpfte den Schrei, indem er sie enger an sich zog. Die Angst
machte in Dorilys plötzlicher Wut Platz. Wie
kann er es wagen! In zunehmender Erregung streckte sie ihre
Kräfte aus, (so wie sie es als
Kleinkind schon getan hatte, wenn jemand sie gegen ihren Willen
berührte) und schlug zu …
Darrens Hände ließen sie los. Er stieß einen gedämpften
Schmerzensschrei aus. »Oh, du kleiner Teufel, wie kannst du es
wagen!« Er holte aus und schlug ihr so heftig auf die Wange, daß
sie fast ohnmächtig wurde. »Das macht keine Frau der Welt mit mir!
Du bist nicht unwillig; du willst nur umworben und umschmeichelt
werden! Das ist jetzt vorbei. Dafür ist es zu spät!«
Als sie zu Boden fiel, kniete er sofort neben ihr nieder und zerrte
an ihren Kleidern. Dorilys, in wildem Zorn und voll Entsetzen,
schlug erneut zu, hörte das Krachen des
Donners durch ihren eigenen Aufschrei und sah das gleißende Licht,
das Darren traf. Mit verzerrtem Gesicht rollte er zurück und fiel
schwerfällig über sie. Erschreckt stieß sie ihn fort und rappelte
sich auf, keuchend, erschöpft. Darren lag bewußtlos am Boden, ohne
eine Bewegung. Nie, noch nie hatte sie so fest zugeschlagen, …
Oh, was habe ich getan!
»Darren«, flehte sie, während sie neben der bewegungslosen Gestalt
kauerte, »Darren, steh auf! Ich wollte dich nicht verletzen, du
darfst nur nicht so grob mit mir umgehen! Das mag ich nicht.
Darren! Darren! Habe ich dich wirklich verletzt? Cousin, sprich mit
mir!« Aber er war stumm, und in plötzlichem Entsetzen und ohne
einen Gedanken an ihr zerzaustes Haar und das zerrissene Kleid zu
verschwenden, rannte sie auf die Tür zum Ballsaal zu.
Donal! war ihr einziger Gedanke.
Donal wird wissen, was zu tun ist! Ich muß ihn
finden!
Donal war durch den Angstschrei seiner Schwester aufgeschreckt
worden. Er hatte in seinem Kopf widergehallt, obwohl er im Ballsaal
nicht zu hören gewesen war. Mit einer hastigen Entschuldigung an
die Freunde seines Großvaters, die mit ihm sprechen wollten, hatte
er sich von ihnen gelöst und befand sich nun, geführt von Dorilys’
lautlosem Schrei, auf der Suche.
Dieser Bastard Darren! Er öffnete die
Balkontür, und Dorilys fiel mit aufgelöstem Haar und dem am Hals
geöffneten Kleid in seine Arme. »Dorilys! Chiya, was ist passiert?« fragte er. Sein Herz
klopfte. Die Kehle war ihm vor Angst wie zugeschnürt. Oh, Gott,
hatte Darren sich erdreistet, Hand an ein elfjähriges Kind zu
legen?
»Komm, Bredilla. In diesem Zustand darf
dich keiner sehen. Komm, ordne dein Haar, Chiya. Und schließe dein Mieder, schnell«, drängte
er sie und überlegte, wie er es anstellen sollte, sie an ihrem
Vater vorbeizubekommen. Lord Aldaran würde sich mit seinen
Verwandten von Scathfell auseinandersetzen. Donal kam überhaupt
nicht auf den Gedanken, daß ein solcher Streit ihm selbst zum
Vorteil gereichen konnte. »Weine nicht, kleine Schwester. Er war
sicher betrunken und wußte nicht, was er tat. Jetzt siehst du,
warum eine junge Frau nicht so viel trinken darf: Um nicht die
Kontrolle über sich zu verlieren. Nur so verhindert sie, daß junge
Männer auf solche Ideen kommen. Komm, Dorilys, weine nicht«, flehte
er.
Mit bebender Stimme sagte sie: »Darren … Ich habe ihn verletzt. Ich
weiß nicht, aber etwas ist passiert. Er liegt da und spricht nicht
mit mir. Zuerst wollte ich, daß er mich küßte, aber dann wurde er
grob. Ich habe ihm Einhalt geboten, da schlug er mich. Ich wurde
wütend und – habe den Blitz kommen lassen. Aber ich wollte ihn
nicht verletzen, wirklich, das wollte ich nicht. Bitte, Donal,
bleib hier und sieh dir an, was mit ihm los ist.«
Avarra, gnädige Gottheit! Donal, dessen
Atem in Stößen kam, folgte seiner Schwester auf den dunklen Balkon,
kniete neben Darren nieder und wußte im gleichen Moment, was er
entdecken würde. Darren, das Gesicht zum dunklen Himmel gerichtet,
lag bewegungslos, sein Körper wurde schon kalt.
»Er ist tot, Dorilys. Du hast ihn getötet«, sagte er und zog sie
schützend in seine Arme. Er spürte, daß ihr Körper wie ein Baum im
Wind zitterte. Um die Höhen von Burg Aldaran krachten und grollten
Donnerschläge, die allmählich verstummten.
10
»Und jetzt«, sagte Lord Scathfell düster,
»hören wir, wenn die Götter es wollen, die Wahrheit über diese
schreckliche Angelegenheit.« Die Gäste waren verabschiedet und auf
ihre Zimmer oder zu den Pferden gebracht worden. Über den Höhen von
Schloß Aldaran zeigte die blutige, rote Sonne durch schwere Wolken
die ersten Anzeichen ihres Gesichts. Man hatte Darrens Körper in
die Burgkapelle gebracht, und obwohl sie nicht miteinander
befreundet gewesen waren, hatte Donal ein Gefühl des Bedauerns
nicht unterdrücken können, als er den jungen Mann starr und
erstaunt, mit unordentlicher Kleidung, den Kopf in einem Krampf von
Schmerz und Entsetzen zurückgeworfen, dort liegen sah. Er hat ein unwürdiges Ende gehabt, war sein erster
Gedanke gewesen. Es drängte ihn, die Kleidung des jungen Manns in
Ordnung zu bringen; doch dann wurde ihm klar, daß dies alle Spuren
von Dorilys einziger Verteidigung beseitigen würde.
Blutschuld auf einem so jungen Kind,
hatte er schaudernd gedacht, war von dem Leichnam zurückgetreten
und in Lord Aldarans Empfangszimmer gegangen.
Margali war aus dem tiefen Schlaf geweckt worden, der sie übermannt
hatte, als ihre Schmerzen aufhörten. Mit einem dicken Schal über
dem Nachtkleid saß sie da, während Dorilys in ihren Armen
schluchzte. Das Mädchen sah jetzt wie ein erschöpftes Kind aus, ihr
Gesicht vom langen Weinen fleckig, ihr Haar in strähnigen Locken
herabfallend, die geschwollenen Augenlider schläfrig über die Augen
gesenkt. Einmal hatte sie beinahe aufgehört, aber immer wieder
schüttelte ein neues, krampfhaftes Schluchzen ihre schmalen
Schultern. Ungeachtet der Tatsache, daß ihre Beine den Boden
berührten, wirkte sie auf Margalis Schoß wie ein kleines Kind. Ihr
kunstvolles Kleid war beschmutzt und zerknittert.
Über den Kopf des Kindes hinweg sah Margali Lord Mikhail von
Aldaran an und sagte: »Ihr wollt also den Wahrzauber, mein Fürst?
Gut, aber laßt mich wenigstens die Zofe rufen und das Kind zu Bett
bringen. Sie ist die ganze Nacht wach gewesen, und Ihr könnt sehen
–« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die aufgelöst weinende
Dorilys, die sich an sie klammerte.
»Es tut mir leid, Mestra, aber Dorilys
muß bleiben«, sagte Aldaran. »Wir müssen, fürchte ich, auch hören,
was sie zu sagen hat, und zwar unter Wahrzauber … Dorilys« – seine
Stimme war sanft – »laß deine Pflegemutter los, mein Kind, und setz
dich neben Donal. Niemand wird dir weh tun. Wir wollen nur wissen,
was geschehen ist.«
Widerstrebend löste Dorilys ihren Griff von Margalis Hals. Sie war
steif, von Entsetzen gepackt. Donal mußte an ein kleines Kaninchen
denken, das vor einem Raubtierrudel in den Bergen saß. Sie setzte
sich auf die niedrige Bank neben ihn. Er streckte seine Hand nach
ihr aus, und ihre kleinen Finger ergriffen sie und packten sie mit
schmerzendem Druck. Sie wischte ihr verschmiertes Gesicht mit dem
Ärmel ihres Gewandes ab.
Margali nahm die Matrix aus dem um ihren Hals hängenden seidenen
Beutel, blickte einen Augenblick in den blauen Edelstein, und dann
war ihre leise, klare Stimme in der Stille des Empfangszimmers
deutlich zu hören – obwohl sie beinahe flüsterte.
»Im Licht des Feuers dieses Edelsteins, laß die Wahrheit den Raum,
in dem wir stehen, erhellen.«
Donal, der die Anwendung des Wahrzaubers viele Male gesehen hatte,
war mit Ehrfurcht erfüllt. Der kleine Edelstein begann zu glühen.
Das Licht überschwemmte langsam das Gesicht der Leronis, kroch in den Raum hinein und stahl sich
nach und nach auf jedes Gesicht. Donal spürte, wie der Schimmer
auch ihn erfaßte, sah ihn auf dem fleckigen Gesicht des neben ihm
sitzenden Kindes, auf den Zügen Rakhal Scathfells, und denen des
Friedensmannes, der bewegungslos hinter ihm stand.
In dem blauen Licht sah Mikhail von Aldaran mehr denn je wie ein
alter, bewegungslos auf seinem Klotz hockender Raubvogel aus. Als
er den Kopf hob, waren die Kraft und die Bedrohung wieder da,
still, aber vorhanden.
Margali sagte: »Es ist getan, mein Fürst. Allein die Wahrheit möge
hier gesprochen werden, solange dieses Licht andauert.«
Donal wußte: Wenn unter dem Wahrzauber die Unwahrheit gesprochen
wurde, verschwand das Licht vom Gesicht des Sprechers und zeigte
sofort an, daß er log.
»Jetzt«, sagte Mikhail von Aldaran, »mußt du uns sagen, was du
weißt, Dorilys. Wie ist Darren zu Tode gekommen?«
Dorilys hob den Kopf. Sie sah bedauernswert aus. Erneut wischte sie
ihre Nase an den kunstvollen Ärmeln ihres Gewandes ab. Sie
klammerte sich so fest an Donals Hand, daß er ihr Zittern spüren
konnte. Aldaran hatte die Befehlsstimme noch nie zuvor bei seiner
Tochter angewandt. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich habe nicht
gewußt, daß er tot ist.« Ihre Augenlider klapperten heftig, als
wolle sie wieder zu weinen anfangen.
Rakhal von Scathfell sagte: »Er ist tot. Mein ältester Sohn ist
tot. Daran gibt es keinen Zweifel, du …«
»Still!« Beim Klang der Befehlsstimme
ließ selbst Lord Scathfell seine Stimme ersterben. »Und jetzt,
Dorilys, erzähle uns, was zwischen dir und Darren vorgefallen ist.
Wie kam es, daß der Blitz ihn traf?« Allmählich gewann Dorilys die
Gewalt über ihre Stimme wieder. »Wir waren vom Tanzen erhitzt. Er
sagte, wir sollten auf den Balkon hinausgehen. Er begann mich zu
küssen, und …« Unkontrolliert bebte ihre Stimme. »Er hat mein
Mieder aufgeschnürt und mich angefaßt, und wollte nicht aufhören,
als ich ihn darum bat.« Sie blinzelte heftig, aber das Wahrlicht
auf ihrem Gesicht schwankte nicht. »Er sagte, ich solle zulassen,
daß er mich nimmt, damit Vater die Heirat nicht verzögern könne.
Und er hat mich sehr grob geküßt und mir wehgetan.« Sie bedeckte
das Gesicht mit den Händen und wurde erneut von einem Schluchzen
geschüttelt.
Aldarans Gesicht war wie versteinert. Er sagte: »Hab keine Angst,
meine Tochter; aber du mußt unseren Verwandten dein Gesicht sehen
lassen.«
Donal griff nach Dorilys’ Hand. Er konnte die Qual der Angst und
des Entsetzens so deutlich spüren, als pulsiere sie durch ihre
kleinen Hände.
Stammelnd, dem nichtflackernden Schein des Wahrlichts ausgesetzt,
sagte Dorilys: »Er … er hat mich geschlagen, als ich ihn
zurückstieß. Er hat mich niedergeschlagen. Und dann kniete er neben
mir am Boden, und ich hatte … ich hatte Angst und habe ihn mit dem
Blitz geschlagen. Ich wollte ihm nicht weh tun. Ich wollte nur, daß
er seine Hände von mir nimmt!«
»Du! Du hast ihn also umgebracht! Du hast ihn mit deinem Hexenblitz
getroffen, du Satan aus der Hölle!« Scathfell stand auf, ging auf
sie zu, die Hand wie zum Schlag erhoben.
»Vater! Laß nicht zu, daß er mir weh tut!« schrie Dorilys entsetzt.
Ein blauer Blitzstrahl zuckte auf, und Rakhal von Scathfell stoppte
mitten im Schritt zurück, taumelte und faßte sich ans Herz. Der
Friedensmann kam hinzu und stützte den schwankenden Fürsten, bis er
wieder in seinem Sessel saß.
Donal sagte: »Meine Herren, wenn Dorilys ihn nicht niedergestreckt
hätte, hätte ich ihn gefordert! Ein elfjähriges Mädchen zu
vergewaltigen!« Seine Hand umklammerte das Schwert, als stünde der
tote Mann vor ihm.
Aldarans Stimme drückte Kummer und Bestürzung aus, als er sich Lord
Scathfell zuwandte. »Nun, mein Bruder, du hast es gesehen. Ich
bedauere es mehr, als ich ausdrücken kann. Aber du hast das
Wahrlicht auf dem Gesicht des Kindes gesehen, und in ihr scheint
keine Falschheit zu sein. Wie kam dein Sohn dazu, etwas so
Ungebührliches auf seiner eigenen Verlobung zu versuchen – seine
künftige Braut zu vergewaltigen?«
»Ich hätte nie gedacht, daß es soweit kommen würde«, sagte
Scathfell zornbebend. »Ich war es, der ihm riet, sich ihrer zu
versichern. Hast du wirklich geglaubt, wir würden jahrelang warten,
während du nach einer vorteilhafteren Heirat suchst? Ein Blinder
konnte sehen, daß das Mädchen heiratsfähig ist, und das Gesetz ist
eindeutig: Wenn ein verlebtes Paar miteinander schläft, ist die Ehe
von diesem Moment an legal. Ich war es, ich habe meinem Sohn
geraten, sich seiner Braut zu versichern.«
»Ich hätte es wissen sollen«, sagte Aldaran bitter. »Du hast mir
nicht getraut, Bruder? Aber hier steht die Leronis, die meine Tochter ans Licht der Welt
gebracht hat. Unter Wahrzauber, Margali: Wie alt ist
Dorilys?«
»Es stimmt«, bestätigte die Leronis im
blauen Wahrlicht. »Ich selbst habe sie vor elf Sommern von
Alicianes totem Körper entbunden. Aber selbst, wenn sie im
heiratsfähigen Alter gewesen wäre, Lord Scathfell: Wie hättet Ihr
dulden können, daß Eurer eigenen Nichte Gewalt angetan
wird?«
»Ja, das sollten wir auch noch erfahren«, sagte Mikhail von
Aldaran. »Warum, mein Bruder? Warst du nicht fähig, den
Verpflichtungen des Blutes zu trauen?«
»Du bist es, der sie vergessen hat«, schleuderte Scathfell ihm
entgegen. »Mußt du noch fragen, Bruder? Du wolltest Darren doch
dazu bringen, Jahre zu warten, während du hintenherum eine Methode
aushecktest, alles dem Bastard von Rockraven, den du deinen
Pflegesohn nennst, zu geben! In Wirklichkeit ist er doch einer
deiner Bastarde, die du nicht einmal anerkennst.«
Ohne nachzudenken, erhob sich Donal von seinem Platz und nahm drei
Schritte hinter Mikhail von Aldaran den Platz des Friedensmannes
ein. Seine Hand schwebte wenige Zentimeter über dem Griff seines
Schwertes. Lord Aldaran sah sich nicht nach Donal um, aber seine
Worte kamen gequält.
»Gäben doch die Götter, daß deine Worte wahr sind! Wäre jener Donal
doch nur von meinem Blut geboren, ob ehelich oder nicht! Kein Mann
könnte von einem Verwandten und Sohn mehr erwarten! Aber leider,
leider – ich sage es voll Gram und im Licht des Wahrzaubers –,
Donal ist nicht mein Sohn.«
»Nicht dein Sohn? Wirklich?« Scathfells Stimme war vor Erregung
verzerrt. »Warum sonst würde ein alter Mann seine Blutspflichten
vergessen, wenn er nicht in diesen Jungen vernarrt wäre? Wenn er
nicht dein Sohn ist, dann muß er dein Geliebter sein!«
Donals Hand fuhr zum Schwertgriff. Aldaran, der seine Absicht
spürte, griff zu und packte Donals Handgelenk mit stählernen
Fingern. Er drückte so lange zu, bis Donals Hand sich löste und er
das Schwert in die Scheide zurückgleiten ließ.
»Nicht unter diesem Dach, Pflegesohn. Er ist immer noch unser
Gast.« Er ließ das Handgelenk los, trat auf Scathfell zu, und Donal
dachte erneut an einen Falken, der über seinem Opfer schwebte.
»Hätte ein anderer Mann als mein Bruder dies gesagt – ich würde ihm
die Lüge aus der Kehle reißen. Pack dich! Nimm den Leichnam dieses
widerlichen Schänders, den du deinen Sohn nanntest, deine Lakaien,
und verschwinde aus meinem Haus, bevor ich tatsächlich meine
verwandtschaftlichen Pflichten vergesse!«
»Dein Haus, in der Tat. Aber nicht mehr lange, mein Bruder«, sagte
Scathfell gepreßt. »Ich werde Stein um Stein rund um deinen Kopf
niederreißen, ehe es an den Bastard von Rockraven geht.«
»Und ich werde es über meinem Kopf niederbrennen, bevor es an einen
Scathfell geht«, gab Lord Aldaran zurück. »Verlasse mein Haus vor
der Mittagsstunde, sonst werden meine Diener dich mit Peitschen
hinaustreiben! Geh zurück nach Scathfell und schätze dich
glücklich, daß ich dich nicht auch von dieser Feste treibe, die du
dank meiner Gunst besitzt. Ich habe Nachsicht wegen deines Kummers,
sonst würde ich für das, was du gesagt und getan hast, Rache im
Blut deines Herzens suchen! Mach dich nach Scathfell davon, oder
wohin du immer willst, aber wage dich nicht mehr in meine Nähe und
nenne mich Bruder!« »Weder Bruder noch Großfürst«, sagte Scathfell
erregt. »Den Göttern sei Dank habe ich noch andere Söhne, und der
Tag wird kommen, an dem ich Scathfell aus eigenem Recht besitze,
und nicht durch deine Erlaubnis und Gnade. Der Tag wird kommen, an
dem wir auch Aldaran besitzen –, und jene mörderische Zauberin da,
die sich hinter der Maske eines weinenden Mädchens verbirgt, wird
mit ihrem Blut Rechenschaft abgeben! Von nun an, Mikhail von
Aldaran, paß auf dich und deine Hexentochter auf, und auch auf den
Bastard Rockraven, der niemals dein Sohn sein wird! Die Götter
allein wissen, welchen Einfluß er auf dich hat! Irgendeinen üblen
Zauberbann der Hexerei! Ich will die Luft dieses Ortes nicht länger
atmen, die von ekligen Zaubereien verschmutzt ist!«
Sich umwendend, seinen Friedensmann im Schlepptau, verließ Lord
Scathfell ruhigen und gemessenen Schrittes das Empfangszimmer. Sein
letzter Blick galt Dorilys, und er war mit soviel Abscheu erfüllt,
daß Donal schauderte.
Wenn Brüder sich streiten, treten Feinde auf,
um diesen Spalt zu vertiefen, dachte Donal. Jetzt hatte sein
Pflegevater sich mit der gesamten Verwandtschaft überworfen.
Und ich, der allein noch zu ihm steht – bin
nicht einmal sein Sohn!
Als die Leute von Scathfell gegangen waren,
sagte Margali bestimmt: »Jetzt, mein Fürst, mit Eurer Erlaubnis,
werde ich Dorilys zu Bett bringen.«
Aldaran, der aus brütender Apathie aufschreckte, erwiderte: »Ja,
ja, bring das Kind weg. Aber komm zu mir zurück, sobald es
schläft.« Margali brachte Dorilys hinaus. Aldaran saß bewegungslos,
mit gesenktem Kopf, in Gedanken versunken.
Donal vermied es, ihn zu stören, aber als Margali zurückkehrte,
fragte er: »Soll ich gehen?«
»Nein, nein, Junge, das betrifft auch dich«, sagte Aldaran.
Seufzend blickte er zu der Leronis auf.
»Kein Vorwurf gegen dich, Margali, aber was sollen wir jetzt
tun?«
Kopfschüttelnd erwiderte Margali: »Ich kann sie nicht mehr
kontrollieren, mein Fürst. Sie ist stark und eigenwillig, und schon
bald wird sie der Belastung der Pubertät ausgesetzt sein. Ich bitte
Euch, Dom Mikhail, sie jemandem anzuvertrauen, der stärker ist als
ich, und besser geeignet, sie zu lehren, ihr Laran zu kontrollieren. Sonst kann Schlimmeres als
dies geschehen.«
Donal fragte sich: Was könnte schlimmer sein
als dies?
Als griffe er die unausgesprochene Frage auf, sagte Aldaran: »Jedes
andere Kind, das ich gezeugt habe, ist im jugendlichen Alter an der
Schwellenkrankheit gestorben. Das ist der Fluch unseres
Geschlechts. Muß ich auch das noch für sie fürchten?«
Margali erwiderte: »Habt Ihr schon einmal daran gedacht, sie zu den
Vai Leronis des Tramontana-Turms zu
schicken? Sie würden sich um Dorilys kümmern und sie lehren, das
Laran zu benutzen. Wenn irgend jemand
sie unbeschadet durch die Jugend bringen kann, dann die Mitglieder
einer Turmgemeinschaft.«
Donal dachte: Das ist mit Sicherheit die
richtige Lösung. »Ja, Vater«, sagte er eifrig. »Ihr werdet
Euch erinnern, wie freundlich sie jedesmal waren, wenn wir dorthin
gingen. Sie waren erfreut, mich unter sich zu haben, wenn Ihr mich
entbehren konntet, haben mich immer als Gast und Freund willkommen
geheißen, und mich viel über die Anwendung meines Laran gelehrt. Sie hätten mir mit Freuden mehr
beigebracht. Schickt Dorilys zu ihnen.«
Fast unmerklich hatte sich Aldarans Gesicht aufgehellt. Plötzlich
blickte er wieder finster. »Nach Tramontana? Willst du mich vor
meinen Nachbarn beschämen, Donal? Soll ich meine Schwäche zeigen,
damit sie allen Leuten in den Hellers davon berichten? Soll ich
mich zur Zielscheibe von Klatsch und Spott machen
lassen?«
»Vater, ich glaube, Ihr tut den Leuten von Tramontana Unrecht«,
widersprach Donal, aber er wußte, daß es sinnlos war. Er hatte
nicht mit Dom Mikhails Stolz gerechnet.
Margali sagte: »Wenn Ihr sie nicht euren Nachbarn in Tramontana
anvertrauen wollt, Dom Mikhail, bitte ich Euch, sie nach Hali oder
Neskaya zu schicken, oder zu einem der Türme im Tiefland. Ich bin
weder jung noch stark genug, sie Selbstkontrolle zu lehren. – Die
Götter wissen, daß ich nicht wünsche, von ihr getrennt zu werden.
Ich liebe sie, als wäre sie mein eigenes Kind, aber ich kann mit
ihr nicht mehr fertigwerden. In einem Turm hingegen ist man dafür
ausgebildet.« Aldaran dachte eine Weile darüber nach. Schließlich
sagte er: »Ich glaube, sie ist zu jung, um zu einem Turm geschickt
zu werden. Aber zwischen Aldaran und Elhalyn gibt es alte
Freundschaftsbande. Um dieser alten Freundschaft willen, vielleicht
wird der Fürst von Elhalyn eine Leronis
vom Hali-Turm schicken, die sich um Dorilys kümmert. Das würde
zumindest keine Gerüchte aufbringen, da jeder Haushalt mit
Laran solch eine Person braucht, um die
jungen Leute auszubilden. Willst du dich aufmachen, Donal, und
darum bitten, daß jemand nach Aldaran kommt, um hier zu wohnen und
deine Schwester zu unterrichten?«
Donal stand auf und verbeugte sich. Der Gedanke, Dorilys sicher
unter seinen Freunden im Tramontana-Turm zu wissen, hatte ihn
angezogen; aber vielleicht hatte er von seinem Pflegevater zuviel
verlangt, seine Schwäche den Nachbarn bekannt zu machen. »Ich werde
noch heute reiten, wenn Ihr wollt, sobald ich eine Eskorte
zusammengestellt habe, die Eurem Rang und Eurer Würde angemessen
ist.«
»Nein«, sagte Aldaran bedächtig. »Du wirst allein reiten, Donal,
wie es sich für einen Bittsteller geziemt. Ich habe gehört, daß
zwischen Elhalyn und Ridenow ein Waffenstillstand existiert. Du
wirst sicher sein. Und wenn du allein gehst, wird ihnen klar sein,
daß ich um ihre Hilfe ersuche.«
»Wie Ihr wünscht«, sagte Donal. »Ich kann morgen reiten. Oder noch
heute.«
»Morgen wird zeitig genug sein«, sagte Aldaran. »Warte erst ab, bis
die Leute von Scathfell zuhause sind. Ich will nicht, daß sich das
in den Bergen herumspricht.«
11
Am entgegengesetzten Ende des Sees von Hali
erhob sich der Turm, ein schlankes, hohes Gebäude aus blassem,
durchschimmerndem Stein. Der größte Teil der wichtigeren Arbeit des
Matrix-Kreises wurde bei Nacht getan. Zuerst hatte Allart das nicht
verstanden und es für Aberglaube oder einen bedeutungslosen Brauch
gehalten. Erst nach einiger Zeit war ihm allmählich klar geworden,
daß die Nachtstunden, während der die meisten Menschen schliefen,
am freiesten von störenden Gedanken – den Zufallsvibrationen
anderer Hirne – waren. In den einsamen Nachtstunden waren die
Kreismitarbeiter frei, ihren miteinander verbundenen Geist in die
Matrixkristalle zu senden, die die elektronischen und energetischen
Schwingungen des Gehirns verstärkten und ihre Kraft in Energie
umsetzten.
Mit der ungeheuerlichen Kraft der verknüpften Gehirne und den
gigantischen künstlichen Matrixgittern, die die Techniker
errichteten, konnten diese geistigen Energien tief im Erdboden
verborgene Metalle in einem reinen Schmelzfluß an die Erdoberfläche
bringen. Sie konnten Batterien für den Betrieb von Luftwagen oder
großer Generatoren, die die Burgen von Elhalyn und Thendara mit
Licht versorgten, aufladen. Ein solcher Kreis hatte auch die
glänzend weißen Türme der Burg Thendara aus dem Felsgestein des
Berggipfels hochgezogen. Aus vielen Türmen, die diesem glichen,
floß die gesamte Energie und Technologie von Darkover, und es waren
die Männer und Frauen der Turm-Kreise, die sie erzeugten.
Jetzt saß Allart Hastur in der abgeschirmten Matrixkammer – nicht
nur durch ein Tabu, die Tradition und Isolation von Hali
abgeschirmt, sondern auch von Kraftfeldern, die einen Eindringling
zu Tode bringen oder zum Wahnsinn treiben konnten – vor einem
niedrigen runden Tisch. Seine Hände und sein Geist waren mit den
sechs anderen des Kreises verbunden. Sämtliche Energien von Körper
und Geist waren in einem einzigen Fluß auf den Bewahrer des Kreises
konzentriert. Der Bewahrer war ein schlanker, kräftiger junger
Mann. Sein Name war Coryn. Er war ein Cousin Allarts, von etwa
gleichem Alter, und faßte, vor einem künstlichen Kristall sitzend,
die gewaltigen Energieströme der sechs Personen zusammen. Er ließ
sie durch die komplizierten inneren Kristallgitter fließen und
dirigierte den Strom der Energie in die Batteriereihen, die vor
ihnen auf dem niedrigen Tisch standen. Coryn sprach und bewegte
sich nicht, aber sobald er mit seiner schmalen Hand auf die
Batterien wies, ergossen die ausdruckslos blickenden Mitglieder des
Kreises jedes Atom ihrer zusammengefaßten Energie in die Matrix,
durch den Körper des Bewahrers, und sandten dadurch enorme
Energieladungen in eine Batterie nach der anderen.
Allart war eiskalt, verkrampft, aber er spürte davon nichts. Er war
sich seines Körpers nicht bewußt. Alles was er fühlte, war der
fließende Strom der Energie, der durch ihn hindurchraste.
Verschwommen, ohne einen echten Gedanken, erinnerte ihn dieses
Gefühl an die ekstatische Vereinigung der Gehirne und Stimmen
während der Morgenhymnen von Nevarsin. Es war ein Gefühl einmaliger
Harmonie, als habe man seinen Platz in der Musik des Universums
gefunden.
Außerhalb des Kreises saß eine weißgekleidete Frau, das Gesicht in
den Händen vergraben. Außer den herabfallenden Fluten ihres langen,
kupferfarbenen Haars war von ihrem Gesicht nichts zu sehen. Ihr
Geist bewegte sich ohne Unterlaß im Kreis herum und kontrollierte
nacheinander die bewegungslosen Gestalten der anderen. Hier
lockerte sie die Spannung eines Muskels, bevor er die Konzentration
mindern konnte, dort milderte sie einen plötzlichen Krampf oder ein
Jucken. Sie stellte sicher, daß die Atmung der sechs nicht
schwankte und kümmerte sich um die kleinen, unwillkürlichen
Bewegungen, die die vernachlässigten Körper stabil hielten: das
rhythmische Augenzwinkern, um der Belastung zu entgehen; das
schwache Verändern der Stellung. Die aneinandergeketteten
Mitglieder des Kreises waren sich ihrer eigenen Körper nicht
bewußt, und das schon seit mehreren Stunden. Alles was sie spürten,
war die Verknüpfung ihrer Gehirne, die innerhalb der lodernden
Energie schwebten, die sie in die Batterien gössen. Die Zeit hatte
für sie in einem endlosen Augenblick stärkster Vereinigung
angehalten, und nur die Überwacherin war sich der verstreichenden
Stunden bewußt. Jetzt, als sie zwar nicht sah, aber fühlte, daß die
Stunde des Sonnenaufgangs noch einige Zeit entfernt war, spürte sie
innerhalb des Kreises eine Spannung, die es eigentlich nicht geben
durfte.
Sie sandte ihren fragenden Geist nacheinander jedem der sechs
entgegen.
Coryn. Der Bewahrer, jahrelang geistig
und körperlich ausgebildet, um diese Belastung auszuhalten… Nein,
er war nicht in Bedrängnis. Er war verkrampft, und sie untersuchte
seine Blutzirkulation. Sein Körper war kalt, aber er spürte nichts
davon. Seine Verfassung hatte sich seit den frühen Nachtstunden
nicht verändert. Wenn sein Körper einmal verbunden und in eine
wohlabgewogene Position gebracht war, konnte er stundenlang
unbeweglich bleiben. Um ihn stand es gut.
Mira? Nein, die alte Frau, die vor
Renata Überwacherin gewesen war, war ruhig und ohne Bewußtsein. Sie
schwebte friedlich in den Energienetzen, konzentriert auf
Energieausflüsse, Zufallsträume, Glückseligkeit.
Barak? Der stämmige, dunkelhäutige
Mann, der Techniker, der das künstliche Matrixgitter den
Anforderungen des Kreises entsprechend gebaut hatte, war
verkrampft. Automatisch sank Renata in sein KörperBewußtsein und
lockerte einen Muskel, ehe der Schmerz Barak in seiner
Konzentration stören konnte. Sonst mangelte es ihm an nichts.
Allart? Wie schaffte es dieser
Neuankömmling nur, sich dermaßen unter Kontrolle zu halten? War es
die Ausbildung von Nevarsin? Seine Atmung war tief und langsam,
ohne jede Schwankung, der Fluß des Sauerstoffs zum Herzen und zu
den Gliedern regelmäßig. Er hatte sogar den schwierigsten
Kunstgriff des Kreises erlernt: die stundenlange Unbeweglichkeit
ohne übermäßigen Schmerz und Verkrampfung. Arielle? Sie war an Jahren die jüngste des Kreises,
hatte mit sechzehn aber volle zwei Jahre hier in Hali verbracht und
den Rang einer Mechanikerin erworben. Renata untersuchte sie
sorgfältig: Atmung, Herzschlag, die Stirnhöhlen, die Arielle
manchmal wegen der Feuchtigkeit des Sumpflandes Sorgen bereiteten.
Arielle stammte aus den südlichen Ebenen. Da sie keinen Fehler
fand, suchte Renata weiter. Nein, keine Probleme, nicht einmal eine
gefüllte Harnblase, die Anspannung erzeugte. Renata dachte:
Ich habe mich gefragt, ob Coryn sie
geschwängert hat, aber das trifft nicht zu. Ich habe sie sorgfältig
untersucht, bevor sie in den Kreis eingetreten ist, aber dazu ist
Arielle zu klug… Dann muß es der andere Neuling sein, Cassandra
… Sorgfältig horchend untersuchte sie Herz, Atmung,
Kreislauf. Cassandra war verkrampft, ohne aber große Schmerzen zu
haben. Renata spürte in Cassandras Bewußtsein eine leichte innere
Erregung. Sie sandte einen schnellen, besänftigenden Gedanken aus,
um sie zu beruhigen, damit sie die anderen nicht störte. Für
Cassandra war diese Arbeit neu, und sie hatte noch nicht gelernt,
das routinemäßige Eindringen einer Überwacherin in Körper und Geist
mit völliger Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Es kostete Renata
einige Sekunden, Cassandra zu beruhigen, bevor sie zu einen
tieferen Horchen übergehen konnte.
jawohl, es ist Cassandra. Es ist ihre
Belastung, an der wir alle teilhaben. Sie hätte nicht in den Kreis
kommen sollen, jetzt, wo ihre Periode bevorsteht. Ich hätte sie für
klüger gehalten … Aber Renata dachte keinesfalls daran,
Cassandra einen Vorwurf zu machen. Ich hätte
mir darüber Gewißheit verschaffen sollen. Renata wußte, wie
schwer es war, in den ersten Tagen des Lernens Schwächen
einzugestehen oder Beschränkungen zuzugeben.
Sie ging eine enge Verbindung mit Cassandra ein, versuchte, ihre
Spannung zu lockern und mußte feststellen, daß sie noch nicht in
der Lage war, mit ihr in dieser absoluten Dichte
zusammenzuarbeiten. Sie sandte Coryn einen vorsichtigen, warnenden
Gedanken zu, der nicht mehr als eine sanfte Berührung
war.
Wir müssen bald aufhören … Sei bereit, wenn
ich das Zeichen gebe. Ohne daß der Energiefluß stockte,
sagte ihr Coryns äußerliches Zittern: Noch
nicht. Eine ganze Reihe der Batterien muß noch aufgeladen
werden. Dann sank er harmonisch in die Verbindung des
Kreises zurück. Jetzt war Renata besorgt. Das Wort des Bewahrers
war in dem Kreis Gesetz; doch es lag in der Verantwortlichkeit der
Überwacherin, auf das Wohlbefinden der Mitglieder zu achten. Bisher
hatte sie ihre Betroffenheit vor ihnen allen abgeschirmt, aber nun
spürte sie irgendwo ein schwaches Bewußtsein, das dem Kreis Energie
entzog. Allart ist sich Cassandras zu sehr
bewußt. Auf diese Art mit dem Kreis verbunden, dürfte er sie nicht
mehr wahrnehmen als jeden anderen. Bis jetzt war es nur ein
Flackern, das sie auffing, indem sie Allarts Bewußtsein sanft auf
seinen Energiebrennpunkt hinwies. Sie versuchte, Cassandra
aufrechtzuhalten, als hätte sie der anderen Frau auf einer steilen
Treppe den Arm zur Stütze gereicht. Aber da die Intensität der
Konzentration einmal unterbrochen war, schwankte etwas in dem Strom
der Energien und wellte sich wie eine vom Wind gekräuselte
Wasseroberfläche. Sie spürte, wie die Störung durch den Kreis
wanderte. Es war zwar nur ein leichtes Flackern, konnte auf dieser
Ebene der Konzentration aber zerstörerisch wirken. Baraks Körper
wankte unruhig, Coryn hustete, Arielle schniefte, und Renata
spürte, wie Cassandras Atem schwankte und schwer wurde.
Entschiedener sandte sie eine zweite Warnung: Wir müssen unterbrechen. Es ist bald soweit
…
Diesmal war die Reaktion eindeutig erregt und hallte in den
miteinander verbundenen Köpfen wie eine Alarmglocke wider. Allart
hörte den Klang, wie er die lautlosen Glocken von Nevarsin gehört
hatte, und begann langsam, seinen unabhängigen Brennpunkt
zurückzuerlangen. Coryns Gereiztheit war wie ein Stechen. Er spürte
sie wie das Verdrehen eines inneren Fadens, als er Cassandras
Bewußtsein schwinden fühlte. Einer nach dem anderen zog sich aus
dem Kreis zurück und löste ihn auf, aber nicht wie früher sanft,
sondern in einem schmerzlichen Auseinanderfallen. Er hörte Miras
angestrengtes Keuchen. Arielle schnüffelte, als werde sie gleich zu
weinen beginnen. Barak ächzte und streckte ein schmerzhaft
verkrampftes Bein. Allart war erfahren genug, sich am Anfang nicht
zu schnell zu bewegen. Er versuchte es mit langsamen, behutsamen
Bewegungen, als erwache er aus einem tiefen Schlaf. Aber er war
besorgt und bekümmert. Was war mit dem Kreis geschehen? Ihre Arbeit
war mit Sicherheit nicht vollständig getan …
Nach und nach kamen auch die anderen aus den Tiefen der
Matrixtrance hervor. Coryn sah bleich und verstört aus. Er sagte
kein Wort, aber die Intensität seines auf Renata gerichteten Zorns
war schmerzlich für sie alle.
Ich habe gesagt: Noch nicht! Jetzt werden wir
das alles noch einmal machen müssen, denn weniger als ein Dutzend
Batterien … Warum hast du gerade jetzt unterbrochen? War irgend
jemand im Kreis zu schwach, um noch länger durchzuhalten? Sind wir
Kinder, die Murmeln spielen, oder ein verantwortungsvoller Kreis
von Mechanikern? Aber Renata schenkte ihm keine
Aufmerksamkeit. Allart, der nun völlig erwacht war, sah Cassandra
zur Seite fallen. Ihr langes schwarzes Haar breitete sich auf der
Tischplatte aus. Er stieß seinen Stuhl zurück, aber Renata war vor
ihm bei ihr.
»Nein«, sagte sie, und mit einem Aufflackern von Bestürzung hörte
Allart die Befehlsstimme gegen sich gerichtet. »Faß sie nicht an! Das ist meine Verantwortung!« In
seiner extremen Empfänglichkeit erfaßte Allart den Gedanken, den
Renata nicht laut ausgesprochen hatte: Du hast
bereits genug angerichtet. Für dies hier bist du verantwortlich …
Ich? Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ich,
Renata?
Renata kniete sich hin. Ihre Fingerspitzen lagen auf Cassandras
Nacken und berührten ihr Nervenzentrum. Cassandra bewegte sich, und
Renata sagte besänftigend: »Alles in Ordnung, Liebes. Du bist jetzt
wieder in Ordnung.«
Cassandra murmelte: »Mir ist so kalt, so kalt.«
»Ich weiß, in wenigen Minuten wird das vorbei sein.«
»Es tut mir so leid. Ich wollte nicht … Ich war sicher …« Benommen
blickte Cassandra umher, sie war den Tränen nahe. Vor Coryns
zornigem Blick fuhr sie zurück.
»Laß sie in Ruhe, Coryn. Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Renata
ohne aufzusehen.
Mit einer Geste tiefer Ironie sagte Coryn: –»Z’par Servu, Vai Leronis … Haben wir deine
Erlaubnis, die Batterien zu testen? Während du unserer Braut Hilfe
leistest?«
Cassandra unterdrückte mühsam ein Schluchzen. Renata tröstete sie:
»Kümmere dich nicht um Coryn. Er ist so müde wie wir alle. Er hat
es nicht so gemeint, wie es sich anhörte.«
Arielle ging zu einem Nebentisch, nahm ein metallenes Instrument –
die Matrixkreise besaßen den ersten Anspruch auf alle knappen
Metalle von Darkover – und eilte, ihre Hand in nichtleitendes
Material hüllend, zu den Batterien, die sie eine nach der anderen,
um den Funken hervorzulocken, der anzeigte, daß sie voll geladen
waren, berührte. Die anderen erhoben sich behutsam und streckten
ihre verkrampften Körper. Renata kniete noch immer neben Cassandra.
Schließlich zog sie ihre Hände von den Pulsstellen ihres Halses
zurück.
»Versuche jetzt aufzustehen. Bewege dich hin und her, wenn du
kannst.«
Cassandra rieb ihre dünnen Hände. »Mir ist so kalt, als hätte ich
die Nacht in Zandrus kältester Hölle zugebracht. Danke, Renata.
Woher hast du es gewußt?«
»Ich bin eine Überwacherin. Es ist meine Pflicht, solche Dinge zu
wissen.« Renata Leynier war eine schlanke junge Frau mit
gelbbrauner Hautfarbe und dichtem, kupfer-goldenem Haar. Aber um
eine Schönheit zu sein, war ihr Mund zu breit, ihre Zähne ein wenig
zu schief, und ihre Nase mit zu vielen Sommersprossen übersät. Ihre
Augen allerdings waren groß, grau und schön.
»Wenn du ein wenig mehr Übung hast, Cassandra, wirst du es selbst
spüren und kannst uns sagen, wenn du dich nicht wohl genug fühlst,
um einem Kreis anzugehören. In dieser Zeit – und ich hatte gedacht,
du weißt das – verläßt die psychische Energie deinen Körper mit dem
Blut, und du benötigst all deine Kraft für dich selbst. Geh jetzt
zu Bett und ruhe dich ein oder zwei Tage aus. Mit Sicherheit darfst
du nicht wieder im Kreis arbeiten oder irgendeine Arbeit tun, die
soviel Anstrengung und Konzentration erfordert.«
Besorgt trat Allart zu ihnen. »Bist du krank, Cassandra?«
Renata antwortete: Ȇberarbeitet, das ist alles. Sie braucht Essen
und Ruhe.« Mira brachte etwas von den Speisen- und Weinvorräten,
die in einem Schrank aufbewahrt wurden, damit der Kreis sich sofort
von den enormen Energieverlusten seiner Arbeit erholen konnte.
Renata suchte aus den Vorräten einen langen Riegel honigverklebter,
gepreßter Nüsse heraus. Sie steckte ihn Cassandra in die Hand, aber
die dunkelhaarige Frau schüttelte den Kopf.
»Ich mag keine Süßigkeiten. Ich warte auf ein richtiges Frühstück.«
»Iß das«, sagte Renata mit Befehlsstimme. »Du brauchst die Kraft.«
Cassandra brach ein Stück der klebrigen Süßspeise ab, steckte es in
den Mund, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, kaute es aber
gehorsam weiter. Arielle gesellte sich zu ihnen, legte das
Instrument weg und nahm eine Handvoll getrockneter Früchte, die sie
gierig in den Mund steckte. Als sie wieder deutlich sprechen
konnte, sagte sie: »Das letzte Dutzend der Batterien ist nicht
aufgeladen, und die letzten drei, bei denen wir aufhörten, haben
keine volle Kapazität.«
»Wie ärgerlich!« Coryn blickte Cassandra an.
»Laß sie in Ruhe!« beharrte Renata. »Wir haben uns alle wie
Anfänger verhalten!«
Coryn schenkte sich etwas Wein ein und nahm einen Schluck. »Es tut
mir leid«, sagte er schließlich und lächelte Cassandra an. Seine
gute Laune kehrte zurück.
Arielle wischte ihre von den honiggetränkten Früchten klebenden
Finger ab. »Falls es eine ermüdendere
Arbeit zwischen Dalereuth und den Hellers gibt, als Batterien
aufzuladen, kann ich mir sie nicht vorstellen.« »Besser das, als
Metall fördern«, sagte Coryn. »Immer wenn ich mit Metall arbeite,
bin ich einen halben Mond erschöpft. Ich bin froh, daß es dieses
Jahr keine Arbeit mehr zu tun gibt. Jedesmal, wenn wir zum Fördern
in die Erde gehen und ich ins Bewußtsein zurückkehre, fühle ich
mich, als hätte ich jedes Gramm mit meinen eigenen Händen
hochgeholt.«
Allart, durch die Jahre mühseligen körperlichen und geistigen
Trainings in Nevarsin abgehärtet, war weniger erschöpft als die
anderen, aber seine Muskeln schmerzten vor Spannung und der langen
Bewegungslosigkeit. Cassandra brach noch ein Stück des klebrigen
Honig-NußNaschwerks ab und zog, als sie es in den Mund steckte,
eine weitere Grimasse. Sie standen noch immer in enger Verbindung,
und er spürte ihren Widerwillen vor dem übersüßen Stoff, als äße er
ihn selbst. »Iß es nicht, wenn du es nicht magst. Sicher steht auf
den Regalen etwas, das dir besser schmeckt«, sagte er und ging
hinüber, um sie zu durchstöbern.
Cassandra zuckte die Schultern. »Renata meint, das würde mich eher
als alles andere wiederherstellen. Mir macht es nichts
aus.«
Allart nahm sich ein Stück. Barak, der an einem Kelch Wein genippt
hatte, stellte ihn ab und kam zu ihnen hinüber.
»Bist du erholt, Cousine? Die Arbeit ist in der Tat ermüdend, wenn
sie einem neu ist, und hier gibt es keine passenden
Stärkungsmittel.« Er lachte laut. »Vielleicht solltest du einen
Löffel Kireseth-Honig nehmen. Es ist das beste Stärkungsmittel nach
erschöpfender Arbeit, und besonders du solltest…» Unvermittelt
hustete er und wandte sich ab, wobei er vorgab, sich am letzten
Schluck aus seinem Glas verschluckt zu haben. Dennoch vernahm jeder
seine Gedanken, als hätte er sie laut ausgesprochen. Besonders du solltest solche Stärkungsmittel nehmen, weil
du erst seit kurzem verheiratet bist und sie um so nötiger
brauchst… Noch ehe die Worte seiner Zunge entschlüpfen
konnten, war Barak eingefallen, was alle kannten, die in enger
telepathischer Verbindung mit Allart und Cassandra standen: den
tatsächlichen Stand der Beziehungen zwischen den beiden.
Er konnte den geschmacklosen Scherz nur abschwächen, indem er sich
abwandte und so tat, als seien die Worte ebenso ungedacht wie
ungesagt. In der Matrixkammer herrschte momentan Schweigen, dann
fingen alle an, sehr laut und gleichzeitig über irgend etwas
anderes zu sprechen. Coryn nahm das Metallgerät und untersuchte
selbst ein paar Batterien. Mira rieb ihre kalten Hände und sagte,
sie wolle ein heißes Bad und eine Massage nehmen.
Renata legte ihren Arm um Cassandras Taille.
»Das solltest du auch, Herzchen. Du bist kalt und verkrampft. Geh
jetzt hinunter. Laß dir ein ordentliches Frühstück bringen und nimm
ein heißes Bad. Ich werde dir meine Badefrau schicken. Sie ist in
der Massage ausgebildet und wird deine verkrampften Muskeln und
Nerven lockern, damit du schlafen kannst. Fühl dich nicht schuldig.
Wir alle haben uns in unserer Anfangszeit überarbeitet, und niemand
gibt seine Schwäche gern zu. Wenn du eine warme Mahlzeit, ein Bad
und eine Massage gehabt hast, leg dich zum Schlafen hin. Man soll
dir heiße Ziegelsteine an die Füße legen und dich gut
zudecken.«
Cassandra sagte: »Ich beraube dich nicht gern der Dienste deiner
Badefrau.«
» Chiya, ich lasse mich nicht mehr in
solch einen Zustand bringen. Geht jetzt. Sag Lucetta, ich hätte den
Auftrag gegeben, daß sie dich pflegt wie mich; wenn ich aus dem
Kreis komme. Tu, was man dir sagt, Cousine. Es ist meine Aufgabe,
zu wissen, was du brauchst, selbst wenn du es nicht weißt«, sagte
sie. Allart fiel auf, wie mütterlich sie klang, obwohl sie nicht
älter war als Cassandra.
»Ich werde auch hinuntergehen«, sagte Mira. Coryn zog Arielle am
Arm, und zusammen gingen sie hinaus. Allart wollte ihnen folgen,
als Renata eine federleichte Hand auf seinen Arm legte.
»Allart, wenn du nicht zu müde bist, möchte ich mich mit dir ein
wenig unterhalten.«
Allart war in Gedanken zwar schon in seinem wohlausgestatteten
Zimmer im untersten Stockwerk und einem kalten Bad, aber er war
nicht wirklich müde. Er sagte es ihr, und Renata nickte.
»Wenn das eine Folge der Ausbildung der Nevarsin-Brüder ist,
sollten wir sie vielleicht in unsere Kreise einführen. Du bist
ebenso ausdauernd und frisch wie Barak. Du solltest uns etwas über
deine Geheimnisse lehren! Oder haben die Brüder dich zur
Verschwiegenheit verpflichtet?«
Allart schüttelte den Kopf. »Es ist nur die Beherrschung der
Atmung.«
»Komm. Sollen wir nach draußen in den Sonnenschein gehen?« Zusammen
gingen sie zum Erdgeschoß hinab und traten durch das Kraftfeld, das
den Turmkreis vor Störungen schützte, solange sie bei der Arbeit
waren, in den zunehmenden Glanz des Morgens hinaus. Schweigend ging
Allart neben Renata her. Er war nicht übermäßig müde, aber seine
Nerven waren durch die Anspannung und die lange Zeit ohne Schlaf
gespannt. Wie immer, wenn er es sich erlaubte, ließ sein
Laran ein Gewebe einander
widersprechender Zukunftsentwicklungen um ihn herum
entstehen.
Schweigend gingen sie nebeneinander am Ufer entlang. Liriel, der
violette Mond, der gerade sein volles Stadium überschritten hatte,
ging verschwommen über dem See unter. Der grüne Idriel, die
blasseste der Sicheln, hing hoch und bleich über dem weit
entfernten Gebirgskamm.
Allart wußte – es war ihm klar geworden, als er Renata zum ersten
Mal gesehen hatte –, daß sie die zweite der beiden Frauen war, auf
die er wieder und wieder in den verzweigten Zukunftsentwicklungen
seines Lebens gestoßen war. Vom ersten Tag im Turm an war er ihr
gegenüber wachsam gewesen, hatte kaum mehr als die unerläßlichsten
Höflichkeiten mit ihr ausgetauscht und sie gemieden, so weit man
jemanden in den begrenzten Quartieren des Turms meiden konnte. Er
hatte ihre Fähigkeit als Überwacherin respektieren und ihr
schnelles Lachen und ihre gute Laune schätzen gelernt. Die
Freundlichkeit, mit der sie sich um Cassandra kümmerte, berührte
ihn. Aber bis zu diesem Augenblick hatte er mit ihr kein einziges
Wort außerhalb der Grenzen ihrer Pflichten gewechselt.
Seine Übermüdung hinderte ihn daran, Renata so zu sehen, wie sie
wirklich war – freundlich, unpersönlich, zurückgezogen, eine im
Turm ausgebildete Überwacherin, die über Berufsangelegenheiten
sprach –, sondern wie sie in irgendeiner der sich fächerförmig
ausbreitenden Möglichkeiten der Zukunft sein würde, die
möglicherweise in Erfüllung gehen
konnten. Obwohl er sich selbst dagegen abgeschirmt und sich nie
gestattet hatte, solche Gedanken freizusetzen, hatte er sie von
Liebe erwärmt gesehen, die Zärtlichkeit, zu der sie fähig war,
erfahren, sie wie in einem Traum besessen. Es überschattete den
wirklichen Stand ihrer Beziehungen und verwirrte ihn, als stünde er
einer Frau gegenüber, die ihn in erotische Träume versetzte, die er
vor ihr verbergen mußte. Nein. Keine Frau außer Cassandra spielte
in seinem Leben irgendeine Rolle, und sogar bei ihr stand fest, wie
beschränkt diese Rolle war. Er wappnete sich gegen jeden Angriff
auf diese Schranken und sah Renata mit dem kalten, unpersönlichen,
fast feindseligen Blick des Nevarsin-Mönchs an.
Sie gingen nebeneinander her und hörten den flüsternden Klang der
weichen Wolkenwellen. Allart war an den Ufern von Hali aufgewachsen
und hat diesen Klang sein Leben lang gehört, aber jetzt erschien er
ihm durch Renatas Ohren völlig neu.
»Ich werde dieses Klangs nie müde. Er ist dem Wasser gleichsam
ähnlich und unähnlich. Ich nehme an, daß niemand in diesem See
schwimmen kann?«
»Du würdest sinken. Langsam zwar, das stimmt, aber du würdest
sinken. Er wird dich nicht tragen. Aber man kann ihn atmen, also
macht es nichts, wenn man sinkt. Als Junge bin ich unzählige Male
über den Grund des Sees gegangen, um die merkwürdigen Dinge in ihm
zu beobachten.«
»Man kann ihn atmen? Und man ertrinkt nicht?«
»Nein, nein, er besteht überhaupt nicht aus Wasser – ich weiß
nicht, was es ist. Wenn man ihn zulange einatmet, fühlt man sich
schwach und müde und verliert die Lust, überhaupt noch Luft zu
holen. Es besteht dann die Gefahr, daß man ohnmächtig wird und
stirbt, weil man das Atmen vergißt. Aber eine kurze Zeitlang ist es
anregend. Und es gibt merkwürdige Lebewesen dort. Ich weiß nicht,
ob ich sie Fische oder Vögel nennen soll und könnte auch nicht
sagen, ob sie in der Wolke schwimmen oder durch sie fliegen, aber
sie sind sehr schön. Man sagt gewöhnlich, daß es ein langes Leben
gibt, die Wolke des Sees zu atmen, und daß die Hasturs deshalb so
langlebig sind. Man sagt auch, daß Hastur, der Sohn des Herrn des
Lichts, denen, die dort wohnten, als er an die Ufer von Hali fiel,
Unsterblichkeit gab, und wir Hasturs diese Gabe wegen unseres
sündigen Lebens verloren. Aber das sind alles Märchen.«
»Glaubst du das, weil du ein Cristofero
bist?«
»Das glaube ich, weil ich ein Mensch der Vernunft bin«, erwiderte
Allart lächelnd. »Ich kann mir keinen Gott vorstellen, der sich in
die Gesetze der Welt, die er erschaffen hat, einmischt.«
»Aber die Hasturs sind doch wirklich langlebig.«
»In Nevarsin hat man mir gesagt, daß alle vom Blut Hasturs
Chieri-Blut in sich haben. Und die Chieri sind nahezu unsterblich.«
Renata seufzte. »Ich habe aber auch gehört, daß sie Emmasca sind, weder Mann noch Frau, und frei von
der Gefahr, eins von beiden zu werden. Ich glaube, darum beneide
ich sie.«
Allart fiel ein, daß Renata unermüdlich von ihrer eigenen Kraft
gab. Aber es gab niemanden, der sich um sie kümmerte, wenn sie
selbst erschöpft war.
»Geh jetzt zur Ruhe, Cousine. Was immer du mir sagen willst: Es
kann nicht so dringend sein, daß es nicht warten kann, bis du die
Mahlzeit und die Ruhe, die du meiner Frau so schnell verordnetest,
selbst genossen hast.«
»Ich würde es lieber sagen, solange Cassandra schläft. Einem von
euch muß ich es sagen, auch wenn ich weiß, daß es für dich eine
Einmischung bedeutet. Aber du bist älter als Cassandra und wirst
besser ertragen, was ich sagen muß. Aber genug der Entschuldigung
und Vorrede … Du hättest erst nach dem Vollzug deiner Ehe
hierherkommen sollen.« Allart öffnete den Mund, um etwas zu sagen,
aber sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Denk
daran, ich habe dich gewarnt, daß du es als Einmischung in deine
Privatsphäre einschätzen würdest. Ich bin im Turm, seit ich
vierzehn war und kenne die höfliche Zurückhaltung bei solchen
Dingen. Aber ich bin als Überwacherin auch für das Wohlergehen
aller verantwortlich. Alles, was störend ist – nein, laß mich
ausreden, Allart –, alles, was deine Arbeit beeinträchtigt,
zerbricht auch uns. Du warst noch keine drei Tage hier, da wußte
ich, daß deine Frau noch Jungfrau ist, aber ich habe mich nicht
eingeschaltet. Ich dachte, ihr seid vielleicht aus politischen
Gründen miteinander verheiratet worden und liebtet euch nicht. Aber
jetzt, nach einem halben Jahr, ist offenkundig, wie verliebt ihr
seid. Die Spannung zwischen euch zersplittert uns und macht
Cassandra krank. Sie ist so angespannt, daß sie nicht einmal den
Zustand ihrer Nerven und ihres Körpers überwachen kann, und dazu
sollte sie jetzt eigentlich in der Lage sein. Ich kann ein wenig
für sie tun, wenn du im Kreis bist, aber nicht die ganze Zeit über.
Und ich sollte nicht für sie tun, was sie lernen muß, um für sich
selbst zu sorgen. Nun, ich bin sicher, daß ihr gute Gründe hattet,
in diesem Zustand hierher zu kommen, aber welche es auch waren: Ihr
habt zuwenig davon gewußt, wie ein Turmkreis arbeitet. Du kannst es
ertragen; du verfügst über das Nevarsin-Training und kannst auch
dann zufriedenstellend arbeiten, wenn du unglücklich bist.
Cassandra kann es nicht. Es ist so einfach, wie es
klingt.«
Entschuldigend sagte Allart: »Ich habe nicht gewußt, daß Cassandra
so unglücklich ist.«
Renata blickte ihn an und schüttelte den Kopf. »Wenn du es nicht
weißt, dann nur deshalb, weil du es dir nicht erlaubt hast. Das
Klügste würde sein, sie fortzubringen, bis die Dinge zwischen euch
bereinigt sind. Sie könnte zurückkehren, wann sie will. Wir
brauchen ständig ausgebildete Arbeiter, und deine Ausbildung in
Nevarsin ist sehr wertvoll. Was Cassandra angeht, glaube ich, daß
sie das Talent hat, eine Überwacherin zu werden, oder sogar eine
Technikerin, wenn die Arbeit sie interessiert. Aber nicht jetzt.
Jetzt ist es an der Zeit, daß ihr beide euch trennt und uns nicht
mit unerfüllten Bedürfnissen zersplittert.«
Bestürzt hörte Allart ihr zu. Sein eigenes Leben war so lange einer
eisernen Disziplin unterworfen gewesen, daß ihm nie der Gedanke
gekommen war, seine eigenen Bedürfnisse oder Cassandras Unglück
könnten den Kreis auch nur im entferntesten stören. Aber er hätte
es natürlich wissen müssen.
»Nimm sie, Allart. Heute abend wäre nicht zu früh.« Sich elend
fühlend sagte Allart: »Ich würde meinen ganzen Besitz hergeben,
wenn ich die Freiheit dazu hätte. Aber Cassandra und ich haben
einander versprochen …«
Er wandte sich ab. Aber die Gedanken in seinem Kopf waren so
deutlich, daß Renata ihn bestürzt ansah.
»Cousin, was konnte dich zu einem so
vorschnellen Gelübde veranlassen? Ich spreche nicht nur von deiner
Pflicht den Verwandten und dem Clan gegenüber.«
»Nein«, gab Allart zurück, »sprich nicht davon, Renata. Nicht
einmal in Freundschaft. Davon habe ich allzuviel gehört, und ich
brauche niemanden, um mich daran zu erinnern. Du weißt, welches
Laran ich besitze, und welchem Fluch
ich unterworfen war. Ich wollte es nicht in Söhnen und Enkeln
fortleben lassen. Das Zuchtprogramm der Familien, das dich
veranlaßt, von Pflicht gegenüber Verwandten und Clan zu sprechen,
ist falsch. Es ist ein Übel. Ich werde es nicht weitergeben!« Er
sprach heftig und versuchte, den Anblick von Renatas Gesicht
wegzuwischen – nicht das, das von freundschaftlicher Betroffenheit
zeugte, sondern das andere, mitleidsvolle, zärtliche und
leidenschaftliche.
»Ein Fluch, in der Tat, Allart! Auch ich bin wegen des
Zuchtprogramms voller Angst und Zweifel. Ich glaube nicht, daß
irgendeine Frau in den Reichen frei von ihnen ist. Aber Cassandras
Unglück, und deines, ist sinnlos.«
»Da ist noch mehr, und Schlimmeres«, sagte Allart verzweifelt. »Am
Ende jeder Straße, die ich, wie es scheint, voraussehen kann,
stirbt Cassandra, wenn sie mein Kind zur Welt bringt. Selbst wenn
ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, ein Kind zu zeugen,
das möglicherweise diesen Fluch trägt, könnte ich dieses Los nicht
über sie bringen. Deshalb haben wir uns gelobt, getrennt zu
leben.«
»Cassandra ist sehr jung und sie ist Jungfrau«, sagte Renata. »Das
mag eine Entschuldigung dafür sein, daß sie es nicht besser weiß;
aber mir scheint es verderblich, eine Frau in Unwissenheit über das
zu halten, was ihr Leben so entscheidend beeinflussen kann. Sicher
ist die Entscheidung, die ihr getroffen habt, zu extrem, denn
selbst Außenstehenden ist offenbar, daß ihr einander liebt. Du
kannst dir kaum im Unklaren darüber sein, daß es Wege gibt…« Sie
wandte ihr Gesicht verlegen ab. Selbst zwischen Ehemann und Ehefrau
wurde über solche Dinge nicht oft gesprochen. Auch Allart war
verlegen.
Sie kann nicht älter als
Cassandra sein! Im Namen aller Götter, wie kommt eine junge Frau,
wohlbehütet aufgezogen, aus guter Familie und noch unverheiratet,
dazu, über solche Dinge Bescheid zu wissen? Der Gedanke in
seinem Kopf war deutlich, und Renata konnte nicht anders, als ihn
aufzugreifen. Trocken erwiderte sie: »Du bist ein Mönch gewesen,
Cousin, und einzig aus diesem Grund bin ich bereit zuzugestehen,
daß du die Antwort auf diese Frage wirklich nicht kennst.
Vielleicht glaubst du immer noch, daß es nur die Männer sind, die
solche Bedürfnisse haben, und daß die Frauen immer dagegen sind.
Ich will dich nicht schockieren, Allart, aber Frauen im Turm
brauchen – und können – nicht nach den närrischen Gesetzen und
Sitten dieser Zeit, die so tun, als seien sie nicht mehr als
Spielzeuge, die den Begierden der Männer dienen, ohne eigene
Wünsche außer dem, Söhne für ihre Clans zu gebären, leben. Ich bin
keine Jungfrau, Allart. Jeder von uns – ob Mann oder Frau – muß
nach kurzer Zeit im Kreis lernen, sich über seine eigenen
Bedürfnisse und Wünsche klar zu sein, sonst können wir nicht all
unsere Kraft in unsere Arbeit stecken. Wenn wir es dennoch
versuchen, passieren solche Dinge wie heute morgen – wenn nicht
noch viel, viel Schlimmeres.«
Verlegen blickte Allart von ihr weg. Sein erster, beinahe
automatischer Gedanke war eine reine Reaktion seiner
Kindheitserziehung. Die Männer der Reiche
wissen das und lassen trotzdem ihre Frauen hierher
kommen?
Renata zuckte die Achseln.
»Das ist der Preis, den sie für die Arbeit zahlen, die wir tun –
daß wir Frauen in gewissem Ausmaß für unsere Aufgabe von den
Gesetzen, die Vererbung und Aufzucht betonen, befreit werden. Ich
glaube, die meisten von ihnen ziehen es vor, sich nicht zu genau zu
erkundigen. Und es ist für eine Frau, die in einem Kreis arbeitet,
nicht ungefährlich, ihren Dienst durch eine Schwangerschaft zu
unterbrechen.« Einen Moment später fügte sie hinzu: »Wenn du
wünschst, kann Mira Cassandra aufklären – oder ich. Vielleicht
würde sie es von einem Mädchen in ihrem eigenen Alter leichter
aufnehmen.«
Hätte mir während meiner Zeit in Nevarsin
jemand erzählt, daß es eine Frau gibt, mit der ich mich über solche
Dinge offen unterhalten kann, und daß diese Frau weder mit mir
verheiratet noch eine Blutsverwandte ist, hätte ich das nie
geglaubt. Ich hätte nie gedacht, daß es zwischen Mann und Frau eine
solche Aufrichtigkeit geben kann.
»Das hat unsere ärgsten Befürchtungen tatsächlich ausgeräumt,
solange wir im Turm wohnten. Vielleicht können wir – immerhin so
viel haben. Es stimmt, wir haben darüber gesprochen, ein wenig.«
Cassandras Worte hallten in seinem Kopf wieder, als wären sie erst
Sekunden vorher und nicht schon vor einem halben Jahr gesagt
worden: »So wie die Dinge jetzt liegen, kann ich es ertragen,
Allart, aber ich weiß nicht, ob ich diesem Entschluß treu bleiben
kann. Ich liebe dich, Allart. Ich kann mir selbst nicht trauen.
Früher oder später würde ich dein Kind wollen, und so ist es
leichter, ohne die Möglichkeit und die Versuchung …« Renata, die
die Worte in seinem Geist hörte, sagte empört: »Leichter für
sie, vielleicht…« Sie unterbrach sich.
»Verzeih mir, ich habe kein Recht dazu. Auch Cassandra hat Anspruch
auf ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche, nicht auf das, was sie
nach deiner oder meiner Meinung fühlen sollte. Wenn einem Mädchen, sobald es alt genug
ist, beigebracht wird, daß der Sinn des Lebens darin besteht, dem
Clan ihres Mannes Kinder zu gebären, ist es nicht leicht, das zu
ändern oder einen anderen Lebenszweck zu finden.« Sie verstummte,
und Allart fand, daß Renatas Stimme angesichts ihrer Jugend zu
bitter klang. Er fragte sich, wie alt sie wohl war, aber sie
befanden sich schon in so enger Verbindung, daß Renata die
unausgesprochene Frage beantwortete.
»Ich bin nur ein oder zwei Monate älter als Cassandra. Ich bin
nicht ganz frei von dem Wunsch, eines Tages ein Kind zur Welt zu
bringen, aber meine Sorgen über das Zuchtprogramm ähneln den
deinen. Natürlich sind es nur die Männer, denen es erlaubt ist,
solche Sorgen und Zweifel zu äußern. Von den Frauen erwartet man,
daß sie nicht an solche Dinge denken. Manchmal habe ich das Gefühl,
daß man von uns erwartet, daß wir überhaupt nicht denken! Aber mein
Vater war mir gegenüber sehr nachgiebig, und ich habe ihm das
Versprechen abgerungen, nicht verheiratet zu werden, bis ich
zwanzig und in einem Turm ausgebildet worden bin. Ich habe viel
gelernt. Zum Beispiel folgendes, Allart: Wenn du und Cassandra
beschließen solltet, ein Kind zu haben, könnte man mit Hilfe einer
Überwacherin das Ungeborene tief im Keimplasma untersuchen. Sollte
das Kind das Laran, vor dem du dich
fürchtest, oder sonst ein rezessives Merkmal tragen, das Cassandra
bei der Geburt töten könnte, würde sie es nicht zur Welt bringen
müssen.«
Heftig entgegnete Allart: »Es ist übel genug, daß wir Hasturs uns
damit befassen, Riyachiyas und andere
Abscheulichkeiten durch genetische Manipulationen unseres Samens zu
züchten! Aber das mit meinen eigenen Söhnen und Töchtern tun?
Willkürlich ein Leben zerstören, das ich selbst gegeben habe? Der
Gedanke daran macht mich krank!« »Ich bin nicht der Bewahrer deines
Gewissens, oder Cassandras«, sagte Renata. »Das ist nur eine
Möglichkeit. Es wird andere geben, die dir besser gefallen. Aber
ich halte sie für das kleinere Übel. Ich weiß, daß ich eines Tages
zur Heirat gezwungen und verpflichtet werde, meiner Kaste Kinder zu
gebären. Ich werde mich dann vor zwei Alternativen gestellt sehen,
die mir fast gleichermaßen grausam erscheinen: meiner Kaste Monster
zu gebären, oder sie noch in meinem Leib zu vernichten.« Allart
konnte ihr Entsetzen sehen.
»Ich bin Überwacherin geworden, um nicht unwissentlich zu diesem
Zuchtprogramm beizutragen, das diese Monstrositäten in unser Volk
gebracht hat. Jetzt, da ich weiß, was
ich tun muß, ist es noch weniger erträglich geworden. Ich bin kein
Gott, daß ich bestimmen könnte, wer leben und wer sterben wird.
Vielleicht haben du und Cassandra letztlich doch richtig gehandelt,
indem ihr kein Leben gebt, das ihr später wieder entziehen
müßtet.«
»Und während wir auf diese Wahlmöglichkeiten warten«, sagte Allart
bitter, »laden wir Batterien auf, damit Müßiggänger mit Luftwagen
spielen können. Wir erleuchten ihre Häuser, damit sie sich die
Hände nicht mit Harz schmutzig zu machen brauchen. Wir fördern
Metalle, um anderen die Arbeit zu ersparen, sie zutage zu bringen,
und schaffen immer schrecklichere Waffen, mit denen man Leben
vernichtet, über die wir nicht den Schatten eines Rechts
haben.«
Renata erblaßte. »Nein! Das habe ich
nicht gehört. Allart, ist das dein Vorausblick, wird wieder Krieg
ausbrechen?«
»Ich habe es gesehen und unbedacht ausgesprochen«, sagte Allart und
schaute sie verzweifelt an. Die Klänge und Bilder des Krieges waren
schon da und verwischten die Gegenwart. Er dachte: Vielleicht werde ich im Gefecht getötet und davor bewahrt,
weiterhin mit dem Schicksal oder meinem Gewissen zu
hadern!
»Es ist dein Krieg und nicht meine Angelegenheit«, sagte Renata.
»Mein Vater hat mit Serrais keinen Streit und keinen Bündnisvertrag
mit Hastur. Wenn der Krieg erneut ausbricht, wird er nach mir
schicken und verlangen, daß ich nach Hause zurückkehre und heirate.
Oh, gnädiger Avarra, da gebe ich dir Ratschläge, wie du und deine
Frau eure Ehe führen sollt, und habe selbst weder den Mut noch die
Vernunft, meiner eigenen entgegenzusehen! Ich wünschte, ich hätte
deinen Vorausblick, Allart, um zu wissen, welche der
Wahlmöglichkeiten mir das geringste Übel bringt.«
»Ich wünschte, ich könnte es dir sagen«, entgegnete er und ergriff
einen Augenblick lang ihre Hände. Sein Laran zeigte jetzt deutlich, daß Renata und er
zusammen nach Norden ritten … wohin? Zu welchem Zweck?
Das Bild verblaßte und wurde durch einen Wirbel von neuen ersetzt:
dem schwebenden Flug eines großen Vogels – war es wirklich ein
Vogel?
-, dem entsetzten Gesicht eines Kindes, erstarrt im Glanz von
Blitzen. Ein Regen herabfallenden Haftfeuers, ein großer Turm, der
zusammenbrach, zermalmt wurde, zu Schutt zerschmettert. Renatas
Gesicht, von Zärtlichkeit entflammt, ihr Körper unter seinem… Von
den wirbelnden Bildern benommen, versuchte Allart, die sich
anhäufenden Zukunftsmöglichkeiten zu verdrängen.
»Vielleicht ist das die Antwort«,
meinte Renata mit plötzlicher Heftigkeit. »Ungeheuer zu züchten und
sie auf unser Volk loszulassen, immer schrecklichere Waffen zu
bauen, unser verfluchtes Volk wegzuwischen und die Götter ein neues
erschaffen zu lassen, das nicht den entsetzlichen Fluch des
Laran trägt!«
Es war plötzlich so still, daß Allart die Morgengeräusche
erwachender, zirpender Vögel und die weichen, feuchten Laute der
Wolkenwellen an den Ufern von Hali hören konnte. Renata zog
zitternd den Atem ein. Aber als sie weitersprach, war sie wieder
ruhig, ganz die disziplinierte Überwacherin.
»Aber das ist weit entfernt von dem, was mir dir zu sagen auferlegt
worden ist. Um unserer Arbeit willen, du und Cassandra dürft nicht
wieder im selben Matrixkreis arbeiten, bis mit euch alles in
Ordnung ist; bis ihr Liebe gegeben und empfangen habt und euch
einig seid, ohne Wankelmut und Begehren Freunde sein zu können. Im
Moment könnt ihr vielleicht in verschiedenen Kreisen untergebracht
werden. Immerhin gibt es hier achtzehn, und ihr könntet getrennt
arbeiten. Aber wenn ihr uns nicht zusammen verlaßt, muß zumindest
einer von euch gehen. Selbst in getrennten Kreisen würde es, da ihr
zusammen unter einem Dach wohnt, zu Spannungen kommen. Ich glaube,
du solltest gehen, Allart. Du hast in Nevarsin gelernt, dein
Laran zu beherrschen, aber Cassandra
nicht. Aber du mußt selbst darüber entscheiden. Das Gesetz hat dich
zu Cassandras Herrn gemacht, und auch zum Wahrer ihres Willens und
Gewissens, wenn du dieses Recht ausüben willst.« Er überhörte die
Ironie. »Wenn du glaubst, es wäre besser für meine Ehefrau, zu
bleiben«, sagte er, »dann wird sie bleiben, und ich werde gehen.«
Trostlosigkeit überfiel ihn. In Nevarsin hatte er Glück gefunden,
aber er war dort weggegangen, um nie mehr zurückzukehren. Sollte er
nun auch von hier fortgehen?
Gibt es auf dieser Welt keinen Platz für mich?
Muß ich für immer, heimatlos, von den Winden der äußeren Bedingung
getrieben werden? Er amüsierte sich auf merkwürdige Art über
sich selbst: Er beklagte sich, weil das Laran ihm zuviele Zukunftsmöglichkeiten zeigte, und
jetzt war er betrübt, weil er keine sah. Auch Renata wurde von
Entscheidungen getrieben, die nicht ihrer Kontrolle
unterlagen.
»Du hast die ganze Nacht gearbeitet, Cousine«, sagte er, »und bist
hier geblieben, um dich mit meinen und den Sorgen meiner Frau zu
plagen, anstatt dich selbst auszuruhen.«
Ihre Augen lächelten, ohne daß ihre Lippen sich bewegten. »Oh, es
hat mich erleichtert, an andere Sorgen als die meinen zu denken,
wußtest du das nicht? Die Lasten anderer sind leichter zu tragen.
Aber ich werde jetzt schlafen gehen. Und du?«
Allart schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht müde. Ich glaube, ich
werde eine Zeitlang im See Spazierengehen, mir die merkwürdigen
Fische oder Vögel anschauen und mir darüber klarzuwerden versuchen,
was sie tatsächlich sind. Ich frage mich, ob unsere Vorväter sie
gezüchtet haben. Vielleicht werde ich Frieden finden, wenn ich
etwas betrachte, das meine Sorgen nicht betrifft. Sei gesegnet,
Cousine für deine Freundlichkeit.« »Warum? Ich habe nichts gelöst.
Ich habe dir mehr Sorgen verschafft, das ist alles«, sagte Renata.
»Aber ich werde schlafen gehen und vielleicht eine Antwort auf
unsere Sorgen träumen. Ich frage mich, ob es ein solches
Laran, gibt.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Allart. »Aber es ist zweifellos
jemandem gegeben worden, der es nicht zu seinem eigenen Besten
anwenden kann. So sind die Dinge in dieser Welt nun einmal. Wären
sie anders, könnten wir den Weg aus allen Sorgen heraus finden und
wie eine Spielfigur sein, die es schafft, sich vom Brett zu lösen,
ohne gefangen zu werden. Geh schlafen, Renata. Die Götter mögen
verhüten, daß du die Last unserer Ängste und Sorgen sogar noch im
Traum trägst.«
12
Als Allart sich an diesem Abend in der unteren
Halle zu den Mitgliedern seines Kreises gesellte, war dort ein
aufgeregtes Gespräch im Gange. Alle waren anwesend, nicht nur die
sechs, mit denen er an diesem Morgen gearbeitet hatte. Er fing
Renatas Blick auf. Sie war blaß vor Angst. Er fragte Barak, der am
Rande der Gruppe stand: »Was ist los? Was ist passiert?«
»Wir haben Krieg. Die Ridenows haben mit Bogenschützen und
Haftfeuer-Pfeilen einen Angriff auf Burg Hastur gestartet und
belagern die Kilghard-Hügel mit Luftwagen. Jeder taugliche Mann der
Hasturs und Aillards ist ausgerückt, um das in den Wäldern wütende
Feuer zu bekämpfen oder die Burg zu verteidigen. Wir haben es von
den Verstärkern in Neskaya erfahren. Arielle war in den
Verstärkernetzen und hat gehört…«
»Alle Götter!« entfuhr es Allart. Cassandra erschien und blickte
besorgt zu ihm auf.
»Wird Lord Damon-Rafael nach dir schicken, mein Gatte? Mußt du in
den Krieg ziehen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Allart. »Ich war lange im Kloster,
und mein Bruder wird möglicherweise glauben, daß ich in
Kriegsführung und Strategie zu wenig geübt bin. Vielleicht macht er
einen seiner Friedensmänner zum Kommandanten.« Er schwieg
nachdenklich. Wenn einer von uns gehen muß,
ist es vielleicht besser, wenn ich es bin. Wenn ich nicht
zurückkehre, wird Cassandra frei sein. Wir würden dann dieser
hoffnungslosen Situation entkommen. Mit tränenerfülltem
Blick sah Cassandra zu ihm auf, aber sein Gesicht blieb kalt und
gefühllos. Er sagte: »Warum ruhst du nicht? Renata sagte, du seist
krank. Solltest du nicht besser das Bett hüten?«
»Ich habe das Gerede über den Krieg gehört und Angst bekommen«,
antwortete sie und versuchte, seine Hand zu nehmen. Allart zog sie
behutsam zurück und wandte sich Coryn zu.
Der Bewahrer sagte: »Ich hielte es für besser, wenn du hierbliebst,
Allart. Du besitzt die Kraft, die unsere Arbeit erleichtert.
Zweifellos wird man uns bald auffordern, Haftfeuer herzustellen.
Und da wir Renata verlieren werden …«
»Wird sie uns verlassen?«
Coryn nickte. »Sie ist in diesem Krieg neutral. Ihr Vater hat uns
wissen lassen, daß sie mit einem Geleitschutz nach Hause geschickt
werden soll. Er wünscht, daß sie den Kampfbereich sofort verläßt.
Es tut mir immer leid, eine gute Überwacherin zu verlieren,« sagte
er, »aber ich glaube, Cassandra wird nach einiger Übung ebenso
geschickt sein. Die Überwachertätigkeit ist nicht schwer, aber
Arielle ist als Technikerin besser. Glaubst du Renata, daß du genug
Zeit hast, Cassandra in der Technik des Überwachens zu
unterrichten, bevor du gehst?«
»Ich werde es versuchen«, sagte Renata, die gerade zu ihnen trat.
»Solange ich kann, werde ich hierbleiben. Ich will den Turm nicht
verlassen …« Sie warf Allart einen hilfesuchenden Blick zu. Er
erinnerte sich daran, was sie ihm erst an diesem Morgen erzählt
hatte.
»Mir würde es leid tun, dich gehen zu sehen, Cousine«, sagte er,
und nahm ihre Hände sanft in die seinen.
»Ich würde lieber bei euch bleiben«, sagte Renata. »Wäre ich doch
nur ein Mann und könnte frei wählen!«
»Ach, Renata«, erwiderte Allart, »auch uns steht es nicht frei, dem
Krieg oder den Gefahren auszuweichen. Ich kann als Hastur-Fürst
ebenso gegen meinen Willen in die Schlacht geschickt werden, wie
der rangniedrigste Vasall meines Bruders.«
Sekundenlang standen sie mit verschränkten Händen, ohne zu sehen,
daß Cassandras sie ansah und die Halle verließ. Schließlich
gesellte sich Coryn wieder zu ihnen.
»Wie wir dich brauchen werden, Renata! Lord Damon-Rafael hat uns
bereits beauftragt, einen neuen Vorrat an Haftfeuer anzulegen, und
ich habe eine neue Waffe entwickelt, die ich unbedingt ausprobieren
will.« Er nahm so unbefangen und vergnügt im Fensterbogen Platz,
als entwickele er eine neue Sportart oder ein Gesellschaftsspiel.
»Es ist eine Vorrichtung, die zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt.
Sie ist auf eine Fallen-Matrix eingestellt und so gerichtet, daß
sie nur einen bestimmten Feind tötet, dem es nichts nützt, wenn
sich Friedensmänner schützend vor ihn werfen. Selbstverständlich
ist es unerläßlich, ein Gedankenmuster des Opfers zur Hand zu
haben, vielleicht Schwingungen eines erbeuteten Kleidungsstückes
oder ein Schmuckstück, das er am Körper getragen hat. Eine solche
Waffe kann keinem anderen schaden, da sie von dem besonderen Muster
seines Verstandes ausgelöst wird.«
Renata schauderte. Allart streichelte geistesabwesend ihre Hand.
»Haftfeuer ist zu schwierig herzustellen«, sagte Arielle. »Ich
wünschte, man könnte eine bessere Waffe erfinden. Zuerst müssen wir
den roten Stoff aus der Erde fördern und ihn Atom für Atom trennen,
indem wir ihn bei großer Hitze destillieren. Das ist sehr
gefährlich. Als ich das letzte Mal damit arbeitete, ist einer der
gläsernen Behälter explodiert. Zum Glück trug ich Schutzkleidung,
aber selbst damit…« Sie streckte eine Hand aus, damit man die
häßliche, vernarbte Wunde, die einen tiefen Eindruck in ihrem
Fleisch hinterlassen hatte, sehen konnte. »Nur ein Körnchen, aber
es brannte bis auf den Knochen und mußte herausgeschnitten
werden.«
Coryn hob die Hand des Mädchens an seine Lippen und küßte sie. »Du
trägst eine ehrenvolle Kriegsnarbe, Preciosa. Das können nicht viele Frauen von sich
sagen. Ich habe Kessel entwickelt, die auch bei größter Hitze nicht
zerbrechen. Wir haben einen Bindezauber über sie gelegt, der sie am
Zerplatzen hindert, ganz gleich, was passiert. Selbst wenn sie
zerbrechen, wird der Bindezauber sie zusammenhalten, daß sie ihre
Form behalten, anstatt auseinanderzufliegen und die Umherstehenden
zu verletzen.«
»Wie ist dir das gelungen?« fragte Mira.
»Das war einfach«, erwiderte Coryn. »Man stellt ihr Muster auf eine
Matrix ein, damit sie keine andere Form annehmen können. Sie können
splittern, und ihr Inhalt kann ausfließen, aber sie können nicht
auseinanderbrechen. Zerschmettert man sie, werden die Bruchstücke
früher oder später sachte zu Boden gleiten – wir können die
Schwerkraft nicht ganz ausschalten –, aber sie besitzen dann nicht
mehr genug Energie, um jemanden zu schneiden. Aber um mit einer
Matrix auf der NeunerEbene zu arbeiten, wie es bei der Herstellung
von Haftfeuer notwendig ist, brauchen wir einen Kreis von neun
Mitgliedern und einen Techniker oder Bewahrer, um den Bindezauber
über die Kessel aufrechtzuerhalten. Ich frage mich«, fuhr Coryn mit
einem Blick auf Allart fort, »ob du mit etwas Übung nicht Bewahrer
werden könntest.«
»Ich habe keinerlei Ehrgeiz in dieser Richtung.«
»Aber es würde dich vom Krieg fernhalten«, sagte Coryn offen. »Wenn
er dir Gewissensbisse bereitet, denke daran, daß du hier nützlicher
bist und durchaus nicht ungefährdet. Keiner von uns ist ohne
Narben.« Er hob seine Hände, die tiefe, längst verheilte
Brandwunden aufwiesen. »Ich habe einmal einen Rückfluß auffangen
müssen, als ein Techniker zauderte. Die Matrix war wie glühende
Kohle. Ich dachte, sie würde wie Haftfeuer bis auf meine Knochen
brennen. Und was das Leiden angeht – wenn wir in Neuner-Kreisen Tag
und Nacht Waffen herstellen – nun, das werden wir haben, und ebenso
unsere Frauen.«
Arielle wurde rot, als die umherstehenden Männer leise zu lachen
begannen. Sie wußten alle, was Coryn meinte: Bei Männern war der
wesentliche Nebeneffekt der Matrix-Arbeit langanhaltende Impotenz.
Als er Allarts gezwungenes Lächeln sah, kicherte Coryn erneut.
»Vielleicht sollten wir alle Mönche und dafür geübt sein,
das zusammen mit Kälte und Hunger zu
ertragen«, meinte er lachend. »Allart, sag mir: Ich habe gehört,
daß du auf dem Weg von Nevarsin von einem explodierenden
Haftfeuer-Gerät angegriffen wurdest und es schafftest, es
abzuwehren. Erzähl mir davon.«
Allart berichtete von dem Zwischenfall, soweit er sich daran
erinnern konnte. Coryn nickte ernst. »An solch ein Geschoß hatte
ich gedacht. Man müßte es hochzerbrechlich konstruieren und mit
Haftfeuer oder gewöhnlichen Brandstoffen füllen. Ich habe eines,
das einen ganzen Wald in Brand setzt, daß man Männer vom Kampf
abziehen muß, um das Feuer zu bekämpfen. Und ich habe eine Waffe,
die den ausgefallenen Ohrringen ähnelt, die unsere Handwerker
herstellen. Man kann mit Hämmern auf sie einschlagen und Tiere
können auf ihnen herumtrampeln, ohne daß sie zerbrechen. Aber die
kleinste Berührung eines langen Glasschwanzes reicht aus, um sie in
tausend Stücke zersplittern zu lassen. Man kann diese Waffe nicht
wie jene, die man gegen deinen Vater ausschickte, vorzeitig zur
Explosion bringen. Absolut nichts wird sie detonieren lassen, außer
den auslösenden Gedanken desjenigen, der sie ausgeschickt hat. Mir
tut es nicht leid, daß der Waffenstillstand beendet ist. Wir müssen
eine Möglichkeit haben, diese Waffen irgendwo
auszuprobieren!«
»Würden sie doch für immer unerprobt bleiben!« sagte Allart
schaudernd.
»Ah, da spricht der Mönch«, meinte Barak. »Einige weitere Jahre
werden dich von solch verräterischem Unsinn kurieren, mein Junge.
Die Ridenow-Usurpatoren, die in unser Reich eindringen, sind
zahlreich und fruchtbar – einige sogar Väter von sechs oder sieben
Söhnen –, und sie sind alle hungrig nach Land. Von den sieben
Söhnen meines Vaters starben zwei bei
der Geburt und ein dritter, als das Laran über ihn kam. Dennoch scheint es mir fast
noch schlimmer zu sein, viele Söhne zu haben, die das Mannesalter
erreichen. Denn dann muß jeder Besitz in Stückchen geschnitten
werden, um sie alle zu unterstützen. Oder sie müssen ausziehen, wie
es die Ridenows getan haben, um sich Land zu erobern, über das sie
herrschen können.«
Coryn lächelte ohne Heiterkeit. »Das ist wahr«, bekräftigte er.
»Ein Sohn ist notwendig, so notwendig, daß man alles tun wird, um
sein Überleben sicherzustellen. Wenn man aber zwei hat, ist es
schon zuviel. Ich war der jüngere Sohn. Mein älterer Bruder ist
hocherfreut, daß ich hier als Bewahrer lebe, machtlos in den großen
Geschehnissen unserer Tage. Dein Bruder
ist liebevoller, Allart – zumindest hat er dich in die Ehe
gegeben.«
»Ja«, gab Allart zurück, »aber ich habe geschworen, seinen Anspruch
auf den Thron zu unterstützen, wenn König Regis – lang möge seine
Herrschaft währen – etwas zustoßen sollte.«
»Seine Herrschaft dauert schon zu lange«, sagte ein Bewahrer aus
einem der anderen Kreise. »Aber ich freue mich nicht gerade auf
das, was geschehen wird, wenn dein Bruder und Prinz Felix anfangen,
um den Thron zu streiten. Krieg mit Ridenow ist übel genug, aber
ein Bruderkrieg im Hastur-Reich wäre weit schlimmer.«
»Prinz Felix ist ein Emmasca, habe ich
gehört«, sagte Barak. »Ich glaube nicht, daß er um den Erhalt
seiner Krone kämpfen wird – Eier können gegen Steine nichts
ausrichten.«
»Nun, er ist einigermaßen sicher, solange der alte König lebt«,
warf Coryn ein. »Aber danach ist es nur eine Frage der Zeit, bis er
herausgefordert und öffentlich vorgeführt wird. Wen, frage ich
mich, haben sie bestochen, um ihn als ersten Erben zu benennen?
Aber vielleicht hast du Glück gehabt, Allart, denn dein Bruder
braucht deine Unterstützung dringend genug, daß er eine Frau für
dich wählte, die in der Tat liebenswürdig und einnehmend
ist.«
»Ich glaubte sie noch vor einem Augenblick gesehen zu haben«, sagte
der andere Bewahrer, »aber jetzt ist sie fort.«
Allart blickte suchend umher. Er war plötzlich von einer namenlosen
Angst erfüllt. Eine Gruppe jüngerer Frauen des Turms tanzte am
anderen Ende des langen Raums; er hatte sie unter ihnen vermutet.
Erneut sah er sie tot in seinen Armen liegen … und verscheuchte das
Bild als eine Illusion, die seiner Angst und geistigen Unruhe
entsprang. »Vielleicht ist sie wieder auf ihr Zimmer gegangen.
Renata hat ihr empfohlen, das Bett zu hüten, denn sie fühlte sich
nicht wohl. Ich war überrascht, daß sie überhaupt heruntergekommen
ist.«
»Aber in ihrem Zimmer ist sie nicht«, sagte Renata, die sich ihnen
näherte. Allarts Gedanken aufgreifend wurde sie blaß. »Wo kann sie
hingegangen sein, Allart? Ich bin hinaufgegangen, sie zu fragen, ob
ich sie als Überwacherin einweisen solle, aber sie ist überhaupt
nicht im Turm.«
»Gnädiger Avarra!« Plötzlich brachen die sich verzweigenden
Zukunftsmöglichkeiten wieder über ihn herein, und Allart wußte,
wohin Cassandra gegangen war. Ohne ein Wort der Erklärung wandte er
sich von den Männern ab, eilte hinaus, ging durch Hallen und Flure
und verließ durch das Kraftfeld den Turm.
Die Sonne, eine große rote Kugel, hing wie Feuer auf den fernen
Hügeln und bedeckte den See mit Flammen.
Sie hat mich bei Renata gesehen. Ich wollte
ihre Hand nicht berühren, obwohl sie weinte – aber Renata habe ich
vor ihren Augen geküßt. Es war rein freundschaftlich gemeint, wie
man einer Schwester gegenüber zärtlich ist, und nur, weil ich
Renata ohne diese Qual aus Liebe und Schuld berühren kann.
Cassandra hat zugesehen, aber nichts verstanden …
Er rief Cassandras Namen, bekam aber außer den weichen,
plätschernden Lauten des Wolkenwassers keine Antwort. Allart warf
den Umhang ab und fing an zu laufen. Am äußersten Rand des
Ufersandes sah er zwei kleine, hochhackige Sandalen, blau gefärbt.
Cassandra hatte sie nicht achtlos ausgezogen, sondern mit äußerster
Gewissenhaftigkeit nebeneinander gestellt, als sei sie zaudernd
hier niedergekniet. Allart zog hastig seine Stiefel aus und rannte
in den See hinein.
Die merkwürdigen Wolkenwasser hüllten ihn trübe und fremdartig ein.
Das dichte, neblige Gefühl umgab ihn. Er atmete, spürte die
merkwürdige anregende Wirkung und konnte ziemlich deutlich sehen,
wie durch den dünnen Nebel glänzende Gestalten – Fische oder Vögel?
– an ihm vorbeiglitten. Das schimmernde Orange und Grün ähnelte
keiner Farbe, die er je gesehen hatte, außer den Lichtern hinter
seinen Augen, wenn er eine Dosis der telepathischen Droge Kirian
eingenommen hatte, die das Gehirn öffnete … Allart spürte, wie
leicht sich seine Füße auf dem pflanzenbewachsenen Grund bewegten,
als er anfing, durch den See zu laufen.
Irgend etwas war hier vorbeigekommen, ganz sicher. Die Fischvögel
sammelten sich in Gruppen, die in den Wolkenströmen umhertrieben.
Allart spürte, wie seine Füße langsamer wurden. Das schwere Gas
fing nun an, ihn zu bedrücken. Er sandte einen verzweifelten Schrei
aus: »Cassandra!« Aber die Wolke schien
keinen Laut weiterzuleiten. Es war wie auf dem Grund eines tiefen
Brunnens, dessen Stille ihn verschlang. Selbst in Nevarsin hatte er
solche Ruhe nie erfahren. Lautlos trieben die Fisch-Vögel an ihm
vorbei. Ihre leuchtenden Farben erzeugten in seinem Gehirn
Reflexionen. Er war benommen, fühlte sich schwindlig. Er zwang sich
zu atmen, als ihm einfiel, daß in dieser seltsamen Wolke das
Element, das den Atemreflex in seinem Gehirn auslöste, nicht
vorhanden war. Er mußte mit Mühe und Willenskraft Luft
holen.
»Cassandra!«
Ein schwaches, fernes Flackern …
»Geh weg …« Und schon war es wieder
fort.
Atmen! Allart begann zu ermüden. Die
Pflanzen wuchsen hier tiefer und dichter, und er mußte sich seinen
Weg durch sie erkämpfen. Atmen! Ein und aus,
denk daran, zu atmen … Er spürte wie sich ein langer,
schleimiger Pflanzenarm um seinen Knöchel legte, bückte sich und
löste ihn. Atmen! Er zwang sich
vorwärts, selbst als die leuchtend gefärbten Fisch-Vögel sich um
ihn scharten und ihre Farben vor seinen Augen zu verschwimmen
begannen. Sein Laran überfiel ihn, wie
immer, wenn er besorgt oder ermüdet war, und er sah sich selbst
hinabsinken, hinab in Gas und Schlick, sah sich still und zufrieden
dort liegen, in glücklichem Frieden ersticken, weil er vergessen
hatte, wie man atmete … Atmen! Allart
kämpfte, zog noch einen feuchten Atemzug des Gases ein und
erinnerte sich daran, daß es sein Leben verlängerte. Die einzige
Gefahr bestand darin, daß man das Atmen vergaß. Hatte Cassandra
diesen Punkt schon erreicht? Lag sie schon, einen schmerzlosen,
ekstatischen Tod sterbend, auf dem Grunde des Sees?
Sie wollte sterben, und ich bin schuldig …
Atmen! Denk jetzt an nichts anderes, denk nur ans Atmen
…
Er sah sich eine stille, leblose Cassandra aus dem See tragen. Ihr
langes Haar lag schwarz und tropfend über seinem Arm … Sah, wie er
sich über sie beugte, während sie in den wogenden Gräsern des Sees
lag; sah sich sie in die Arme nehmend, neben ihr niedersinken
…
Die Fisch-Vögel bewegten sich hektisch. Vor seinen Füßen sah er ein
blasses Blau aufflackern, eine Farbe, die auf dem Grund des Sees
nie zu sehen war. War es der lange Ärmel von Cassandras Gewand?
Atmen … Allart beugte sich über sie.
Sie lag auf der Seite, ihre Augen waren offen und regungslos. Ein
schwaches, erfreutes Lächeln war auf ihren Lippen, aber sie war zu
weit fort, um ihn zu sehen. Sein Herz zog sich zusammen, als er
sich über sie beugte. Leicht hob er sie in seine Arme. Sie war
bewußtlos, schwach, ihr Körper lehnte sich in der wogenden Umgebung
schlaff gegen ihn. Atmen’. Atme in ihren Mund.
Es ist das Gas unseres ausgestoßenen Atems, das den Vorgang
auslöst… Allart verstärkte den Griff der Arme, legte seine
Lippen auf die ihren und zwang seinen Atem in ihre Lungen. Wie im
Reflex holte sie Luft, ein langer, tiefer Atemzug, und war wieder
reglos.
Allart hob sie hoch. Er begann sie über den Grund des Sees zu
tragen, durch das trübe wolkige Licht, das jetzt von der
untergehenden Sonne rötlich gefärbt wurde, und plötzlich packte ihn
Entsetzen. Wenn es dunkel wird, wenn die Sonne
untergeht, werde ich den Weg zum Ufer niemals finden. Wir werden
hier zusammen sterben. Er beugte sich wieder über sie und
zwang seinen ausgestoßenen Atem in ihren Mund. Erneut spürte er,
wie sie sich regte. Aber der automatische Atmungsmechanismus
Cassandras war verschwunden. Er wußte nicht, wie lange sie ohne ihn
überleben konnte, selbst mit dem Sauerstoff der reflexhaften
Atemzüge, die er sie alle zwei oder drei Schritte zu nehmen zwang.
Er mußte sich beeilen, bevor das Licht verschwand. Allart kämpfte
sich mit ihr durch die zunehmende Dunkelheit und mußte alle zwei
oder drei Schritte anhalten, um ihr wieder Leben einzuatmen. Ihr
Herz schlug. Wenn sie doch nur Luft holte … Wenn er sie doch nur
weit genug aus der Ohnmacht holen konnte, damit ihr klar wurde, daß
sie atmen mußte …
Die letzten Schritte waren wie ein Alptraum. Cassandra war eine
schlanke, zarte Frau, aber Allart war auch kein übermäßig großer
Mann. Als der Nebel niedriger wurde, gab er schließlich den Versuch
auf, und zerrte sie weiter, indem er sich hinabbeugte und ihr unter
die Achseln griff. Alle zwei oder drei Schritte blieb er stehen, um
seinen Atem in ihre Lungen zu zwingen. Endlich stieß sein Kopf
wieder auf Sauerstoff, den er zitternd, mit rasselnden Lungen,
einatmete. Allart zerrte Cassandra mit letzter Mühe hoch, hielt
ihren Kopf aus dem nebelhaften Gas heraus, taumelte wie betäubt
aufs Ufer zu und brach neben ihr auf dem Gras zusammen. Er lag da,
atmete in ihren Mund und drückte ihre Rippen, bis Cassandra anfing
zu keuchen und einen klagenden Schrei ausstieß, der dem eines
neugeborenen Kindes, dessen Lungen sich mit dem ersten Atemzug
füllten, nicht unähnlich war. Schließlich atmete sie wieder normal.
Obwohl sie noch immer bewußtlos war, spürte er nach kurzer Zeit in
der zunehmenden Dunkelheit, wie ihre Gedanken die seinen berührten.
Dann flüsterte sie, noch immer geschwächt: »Allart? Bist du
es?«
»Ich bin hier, mein Liebes.«
»Mir ist so kalt.«
Allart hob seinen Umhang auf und wickelte sie ein. Er hielt sie
fest umarmt und murmelte endlose Koseworte.
»Preciosa … Bredhiva … Mein Schatz,
mein Geliebtes, warum… Wie … Ich dachte, ich hätte dich für immer
verloren. Warum wolltest du mich verlassen?«
»Dich verlassen?«, flüsterte sie. »Nein. Aber es war so friedlich
im See, und ich wollte nicht mehr, als für immer in der Stille zu
bleiben, keine Furcht mehr zu haben und nicht mehr zu weinen. Ich
glaubte, dich nach mir rufen zu hören, aber ich war so müde … Ich
habe mich nur hingelegt, um ein wenig auszuruhen. Ich war schläfrig
und konnte nicht mehr aufstehen. Ich konnte plötzlich nicht mehr
atmen und hatte Angst… Und dann bist du gekommen … Aber ich weiß,
daß du mich nicht liebst.«
»Ich soll dich nicht lieben? Nicht wollen? Cassandra …« Allart
merkte, daß er nicht sprechen konnte. Er zog sie fest an sich und
küßte ihre kalten Lippen.
Später nahm er sie wieder auf die Arme und trug sie in den Turm.
Die Mitglieder der Matrixkreise, die dort versammelt waren,
starrten ihn erschreckt und überrascht an, aber in Allarts Blick
war etwas, das sie davon abhielt, zu reden oder sich dem Paar zu
nähern. Er fühlte, daß Renata ihn beobachtete und die Neugier und
das Entsetzen aller. Ohne darüber nachzudenken, sah er sich, wie
sie in ihren Augen erscheinen mußten: durchnäßt und mit
verschmutzten Kleidern, ohne Stiefel, Cassandras aufgeweichte
Kleider, die den um sie gewickelten Umhang durchnäßten, ihr langes
schwarzes Haar, aus dem Feuchtigkeit strömte. Der ernste Ausdruck
seines Gesichts ließ sie, als er durch die Halle und die lange
Treppe hinauf schritt, zur Seite treten. Allart brachte sie zu
seinem eigenen Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und verschloß
sie. Er kniete neben Cassandra hin, zog ihr mit zitternden Händen
die durchnäßte Kleidung aus und wickelte sie warm ein. Sie war
still wie der Tod, lag bleich und bewegungslos auf dem Kissen, ihr
feuchtes Haar hing leblos herab.
»Nein«, flüsterte sie, »du willst den Turm verlassen und hast mir
nicht einmal davon erzählt. Ich wäre besser gestorben, als allein
mit all den andern hierzubleiben, die mich verspotten, weil sie
wissen, daß ich verheiratet, aber keine Ehefrau bin und du mich
weder liebst noch begehrst.«
»Ich soll dich nicht lieben?« flüsterte Allart. »Ich liebe dich,
wie mein gesegneter Ahnherr vor Jahrhunderten Robardins Tochter an
den Ufern von Hali liebte. Und ich soll dich nicht begehren,
Cassandra?« Er drückte sie an sich, bedeckte sie mit Küssen, und
spürte, wie er Leben in sie hauchte, wie der Atem seiner Lungen ihr
in den Tiefen des Sees Leben gegeben hatte. Er war fast jenseits
aller Vernunft, jenseits der Erinnerung an das Gelöbnis, das sie
einander gemacht hatten, aber ein letzter verzweifelter Gedanke
durchzuckte seinen Verstand, bevor er die Dekken beiseite
zog.
Ich darf sie nie fortlassen, nicht jetzt.
Gnädiger Avarra, habe Erbarmen mit uns!
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