KNAUR
SCIENCE FICTION FANTASY

Herausgeber Hans Joachim Alpers
Das dunkle Zeitalter ist angebrochen … Krieg und Intrigen beherrschen den Planeten Darkover, der eine sterbende Sonne umkreist. Seine Bewohner sind Nachkommen eines vor 1000 Jahren gestrandeten irdischen Kolonistenschiffes. Die Darkoveraner haben ihre Herkunft vergessen und sind in eine feudalistische Geschichtsepoche zurückgefallen. Den Mangel an Technologie machen sie mittels hochentwickelter Geisteskräfte wett. Mit Hilfe von Matrix-Kristallen, den sogenannten »Sternensteinen«, die die Ausstrahlung des menschlichen Gehirns verstärken und ihm übersinnliche Kräfte verleihen, hat sich eine Kaste etabliert, die Darkover beherrscht – die Comyn. Als die Ära des Chaos über Darkover hereinbricht und die Machthungrigen sich der Sternensteine bedienen, sieht sich die Familie Hastur gezwungen, Allart Hastur, der aus Angst vor seinen übermächtigen Geisteskräften in der Abgeschiedenheit eines Klosters lebt, zurückzuholen. Und Hastur begegnet Dorilys, der »Herrin der Stürme« … Marion Zimmer Bradley, geboren 1930 in Albany/New York, entdeckte die phantastische Literatur im Alter von sechzehn Jahren. 1953 veröffentlichte sie die ersten Kurzgeschichten in dem renommierten Magazine of Fantasy & Science Fiction. Sie gilt als Tolkien-Expertin und betont wie die meisten ihrer Kolleginnen die abenteuerlich-romantische Komponente der phantastischen Literatur. Der vorliegende Roman ist der neueste aus dem Darkover-Zyklus, dem großen Erfolg der letzten Jahre auf dem Gebiet der Fantasy-Literatur. September 1979 Deutsche Erstausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich 1979 Titel der Originalausgabe »Stormqueen!« Copyright © 1978 by Marion Zimmer Bradley Aus dem Amerikanischen von Bernd Holzrichter Umschlagillustration Selecciones Ilustradas Satz Appl, Wemding Druck und Bindung Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Germany • 2 • 5 • 281 ISBN 3-426-05717-4 2. Auflage Fantasy-Roman Deutsche Erstausgabe

DROEMER KNAUR

Widmung

Für Catherine L. Moore First Lady der Science Fiction

Ich habe, so hoffe ich, mit der Nachahmung aufgehört, von der man sagt, sie sei die offenste Form der Schmeichelei. Ich werde dennoch, so hoffe ich, nie darüber hinauswachsen, ihr nachzueifern; und ebensowenig über die Bewunderung, die Zuneigung und die Begeisterung, die sie in jeder Frau erzeugt hat, die Science Fiction und Fantasy schreibt – wie auch in den meisten Männern!

MZB

Vorbemerkung der Autorin

Seit dem dritten oder vierten Darkover-Roman haben mir meine erstaunlich treuen Leser geschrieben und gefragt: »Warum schreiben Sie keinen Roman über das Zeitalter des Chaos?«
Lange Zeit war ich unschlüssig, zögerte, diesem Wunsch nachzukommen. Der Kern der Darkover-Romane schien mir folgender zu sein: das Zusammentreffen der Zivilisationen von Darkover und Terra. Hätte ich den Bitten, über die Zeit »vor der Ankunft der Terraner« zu schreiben, nachgegeben, wäre – so meinte ich – dieser Kern verlorengegangen; was übriggeblieben wäre, hätte große Ähnlichkeit mit tausend anderen Science-Fantasy-Romanen gehabt, die sich mit fremden Welten befassen, deren Bewohner seltsame Kräfte und andere Interessen haben. Es waren meine Leser, die mich letztendlich dazu überredet haben, dies doch in Angriff zu nehmen. Wenn jeder, der einem Autor schreibt, nur ein Hundertstel von denen repräsentiert, die es nicht tun (und mir wurde gesagt, das Verhältnis sei noch höher), müssen es bislang mehrere tausend sein, die an der Zeit interessiert sind, die als Zeitalter des Chaos bekannt ist; jene Zeit, bevor die Comyn das Bündnis ihrer sieben großen Häuser etabliert hatten, um über die Reiche zu herrschen; und auch die große Zeit der Türme und der merkwürdigen Technologie, die als »Sternenstein« bekannt ist und später zur Wissenschaft der MatrixTechnik wurde.
Leser des Buches » The Forbidden Tower« werden wissen wollen, daß »Herrin der Stürme« sich mit einer Zeit befaßt, bevor Varzil, der Bewahrer von Neskaya, der auch als »der Gute« bekannt ist, die Techniken vervollkommnete, die es Frauen gestatteten, als Bewahrer in den Türmen der Comyn zu dienen.
In »Die Amazonen von Darkover« sagt Lady Rohana:
»Es gab eine Zeit in der Geschichte der Comyn, in der wir die selektive Fortpflanzung einsetzten, um diese Gaben in unserem Rassenerbe festzuschreiben. Es war eine Zeit großer Tyrannei, an die wir nicht gerade mit Stolz zurückdenken.«
Dies hier ist die Geschichte der Männer und Frauen, die unter dieser Tyrannei lebten; eine Geschichte darüber, wie diese Tyrannei ihr Leben und das jener, die nach ihnen kamen, beeinflußte.

Marion Zimmer Bradley

1

Mit dem Sturm stimmte etwas nicht.
Anders konnte Donal ihn nicht einschätzen …es stimmte etwas nicht. In den Bergen, die man die Hellers nannte, war Hochsommer, und eigentlich dürfte es außer den endlosen Schneegestöbern auf den weiten Höhen über der Baumgrenze und den seltenen wilden Gewittern, die durch die Täler schossen, von Wipfel zu Wipfel sprangen und entwurzelte Bäume und manchmal Brände in den Schneisen ihrer Blitze zurückließen, keine Stürme geben.
Aber obwohl der Himmel blau und wolkenlos war, grollte leiser Donner in der Ferne, und die Luft schien von der Spannung eines Sturms erfüllt. Donal kauerte sich hoch auf den Zinnen zusammen, hielt den Falken in seiner Armbeuge, streichelte den unruhigen Vogel mit einem Finger und summte ihm fast unbewußt eine Melodie vor. Er wußte, daß der in der Luft liegende Sturm und die elektrische Spannung den Falken ängstigten. Er hätte ihn heute nicht aus dem Vogelgatter nehmen dürfen – es würde ihm recht geschehen, wenn der alte Falkner ihn prügelte, und vor einem Jahr noch hätte dieser das auch ohne viel nachzudenken getan. Aber jetzt waren die Verhältnisse anders. Donal war erst zehn, aber in seinem kurzen Leben hatte es bereits viele Veränderungen gegeben.
Die herausragendste davon war, daß im Verlauf weniger Monde die Falkner, Hauslehrer und Reitknechte aufgehört hatten, ihn als ›den Bengel‹ zu bezeichnen und ihn statt dessen mit ›junger Herr‹ ansprachen. Und außerdem hatten sie aufgehört, ihm mit Knüffen, Stößen oder sogar Schlägen Respekt einzubläuen.
Gewiß war das Leben für Donal jetzt leichter, aber das Ausmaß der Veränderung bereitete ihm Unbehagen; denn es war keine Folge seines eigenen Tuns. Es hatte etwas mit der Tatsache zu tun, daß seine Mutter, Aliciane von Rockraven, nun das Bett mit Dom Mikhail, dem Lord von Aldaran, teilte und ihm schon bald ein Kind gebären würde.
Ein einziges Mal, vor langer Zeit (seitdem waren zwei Mittsommerfeste ins Land gegangen), hatte Aliciane zu ihrem Sohn darüber gesprochen.
»Hör mir genau zu, Donal, denn ich werde dies nur ein einziges Mal und dann nie wieder sagen. Das Leben ist nicht leicht für eine schutzlose Frau.« Donals Vater war in einem der kleinen Kriege gestorben, die sich zwischen den Vasallen der Gebirgsfürsten entzündet hatten, und so besaß er keinerlei Erinnerung an ihn; ihr gemeinsames Leben hatte sich seitdem als unbeachtete Beziehung in den Heimen immer anderer Verwandter abgespielt. Donal hatte die abgelegte Kleidung dieses oder jenes Cousins getragen, war immer auf dem schlechtesten Pferd aus den Stallungen geritten, hatte unbeachtet herumgelungert, wenn Cousins und männliche Familienmitglieder die Waffenkunst erlernten, und versucht, möglichst viel durch Zuhören aufzuschnappen.
»Ich könnte dich in Pflege geben. Dein Vater hat Verwandte in den Hügeln, und du könntest dort aufwachsen, um bei einem von ihnen in den Dienst zu treten. Nur gäbe es dann für mich nichts, außer Küchenmädchen oder Näherin zu sein, oder im besten Fall Sängerin im Haushalt eines Fremden. Aber ich bin zu jung, um dies Los erträglich zu finden. Daher bin ich als Sängerin in die Dienste Lady Deonaras getreten; sie ist schwächlich und gealtert, und hat keine lebenden Kinder geboren. Man sagt von Lord Aldaran, er habe ein Auge für die Schönheit der Frauen. Und ich bin schön, Donal.«
Donal hatte Aliciane heftig umarmt; sie war wirklich sehr schön, eine schlanke, mädchenhafte Frau mit flammend hellem Haar und grauen Augen, die für die Mutter eines achtjährigen Burschen zu jung aussah.
»Was ich im Begriff bin zu tun, tue ich zumindest teilweise für dich, Donal. Meine Verwandtschaft hat mich dafür verstoßen; verdamme mich nicht, wenn die, die das nicht verstehen, schlecht von mir sprechen.«
Es sah in der Tat anfangs so aus, als hätte Aliciane es eher zum Besten ihres Sohnes, als zu ihrem eigenen getan; Lady Deonara war zwar freundlich, zeigte aber die Reizbarkeit aller chronisch Kranken. Aliciane war bescheiden und zurückhaltend geblieben, hatte Deonaras Strenge und den boshaften Neid der anderen Frauen gutmütig und gelassen auf sich genommen. Aber Donal besaß nun zum ersten Mal in seinem Leben maßgeschneiderte Kleidung, ein eigenes Pferd, einen eigenen Falken und lernte bei den Hauslehrern und Waffenmeistern von Lord Aldarans Schützlingen und Pagen.
In diesem Sommer war Lady Deonara erneut von einem totgeborenen Sohn entbunden worden; woraufhin Mikhail, Lord von Aldaran, Aliciane von Rockraven zur Barragana genommen und ihr geschworen hatte, daß ihr Kind – ob männlich oder weiblich – gesetzlich anerkannt und so lange als Erbe seiner Linie gelten solle, bis er eines Tages Vater eines ehelichen Kindes werden würde. Sie war die anerkannte Favoritin Lord Aldarans – selbst Deonara, die sie für ihres Fürsten Bett ausgewählt hatte, liebte sie – und Donal konnte von ihrer hervorragenden Stellung profitieren. Einmal hatte Lord Mikhail, grauhaarig und furchteinflößend, ihn sogar zu sich rufen lassen und ihm mitgeteilt, daß Hauslehrer und Waffenmeister Gutes über ihn berichteten. Dann hatte er ihn in eine freundliche Umarmung gezogen. »Ich wünschte in der Tat, du seist von meinem Blut, Pflegesohn. Wenn deine Mutter mir solch einen Sohn gebiert, werde ich sehr zufrieden sein.«
Donal hatte gestammelt, »Ich danke Euch, Verwandter«, ohne jedoch den Mut zu haben, den alten Mann »Pflegevater« zu nennen. Jung wie er war, wußte er doch, daß er – sollte seine Mutter Lord Aldaran ein lebendes Kind gebären – der Halbbruder von Aldarans Erbe sein würde. Die Änderung seines Status war bereits außergewöhnlich und bemerkenswert gewesen.
Aber der drohende Sturm … er erschien Donal wie ein böses Omen für die bevorstehende Geburt. Er schauderte; ein Sommer seltsamer Stürme lag hinter ihnen, mit Blitzstrahlen aus dem Nirgendwo und nie verstummendem Grollen und Krachen. Ohne zu wissen warum, verband Donal den Sturm mit Ärger – dem Ärger seines Großvaters Lord Rockraven, als dieser von der Entscheidung seiner Tochter erfahren hatte. Verloren in einer Ecke kauernd hatte Donal mit anhören müssen, wie Lord Rockraven sie als Flittchen und Hure beschimpfte. Er hatte seine Mutter mit Namen belegt, die Donal noch weniger verstand. An diesem Tag war die Stimme des alten Mannes vom Donner fast verschluckt worden, während er in der Stimme seiner Mutter das Krachen zorniger Blitze vernahm, als sie zurückgeschrien hatte: »Was soll ich denn tun, Vater? Zuhause warten, meine Wäsche stopfen und mich und meinen Sohn von deiner erbärmlichen Ehre ernähren? Soll ich mit ansehen, wie Donal aufwächst, um ein gedungener Söldner zu werden? Oder in deinem Garten nach seinem Brei graben? Du verschmähst Lady Aldarans Angebot…«
»Nicht Lady Aldaran ist es, die ich verschmähe«, schnaubte ihr Vater, »aber sie ist es nicht, der du dienen wirst, und das weißt du so gut wie ich!«
»Hast du ein besseres Angebot für mich gefunden? Soll ich einen Hufschmied oder einen Köhler heiraten? Lieber bin ich die Barragana Aldarans, als die Ehefrau eines Kesselflickers oder Lumpensammlers!« Donal wußte, daß er von seinem Großvater nichts zu erwarten hatte. Rockraven war nie ein reiches oder mächtiges Haus gewesen; es war verarmt, weil der alte Lord für vier Söhne und drei Töchter sorgen mußte, von denen Aliciane die jüngste war. Einmal hatte sie voll Bitterkeit gesagt, wenn ein Mann keine Söhne habe, sei dies eine Tragödie; besäße er aber zuviele, dann sei es um so schlimmer für ihn, denn er müsse dann mitansehen, wie sie sich um seinen Besitz stritten. Als letztes seiner Kinder war Aliciane mit einem jungen Mann ohne Titel verheiratet worden, der knapp ein Jahr nach ihrer Heirat gestorben war und Aliciane und den gerade geborenen Donal zurückgelassen hatte, der nun im Haus eines Fremden aufgezogen werden mußte. Jetzt, als er auf den Zinnen von Burg Aldaran kauerte und den klaren, von unerklärlichen Blitzen erfüllten Himmel betrachtete, weitete Donal sein Bewußtsein nach außen – er konnte die Linien der Elektrizität und das merkwürdige Schimmern im Magnetfeld des Sturms beinahe sehen. Gelegentlich war er fähig gewesen, den Blitz zu rufen; einmal, als ein Sturm wütete, hatte er sich damit vergnügt, den großen Blitzschlag dorthin zu lenken, wo er ihn haben wollte. Es gelang ihm nicht immer, und er konnte es nicht allzuoft tun, sonst würde er krank und schwach werden. Einmal, als er (ohne zu wissen wie) durch die Haut gefühlt hatte, daß der nächste Blitz in den Baum, unter dem er stand, einschlagen würde, hatte er etwas in seinem Innern ausgestreckt. Ein unsichtbares Körperglied hatte die Kette explodierender Kraft ergriffen und sie in eine andere Richtung geschleudert. Der Blitz war zischend in einen Strauch eingeschlagen, hatte ihn zu einem Haufen geschwärzter Blätter verschmolzen und eine kreisförmige Grasfläche versengt, während Donal schwindlig und mit trübem Blick zu Boden gesunken war. Der Schmerz hatte seinen Kopf beinahe in Stücke bersten lassen, und er war tagelang nicht in der Lage gewesen, richtig zu sehen. Aliciane hatte ihn daraufhin umarmt und ermahnt.
»Mein Bruder Caryl konnte das auch, aber er starb in jungen Jahren«, sagte sie zu ihm. »Es gab eine Zeit, da die Leroni in Hali versuchten, die Fähigkeit der Sturmkontrolle in unser Laran hineinzuzüchten, aber es war zu gefährlich. Ich kann die Donnergewalten zwar ein wenig sehen, aber nicht beeinflussen. Sei auf der Hut, Donal. Nutze diese Gabe nur, um Leben zu retten. Ich möchte meinen Sohn nicht von den Blitzen, die zu beherrschen er anstrebt, verbrannt sehen.« Und sie hatte ihn mit ungewöhnlicher Herzlichkeit erneut umarmt.
Laran. Gespräche über die Gabe der außersensorischen Kräfte, denen sich die Bergfürsten – ja, sogar auch die weit draußen in den Tiefländern lebenden – so intensiv widmeten, hatten seine Kindheit stets begleitet. Wenn er wirklich eine außergewöhnliche Gabe, etwa die der Telepathie, oder die Fähigkeit, Falken, Hunden oder Eichelhähern seinen Willen aufzuzwingen, besäße, wäre er in die Zuchtlisten der Leroni aufgenommen worden, jener Zauberinnen, die Aufzeichnungen über die Elternschaften derjenigen anfertigten, in denen das Blut von Hastur und Cassilda, den legendären Vorfahren der begabten Familien, floß. Aber er besaß keine. Er konnte ein wenig Sturm-Sehen und spürte, wenn Gewitter sich zusammenbrauten oder Waldbrände zuschlugen. Eines Tages, wenn er etwas älter war, würde er seinen Platz als Feuerwächter einnehmen. Es würde hilfreich für ihn sein, zu wissen, wohin sich das Feuer als nächstes bewegte. Aber seine Fähigkeit war nur eine mindere Gabe und keiner Fortzüchtung wert. Selbst in Hali hatte man schon vor Generationen davon abgelassen, und Donal wußte – ohne sich darüber im klaren zu sein, woher –, daß dies ein Grund für das Nichtweiterblühen der Rockraven-Familie war.
Aber dieser Sturm lag weit jenseits seiner Kräfte. Irgendwie schien er sich, ohne von Wolken oder Regen begleitet zu sein, über der Burg zu sammeln. Mutter, dachte er, es hat mit meiner Mutter zu tun. Er wünschte sich, den Mut zu haben, durch die erschreckende und zunehmende Bewußtheit des Sturms zu ihr zu laufen, sich zu vergewissern, daß mit ihr alles in Ordnung war. Aber ein Junge von zehn Jahren konnte nicht wie ein kleines Kind zu seiner Mutter rennen, um auf ihrem Schoß zu sitzen. Außerdem war Aliciane, die sich wenige Tage vor ihrer Niederkunft befand, schwerfällig und unbeholfen geworden. Es würde unmöglich sein, sie jetzt mit seinen Ängsten und Sorgen zu behelligen.
Besonnen nahm er den Falken wieder auf und trug ihn die Treppenstufen hinab. In einer Luft, von Blitzen und diesem merkwürdigen und unerhörten Sturm erfüllt, konnte er ihn nicht frei fliegen lassen. Der Himmel war blau (es sah nach einem guten Tag für Falken aus), aber Donal konnte die schweren und drängenden magnetischen Ströme in der Luft und das mächtige Knistern der Elektrizität fühlen.
Ist es meiner Mutter Angst, die die Luft mit Blitzen füllt, so wie es bisweilen der Zorn meines Großvaters tat? Plötzlich wurde er von seiner eigenen Angst überwältigt. Er wußte wie jedermann, daß Frauen manchmal während einer Geburt starben. Er hatte sich Mühe gegeben, nicht daran zu denken, aber jetzt, von der Angst um seine Mutter überwältigt, konnte er das Knistern seiner eigenen Angst im Blitzschlag fühlen. Noch nie hatte Donal sich so jung und hilflos gefühlt. Er wünschte sich sehnlichst an den ärmlichen Hof von Rockraven zurück. Selbst die in Lumpen gekleidete und unbeachtete Existenz als armer Cousin in der Festung irgendeines Verwandten wäre ihm jetzt recht gewesen. Zitternd brachte er den Falken zu den Käfigen zurück. Den Tadel des Falkners akzeptierte er mit solcher Ergebenheit, daß der alte Mann glaubte, der Junge müsse krank sein.

Weit weg, in den Räumen der Frauen, hörte Aliciane das unablässige Grollen des Donners; undeutlicher als Donal spürte sie das Merkwürdige an diesem Sturm. Und sie fürchtete sich.
Die Rockravens waren aus dem intensiven Zuchtprogramm für die Laran-Gaben ausgesondert worden. Wie die meisten ihrer Generation hielt Aliciane dieses Zuchtprogramm für eine abscheuliche Tyrannei. In diesen Tagen würde kein freies Bergvolk erdulden, daß man Menschen im Hinblick auf wünschenswerte Eigenschaften wie Vieh heranzüchtete.
Und doch hatte sie ihr Leben in zwanglosen Gesprächen über tödliche Gene, rezessive Merkmale und Blutlinien, die das erwünschte Laran in sich trugen, verbracht. Wie konnte eine Frau ein Kind ohne Angst gebären? Aber hier war sie nun in Erwartung der Geburt eines Kindes, das Aldarans Erbe werden konnte, und im Bewußtsein, daß sein Grund, sie zu wählen, weder ihrer Schönheit – wenngleich sie ohne Eitelkeit wußte, daß sie es ihrem Aussehen verdankte, daß sein Blick auf sie gefallen war – noch der vorzüglichen Stimme, die sie zu Lady Deonaras bevorzugter Balladensängerin gemacht hatte, zuzuschreiben war. Aldaran wußte, daß sie einen kräftigen, mit Laran begabten Sohn geboren, damit ihre Fruchtbarkeit unter Beweis gestellt hatte und die Geburt eines Kindes überleben konnte.
Oder besser: Ich habe sie einmal überlebt. Aber beweist das mehr, als daß ich Glück hatte?
Als reagiere es auf ihre Angst, strampelte das ungeborene Kind heftig. Aliciane ließ eine Hand über die Saiten der Rryl, einer kleinen Harfe, die sie im Schoß hielt, gleiten und hielt das Instrument mit der anderen fest. Sie spürte die beruhigende Wirkung der Schwingungen. Als sie zu spielen begann, spürte sie Unruhe unter den Frauen, die zu ihrem Beistand anwesend waren. Lady Deonara liebte ihre Sängerin aufrichtig und hatte in diesen letzten Tagen ihre geschicktesten Ammen und Kammerzofen geschickt. Mikhail, Lord Aldaran, kam in ihr Zimmer. Er war ein großer Mann in der Blüte seines Lebens, wenn auch sein Haar vor der Zeit ergraut und er weit älter war als Aliciane, die erst im letzten Frühjahr ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sein Schritt klang schwer in diesem ruhigen Raum, er hörte sich eher nach dem Tritt genagelter Schuhe auf dem Schlachtfeld an.
»Spielst du zu deinem eigenen Vergnügen, Aliciane? Ich hatte geglaubt, eine Musikantin gewänne ihre größte Freude aus dem Applaus, und doch finde ich dich hier, für dich und deine Frauen spielend«, sagte er lächelnd und zog einen zierlichen Stuhl heran, um sich neben sie zu setzen. »Wie steht es um dich, mein kostbarer Schatz?« »Ich fühle mich wohl, aber auch müde«, sagte sie lächelnd. »Es ist ein unruhiges Kind, und ich spiele zum Teil deshalb, weil die Musik eine beruhigende Wirkung auf es ausübt. Vielleicht überträgt sich meine Beruhigung aber auch nur auf das Kind.«
»Das mag wohl sein«, sagte er und fuhr, als sie die Harfe zur Seite legte, fort: »Nein, Aliciane, singe nur, falls du nicht zu müde bist.« »Wie du wünschst, mein Fürst.« Sie entlockte den Saiten der Harfe einige Akkorde und sang mit weicher Stimme ein Liebeslied aus den weiten Hügeln:

»Wo bist du jetzt?
Woher zieht mein Geliebter?
Nicht über die Hügel, nicht am Ufer des Meeres, nicht weit draußen über die See,
Liebster, wo bist du jetzt?

Dunkel die Nacht, und ich bin so müde. Liebster, wann kann ich die Suche beenden? Dunkelheit überall, über und unter mir, Wo weilt er, mein Liebster?«

Mikhail beugte sich zu der Frau hinunter, seine schwere Hand fuhr sachte über ihr leuchtendes Haar. »Ein grämliches Lied«, sagte er sanft, »und so deprimierend. Ist Liebe für dich wirklich eine Sache der Traurigkeit, meine Aliciane?«
»Nein, das ist sie nicht«, widersprach Aliciane und täuschte eine Fröhlichkeit vor, die sie nicht fühlte. Ängste und Zweifel waren für verwöhnte Ehefrauen da, nicht für eine Barragana, deren Stellung davon abhing, daß sie ihren Fürsten entspannte und mit Charme und Schönheit bei guter Laune hielt. Für sie zählte ihre Kunstfertigkeit als Unterhalterin. »Aber die schönsten Liebeslieder singen nun einmal von Kummer und Liebe, mein Fürst. Würde es dich mehr erfreuen, wenn ich Lieder vom Lachen und der Kühnheit sänge?«
»Mich erfreut alles, was du singst, mein Schatz«, sagte Mikhail freundlich. »Wenn du erschöpft oder bekümmert bist, brauchst du mir keine Fröhlichkeit vorzuspielen, Carya.« Er sah das Aufflackern von Mißtrauen in ihren Augen und dachte: Zu meinem eigenen Vorteil bin ich zu feinfühlig. Es muß angenehm sein, sich der Gedanken der anderen nie zu bewußt zu sein. Liebt Aliciane mich aufrichtig? Oder schätzt sie nur ihre Stellung als meine anerkannte Favoritin? Und selbst wenn sie mich liebt: Ist es um meiner selbst willen, oder nur, weil ich reich und mächtig bin und ihr Sicherheit geben kann? Er gab den Frauen einen Wink, und sie zogen sich ans entgegengesetzte Ende des langen Zimmers zurück, um ihn mit seiner Mätresse allein zu lassen. Zwar waren sie weiterhin anwesend, um der Anstandsregel, daß eine Frau, die im Begriff war, ein Kind zur Welt zu bringen, nie ohne Beistand sein sollte, Genüge zu tun, befanden sich aber außer Hörweite.
»Ich traue nicht allen diesen Frauen«, sagte er.
»Lady Deonara hat mich aufrichtig gern, glaube ich. Sie würde niemals jemanden in meine Nähe lassen, der mir oder meinem Kind etwas Übles will«, sagte Aliciane.
»Deonara? Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Mikhail und dachte daran, daß sie nun zweimal zehn Jahre Lady von Aldaran war und seinen brennenden Wunsch nach einem Kind, dem künftigen Erben seines Besitzes, teilte. Sie konnte ihm jetzt nicht einmal mehr die Hoffnung darauf versprechen. Und so hatte sie die Nachricht begrüßt, daß er gewillt war, Aliciane, die zu ihren eigenen Günstlingen gehörte, in Herz und Bett aufzunehmen. »Aber ich habe Feinde, die nicht zu diesem Haushalt gehören, und nur zu einfach ist es, einen Spion mit Laran einzuschmuggeln, der alles, was hier geschieht, dem enthüllen kann, der mir Böses will. Ich habe Verwandte, die viel dafür geben würden, die Geburt eines lebenden Erben meiner Linie zu verhindern. Ich wundere mich nicht, daß du bleich aussiehst, mein Schatz. Es ist sehr schwer, eine Verderbtheit als gegeben anzunehmen, die einem kleinen Kind schaden würde, aber ich bin mir nie sicher gewesen, ob Deonara nicht das Opfer von jemandem war, der die ungeborenen Kinder in ihrem Leib tötete. Das ist gar nicht so schwer; selbst eine geringe Kunstfertigkeit mit der Matrix oder dem Laran kann die schwache Verbindung des Kindes zum Leben zerreißen.«
»Jeder, der mir etwas antun wollte, Mikhail, müßte von deinem Versprechen, daß mein Kind gesetzlich anerkannt wird, wissen und sein böses Handeln auch gegen mich richten«, sagte Aliciane besänftigend, »und doch habe ich dieses Kind ohne Krankheit getragen. Deine Furcht ist grundlos, Liebster.«
»Mögen die Götter geben, daß du recht hast! Aber ich habe Feinde, die vor nichts zurückschrecken. Bevor dein Kind geboren wird, werde ich eine Leronis bitten, alle auf die Probe zu stellen. Ich wünsche bei deiner Niederkunft die Anwesenheit keiner Frau, die nicht unter dem Wahrheitszauber schwören kann, daß sie dir gutgesonnen ist. Ein böser Wunsch kann dem Kampf eines neugeborenen Kindes um das Leben ein plötzliches Ende geben.«
»Gewiß ist diese Kraft des Laran selten, mein Fürst.«
»Nicht so selten, wie ich es wünschte«, sagte Mikhail. »Und seit kurzem habe ich merkwürdige Gedanken. Ich halte diese Gaben für eine Waffe, die meine Hand abschneiden können. Ich habe Zauberei benutzt, um Feuer und Chaos auf meine Feinde zu schleudern; jetzt fühle ich, daß sie die Kraft dazu besitzen, sie auch gegen mich zu richten. Als ich jung war, empfand ich das Laran als eine Gabe der Götter; als hätten sie mich berufen, dieses Land zu beherrschen und mir diese Gabe verliehen, um meine Herrschaft zu stärken. Aber jetzt, da ich älter werde, halte ich es für einen Fluch, nicht für einen Segen.«
»So alt bist du nicht, mein Fürst, und sicher würde niemand deine Herrschaft bedrohen.«
»Offen wagt es niemand, Aliciane. Aber ich bin allein unter denen, die darauf warten, daß ich kinderlos sterbe. Ich werde noch manchen Kampf auszufechten haben… Mögen die Götter geben, daß dein Kind ein Sohn ist, Carya.«
Aliciane begann zu zittern. »Und wenn nicht… mein Fürst…« »Nun, dann, Schatz, wirst du mir ein weiteres gebären«, sagte Lord Aldaran freundlich. »Selbst, wenn du das nicht tust, werde ich eine Tochter haben, deren Begabung mein Vermögen sein wird und mir starke Verbündete verschafft. Selbst ein weibliches Kind würde meine Stellung stärken. Und dein Sohn wird ihr Pflegebruder und Friedensstifter sein, ein Schild im Streit und ein starker Arm. Ich liebe deinen Sohn aufrichtig, Aliciane.«
»Ich weiß.« Wie konnte sie auf diese Weise in eine Falle geraten … herauszufinden, daß sie den Mann liebte, den sie zuerst nur mit den Vorzügen ihrer Stimme und ihrer Schönheit zu betören gedachte? Mikhail war freundlich und ehrenhaft, er hatte ihr den Hof gemacht, als er sie als gesetzmäßiges Opfer hätte nehmen können, und ihr ungefragt versichert, daß Donals Zukunft gesichert sei, selbst wenn es ihr mißlingen sollte, ihm einen eigenen Sohn zu schenken. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Sie hatte ihn lieben und um ihn zu fürchten gelernt.
In meiner eigenen Falle gefangen!
Beinahe lachend sagte sie: »So viele Versicherungen benötige ich nicht. Ich habe nie Zweifel an dir gehegt.«
Er akzeptierte es mit der lächelnden Höflichkeit eines Telepathen. »Aber Frauen sind in solchen Tagen furchtsam, und jetzt ist es gewiß, daß Deonara mir kein Kind mehr gebären wird, selbst wenn ich sie nach so vielen Tragödien darum bäte. Weißt du, wie es ist, Aliciane, wenn du die Kinder, nach denen du dich sehntest und die du schon liebtest, bevor sie geboren wurden, sterben siehst, noch ehe sie einen Atemzug getan haben? Als wir verheiratet wurden, habe ich Deonara nicht geliebt. Ich hatte ihr Gesicht nie gesehen, denn wir wurden einander wegen eines Familienbündnisses versprochen. Aber wir haben zusammen viel ertragen, und auch wenn es dir merkwürdig erscheint, mein Kind: Liebe kann aus geteiltem Leid ebensogut entstehen, wie aus geteilter Freude.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ich liebe dich sehr, Carya Mea, aber es lag weder an deiner Schönheit noch der Pracht deiner Stimme, daß ich dich erwählte. Wußtest du, daß Deonara nicht meine erste Frau ist?« »Nein, mein Fürst.«
»Zum ersten Mal wurde ich verheiratet, als ich ein junger Mann war; Clariza Leynier gebar mir zwei Söhne und eine Tochter, alle gesund und stark … Schwer ist es, Kinder bei der Geburt zu verlieren, aber es ist noch schwerer, Söhne und Töchter zu verlieren, die fast zu Erwachsenen herangereift sind. Und doch verlor ich sie – einen nach dem andern, als sie heranwuchsen. Ich verlor alle drei beim plötzlichen Einsetzen des Laran – sie starben an Krämpfen, der Geißel unseres Geschlechts. Ich selbst war kurz davor, an tiefer Verzweiflung zu sterben.«
»Mein Bruder Caryl ist so gestorben«, flüsterte Aliciane.
»Ich weiß. Aber er war nur einer aus eurer Linie, und dein Vater hatte viele Söhne und Töchter. Du selbst hast mir gesagt, daß dein Laran nicht während der Pubertät zum Vorschein kam, sondern daß du von Kindesbeinen an langsam in es hineingewachsen bist, wie viele vom Geschlecht der Rockraven. Und ich weiß, daß dies in deiner Familie dominant ist. Donal ist kaum zehn Jahre alt, und wenn ich auch nicht glaube, daß sein Laran schon voll entwickelt ist, besitzt er doch viel davon und wird zumindest nicht auf der Schwelle sterben. Ich wußte, daß ich mich um deine Kinder nicht zu ängstigen brauche. Auch Deonara entstammt einer Blutlinie, in der das Laran früh einsetzte, aber keines der Kinder, die sie mir geboren hat, lebte lange genug, daß man erkennen konnte, ob es Laran besaß oder nicht.«
Alicianes Gesicht zeigte deutliche Bestürzung, und Lord Aldaran legte seinen Arm zärtlich um ihre Schulter. »Was ist, mein Liebes?« »Mein Leben lang habe ich Abscheu davor empfunden – Menschen wie Vieh zu züchten!«
»Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht daran denkt, seine Rasse zu verbessern«, sagte Mikhail leidenschaftlich. »Wir kontrollieren das Wetter, bauen Burgen und Straßen mit der Kraft unseres Laran, erforschen immer größere Gaben des Geistes – sollten wir nicht danach streben, uns ebenso zu verbessern, wie unsere Welt und unsere Umgebung?« Dann wurde sein Gesichtsausdruck weich. »Aber ich verstehe, daß eine Frau, die so jung ist wie du, nicht in Kategorien von Generationen und Jahrhunderten denkt. Solange man jung ist, denkt man lediglich an sich und seine Kinder, aber in meinem Alter ist es natürlich, auch all jene mit einzubeziehen, die nach uns kommen werden, wenn wir und unsere Kinder seit Jahrhunderten dahingegangen sind. Aber solche Dinge sollten erst dann etwas für dich sein, wenn du an sie denken möchtest. Jetzt denk an deine Tochter, Liebes, und daran, daß wir sie bald in unseren Armen halten werden.«
Aliciane zuckte zusammen und fragte leise: »Dann weißt du also, daß ich ein Mädchen gebären werde. Und du bist nicht böse?«
»Ich sagte dir, daß ich nicht böse sein würde. Wenn ich betrübt bin, dann nur deshalb, weil du mir nicht genügend vertrautest und es mir nicht gleich sagtest, als du es erfuhrst«, sagte Mikhail, aber seine Worte waren dabei so sanft, daß sie kaum einen Vorwurf offenbarten. »Komm, Alidane, vergiß deine Befürchtungen: Wenn du mir keinen Sohn schenkst, so hast du mir doch einen starken Pflegesohn gegeben – und deine Tochter wird eine mächtige Kraft sein, um mir einen Schwiegersohn zu bringen. Und sie wird Laran haben.«
Aliciane lächelte und erwiderte seinen Kuß; aber sie war immer noch ängstlich gespannt, als sie das ferne Knistern des ungewöhnlichen Sommerdonners hörte, der mit den Wellen ihrer Angst zu kommen und zu gehen schien. Kann es sein, daß Donal sich vor dem, was dieses Kind für ihn bedeutet, fürchtet? fragte sie sich. In diesem Augenblick wünschte Aliciane sich leidenschaftlich, die Gabe der Zukunftsschau zu besitzen, das Laran des Aldaran-Clans, um wirklich zu wissen, daß alles gut werden würde.

2

»Hier ist die Verräterin!«
Aliciane zitterte vor dem Zorn in Lord Aldarans Stimme, als er wütend in ihr Zimmer trat und mit beiden Händen eine Frau vor sich her stieß. Hinter ihm erschien eine Leronis, die Zauberin seines Haushalts, die die Matrix – einen blauen Sternenstein – trug, die die Kräfte ihres Laran verstärkte. Sie kam auf Zehenspitzen; eine zerbrechliche, hellhaarige Frau, deren blasse Gesichtszüge von dem durch sie entfachten Aufruhr verzerrt waren.
»Mayra«, sagte Aliciane bestürzt, »ich hielt dich für meine Freundin und die Lady Deonaras. Was ist dir widerfahren, daß du statt dessen meine Feindin und die meines Kindes bist?«
Mayra – sie war eine von Deonaras Ankleidefrauen, eine stämmige Frau mittleren Alters – stand furchtsam und dennoch trotzig zwischen Lord Aldarans kräftigen Händen. »Von dem, was diese Zauberhexe über mich sagt, weiß ich nichts. Ist sie vielleicht auf meine Stellung eifersüchtig, da sie selbst nichts zu tun hat, als sich in den Geist der Privilegierten einzuschleichen?«
»Es wird dir nicht von Nutzen sein, mich mit Schimpfnamen zu belegen«, sagte die Leroni Margali. »Ich habe all diesen Frauen nur eine Frage gestellt, und zwar mit Hilfe des Wahrheitszaubers, damit ich es in meinem Kopf hören konnte, falls sie logen: ›Gilt deine Treue Mikhail, Lord Aldaran, oder der Vai Domna, seiner Lady Deonara?‹ Erwiderten sie Nein, oder sagten sie mit Zweifel oder einer Verneinung ihrer Gedanken Ja, fragte ich sie – und das wieder unter dem Wahrheitszauber –, ob ihre Treue dem Ehemann, dem Vater, oder dem Hausherrn gelte. Im Falle dieser Frau bekam ich keine ehrliche Antwort, sondern nur die Erkenntnis, daß sie alles verschleierte. Und daher teilte ich Lord Aldaran mit, daß – vorausgesetzt, es gibt eine Verräterin unter den Frauen – nur sie diese sein könne.«
Mikhail ließ die Frau los und drehte sie, ohne unsanft dabei zu werden herum, daß sie ihm ins Gesicht blickte. Er sagte: »Es ist wahr, daß du lange in meinen Diensten gestanden hast, Mayra. Deonara behandelte dich stets mit der Freundlichkeit einer Pflegeschwester. Bin ich es, dem du Böses willst, oder meiner Lady?«
»Meine Lady ist immer freundlich zu mir gewesen, und ich bin erbost, sie für eine andere beiseite geschoben zu sehen«, sagte Mayra mit zitternder Stimme. Die Leronis hinter ihr sagte in leidenschaftslosem Tonfall: »Nein, Lord Aldaran, auch jetzt spricht sie nicht die Wahrheit. Sie hegt weder Liebe für Euch, noch für Eure Lady.«
»Sie lügt!« Mayras Stimme wurde fast zu einem Kreischen. »Sie lügt! Ich wünsche euch nichts Übles, Fürst, außer dem, was Ihr selbst über Euch brachtet, indem Ihr die Hündin von Rockraven in euer Bett genommen habt. Diese Viper ist es, die eure Männlichkeit verhext hat!« »Ruhe!« Lord Aldaran bebte. Es schien, als wolle er die Frau schlagen, aber sein Wort allein genügte. Jeder in Reichweite wurde von Stummheit ergriffen, und Aliciane zitterte. Nur ein einziges Mal hatte sie Mikhail die – wie es in der Sprache des Laran hieß – Befehlsstimme gebrauchen hören. Es gab nicht viele Menschen, die genügend Kontrolle über ihr Laran besaßen, um sie anzuwenden; sie war keine angeborene Gabe, sondern erforderte sowohl Talent als auch ein ausgeklügeltes Training. Und wenn Mikhail, Lord Aldaran, mit dieser Stimme Ruhe anordnete, war niemand in Hörweite dazu in der Lage, ein Wort herauszubringen.
Die Stille im Zimmer war so extrem, daß Aliciane die leisesten Geräusche hören konnte: Kleine Insekten, die im Holzwerk der Wände knisterten, das furchtsame Atmen der Frauen, das weit entfernte Rollen des Donners. Es scheint, dachte sie, daß wir den ganzen Sommer über Donner hatten. Mehr als je zuvor …An was für einen Unsinn ich doch denke, wo vor mir eine Frau steht, die meinen Tod hätte bedeuten können, hätte man sie an meinem Kindbett dienen lassen …
Mikhail blickte die Frau, die zitternd dastand und sich an der Lehne eines Stuhls aufrechthielt, an. Dann sagte er zu der Leronis: »Hilf Lady Aliciane. Hilf ihr, sich zu setzen, oder sich aufs Bett niederzulegen, wenn sie sich dadurch besser fühlt…« Aliciane spürte, wie Margalis kräftige Hände sie stützten, ihr in den Stuhl halfen und schüttelte sich ärgerlich, voller Haß auf die physische Schwäche, die sie nicht zu kontrollieren vermochte.

Dieses Kind zehrt an meiner Kraft, wie Donal es nie getan hat … Warum bin ich so geschwächt? Ist es der böse Wille dieser Frau, ihre Zaubersprüche …?Margali legte ihre Hände auf Alicianes Stirn, und sie spürte die besänftigende Ruhe, die sie ausstrahlten. Sie versuchte, sich unter der Berührung zu entspannen, gleichmäßig zu atmen und die heftige Unruhe, die sie in den Bewegungen des Kindes in ihrem Leib spürte, zu besänftigen. Arme Kleine … auch sie ist geängstigt, und kein Wunder …
Lord Aldarans Stimme sagte: »Mayra, sage mir, warum du mir Böses willst und versuchst, Lady Aliciane oder ihrem Kind Schaden zu bringen!«
»Ich soll Euch das sagen?«
»Du weißt, daß du das tun wirst«, sagte Mikhail von Aldaran. »Du wirst uns sogar mehr sagen, als du selbst je geglaubt hast – ob freiwillig und ohne Schmerzen zu erleiden – oder unter anderen Bedingungen. Ich liebe es nicht, wenn man Frauen foltert, Mayra, aber ich bin ebenso wenig bereit, in meinem Zimmer eine Skorpion-Ameise zu beherbergen! Erspare uns diesen Konflikt.« Mayra sah ihn stumm und trotzig an. Mikhail zuckte kaum merklich die Achseln. Eine Starre, die Aliciane kannte – und der sich zu widersetzen sie nicht gewagt hätte –, erfaßte sein Gesicht. Er fuhr fort: »Du entscheidest es selbst Mayra. Margali, bring deinen Sternenstein. Nein, es ist besser, wenn du Kirizani holen läßt.«
Aliciane zitterte, obwohl Mikhail sich auf seine eigene Art gnädig erwies. Kiriseth war eine aus einem halben Dutzend Drogen und den Harzen der Kirisethblume, deren Pollen den Wahnsinn brachten, wenn der Geisterwind durch die Hügel blies, destillierte Mixtur. Kirizani war jener Bestandteil des Harzes, der die Schranken gegen einen telepathischen Kontakt niederriß und die Gedanken für jeden, der in sie eindrang, bloßlegte. Die Droge war weniger schlimm als die Folter, und doch … Sie schrak zurück, als sie die wütende Entschlossenheit auf Mikhails Gesicht und den lächelnden Trotz der Frau Mayra sah. Als das Kirizani gebracht wurde – eine helle Flüssigkeit in einer durchsichtigen Ampulle –, standen alle schweigend da.
Mikhail entkorkte sie und sagte ruhig: »Wirst du es ohne Widerstand nehmen, Mayra, oder sollen die Frauen dich festhalten und es in deine Kehle gießen, so wie man einem Pferd eine Arznei einflößt?« Das Blut schoß in Mayras Wangen; sie spuckte ihn an. »Ihr glaubt, Ihr könntet mich mit Hexerei und Drogen zum Sprechen bringen, Lord Mikhail? Ha – ich verachte Euch! Ihr bedürft meines üblen Willens nicht – in Eurem Haus und im Leib Eurer verfluchten Mätresse lauert schon genug! Der Tag wird kommen, an dem Ihr darum betet, kinderlos gestorben zu sein – aber trotzdem wird es keine weiteren mehr geben! Ihr werdet keine andere mehr mit ins Bett nehmen, sondern genauso weiterleben, wie seit dem Tage, an dem Ihr die Hündin von Rockraven mit ihrer Hexen-Tochter schwanger machtet! Meine Arbeit ist getan, Vai Dom!« Sie schleuderte ihm den respektvollen Ausdruck mit höhnischem Spott entgegen. »Mehr Zeit brauche ich nicht! Von diesem Tag an werdet Ihr weder eine Tochter noch einen Sohn zeugen können. Eure Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum! Und Ihr werdet weinen und beten …«
»Bringt diese Todesfee zum Schweigen!« sagte Mikhail. Margali löste sich von der kraftlosen Aliciane und hob ihre Juwelen-Matrix, aber die Frau spuckte ein zweitesmal aus, lachte hysterisch, keuchte und stürzte zu Boden. Während die anderen fassungslos schwiegen, ging Margali auf sie zu und legte mechanisch eine Hand auf ihre Brust.
»Lord Aldaran, sie ist tot! Man muß sie dazu konditioniert haben, bei einem Verhör zu sterben.«
Bestürzt und mit unbeantworteten Fragen auf den Lippen starrte Aldaran auf den leblosen Körper der Frau. Er sagte: »Jetzt werden wir weder erfahren, was sie getan hat, noch wer der Feind ist, der sie hierher geschickt hat. Ich nehme es auf meinen Eid, daß Deonara nichts von ihr wußte.«
Als enthielten seine Worte eine Frage, legte Margali ihre Hand auf das blaue Juwel und sagte bedachtsam: »Bei meinem Leben, Lord Aldaran, Lady Deonara hegt keine bösen Wünsche gegen Lady Alicianes Kind. Oft genug hat sie mir gesagt, wie sehr sie sich für Euch und Aliciane freut. Und ich weiß, wann ich die Wahrheit höre.«
Mikhail nickte, aber Aliciane bemerkte, daß die Linien um seinen Mund ausgeprägter wurden. Wenn Deonara, eifersüchtig auf Lord Aldarans Hingabe, Aliciane hätte schaden wollen, wäre es zumindest verständlich gewesen. Aber wer, so fragte sie sich in ihrer geringen Kenntnis über die Fehden und Machtkämpfe von Aldaran, konnte einem Mann, der so edel wie Mikhail war, Böses wollen? Wer konnte eine Spionin in die Reihen der Kammerfrauen seiner Frau einschleusen, um dem Kind einer Barragana Schaden zuzufügen oder Laran-verstärkte Flüche gegen seine Männlichkeit zu schleudern?
»Bringt sie fort«, sagte Aldaran schließlich. Er hatte seine Stimme noch nicht völlig unter Kontrolle. »Hängt ihre Leiche an die Zinnen der Burg, damit die Kyorebni sie zerfetzen können. Sie hat die Bestattungsfeier einer treuen Dienerin nicht verdient.« Er wartete regungslos das Erscheinen der hochgewachsenen Wächter ab, die kamen, um Mayras toten Körper wegzutragen, auszukleiden und aufzuhängen, damit die großen Raubvögel ihn auseinanderrissen. Aliciane hörte in der Ferne das Krachen des immer näher kommenden Donners. Aldaran trat zu ihr, seine Stimme war weich vor Zärtlichkeit.
»Hab keine Furcht mehr, mein Schatz; sie ist dahingegangen, und mit ihr ihr böser Wille. Wir werden weiterleben und ihre Flüche verlachen, mein Liebling.« Er sank in einen neben ihr stehenden Sessel und nahm mit zärtlichem Griff ihre Hand. Durch die Berührung spürte Aliciane, daß er besorgt und erschreckt war. Aber sie war nicht stark genug, ihn wieder zu beruhigen. Sie fühlte sich wie vor einer erneuten Ohnmacht. In ihren Ohren hallten Mayras Flüche wie die zurückgeworfenen Echos in den Canyons rund um Rockraven, in die sie als Kind, aus Freude daran, die eigene Stimme tausendfach vermehrt aus allen Windrichtungen zurückkommen zu hören, hineingeschrien hatte.
Ihr werdet weder Sohn noch Tochter zeugen … Eure Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum … Der Tag wird kommen, an dem Ihr darum betet, kinderlos gestorben zu sein … Die widerhallenden Laute schwollen an und überwältigten sie. Aliciane lag tief in ihrem Sessel, nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren.
»Aliciane, Aliciane …« Sie spürte seine starken Arme, wurde aufgehoben und zu Bett getragen. Er legte sie auf die Kissen nieder, setzte sich neben sie und streichelte sanft ihr Gesicht.
»Du darfst dich nicht vor einem Schatten erschrecken, Aliciane.« Zitternd sagte sie das erste, was ihr in den Sinn kam: »Sie hat deine Männlichkeit mit einem Fluch belegt, mein Fürst.«
»Ich fühle mich nicht sehr gefährdet«, gab Mikhail mit einem Lächeln zurück.
»Aber … ich habe es selbst bemerkt und mich gewundert … du hast, seitdem ich so schwer bin, keine andere in dein Bett genommen, wie du es sonst zu tun pflegtest.«
Ein schwacher Schatten fuhr über sein Gesicht, und in diesem Moment waren sich ihre Gedanken so nahe, daß Aliciane ihre Worte bedauerte. Sie hätte nicht an seiner eigenen Angst rühren dürfen. Er erwiderte mit fester Stimme, Furcht mit Herzlichkeit verdrängend: »Was das angeht, Aliciane, so bin ich nicht mehr ein so junger Mann, daß ich nicht einige Monde enthaltsam leben könnte. Deonara bedauert es nicht, von mir frei zu sein, glaube ich; meine Umarmungen haben ihr mehr eine Pflicht bedeutet — und sterbende Kinder. Und heutzutage scheinen mir, du natürlich ausgenommen, die Frauen nicht mehr so schön zu sein, wie in den Zeiten meiner Jugend. Es war für mich keine Anstrengung, nicht um das zu bitten, was dir zu geben keine Freude gewesen wäre – aber wenn unser Kind geboren ist und du wieder wohlauf bist, wirst du sehen, ob die Worte dieser Närrin eine Auswirkung auf meine Männlichkeit hatten. Wenn du mir keinen Sohn mehr schenken wirst, Aliciane, werden wir zumindest noch viele freudvolle Stunden zusammen verbringen.«
Immer noch zitternd erwiderte sie: »Möge der Herr des Lichts es so einrichten.« Er beugte sich vor und küßte sie sanft, aber die Berührung seiner Lippen brachte sie nicht nur nahe zusammen, sondern trieb ihr auch Angst und plötzlichen Schmerz in die Glieder.
Abrupt richtete er sich auf und rief nach den Frauen. »Helft meiner Lady.«
Aliciane klammerte sich an seine Hände. »Mikhail, ich habe Angst«, wisperte sie und fing seinen Gedanken auf. Es ist tatsächlich kein gutes Omen, wenn sie, die Flüche dieser Hexe noch im Ohr, in die Wehen kommen sollte … Ebenso spürte sie die starke Beherrschung, mit der er sich zügelte und seine Gedanken sofort wieder unter Kontrolle brachte. Er wollte vermeiden, daß ihre Furcht größer wurde. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt in etwas hineinsteigern. Mit sanftem Befehlston sagte er: »Du mußt versuchen, nur an unser Kind zu denken, Aliciane, und ihm Stärke zu verleihen. Denk nur an unser Kind – und an meine Liebe.«

Es ging auf Sonnenuntergang zu. Wolken ballten sich auf den Höhen jenseits von Burg Aldaran, mächtige Sturmwolken, die sich höher und höher türmten. Aber dort, wo Donal in die Höhe stieg, war der Himmel blau und unbewölkt. Sein schlanker Körper lag auf einem Gestell aus leichten Hölzern ausgestreckt, zwischen weiten Schwingen aus dünnstem Leder, das auf einen schmalen Rahmen gezogen war. Von Luftströmungen getragen stieg er empor, die Hände nach beiden Seiten ausgestreckt, um die starken Böen von links oder rechts auszubalancieren. Es war die Luft, die ihn nach oben trug, und das kleine Matrix-Juwel, das am Kreuzstück befestigt war. Er hatte den Schwebegleiter selbst gebaut, mit nur wenig Hilfe von den Stallknechten. Viele Jungen des Haushalts bauten sich ein solches Spielzeug, sobald sie im Gebrauch der Sternensteine so geübt waren, daß sie ihre Schwebekünste ohne allzu große Gefahr praktizieren konnten. Aber die meisten der Burschen nahmen jetzt am Unterricht teil. Donal hatte sich zu den Höhen der Burg davongemacht und war alleine emporgestiegen, obwohl er wußte, daß man ihm zur Strafe den Gebrauch des Gleiters vielleicht für Tage verbieten würde. Er konnte die Spannungen und die Angst überall in der Burg spüren.
Eine Verräterin war entdeckt worden, die gestorben war, bevor man Hand an sie hatte legen können. Ein Todeszauber hatte sie, nachdem sie Lord Aldarans Männlichkeit mit einem Fluch belegt hatte, niedergestreckt.
Wie ein Buschfeuer hatte sich der Klatsch auf Burg Aldaran ausgebreitet, entfacht von den wenigen Frauen, die tatsächlich in Alicianes Zimmer gewesen waren und alles verfolgt hatten. Sie hatten zuviel gesehen, um stumm zu bleiben, aber zu wenig, um in der Lage zu sein, einen wahren Bericht abzugeben.
Flüche waren gegen die kleine Barragana geschleudert worden, und Aliciane von Rockraven war in die Wehen gekommen. Die Verräterin hatte Lord Aldarans Männlichkeit mit einem Fluch belegt – und es traf zu, daß er, der vorher bei jedem Mondwechsel eine neue Frau zu sich holte, keine andere mehr in sein Bett nahm. Eine neue, heimliche Frage in den Klatschgesprächen ließ Donal frösteln. Hatte die Lady von Rockraven seine Männlichkeit so verzaubert, daß er keine andere mehr wollte, damit sie ihren Platz in seinem Arm und seinem Herz behielt? Einer der Männer, ein ungehobelter Kämpe, hatte ein tiefes, andeutungsvolles Lachen ausgestoßen und gesagt: »Die braucht keine Zaubersprüche. Wenn Lady Aliciane mir ein Auge zuwürfe, würde ich meine Männlichkeit mit Freuden verpfänden.« Aber der Waffenmeister hatte streng erwidert; »Sei still, Radan. Solche Reden ziemen sich nicht vor jungen Burschen. Achte gefälligst darauf, wer zwischen ihnen steht. Geh an deine Arbeit. Du bist nicht hier, um schmutzige Reden zu führen!« Als der Mann ging, sagte der Waffenmeister freundlich: »Solches Gerede ist ungebührlich, aber es ist nur scherzhaft gemeint, Donal. Er ist nur betrübt, weil er selbst keine Frau hat, und würde von jeder anständigen Frau so reden. Auf keinen Fall wollte er deine Mutter herabsetzen. Im Gegenteil – auf Aldaran wird es viel Freude geben, wenn Aliciane von Rockraven unserem Herrn einen Erben schenkt. Du darfst über das gedankenlose Gerede nicht zornig sein. Wenn du jedem bellenden Hund zuhörst, hast du keine Muße mehr, um Weisheit zu erlernen. Geh zum Unterricht, Donal, und verschwende keine Zeit damit, darüber nachzugrübeln, was unwissende Männer über Menschen reden, die ihnen überlegen sind.«
Donal war gegangen, aber nicht zum Unterricht. Er hatte seinen Gleiter auf die Zinnen getragen und war in die Luftströmungen aufgestiegen, auf denen er jetzt ritt und die sorgenvollen Gedanken, ganz im Rausch des Steigens gefangen, hinter sich ließ. Er fühlte sich wie ein Vogel, der nach Norden schoß und sich dann wieder nach Westen wendete, wo die große, blutrote Sonne dicht über den Gipfeln hing.
So muß sich ein schwebender Falke fühlen… Unter seinen gefühlvollen Fingerspitzen neigte sich der Holz-und-Leder-Flügel leicht abwärts. Er sank in das Zentrum des Luftstroms und ließ sich von ihm abwärts tragen. Sein Gehirn versank in der Hyper-Bewußtheit des Juwels, sah den Himmel nicht als blaue Leere, sondern als großes Netzwerk aus Feldern und Strömen, die man zum Gleiten nutzen konnte. Er schwebte so lange abwärts, bis es ihm so vorkam, als würde er auf eine große Felsspitze zurasen und zerschmettern. In letzter Sekunde ließ er sich von einem Aufwind fortreißen, schwebte mit dem Wind … Er trieb dahin, ohne Gedanken, aufsteigend, in Ekstase gehüllt.
Der grüne Mond Idriel stand tief am sich rötenden Himmel. Die Silbersichel Mormollars war der bleichste der Schatten, und der violette Liriel – der größte der Monde – begann gerade, langsam vom östlichen Horizont emporzuschweben. Ein leises Krachen aus den massiven Wolken, die hinter der Burg hingen, ließen Donals Befürchtungen erneut erwachen. Vielleicht würde man ihn in einer Zeit wie dieser wegen seiner Drückebergerei vor dem Unterricht nicht einmal züchtigen – aber wenn er bis nach Sonnenuntergang ausblieb, würde er bestimmt bestraft werden. Bei Sonnenuntergang kamen stets starke Winde auf, und vor etwa einem Jahr war ein Page aus dem Schloß abgestürzt, hatte seinen Gleiter zerschmettert und sich auf den Felsen den Ellbogen gebrochen. Er hatte Glück gehabt, daß er dabei nicht umgekommen war. Aufmerksam blickte Donal auf die Mauern der Burg und suchte nach einem Aufwind, der ihn in die Höhen tragen konnte. Fand er keinen, mußte er nach unten auf die Böschung zuschweben und den Gleiter, der zwar leicht, aber sehr sperrig war, den ganzen Weg hinauftragen. Durch die Wahrnehmungsfähigkeit der Matrix wurde seine eigene vervielfacht. Er spürte den leichtesten Lufthauch und erwischte schließlich einen Aufwind, der ihn – vorausgesetzt, er schwebte vorsichtig – über die Burg hinaus tragen würde. Es wäre dann kein Problem mehr, auf eines der Dächer hinabzugleiten.
Von hier oben aus konnte er mit einem Frösteln den aufgedunsenen, nackten Frauenleib sehen, der an den Zinnen hing. Das Gesicht war schon von den herumfliegenden Kyorebni zerfetzt worden. Die Frau war bereits nicht mehr zu erkennen. Donal schauderte. Auf ihre Art war Mayra stets freundlich zu ihm gewesen. Hatte sie wirklich seine Mutter verflucht? Er erschauerte. Zum ersten Mal wurde er sich wirklich des Todes bewußt.
Menschen sterben. Sie sterben wirklich und werden von Raubvögeln in kleine Stücke zerhackt. Auch meine Mutter könnte bei dieser Geburt sterben … In plötzlichem Entsetzen zuckte sein Körper zusammen und er spürte, wie die zerbrechlichen Schwingen des Gleiters – von der Kontrolle seines Verstandes und Körpers befreit – flatterten und nach unten glitten, fielen … Rasch meisterte er die Situation, brachte den Gleiter wieder unter Kontrolle und schwebte dahin, bis er wieder eine Strömung fand. Er konnte die schwache Spannung, die sich aufbauende Statik, jetzt deutlich in der Luft spüren.
Über ihm krachte der Donner; ein Blitzstrahl raste auf die Spitze von Burg Aldaran zu und hinterließ in Donals Nase den Geruch von Ozon und Verbranntem. Während des betäubenden Donners sah er das Flakkern der Blitze in den geballten Wolken über der Burg und dachte, von plötzlicher Angst erfüllt: Ich muß nach unten, ich muß hier raus. Es ist nicht ungefährlich, in einem aufkommenden Sturm zu fliegen … Wieder und wieder war ihm gesagt worden, sorgsam den Himmel nach Lichtblitzen in den Wolken abzusuchen, bevor er den Gleiter startete. Ein plötzlicher, heftiger Abwind erfaßte ihn und schickte das zerbrechliche Gerät aus Holz und Leder senkrecht nach unten. Donal, jetzt wirklich verängstigt, klammerte sich fest an die Handgriffe, war aber vernünftig genug, nicht zu früh dagegen anzukämpfen. Es sah aus, als würde es ihn auf die Felsen schmettern, aber er zwang sich, steif auf den Stützbalken liegenzubleiben, während sein Verstand nach der Gegenströmung suchte. Genau im richtigen Moment spannte er den Körper, vertiefte sich in die Bewußtheit der Matrix, spürte, wie er schwebte und die Gegenströmung ihn wieder aufwärtstrug.
Jetzt. Schnell und vorsichtig. Ich muß auf die Höhe der Burg hinauf, dann die erste Strömung erwischen, die nach unten zieht. Ich darf keine Zeit vergeuden … Aber jetzt fühlte die Luft sich dick und schwer an, und Donal konnte sie nicht nach Strömungen absuchen. Mit wachsender Angst sandte er sein Bewußtsein in alle Richtungen, spürte aber nur die starken magnetischen Ladungen des zunehmenden Sturms.
Mit diesem Sturm stimmt etwas nicht! Er ist wie der von gestern. Es ist überhaupt kein richtiger Sturm, es ist etwas anderes. Mutter! Oh, Mutter! Dem verängstigten Jungen, der sich an die Streben des Gleiters klammerte, schien es, als könne er Aliciane voller Entsetzen aufschreien hören: »Oh, Donal, was wird aus meinem Jungen werden!« Er spürte, daß sein Körper entsetzt zusammenzuckte, fühlte, wie der Gleiter seiner Kontrolle entglitt, wie er fiel … fiel … Wäre er weniger leicht gewesen und hätte weniger breite Flügel gehabt, wäre er auf den Felsen zerschmettert worden, aber die Luftströme trugen ihn, auch wenn Donal sie nicht lesen konnte. Nach wenigen Augenblicken endete der Sturz, und er begann seitwärts abzudriften. Jetzt, da er das Laran – die Kraft zu Schweben, die Körper und Verstand dem Matrix-Juwel entnahmen – einsetzte, und sein geübtes Bewußtsein durch die magnetischen Stürme nach Strömungsspuren forschte, begann Donal, um sein Leben zu kämpfen. Er zwang die beinahe hörbare Stimme seiner Mutter mit einer solchen Kraft aus sich hinaus, daß sie vor Entsetzen und Schmerz aufschrie. Er zwang die Angst, die ihn seinen Körper bereits in Stücke gerissen auf den Felsspitzen sehen ließ, fort, tauchte ganz in das verstärkte Laran ein, ließ die Flügel aus Holz und Leder zu Erweiterungen seiner ausgestreckten Arme werden und spürte die an ihnen zerrenden, rüttelnden Strömungen, als träfen sie seine eigenen Hände und Beine. Jetzt … Bring ihn nach oben … Nur so weit … Versuche, ein paar Längen nach Westen zu gewinnen … Er zwang sich, ganz schlaff zu werden, als ein weiterer Blitzschlag hinter ihm aus der Wolke zuckte. Keine Kontrolle … Er nimmt gar keine Richtung … Hat kein Bewußtsein … Er dachte an die Regeln der freundlichen Leronis, der er seine geringen Kenntnisse verdankte: Ein geübter Geist kann jedwede Naturgewalt meistern … Geradezu feierlich rief Donal sich dies ins Gedächtnis.
Ich brauche weder Wind, noch Sturm, noch Blitz zu fürchten, der geübte Geist kann immer … Aber da Donal erst zehn Jahre alt war, fragte er sich aufgebracht, ob Margali je während eines Gewitters einen Gleiter geflogen hatte.
Ein ohrenbetäubendes Krachen schaltete seinen Verstand einen Moment lang aus. Er spürte einen plötzlichen Regenguß auf seinem fröstelnden Körper und strengte sich an, das Zittern zu stoppen, das sich anschickte, seinem Verstand die Kontrolle über die flatternden Schwingen zu entwinden.
Jetzt. Stetig. Abwärts und abwärts, entlang der Strömung … Auf den Erdboden zu, den Hang entlang … Keine Zeit, einen anderen Aufwind zu nutzen. Hier unten werde ich vor den Blitzen sicher sein … Seine Füße berührten fast den Boden, als ein erneuter heftiger Aufwind die Schwingen erfaßte und ihn wieder nach oben trug, fort von der Sicherheit der Hänge. Schluchzend, im Kampf mit dem Apparat, bemühte Donal sich, ihn wieder nach unten zu zwingen, indem er sich über die Kante warf und senkrecht herabhängend die Streben über seinem Kopf ergriff, während die Schwingen seinen trudelnden Fall bremsten. Durch die Haut fühlte er einen Blitzschlag und sandte alle Kraft aus, ihn abzulenken und sonstwohin zu schleudern. Seine Hände klammerten sich krampfhaft an die Streben über seinem Kopf, als er den Blitz und den ohrenbetäubenden Donnerschlag hörte und mit verschwommenem Blick einen der großen, aufrechtstehenden Felsen auf dem Hang unter krachendem Aufbrüllen in Stücke splittern sah. Donals Füße berührten den Boden. Er stürzte schwer, überschlug sich mehrmals, spürte, wie die Streben des Gleiters in Stücke brachen und splitterten. Als er fiel, schoß ein Schmerz durch seine Schulter, aber er besaß noch genügend Kraft und Geistesgegenwart, den Körper schlaff werden zu lassen, wie man es ihm bei den Waffenübungen beigebracht hatte. Er mußte ohne den Widerstand der Muskeln, der die Knochen brechen lassen konnte, hinfallen. Schluchzend – mit Prellungen und Quetschungen –, aber lebend lag er wie betäubt auf dem felsigen Hang und spürte, wie die Ströme des Blitzes ziellos umherfuhren, während sich das Donnergrollen von Felsspitze zu Felsspitze fortpflanzte.
Als er wieder zu Atem gekommen war, rappelte er sich auf. Beide Flügelstreben des Gleiters waren zerbrochen, konnten aber noch repariert werden. Donal konnte von Glück reden, daß dies nicht auch mit seinen Armen geschehen war. Der Anblick des zersplitterten Felsens machte ihn benommen, sein Kopf dröhnte. Aber ihm wurde bewußt, daß er bei all dem noch das Glück hatte, am Leben zu sein. Er las das zerbrochene Spielzeug auf, ließ die zersplitterten Schwingen herabhängen und begann, sich langsam den Hang zu den Burgtoren hinaufzuschleppen.

»Sie haßt mich«, rief Aliciane entsetzt. »Sie will nicht geboren werden!«
Durch die Dunkelheit, die ihr Gehirn zu umgeben schien, fühlte sie, wie Mikhail ihre bebenden Hände ergriff und festhielt.
»Meine Liebste, das ist töricht«, sagte er leise und drückte die Frau, seine eigenen Ängste fest unter Kontrolle haltend, an sich. Auch er spürte die Fremdartigkeit der Blitze, die rund um die hohen Fenster flackerten und krachten, und Alicianes Entsetzen verstärkte seine eigene Angst. Jemand anders schien im Zimmer zu sein, außer der geängstigten Frau, außer der ruhigen Margali, die mit gesenktem Kopf dasaß, niemanden anschaute, ihr Gesicht vom Schimmer des Matrixsteins blau erleuchtet. Mikhail konnte die besänftigenden Wellen der Ruhe spüren, die Margali bei dem Versuch, sie alle damit zu umgeben, ausstrahlte. Er unternahm den Versuch, Körper und Geist dieser Ruhe hinzugeben, sich in ihr zu entspannen und begann mit den tiefen, rhythmischen Atemzügen, die man ihn gelehrt hatte. Schon bald spürte er, daß auch Aliciane ruhiger wurde.
Woher nur, woher das Entsetzen, der Kampf …
Sie ist es, die Ungeborene … Es ist ihre Angst, ihr Widerstreben … Geburt ist eine Schicksalsprüfung des Entsetzens; es muß jemanden geben, sie zu trösten, jemanden, der sie mit Liebe erwartet… Aldaran hatte bei der Geburt all seiner Kinder assistiert; er hatte die gestaltlose Angst und Erregung des ungeformten Verstandes gespürt, die Kräfte hervorriefen, die dieser Verstand nicht begreifen konnte. Jetzt, während er in seinen Erinnerungen forschte (War eins von Clarizas Kindern so stark gewesen? Von Deonaras Babys war keines fähig gewesen, um sein Leben zu kämpfen. Arme kleine Schwächlinge …), suchte er nach den ungezielten Gedanken des sich sträubenden Kindes, die durch die Wahrnehmung des Schmerzes und der Angst seiner Mutter hin- und hergerissen wurden. Er versuchte, besänftigende Gedanken von Liebe und Zärtlichkeit auszusenden; er formte die geistigen Worte nicht für das Kind – denn das Ungeborene besaß noch keine Kenntnis der Sprache –, sondern für sich und Aliciane, um ihrer beider Gefühle darauf zu konzentrieren, ihm das Gefühl von Wärme und Willkommenheit zu vermitteln.
Du darfst keine Angst haben, Kleine. Bald wird es vorüber sein … Du wirst frei atmen, und wir werden dich in unseren Armen halten und lieben … Du wirst seit langem erwartet und innig geliebt … Er bemühte sich, Liebe und Zärtlichkeit auszustrahlen, und die furchteinflößenden Gedanken an jene Söhne und Töchter aus seinem Geist zu verbannen, die er verloren hatte. All seine Liebe hatte ihnen nicht in die Dunkelheit zu folgen vermocht, die das sich entwickelnde Laran auf ihren Geist geschleudert hatte. Er versuchte, die Erinnerungen an die schwachen und mitleiderregenden Anstrengungen von Deonaras Kindern, die nie lange genug gelebt hatten, um auch nur zu atmen, auszulöschen … Habe ich sie genug geliebt? Hätten ihre Kinder stärker ums Leben gefochten, wenn ich Deonara mehr geliebt hätte?
»Zieht die Vorhänge zu«, sagte er einen Moment später, und eine der Kammerfrauen ging auf Zehenspitzen zum Fenster und schloß den dunkler werdenden Himmel aus. Aber der Donner grollte weiterhin, und das Aufflackern des Blitzes war selbst durch die zugezogenen Vorhänge zu sehen.
»Sieh nur, wie sie sich müht, die Kleine«, sagte die Amme. Margali stand ruhig auf, trat näher, legte behutsam die Hände um Alicianes Körper und versenkte ihr Bewußtsein in die Frau, um ihr Atmen und den Fortgang der Geburt zu steuern. Eine Frau mit Laran, die ein Kind gebar, konnte weder körperlich untersucht noch berührt werden, da die Gefahr bestand, das Ungeborene durch eine fahrlässige Berührung zu verletzen oder zu ängstigen. Das muß die Leronis tun, indem sie die Wahrnehmungsfähigkeit der Telepathie und ihre psychokinetischen Kräfte nutzte. Aliciane spürte die besänftigende Berührung. Ihr angstverzerrtes Gesicht entspannte sich, aber als Margali sich zurückzog, schrie sie vor Angst auf.
»Oh, Donal, Donal – was wird aus meinem Jungen werden?« Lady Deonara Ardais-Aldaran, eine schlanke alternde Frau, kam auf Zehenspitzen näher und nahm Alicianes schmale Hand in die ihre. Beruhigend sagte sie: »Hab um Donal keine Furcht, Aliciane. Avarra möge verhüten, daß es notwendig ist, aber ich schwöre dir, daß ich ihm von diesem Tag an eine solch liebevolle Pflegemutter sein werde, als sei er einer meiner eigenen Söhne.«
»Du bist freundlich zu mir gewesen, Deonara«, sagte Aliciane, »und ich habe versucht, dir Mikhail wegzunehmen.«
»Kind, Kind – das ist nicht die Zeit, daran zu denken. Wenn du Mikhail geben kannst, wozu ich nicht im Stande bin, dann bist du meine Schwester, und ich werde dich lieben, wie Cassilda Camilla liebte, das schwöre ich.« Deonara beugte sich vor und küßte die bleiche Wange Alicianes. »Sei ganz ruhig, Breda; denk nur an die Kleine, die in unsere Arme kommt. Auch sie werde ich lieben.«
Sanft umarmt vom Vater ihres Kindes und der Frau, die geschworen hatte, ihr Kind wie ein eigenes in Empfang zu nehmen, wußte Aliciane, daß man sie trösten wollte.
Und doch, als der Blitz auf den Höhen flackerte und der Donner um die Mauern der Burg grollte, fühlte sie sich von Angst durchdrungen. Ist es die Angst des Kindes oder meine? Ihr Geist schwamm in die Dunkelheit hinein, während die Leronis sie besänftigte und Mikhail, Liebe und Zärtlichkeit ausströmend, ihr beruhigende Gedanken zusandte. Ist es für mich, oder nur für das Kind? Es schien keine Bedeutung mehr zu haben; sie konnte nicht weiter sehen. Vorher hatte sie immer ein schwaches Gespür für das, was folgte, gehabt, aber jetzt schien es, als gäbe es nichts in der Welt außer ihrer Furcht und der des Kindes, der gestaltlosen, wortlosen Erregung. Ihr schien, daß die Erregung sich mit dem Donner verband, daß die sie quälenden Wellen der Geburtsschmerzen mit dem Kommen und Gehen der Blitze identisch waren … Als sei der Donner nicht dort draußen auf den Höhen, sondern in ihrem gequälten Körper existent. Entsetzen und Erregung dehnten sich in ihr aus … Die Blitze brachten Nervosität und Schmerzen. Sie rang nach Atem und schrie auf, und fast mit Erleichterung sank ihr Geist ins Dunkel, in die Stille, ins Nichts …
»Ai! Sie ist ein wenig ungestüm«, sagte die Amme, die behutsam das sich sträubende Kind hielt. »Du mußt sie beruhigen, Domna, bevor ich ihr Leben von dem ihrer Mutter trenne, sonst wird sie sich wehren und zuviel Blut verlieren – aber sie ist eine kräftige, gesunde Frau!« Margali beugte sich über den kreischenden Säugling. Das Gesicht war dunkelrot, verzerrt in einem Aufschrei voller Wildheit; die Augen, zusammengekniffen und fast geschlossen, waren von strahlendem Blau. Der runde, kleine Kopf war von dichtem rotem Flaum bedeckt. Margali legte ihre mageren Hände auf den nackten Körper des Säuglings und stimmte eine beruhigende Melodie an. Unter ihrer Berührung beruhigte sich das Kind ein wenig und stellte den Kampf ein; die Hebamme trennte die Nabelschnur und band sie ab. Aber als die Frau den Säugling nahm und in eine warme Decke wickelte, begann er wieder zu kreischen und zu strampeln. Erschreckt die Hand zurückziehend, legte sie ihn nieder.
»Ai! Evanda sei gnädig, sie ist eine von denen! Nun, wenn es groß ist, braucht sich das kleine Mädchen vor Räubern nicht zu fürchten, wenn es schon jetzt mit Laran zuschlagen kann. Ich habe bei einem so kleinen Kind noch nie davon gehört!«
»Du hast sie erschreckt«, sagte Margali. Aber als sie das Kind nahm, schwand ihr Lächeln. Wie alle Damen Deonaras hatte auch sie die anmutige Aliciane geliebt. »Armes Kind, eine so liebevolle Mutter zu verlieren, und so früh.«
Mikhail von Aldaran, das Gesicht in großem Schmerz verzerrt, kniete neben dem Körper der Frau, die er geliebt hatte, nieder. »Aliciane! Aliciane, meine Liebste«, sagte er. Dann hob er den Kopf. Sein Gesicht zeigte Bitterkeit. Deonara hatte Margali den in eine Decke gewickelten Säugling abgenommen und hielt ihn mit dem Heißhunger verhinderter Mutterschaft an ihre schmächtige Brust gepreßt.
»Du bist nicht unzufrieden darüber, Deonara – daß keiner mit dir wetteifern wird, diesem Kind Mutter zu sein, nicht wahr?«
»Solche Worte sind deiner nicht würdig, Mikhail«, erwiderte Deonara, Alicianes Kind eng an sich drückend. »Ich habe Aliciane geliebt. Möchtest du, daß ich ihr Kind jetzt von mir weise? Kann ich meine Liebe nicht am besten dadurch zeigen, daß ich es so liebevoll aufziehe, als sei es mein eigenes? Sonst nimm sie, mein Gatte, bis du eine andere Geliebte findest.« So sehr sie sich auch mühte – Lady Aldaran konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht zurückhalten. »Sie ist dein einziges Kind. Und wenn sie jetzt schon Laran besitzt, wird sie viel Fürsorge brauchen. Meine armen Babys haben nicht einmal so lange gelebt.« Sie legte das Kind in Dom Mikhails Arme, der es mit unendlicher Zärtlichkeit und Sorge ansah.
Maryas Fluch hallte in seinem Kopf wider: Du wirst keine andere in dein Bett nehmen … Deine Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöter Baum. Als teile sich sein Entsetzen dem Säugling in seinen Armen mit, begann dieser erneut zu strampeln und zu schreien. Hinter dem Fenster tobte der Sturm.
Dom Mikhail schaute in das Gesicht seiner Tochter. Dem kinderlosen Mann erschien sie unendlich kostbar; und das würde sie um so mehr sein, falls der Fluch sich bewahrheiten sollte. Steif lag sie in seinem Arm und schrie. Ihr kleines Gesicht war verzerrt, als versuche sie, die winzigen rosa Fäuste voll Zorn geballt, die Wut des Sturms zu übertreffen. Er konnte in ihrem Gesicht schon ein verschwommenes Miniaturbild Alicianes erkennen – die geschwungenen Brauen, die hohen Wangenknochen, die Augen von strahlendem Blau, der Flaum aus rotem Haar.
»Aliciane starb, um mir dieses große Geschenk zu machen. Sollen wir dem Kind zur Erinnerung den Namen seiner Mutter geben?« Deonara schreckte zurück. »Willst du deiner einzigen Tochter den Namen einer Toten verleihen, mein Fürst? Du solltest einen suchen, der besseres verheißt!«
»Wie du wünschst. Gib ihr einen Namen, der dir gefällt, Domna.« Zögernd sagte Deonara: »Ich wollte unsere erste Tochter Dorilys nennen, hätte sie lange genug gelebt, um einen Namen zu bekommen. Sie soll diesen Namen tragen, als Zeichen dafür, daß ich ihr eine Mutter sein werde.« Sie berührte die rosige Wange des Kindes mit dem Finger. »Wie gefällt dir dieser Name, kleine Frau? Schau – sie schläft. Sie ist vom vielen Schreien erschöpft …«
Hinter den Fenstern verebbte der Sturm und erstarb, und kein Geräusch war zu hören, außer dem verhaltenen Trommeln der letzten Regentropfen.

3

Elf Jahre später

Es war die dunkle Stunde vor der Morgendämmerung. Leise fiel Schnee auf das Kloster von Nevarsin, das unter tiefem Schnee begraben war. Obwohl es keine Glocke gab, die sie morgens weckte, erwachten in jeder Zelle und jedem Schlafraum die Brüder, Novizen und Schüler aus dem Schlaf, als hätten sie ein unhörbares Signal gehört.
Allart Hastur von Elhalyn wachte abrupt auf. Auch in seinem Kopf war etwas erklungen, für das er empfänglich war. In den ersten Jahren seines Hierseins hatte er oft darüber hinweggeschlafen. In diesem Kloster würde niemand einen anderen wecken; es war ein Bestandteil der Ausbildung, daß die Novizen das Unhörbare hörten und das Unsichtbare sahen.
Die Kälte spürte er nicht, obwohl er vorschriftsmäßig nur mit einem Umhang bedeckt war; inzwischen hatte er seinen Körper so weit unter Kontrolle, daß er genug Wärme erzeugte, um ihn während des Schlafs nicht frieren zu lassen. Ohne ein Licht anzuzünden stand er auf, zog den Umhang über die einfache Unterkleidung, die er bei Tag und Nacht trug, und glitt mit den Füßen in die strohgeflochtenen Sandalen. Er steckte das kleine Gebetbuch, den Federkasten und das versiegelte Tintenhorn, die Schale und einen Löffel in seine Taschen. Damit war er mit allem ausgestattet, was ein Mönch benutzen und besitzen durfte. Dom Allart Hastur war noch kein vollvereidigter Bruder von Sankt-Valentin-imSchnee von Nevarsin. Es würde noch ein Jahr dauern, bis er die letzte Brücke, die ihn von der unter ihm liegenden Welt trennte, hinter sich würde abbrechen können. Es war eine beunruhigende Welt, an die er sich jedesmal erinnerte, wenn er die Lederriemen seiner Sandalen anzog; denn in der Welt der Güter galt das Wort Sandalenträger als äußerste Beleidigung für einen Mann und unterstellte weibisches Benehmen oder noch Schlimmeres. Selbst jetzt, als er den Riemen befestigte, sah sich Allart gezwungen, seinen Geist aufgrund der Erinnerung zu beruhigen. Er machte drei leichte Atemzüge – Pause – wiederholte sie und murmelte dazu ein Gebet gegen die Ursache seiner Erregung. Er war sich der Ironie, die darin lag, schmerzlich bewußt.
Bete ich für den Frieden meines Bruders, der mir diese Beleidigung zugefügt und mich um meiner Gesundheit willen hierher getrieben hat? Als er merkte, daß er noch immer Ärger und Groll verspürte, wiederholte er das rituelle Atmen, verbannte den Bruder entschlossen aus seinen Gedanken und rief sich die Worte des Vorstehers ins Gedächtnis.
»Du hast keine Macht über die Welt oder ihre Dinge, mein Sohn; du hast jedwedem Wunsch nach ihr entsagt. Die Macht, die zu erwerben du hierher kamst, ist die Macht über die Dinge im Innern. Friede wird nur dann einkehren, wenn du dir voll bewußt wirst, daß deine Gedanken nicht von außen kommen. Sie kommen von innen und sind dadurch gänzlich dein. Es sind die einzigen Dinge in diesem Universum, über die man gerechterweise vollkommene Macht haben darf. Du, nicht deine Gedanken und Erinnerungen, beherrschst deinen Geist. Du – und niemand anders – bist es, der sie kommen und gehen heißt. Der Mann, der seinen eigenen Gedanken erlaubt, ihn zu quälen, ist wie der Mann, der eine Skorpion-Ameise an seine Brust drückt und ihr befiehlt, ihn wiederholt zu beißen.«
Allart wiederholte die Übung. Sobald er sie beendet hatte, war die Erinnerung an seinen Bruder aus seinen Gedanken verschwunden. Für ihn gibt es hier keinen Platz, nicht einmal in meinen Gedanken und Erinnerungen. Beruhigt, mit weißen Atemwolken vor dem Mund, verließ er die Zelle und bewegte sich leise den langen Gang hinunter.
Die Kapelle, zu erreichen durch einen kurzen Weg im herabfallenden Schnee, war der älteste Teil des Klosters. Vor vierhundert Jahren war die erste Gruppe von Brüdern hierher gekommen, um hoch über der Welt, der sie zu entsagen wünschten, ihr Kloster aus dem Fels des Bergs zu graben. Sie hatten die kleine Nische ausgehöhlt, in der der Sage nach Sankt-Valentin-im-Schnee sein Leben aushauchte. Um die sterblichen Überreste des Eremiten herum war die Stadt gewachsen: Nevarsin, die Schneestadt.
Jetzt gab es hier mehrere Gebäude, von denen jedes einzelne, ungeachtet der Hilfsmittel dieser Zeit, durch die Hände aller Mönche entstanden war. Die Brüder waren stolz darauf, nicht einen einzigen Stein mit Hilfe einer Matrix bewegt, sondern alles mit Händen und Geist geschaffen zu haben.
Die Kapelle war dunkel. Ein einzelnes kleines Licht glühte in jenem Schrein, in dem die Statue des Heiligen Lastenträgers über der letzten Ruhestätte des Heiligen stand. Mit ruhigen Bewegungen und geschlossenen Augen, wie es die Regeln verlangten, wandte Allart sich seinem Platz in den Bankreihen zu. Wie ein Ganzes kniete die Bruderschaft nieder. Allart, dessen Augen noch immer vorschriftsmäßig geschlossen waren, hörte das Fußrascheln und das gelegentliche Straucheln eines Novizen, der sich noch auf den äußeren, statt auf den inneren Blick verlassen mußte, um seinen ungeschickten Körper durch die Dunkelheit des Klosters zu bewegen. Die Schüler, noch nicht vereidigt und ohne geringste Ausbildung, stolperten in der Dunkelheit. Sie verstanden noch nicht, weshalb die Mönche Licht weder erlaubten noch benötigten. Flüsternd, einander anrempelnd, stolperten sie und fielen manchmal hin, aber schließlich befanden sich alle auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Ohne ein wahrnehmbares Signal erhoben sie sich in einer einzigen, kontrollierten Bewegung, als folgten sie einem unsichtbaren Signal des Pater Vorsteher. Ihre Stimmen erhoben sich zur Morgenhymne:

»Eine einzige Macht schuf Himmel und Erde,
Berge und Täler,
Dunkel und Licht;
Mann und Frau,
Mensch und Nichtmensch.

Diese Macht ist nicht zu sehen,
Ist nicht zu hören,
Ist nicht zu ermessen.
Von nichts außer dem Geist, der teilhat an dieser Macht. Ich nenne sie göttlich …«

Das war der Augenblick eines jeden Tages, in dem Allarts innere Fragen, Sehnsüchte und Sorgen völlig verschwanden. Wenn er die Stimmen seiner Brüder singen hörte, alte und junge, kindlich schrill oder altersrauh, wenn seine eigene Stimme sich in dem großen Konsens verlor, dann sah er sich nicht mehr in dem Gefühl einer getrennt suchenden und fragenden Einheit. Schwebend ruhte er in dem Wissen, daß er der Teil eines Größeren war, ein Teil der großen Macht, die die Bewegung der Monde, Sterne, der Sonne und des dahinterliegenden unbekannten Universums aufrechterhielt; daß er hier einen wahrhaften Platz in der Harmonie besaß; daß er, wenn er verschwand, ein Loch von AllartGröße in einem universellen Geist hinterließ; daß er etwas war, das nicht ersetzt oder verändert werden konnte. Wenn er den Gesang hörte, war er ganz in Frieden versunken. Der Klang seiner eigenen Stimme, ein ausgebildeter Tenor, erweckte Freude in ihm, aber nicht mehr, als der Klang jeder anderen. Ihm gefiel selbst die rauhe und unmelodiös zitternde Stimme des neben ihm stehenden Bruders Fenelon. Immer, wenn er mit seinen Brüdern sang, fielen Allart die ersten Worte ein, die er über Sankt-Valentin-im-Schnee gelesen hatte, Worte, die ihn während der Jahre seiner größten Qual erreicht, und ihm zum ersten Mal, seit er der Kindheit entwachsen war, Frieden gegeben hatten.
»Jeder von uns ist wie eine einzelne Stimme in einem großen Chor, eine Stimme wie keine zweite. Jeder von uns singt einige Jahre in diesem großen Chor, dann ist seine Stimme für immer verstummt. Andere nehmen dann ihren Platz ein. Aber jede Stimme ist einzigartig, keine ist schöner als die andere, keine kann das Lied einer anderen singen. Nichts nenne ich Sünde, außer dem Unterfangen, das Lied eines anderen oder mit eines anderen Stimme zu singen.«
Und Allart war beim Lesen dieser Worte klargeworden, daß er seit seiner Kindheit auf Befehl seines Vaters und seiner Brüder, der Hauslehrer, Waffenmeister und Stallknechte, der Untergebenen und Vorgesetzten eine Melodie zu singen versucht hatte – mit einer Stimme, die seiner eigenen nicht entsprach. Er war ein Cristofero geworden, was man bei einem Hastur für unziemlich hielt; immerhin war er ein Nachkomme von Hastur und Cassilda, ein Nachkomme von Göttern, einer, der Laran besaß – ein Hastur von Elhalyn, aus der Nähe der heiligen Stätten von Hali, in denen die Götter einst gewandelt waren. Seit undenklichen Zeiten beteten die Hasturs den Herrn des Lichts an. Und doch war Allart ein Cristofero geworden, hatte seine Brüder verlassen und auf sein Erbe verzichtet. Er war hierher gekommen, um Bruder Allart zu sein; seine Herkunft war unter den Brüdern von Nevarsin fast vergessen.
Sich selbst vergessend, und doch seines individuellen und einzigartigen Platzes in Chor, Kloster und Universum völlig bewußt, sang Allart die langen Hymnen. Später ging er, noch immer nüchtern, an die ihm zugewiesene Morgenarbeit, die darin bestand, daß er den Novizen und Schülern des äußeren Refektoriums das Frühstück brachte. Er trug die dampfenden Kannen mit Tee und heißem Bohnenbrei zu ihnen und goß das Essen in Schalen und Krüge, wobei er bemerkte, wie sich die kalten Hände der Jungen an die Hitze schmiegten und versuchten, sich zu wärmen. Die meisten der Kleinen waren zu jung, um die Technik der inneren Erwärmung schon zu beherrschen, und Allart wußte, daß einige von ihnen unter ihren Umhängen in Decken gewickelt waren. Er spürte eine unbefangene Sympathie für sie und erinnerte sich an seine eigenen frühen Kältequalen. Damals, als sein Verstand noch nicht gelernt hatte, den Körper zu erwärmen, war ihm nicht anders gewesen. Sie aber bekamen heißes Essen und schliefen mit Extradecken. Je mehr sie die Kälte spürten, desto eher würden sie sich bemühen, sie zu besiegen. Allart blieb stumm (obwohl er wußte, daß er sie hätte tadeln sollen), als sie über die Schlichtheit des Essens maulten. Hier, in den Quartieren der Kinder, wurde ein im Vergleich reichliches, üppiges Essen serviert. Er selbst hatte, seit er der vollen mönchischen Lebensweise beigetreten war, nur zweimal eine warme Mahlzeit erhalten; und der Grund dafür war gewesen, daß er in den tiefen Fassen besonders gute Arbeit bei der Rettung eingeschneiter Reisender geleistet hatte. Pater Vorsteher war der Meinung gewesen, die Unterkühlung seines Körpers habe einen Punkt erreicht, die seine Gesundheit bedrohe. Deswegen hatte er ihm befohlen, warme Nahrung zu essen und einige Tage unter zwei Extradecken zu schlafen. Unter gewöhnlichen Bedingungen hatte Allart sich dermaßen unter Kontrolle, daß Sommer und Winter ihm nichts bedeuteten. Sein Körper zog aus jeder Nahrung, ob heiß oder kalt, vollen Nutzen.
Ein betrübter kleiner Bursche, ein verwöhntes Kind von einem der Tiefland-Güter, mit sorgfältig geschnittenem, sich um sein Gesicht kräuselndem Haar, zitterte – obwohl in Umhang und Decke gehüllt – so heftig, daß Allart, als er ihm eine zweite Portion Brei gab (die heranwachsenden Jungen konnten essen, soviel sie wollten) freundlich sagte: »Bald wirst du die Kälte nicht mehr spüren. Das Essen wird dich wärmen. Und du bist warm gekleidet.«
»Warm?« sagte das Kind ungläubig. »Ich habe keinen Pelzumhang mehr. Ich glaube, ich werde vor Kälte sterben!« Er war den Tränen nahe, und Allart legte mitfühlend eine Hand auf seine Schulter.
»Du wirst nicht sterben, kleiner Bruder. Du wirst lernen, daß dir ohne Kleidung warm sein kann. Weißt du, daß die Novizen ohne Decke und Umhang nackt auf dem Stein schlafen? Und bisher ist hier noch niemand vor Kälte gestorben. Auch Tiere tragen keine Kleider. Ihre Körper sind an das Wetter, in dem sie leben, angepaßt.« »Tiere haben ein Fell«, protestierte das Kind mürrisch. »Ich habe nur meine Haut.«
Allart lachte und sagte: »Und das ist der Beweis dafür, daß du keinen Pelz brauchst; denn brauchtest du einen, um dich warm zu halten, wärst du mit einem Fell auf die Welt gekommen, kleiner Bruder. Dir ist kalt, weil dir seit deiner Kindheit erzählt wurde, daß man im Schnee friert. Und dein Verstand hat diese Lüge geglaubt; aber die Zeit wird kommen, noch vor dem Sommer, und du wirst barfuß durch den Schnee laufen und keinerlei Unbehagen fühlen. Jetzt glaubst du mir noch nicht, aber denke an meine Worte, Kind. Iß jetzt deinen Brei und achte darauf, wie er im Brennkessel deines Körpers zu arbeiten beginnt, um deinen Gliedern Wärme zu bringen.« Er tätschelte die tränenbenetzte Wange des Jungen und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Auch Allart hatte einst gegen die strenge Disziplin der Mönche aufbegehrt; aber er hatte ihnen getraut, und ihre Versprechungen waren ehrlich gewesen. Nun hatte er seinen Frieden. Er hielt seinen Geist unter Kontrolle und lebte nur einen Tag zur gleichen Zeit, ohne den quälenden Druck der Vorausschau. Sein Körper war ihm ein williger Diener geworden und tat, was ihm aufgetragen wurde, ohne mehr zu verlangen, als er für sein Wohlergehen und seine Gesundheit brauchte.
Über die Jahre hatte Allart vier Gruppen dieser Kinder ankommen sehen. Sie hatten vor Kälte geweint, sich über das karge Essen und die kalten Betten beklagt, waren verzogen und anspruchsvoll gewesen – und in ein, zwei oder drei Jahren würden sie weggehen, fürs Überleben ertüchtigt, mit viel Wissen über ihre Geschichte und fähig, die eigene Zukunft zu beurteilen. Und das würde auch für diese hier gelten, einschließlich des verzogenen kleinen Jungen, der Angst hatte, ohne Fellumhang vor Kälte zu sterben. Sie würden abgehärtet und ertüchtigt davongehen. Unwillkürlich bewegte sich Allarts Geist in die Zukunft, er versuchte zu sehen, was aus dem Kind werden würde, versuchte, sich selbst zu bestätigen. Er hatte es gewußt – seine Strenge zu dem Jungen war gerechtfertigt…
Allart zuckte plötzlich zusammen. Seine Muskeln versteiften sich, wie sie es seit dem ersten Jahr hier nicht mehr getan hatten. Automatisch atmete er, um sie zu entspannen, aber die Angst blieb. Ich bin nicht hier. Ich kann mich im nächsten Jahr nicht in Nevarsin sehen … Bedeutet das meinen Tod? Oder werde ich fortgehen? Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft…
Das war es, was ihn hierher gebracht hatte. Er war nicht, wie manche anderen Hasturs, ein Emmasca – weder Mann noch Frau, dafür aber langlebig und steril. Obwohl es in diesem Kloster Mönche gab, die tatsächlich so geboren worden waren, und nur hier mit dem, was in dieser Zeit als Heimsuchung galt, zu leben gelernt hatten. Nein, Allart hatte seit seiner Kindheit gewußt, daß er ein Mann war. Und er war so ausgebildet worden, wie es dem Sohn einer königlichen Linie, der an fünfter Stelle vom Thron des Reiches stand, angemessen war. Aber schon als Kind hatte er eine andere Sorge gehabt.
Er hatte angefangen, die Zukunft zu sehen, ehe er sprechen konnte. Einmal, als sein Onkel gekommen war, um ihm ein Pferd zu bringen, hatte er den Mann erschreckt, indem er ihm sagte, daß er sich freue, das Schwarze statt des Grauen zu bekommen, mit dem er zuerst aufgebrochen sei.
»Woher weißt du, daß ich zuerst mit dem Grauen aufgebrochen bin?« hatte der Mann gefragt.
»Ich habe gesehen, wie du mir den Grauen brachtest,« hatte Allart erwidert, »und dann habe ich gesehen, wie du das schwarze Pferd nahmst, dein Bündel herunterfiel und du umkehrtest und überhaupt nicht kamst.«
»Bei der Gnade des Aldones«, hatte der Mann geflüstert. »Es stimmt. Beinahe hätte ich mein Bündel im Paß verloren. Wäre es so gekommen, hätte ich wegen ungenügender Vorräte für die Reise umkehren müssen.«
Nur allmählich war Allart die Natur seines Laran bewußt geworden. Er sah nicht nur die wirkliche, sondern jede mögliche Zukunft. Sie breiteten sich fächerförmig vor ihm aus, und jede seiner Bewegungen erzeugte ein Dutzend neuer Alternativen. Mit fünfzehn, als er zum Mann erklärt wurde und vor den Rat der Sieben trat, um mit dem Zeichen seines Hauses tätowiert zu werden, wurden ihm die Tage und Nächte zur Qual, denn er konnte bei jedem Schritt ein Dutzend Straßen und hundert Alternativen, von denen jede mehrere neue hervorbrachte, vor sich sehen, bis er paralysiert war und sich aus Angst vor dem Bekannten und Unbekannten nicht mehr zu bewegen wagte. Er wußte nicht, wie er es abschalten konnte, und konnte nicht damit leben. Bei den Waffenübungen war er stets wie gelähmt, denn bei jedem Hieb sah er ein Dutzend seiner eigenen Bewegungen, die den anderen verstümmeln oder töten konnten. Jeder auf ihn gezielte Hieb barg drei Möglichkeiten, zu treffen oder danebenzugehen. Die Waffenübungen wurden für ihn zu einem solchen Alptraum, daß er schließlich unbeweglich vor dem Waffenmeister stand, zitternd wie ein verschrecktes Mädchen und unfähig, auch nur das Schwert zu heben. Die Leronis seiner Familie hatte versucht, in seinen Verstand einzudringen und ihm einen Ausweg aus diesem Labyrinth zu zeigen, aber Allart war von den verschiedenen Richtungen, in die ihre Versuche abzielten, ebenfalls wie gelähmt. Mit der zunehmenden Empfindsamkeit Frauen gegenüber hatte er sehen können, wie er sie packte und würgte.
Schlußendlich hatte er sich in seinem Zimmer verborgen, sich einen Feigling und Narren schelten lassen und sich geweigert, eine Bewegung oder einen einzigen Schritt zu tun, aus Angst vor dem, was geschehen konnte. Er hatte sich für einen Sonderling, einen Verrückten gehalten …
Als er schließlich soweit gewesen war, die lange, schreckliche Reise hinter sich zu bringen, hatte er hinter jedem Schritt einen falschen gesehen, der ihn in den Abgrund stürzen konnte, wo er tot oder schwer verletzt tagelang auf den Felsen unterhalb des Pfades lag. Er hatte sich fliehen und umkehren sehen. Dann hatte der Pater Vorsteher ihn begrüßt, sich seine Geschichte angehört und gesagt: »Du bist weder ein Sonderling noch ein Verrückter, Allart, aber du leidest. Ich kann nicht versprechen, daß du hier deinen wahren Weg finden oder geheilt werden wirst, aber vielleicht können wir dich lehren, damit zu leben.« »Die Leronis glaubt, ich könne es mit einer Matrix kontrollieren, aber ich war zu ängstlich«, hatte Allart gestanden, und zum ersten Mal das Gefühl verspürt, frei von Angst zu sprechen. Angst war eine verbotene Sache, Feigheit eine Untugend. Ein Hastur sprach nicht über solche Dinge.
Pater Vorsteher hatte genickt und gesagt: »Du hast recht gehandelt, die Matrix zu fürchten. Sie hätte dich durch deine Angst kontrollieren können. Vielleicht können wir dir einen Ausweg zeigen. Wenn es mißlingt, kannst du vielleicht lernen, mit deinen Ängsten zu leben. Als erstes mußt du lernen, daß du sie selbst erzeugst.«
»Das habe ich immer gewußt. Ich habe mich ihretwegen hinreichend schuldig gefunden …« protestierte Allart, aber der alte Mönch hatte gelächelt.
»Nein. Wenn du wirklich geglaubt hast, sie seien dein, würdest du weder Schuld noch Ablehnung oder Verdruß fühlen. Was du siehst, kommt von außerhalb deines Ichs und befindet sich jenseits deiner Kontrolle. Aber deine Ängste sind dein, und nur dein; wie deine Stimme, deine Finger oder deine Erinnerungen, und daher ist es an dir, sie zu kontrollieren. Wenn du dich der Angst gegenüber machtlos fühlst, hast du noch nicht zugegeben, daß sie dein ist und du mit ihr nach deinem Willen verfahren kannst. Kannst du die Rryl spielen?«
Von diesem Gedankensprung verblüfft, bestätigte Allart, daß man ihn unterrichtet hatte, die kleine Handharfe leidlich zu bedienen. »Wenn die Saiten am Anfang nicht die von dir gewünschten Töne hervorbrachten, hast du dann das Instrument verflucht oder deine ungeschickten Hände? Irgendwann, vermute ich, kam die Zeit, als deine Finger auf deinen Willen reagierten. Verfluche nicht dein Laran, solange dein Geist nicht geschult wurde, es zu kontrollieren.« Er ließ Allart einen Moment darüber nachdenken und sagte dann: »Die Wege der Zukunft, die du siehst, kommen von außen. Sie werden weder von Erinnerungen noch von Furcht erzeugt. Aber die Furcht entsteht in dir und lähmt deine Fähigkeit, dich inmitten verschiedener Wege zu bewegen. Du bist es, der die Furcht erschafft. Wenn du lernst, deine Angst zu kontrollieren, kannst du furchtlos einen Blick auf die vielen Pfade, die du betreten kannst, werfen und auswählen, welchen du einschlagen willst. Deine Angst ist wie die ungelernte Hand auf der Harfe, die den Klang verzerrt.«
»Aber wie kann ich vermeiden, ängstlich zu sein? Ich will mich nicht fürchten.«
»Dann sag mir«, sagte Pater Vorsteher milde, »welche der Götter die Angst wie einen Fluch in dich legen?« Beschämt war Allart verstummt, und der Mönch sagte ruhig: »Du sprichst davon, ängstlich zu sein. Doch Angst ist etwas, das du aus Mangel an geistiger Kontrolle in dir erzeugst. Du wirst lernen, es zu verstehen, wenn du dich entscheidest, ängstlich zu sein. Das erste, was du tun mußt, ist zu lernen, daß die Angst dein ist, und daß du sie kommen und gehen heißen kannst. Fange damit an: Immer wenn du die Angst spürst, die eine Entscheidung verhindert, sage dir selbst: ›Was macht mich ängstlich? Warum habe ich mich entschieden, Angst zu spüren, die meine Entscheidung verhindert, statt die Freiheit der Entscheidung zu wählen?‹ Angst ist ein Weg, dir selbst zu verbieten, frei zu wählen, was du als nächstes tun wirst; ein Weg, die Reflexe deines Körpers, keinesfalls jedoch die Bedürfnisse des Geistes für dich entscheiden zu lassen. Und wie du mir berichtetest, hast du in letzter Zeit meist beschlossen, nichts zu tun, damit nichts von dem, das du fürchtest, über dich kommen kann. Also wurden die Entscheidungen nicht von dir, sondern von deiner Angst getroffen. Damit fang an, Allart. Ich kann nicht versprechen, dich von ihr zu befreien, nur, daß die Zeit kommen wird, da du ihrer Herr wirst. Und dann wird sie dich nicht länger lähmen.« Dann hatte er gelächelt und gesagt: »Du bist doch deswegen hierher gekommen, oder?«
»Ich hatte mehr Angst zu bleiben, als zu kommen«, erwidert Allart und schüttelte sich.
Pater Vorsteher hatte aufmunternd gesagt: »Immerhin konntest du zwischen einer größeren und einer geringeren Angst wählen. Du mußt jetzt lernen, sie zu kontrollieren und über sie hinwegzuschauen. Es wird ein Tag kommen, an dem du weißt, daß sie dein Diener ist, der sich deinem Willen unterwirft.«
»Mögen die Götter es geben«, hatte Allart zitternd erwidert. So hatte sein Leben hier begonnen … und währte nun sechs Jahre lang. Langsam, Schritt für Schritt, hatte Allart die Ängste und Forderungen seines Körpers gemeistert. Er hatte gelernt, unter den verwirrenden, fächerförmig ausgebreiteten Möglichkeiten der Zukunft die am wenigsten schädliche auszuwählen. Nach und nach war seine Zukunft enger geworden. Und jetzt sah er sich nur noch hier, erlebte nur einen Tag zur gleichen Zeit und tat, was er mußte… Nicht mehr und nicht weniger. Und nun, nach sechs Jahren, wurde das, was er vor sich sah, plötzlich zu einem verwirrenden Strom von Bildern: Er sah eine Reise, Felsen und Schnee; eine fremde Burg, seine Heimat, das Gesicht einer Frau … Allart bedeckte das Gesicht mit den Händen, befand sich erneut im Griff der alten, lähmenden Angst.
Nein! Nein! Ich will nicht! Ich will hier bleiben, für mein eigenes Ziel leben, niemandes andern Lied singen, und nicht mit eines anderen Stimme …
Sechs Jahre lang war er seiner Bestimmung überlassen gewesen und nur den Zukunftsmöglichkeiten eigener Entscheidungen unterworfen. Jetzt brach das Draußen wieder über ihn herein. Traf außerhalb des Klosters jemand Entscheidungen, die ihn auf die eine oder andere Art berührten? All die Angst, die er in den vergangenen Jahren unterdrückt hatte, stieg in ihm wieder auf. Und langsam, indem er atmete, wie es ihm gelehrt worden war, meisterte er sie wieder.
Die Angst ist mein. Ich verfüge über sie, und ich allein kann wählen … Erneut versuchte er unter den bedrängenden Bildern einen Pfad zu sehen, auf dem er Bruder Allart bleiben und im Frieden seiner Zelle auf seine Art für die Zukunft der Welt arbeiten konnte …
Aber einen solchen Zukunftspfad gab es nicht, und das machte ihm eines klar: Welche Entscheidung von außen auch immer über ihn hereinbrach, sie würde so sein, daß er sich ihr nicht entziehen konnte. Lange Zeit kämpfte er mit sich, kniete auf dem kalten Steinboden der Zelle und versuchte sowohl seinen widerstrebenden Körper als auch den Geist zu zwingen, diese Erkenntnis zu akzeptieren. Es gelang ihm schließlich, seine Angst zu meistern. Er wußte jetzt, daß er die Macht dazu hatte. Wenn die Herausforderung kam, würde er ihr furchtlos begegnen.

Um die Mittagszeit hatte Allart genug von den sich endlos verzweigend vor ihm ausbreitenden Zukunftsmöglichkeiten gesehen, um zumindest einen Teil dessen, was ihm bevorstand, zu erkennen. Er hatte das Gesicht seines Vaters – zornig, schmeichelnd, entgegenkommend – in diesen Visionen nun häufig genug gesehen, um wenigstens teilweise zu wissen, welche Prüfung ihm als erste bevorstand.
Als Pater Vorsteher ihn zu sich rufen ließ, konnte er dem alten Mönch mit Ruhe und leidenschaftsloser Selbstkontrolle gegenübertreten. »Dein Vater ist gekommen, um mit dir zu sprechen, mein Sohn. Du kannst ihn im Nord-Gästezimmer treffen.«
Allart senkte den Blick; als er ihn wieder hob, sagte er: »Pater, muß ich mit ihm sprechen?« Seine Stimme war ruhig, aber der Pater Vorsteher kannte ihn zu gut, um diese Ruhe als echt hinzunehmen.
»Ich habe keinen Grund, ihn zurückzuweisen, Allart.«
Allart hatte das Gefühl, eine zornige Erwiderung zurückgeben zu müssen. »Aber ich!« Doch er war zu gut ausgebildet, um sich an die Unvernunft zu klammern. Schließlich sagte er beherrscht: »Ich habe einen großen Teil des Tages damit verbracht, mich auf diese Begegnung vorzubereiten. Ich will Nevarsin nicht verlassen. Ich habe hier Frieden gefunden. Helft mir, einen Weg zu finden, Pater Vorsteher.« Der alte Mann seufzte. Seine Augen waren geschlossen – wie meistens, da er mit dem inneren Blick deutlicher sah –, aber Allart wußte, daß sie ihn klarer denn je erblickten.
»Ich wünschte tatsächlich – um deinetwillen, Sohn –, daß ich einen solchen Weg erkennen könnte. Du bist hier zu Zufriedenheit und soviel Glück, wie ein Mann, der deinen Fluch trägt, nur finden kann, gelangt. Aber ich fürchte, die Zeit der Zufriedenheit ist nun beendet. Du mußt dir vergegenwärtigen, Junge, daß viele Menschen nie in den Genuß einer solchen Ruhe gelangen, um Selbsterkenntnis und Disziplin zu erlernen. Sei dankbar für das, was dir gegeben wurde.«
Oh, ich bin dieses frommen Geredes vom Akzeptieren und den uns auferlegten Lasten überdrüssig. Allart unterdrückte die auflehnenden Gedanken, aber der Pater Vorsteher hob den Kopf. Seine Augen, farblos wie ein unbekanntes Metall, begegneten Allarts rebellischem Blick. »Du siehst, mein Junge, du besitzt nicht wirklich die Fähigkeiten eines Mönchs. Wir haben dir etwas Kontrolle über deine natürlichen Neigungen vermittelt, aber von Natur aus bist du rebellisch und begierig, zu verändern, was du verändern kannst. Aber Veränderungen können nur dort unten durchgeführt werden.« Seine Armbewegung umfaßte die ganze weite Welt außerhalb des Klosters. »Du wirst dich weder damit begnügen, deine Welt selbstzufrieden hinzunehmen, noch dich damit bescheiden, nicht in blinder Auflehnung, die aus deinem Leid herrührt, auszuschlagen. Du mußt gehen, Allart, und die Veränderungen, die du bewerkstelligen kannst, in deiner Welt durchführen.«
Allart bedeckte das Gesicht mit den Händen. Bis zu diesem Augenblick hatte er immer noch geglaubt – Wie ein Kind, wie ein gläubiges Kind! –, daß der alte Mönch die Macht besaß, ihm zu helfen, damit er dem Unvermeidlichen entgehen konnte. Er wußte, daß ihm sechs Jahre Kloster nicht geholfen hatten, darüber hinwegzukommen. Er fühlte den letzten Funken seiner Kindheit schwinden und hatte den Wunsch, zu weinen.
Der Pater Vorsteher sagte mit einem sanften Lächeln: »Bekümmert es dich, daß du in deinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr kein Kind mehr bleiben kannst, Allart? Sei dankbar, daß du nach all diesen Jahren des Lernens darauf vorbereitet bist, ein Mann zu sein.«
»Ihr hört Euch an wie mein Vater!« warf Allart ihm zornig entgegen. »Genau das wurde mir morgens und abends mit dem Haferbrei aufgetischt – daß ich noch nicht Manns genug sei, meinen Platz in der Welt auszufüllen. Fangt Ihr nicht auch an, so zu sprechen, Pater, sonst müßte ich annehmen, daß meine Jahre hier unnütz waren.«
»Ich meine nicht das, was dein Vater meint, wenn ich sage, daß du bereit bist, dem Kommenden als Mann zu begegnen«, sagte der Pater Vorsteher. »Ich glaube, du weißt schon, was ich mit Männlichkeit meine. Oder war ich im Irrtum, als ich dich heute morgen ein weinendes Kind beruhigen und ermutigen hörte? Tu nicht so, als würdest du den Unterschied nicht kennen, Allart.« Die strenge Stimme wurde weicher. »Bist du zu zornig, um für meinen Segen niederzuknien, Kind?«
Allart fiel auf die Knie. Er spürte die Berührung des alten Manns in seinem Geist.
»Der Heilige Lastenträger wird dich für das, was kommen muß, stärken. Ich liebe dich sehr, aber es wäre selbstsüchtig, dich hierzubehalten. Ich glaube, du wirst in der Welt, der du entsagt hast, zu dringend gebraucht.« Als Allart aufstand, zog der Pater Vorsteher ihn in eine kurze Umarmung, küßte ihn und ließ ihn wieder los.
»Du hast meine Erlaubnis, zu gehen und dich in weltliche Gewänder zu kleiden, wenn du willst, bevor du deinem Vater entgegentrittst.« Erneut, zum letzten Mal, berührte er Allarts Gesicht. »Mein Segen sei immer bei dir. Wir mögen uns nicht wiedersehen, Allart, aber du wirst in den kommenden Tagen oft in meinen Gebeten sein. Sende eines Tages deine Söhne zu mir, wenn du es wünschst. Geh jetzt.« Er setzte sich, ließ seine Kapuze über das Gesicht gleiten, und Allart wußte, daß er aus den Gedanken des alten Mannes ebenso deutlich wie aus seiner Gegenwart entlassen worden war.
Er machte von der Erlaubnis, die Kleidung zu wechseln, keinen Gebrauch. Ärgerlich dachte er: Ich bin ein Mönch. Und wenn mein Vater das nicht sehen will, ist das sein Problem und nicht meins. Ein Teil seiner Auflehnung rührte jedoch von der Tatsache her, daß er, wenn er vorausschaute, sich nicht mehr im Umhang eines Mönchs sah, und auch nicht hier in Nevarsin. Würde er nie wieder zur Schneestadt zurückkehren?
Während er zum Gästezimmer ging, versuchte er, um ruhig zu werden, seine Atmung zu kontrollieren. Was sein Vater ihm auch immer zu sagen hatte, durch einen schon zu Beginn ihrer Begegnung stattfindenden Streit mit dem alten Mann würde sich nichts bessern. Er öffnete die Tür und trat in den Raum mit dem steinernen Boden ein.
Neben dem Feuer saß in einem geschnitzten Stuhl ein alter Mann, aufrecht und verbissen, die Finger um die Stuhllehne geklammert. Sein Gesicht trug die arroganten Züge der Tiefland-Hasturs.
Als er hörte, wie Allarts Umhang sachte über den Boden strich, sagte er gereizt: »Noch eins von diesen Gespenstern im Talar? Schickt mir meinen Sohn!«
»Euer Sohn ist hier, um Euch zu dienen, Vai Dom.«
Der alte Mann starrte ihn an. »Götter im Himmel, bist du das, Allart? Wie kannst du es wagen, mir in diesem Aufzug entgegenzutreten!« »Ich trete auf, wie ich bin, Sir. Seid Ihr gastfreundlich aufgenommen worden? Laßt mich Speisen oder Wein bringen, wenn Ihr es wünscht.«
»Damit bin ich bereits versorgt worden«, sagte der alte Mann mit einer Kopfbewegung zu dem Tablett und der Karaffe auf dem Tisch. »Ich brauche nichts als ein Gespräch mit dir, denn das war der Zweck der scheußlichen Reise, die ich unternommen habe.«
»Und ich wiederhole, ich bin hier und zu Euren Diensten, Sir. Hattet Ihr eine beschwerliche Reise? Was hat Euch veranlaßt, eine solche Reise im Winter zu machen, Sir?«
»Du!« knurrte der alte Mann. »Wann wirst du bereit sein, dorthin zurückzukommen, wo du hingehörst, um deine Pflicht gegenüber Clan und Familie zu erfüllen?«
Allart senkte den Blick. Er ballte die Fäuste, bis seine Fingernägel tief in die Handflächen schnitten und sie zum Bluten brachten. Was er, einige Minuten von hier entfernt, in diesem Zimmer sah, entsetzte ihn. In mindestens einer der Zukunftsentwicklungen, die sich von jedem seiner Worte ableiten ließ, lag Stephen Hastur, Lord Elhalyn, der jüngere Bruder des auf dem Thron von Thendara sitzenden Regis II., mit gebrochenem Genick auf dem steinernen Fußboden. Allart wußte, daß der ihn überflutende Zorn, die Wut, die er seinem Vater gegenüber empfunden hatte, solange er denken konnte, nur zu leicht in einer solch mörderischen Attacke enden konnte. Sein Vater hatte wieder zu sprechen begonnen, aber Allart hörte ihn in seinem Kampf, Geist und Körper zur Gelassenheit zu zwingen, nicht.
Ich will nicht über meinen Vater herfallen und ihn mit meinen Händen töten! Ich tue es nicht, Ich-tue-es-nicht! Und ich werde es nicht! Erst als er ruhig und ohne Ärger sprechen konnte, sagte er: »Es tut mir leid, Sir, Euch zu enttäuschen. Ich habe gedacht, Ihr wüßtet, daß ich mein Leben als Mönch und Heilkundiger in diesen Mauern verbringen will. In diesem Sommer erhielt ich die Erlaubnis, meine letzten Gelübde abzulegen, meinem Namen und meinem Erbe zu entsagen und den Rest meines Lebens hier zu wohnen.«
»Ich weiß, daß du dies einmal gesagt hast, in der Krankheit deiner Jugend«, erwiderte Dom Stephen Hastur, »aber ich habe gedacht, es würde vorübergehen, wenn deine Gesundheit an Geist und Körper wieder hergestellt ist. Wie steht es um dich, Allart? Du siehst gesund und kräftig aus. Es scheint, daß diese Cristofero-Irren dich nicht hungern lassen und mit Entsagungen zum Wahnsinn getrieben haben – noch nicht.«
Allart sagte liebenswürdig: »Das haben sie in der Tat nicht, Sir. Mein Körper ist, wie Ihr sehen könnt, stark und gesund, und mein Geist hat Frieden gefunden.«
»Stimmt das, Sohn? Dann werde ich die Jahre, die du hier verbracht hast, nicht bedauern. Und ganz gleich, mit welchen Methoden sie dieses Wunder vollbracht haben: Ich werde ihnen immer dankbar sein.« »Dann setzt Eurer Dankbarkeit die Krone auf, Vai Dom, indem Ihr mir die Erlaubnis gebt, hier, wo ich glücklich und in Frieden lebe, den Rest meines Lebens zu bleiben.«
»Unmöglich! Wahnsinn!«
»Darf ich fragen warum, Sir?«
»Ich hatte vergessen, daß du es nicht wußtest«, gab Lord Elhalyn zurück. »Dein Bruder Lauren ist vor drei Jahren gestorben. Er hatte dein Laran, nur in noch schlimmerer Form, denn er schaffte es nicht, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden. Als es in voller Stärke über ihn kam, zog er sich in sich selbst zurück und hat nie mehr ein Wort gesprochen oder auf irgend etwas von außen reagiert. Und so ist er gestorben.«
Allart fühlte sich bekümmert. Lauren war für ihn das reinste Kind und beinahe ein Fremder gewesen, als er sein Zuhause verlassen hatte. Der Gedanke an die Leiden des Jungen betrübte ihn. Wie knapp er doch selbst diesem Los entronnen war! »Vater, es tut mir leid. Wie schade, daß Ihr ihn nicht hierher schicken konntet. Man wäre vielleicht in der Lage gewesen, auch zu ihm vorzudringen.«
»Einer war genug«, sagte Dom Stephen. »Wir brauchen keine Schwächlinge als Söhne. Lieber jung sterben, als eine solche Schwäche in unser Blut gelangen zu lassen. Seine Hoheit, mein Bruder Regis, hat nur einen einzigen Erben; sein ältester Sohn starb in der Schlacht gegen die Eindringlinge bei Serrais, und sein einzig verbliebener Sohn, Felix, der seinen Thron erben wird, ist von schwächlicher Gesundheit. Ich bin an nächster Stelle und dann folgt dein Bruder Damon-Rafael. Du bist vier Plätze vom Thron entfernt, und der König ist im achtzigsten Lebensjahr. Du hast keinen Sohn, Allart.«
Mit plötzlich aufwallender Heftigkeit sagte Allart: »Würdest du wollen, daß ich einen Fluch, wie ich ihn trage, an einen anderen weitergebe? Du hast mir berichtet, daß er Lauren das Leben gekostet hat!«
»Und doch brauchen wir diese Vorausschau«, erwiderte Stephen Hastur, »und du hast sie bewältigt. Die Leronis von Hali hat einen Plan, um sie ohne die Instabilität, die deine Gesundheit bedroht und Lauren getötet hat, in unserer Linie zu verankern. Ich habe versucht, mit dir darüber zu sprechen, bevor du uns verlassen hast, aber du warst nicht in der Verfassung, an die Bedürfnisse des Clans zu denken. Wir haben mit dem Aillard-Clan – wegen einer Tochter aus ihrer Linie – ein Abkommen geschlossen. Ihre Gene sind in der Form modifiziert worden, daß sie dominieren werden. Auf diese Weise werden deine Kinder den Blick und die Sicherheit, ihn ohne Gefahr zu nutzen, haben. Du wirst dieses Mädchen heiraten. Zudem hat sie zwei Nedestro-Schwestern, und die Leroni vom Turm haben eine Technik entwickelt, die dir die Sicherheit geben, daß du von ihnen allen nur Söhne bekommen wirst. Wenn das Experiment gelingt, werden deine Söhne den Vorausblick und auch die Kontrolle darüber besitzen.« Er sah den Widerwillen auf Allarts Gesicht und sagte aufbrausend: »Bist du denn nichts anderes als ein empfindlicher Knabe?«
»Ich bin ein Cristofero. Die erste Maxime des Credo der Reinheit ist, keine Frau gegen ihren Willen zu nehmen.«
»Das ist gut und schön für einen Mönch, aber nicht für einen Mann! Keine von ihnen wird abgeneigt sein, wenn du sie nimmst, das versichere ich dir. Wenn du willst, werden die beiden, die nicht deine Ehefrau sind, nicht einmal deinen Namen erfahren. Wir besitzen jetzt Drogen, die zur Folge haben, daß sie nur die Erinnerung an ein angenehmes Intermezzo behalten. Und jede Frau hat den Wunsch, ein Kind der Linie von Hastur und Cassilda zur Welt zu bringen.«
Allart zog eine Grimasse der Abscheu. »Ich will keine Frau, die mir unter Drogen bewußtlos ausgeliefert wird. Gegen ihren Willen heißt nicht nur, daß sie sich aus Angst vor Vergewaltigung wehrt; es bedeutet auch, daß die Fähigkeit einer Frau, ihre Zustimmung frei zu geben oder zu verweigern, durch Drogen zerstört worden ist!«
»Ich wollte es nicht erwähnen«, sagte der alte Mann zornig, »aber du hast deutlich geäußert, daß du nicht bereit bist, die Pflicht, die deiner Kaste und dem Clan zukommt, aus freiem Willen zu erfüllen! In deinem Alter hatte Damon-Rafael ein Dutzend Nedestro-Söhne von ebensovielen willigen Frauen! Aber du, ein Sandalenträger …«
Allart senkte den Kopf und bekämpfte den Reflex des Zorns, der ihn antrieb, den dünnen, alten Hals zwischen seine Hände zu nehmen und das Leben aus ihm herauszuquetschen. »Damon-Rafael hat seine Meinung über meine Männlichkeit häufig genug geäußert, Vater. Muß ich das auch von Euch hören?«
»Was hast du denn getan, um mir eine bessere Meinung von dir zu vermitteln? Wo sind deine Söhne?«
»Ich stimme nicht mit Euch überein, daß Männlichkeit allein an den Söhnen gemessen werden muß, Sir; aber über diesen Punkt will ich jetzt nicht mit Euch streiten. Ich will den Fluch meines Blutes nicht weitergeben. Ich weiß einiges über das Laran. Ich spüre, daß Ihr falsch handelt, wenn Ihr versucht, größere Kraft in diesen Gaben heranzuzüchten. An mir – und noch mehr an Lauren – könnt Ihr sehen, daß der menschliche Geist nie dazu vorgesehen war, ein solches Gewicht zu tragen. Wißt Ihr, was ich damit meine, wenn ich von rezessiven und tödlichen Genen spreche?«
»Bist du dabei, mich in meinem eigenen Fach zu unterrichten, Jüngling?«
»Nein, aber bei allem Respekt, Vater, ich will daran keinen Anteil haben. Wenn ich je Söhne haben sollte …«
»Da gibt es kein wenn. Du mußt Söhne haben.«
Die Stimme des alten Mannes klang entschlossen, und Allart seufzte auf. Sein Vater hörte einfach nicht zu. Oh, natürlich fingen seine Ohren die Worte auf. Aber er hörte nicht zu; sie gingen durch ihn hindurch, weil das, was Allart sagte, nicht mit dem festgelegten Glauben von Lord Elhalyn übereinstimmte – daß es die allererste Pflicht seines Sohnes sei, Söhne heranzuzüchten, die die legendären Gaben von Hastur und Cassilda, das Laran, weitertragen würden.
Laran war Zauberei; Psi-Kraft, die ihren Familien eine bevorzugte Stellung bei der Handhabung der Matrixsteine, die die verborgenen Kräfte des Geists verstärkten, gab; was ihnen die Möglichkeit verschaffte, die Zukunft zu kennen, den Geist anderer Menschen zu unterjochen, unbeseelte Gegenstände zu manipulieren und den Geist von Säugetier und Vogel zu beherrschen. Laran war jenseits aller Vorstellungskraft der Schlüssel zur Macht, und seit Generationen hatte man Menschen dafür herangezüchtet.
»Vater, hört mich an, ich bitte Euch.« Allart war jetzt weder zornig noch streitsüchtig, sondern ernsthaft verzweifelt. »Ich sage Euch, es kann sich nichts als Böses aus diesem Zuchtprogramm entwickeln, das aus Frauen schiere Instrumente macht, um Geistes-Monster ohne Menschlichkeit zu züchten. Ich habe ein Gewissen; ich kann es nicht tun.«
Sein Vater schnaubte: »Liebst du etwa Männer, daß du unserer Kaste keine Söhne geben willst?«
»Das tue ich nicht«, sagte Allart, »aber ich habe noch keine Frau gehabt. Wenn ich mit dieser bösen Gabe des Laran verflucht bin …« »Schweig! Du lästerst unsere Vorväter und den Herrn des Lichts, der uns das Laran gab!«
Jetzt wurde Allart wieder zornig: »Ihr seid es, der lästert, Sir, wenn Ihr glaubt, die Götter könnten auf diese Weise menschlichen Zielen unterworfen werden!«
»Du unverschämter …« Sein Vater sprang auf, hielt aber mit enormer Anstrengung seine Wut unter Kontrolle. »Mein Sohn, du bist jung und von diesen Mönchs-Ansichten irregeleitet. Komm zurück zu dem Erbe, für das du geboren bist, und du wirst eines besseren belehrt. Was ich von dir verlange, ist rechtens und nützlich, wenn die Hasturs gedeihen sollen. Nein …« Mit einer Armbewegung gebot er, als Allart etwas sagen wollte, Schweigen. »… von diesen Dingen weißt du noch immer nichts, deine Ausbildung muß vervollständigt werden. Eine männliche Jungfrau« – obwohl er sich bemühte, konnte Lord Elhalyn die Verachtung nicht aus seiner Stimme verbannen – »ist nicht befähigt, darüber zu urteilen.«
»Glaubt mir«, sagte Allart, »der Charme der Frauen ist mir nicht gleichgültig. Aber ich will den Fluch meines Blutes nicht weitergeben. Und ich werde es nicht.«
»Das steht nicht zur Diskussion«, sagte Dom Stephen mit einem drohenden Unterton in der Stimme. »Du wirst mir den Gehorsam nicht verweigern, Allart. Ich würde es zwar als Schande empfinden, wenn mein Sohn, mit Drogen betäubt, wie eine widerstrebende Braut, Söhne zeugen müßte, aber es gibt Dinge, die dich dazu bringen, wenn du uns keine Wahl läßt.«
Heiliger Lastenträger, hilf mir! Wie soll ich davon ablassen, ihn zu töten, wenn er sich weiterhin so aufführt?
Ruhiger fuhr Dom Stephen fort: »Es ist jetzt nicht die Zeit für einen Streit, mein Sohn. Du mußt uns Gelegenheit geben, dich zu überzeugen, daß deine Bedenken unbegründet sind. Ich bitte dich: Geh jetzt und kleide dich, wie es einem Mann und Hastur geziemt, und bereite dich darauf vor, mit mir zu reisen. Du wirst gebraucht, mein lieber Sohn, und … weißt du nicht, wie sehr ich dich vermißt habe?«
Die aufrichtige Liebe in seiner Stimme ließ Allarts Herz schmerzen. Tausend Kindheitserinnerungen tauchten in ihm auf und vermischten mit ihrer Zartheit Vergangenheit und Zukunft. Er war für den Stolz und das Erbe seines Vaters eine Schachfigur, sicher, aber ungeachtet dessen liebte Lord Elhalyn alle seine Söhne innig und war aufrichtig um seine geistige und körperliche Gesundheit besorgt gewesen – sonst hätte er ihn nicht ausgerechnet zu einem Cristofero-Kloster geschickt. Allart dachte: Ich kann ihn nicht einmal hassen. Es würde viel leichter sein, wenn ich es könnte!
»Ich komme mit, Vater. Glaube mir, ich habe nicht den Wunsch, dich zu erzürnen.«
»Und ich will dir nicht drohen, Junge.« Dom Stephen hielt die Arme ausgebreitet. »Ist dir bewußt, daß wir uns noch nicht wie Verwandte begrüßt haben? Fordern diese Cristofero dich auf, die Verwandtschaftsbande aufzugeben, Sohn?«
Allart umarmte seinen Vater; bestürzt spürte er die knochige Zerbrechlichkeit im Körper des alten Mannes, und ihm wurde klar, daß sein zorniges Auftreten die fortschreitende Schwäche und das Alter nur kaschieren sollten. »Alle Götter mögen verhüten, daß ich das tue, solange du lebst, Vater. Laß mich gehen und mich auf die Reise vorbereiten.« »Geh nur, mein Sohn. Denn es mißfällt mir mehr, als ich es sagen kann, dich in einer Tracht zu sehen, die für einen Mann unangebracht ist.« Allart gab darauf keine Antwort, sondern verbeugte sich und ging davon, um die Kleider zu wechseln. Er würde mit seinem Vater gehen, jawohl, und als pflichtgetreuer Sohn auftreten. Mit gewissen Einschränkungen würde er das. Jetzt wußte er, was der Pater Vorsteher gemeint hatte. Veränderungen waren in seiner Welt notwendig, und hinter Klostermauern konnte er sie nicht bewirken.
Er konnte sich fortreiten und einen großen, am Himmel schwebenden Falken sehen, das Gesicht einer Frau … einer Frau. Er wußte sowenig von Frauen. Und jetzt wollten sie ihm nicht nur eine, sondern gleich drei zuführen, mit Drogen betäubt und willfährig … dagegen würde er bis zum Ende seiner Willenskraft und seines Gewissens kämpfen; er würde kein Teil des monströsen Zuchtprogramms der Reiche werden. Niemals. Das Mönchsgewand abgelegt, kniete er zum letzten Mal kurz auf den kalten Steinen seiner Zelle.
»Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft, daß ich meinen Anteil am Weltgewicht tragen kann …« murmelte er. Dann stand er auf und legte die gewöhnliche Kleidung eines Edlen der Reiche an. Zum ersten Mal seit sechs Jahren trug er nun wieder ein Schwert.
»Gebenedeiter Sankt-Valentin-im-Schnee, gewähre, daß ich es gerecht verwende …« Allart seufzte und sah sich zum letzten Mal in seiner Zelle um. Bekümmert und von innerer Gewißheit erfüllt wußte er, daß er sie nie wiedersehen würde.

4

Das Chervine, das kleine Hirsch-Pony der Darkovaner, wählte seinen Weg auf dem Pfad sorgfältig; gegen den neuen Schneefall protestierend schüttelte es seine Geweihstangen. Sie hatten die Berge jetzt hinter sich gelassen, Hali war nicht mehr als drei Tagesritte entfernt. Für Allart war es eine lange Reise gewesen, länger als die sieben Tage, die sie tatsächlich gedauert hatte. Er fühlte sich, als wäre er Jahre gereist, endlose Wegstunden, hinweg über tiefe Abgründe der Veränderung. Und er war erschöpft.
Es erforderte die ganze Disziplin seiner Jahre in Nevarsin, um sich sicher durch die Wirrnis, die er jetzt sah, zu bewegen. Legionen möglicher Zukunftsentwicklungen verzweigten sich mit jedem Schritt vor ihm, wie verschiedene Straßen, die er hätte nehmen können, neue Möglichkeiten, die von jedem Wort, jeder Handlung erzeugt wurden. Als sie durch die gefährlichen Gebirgspässe ritten, konnte Allart jeden möglichen falschen Schritt sehen, der ihn über Abgründe führte, die ihn zerschmettern konnten; ebenso sah er jeden sicheren Schritt, den er tatsächlich tat. In Nevarsin hatte er gelernt, sich den Weg durch die Angst zu bahnen, aber die Anstrengung machte ihn schwach und müde.
Und immer tat sich ihm eine andere Möglichkeit auf. Immer wieder während ihrer Reise hatte er seinen Vater gesehen, tot zu seinen Füßen liegend, in einem unbekannten Zimmer.
Ich will mein Leben außerhalb des Klosters nicht als Vatermörder beginnen! Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft …! Er wußte, daß er seinen Zorn nicht leugnen konnte; in ihm lag die gleiche Lähmung wie in der Angst, keinen Schritt zu tun, aus Furcht, er würde zur Katastrophe führen.
Der Zorn ist mein, ermahnte er sich diszipliniert. Ich kann entscheiden, was ich mit meinem Zorn mache, und ich kann mich entscheiden, nicht zu töten. Aber es beunruhigte ihn, in dieser fremdartigen Szene, die ihm während der Reise immer vertrauter wurde, die Leiche seines Vaters zu sehen, wie sie in einem Zimmer mit grünen, gold umrandeten Vorhängen lag, am Fuß eines Sessels, dessen Schnitzereien er hätte nachziehen können, so oft hatte er sie mit dem Blick seines Laran gesehen. Wenn er in das Gesicht seines Vaters sah, war es schwer, ihn nicht mit dem Bedauern und dem Entsetzen anzuschauen, das er beim Anblick des Toten empfinden würde. Und es strengte ihn an, Lord Elhalyn nichts davon zu zeigen.
Sein Vater hatte während der Reise die verächtlichen Worte für Allarts mönchische Standhaftigkeit nicht wiederholt und gänzlich aufgehört, mit ihm darüber zu streiten. Er sprach ausschließlich freundlich mit seinem Sohn, meist von seiner Kindheit in Hali (bevor der Fluch über Allart gekommen war), von ihrer Verwandtschaft und den Aussichten der Reise. Er sprach von Hali und den Minenarbeiten, die im Turm von den Leuten des Matrix-Kreises getan wurden, um Kupfer-, Eisen- und Silbererz an die Erdoberfläche zu bringen; von Falken und Chervines, und von den Zuchtexperimenten mit zell-tiefen Veränderungen, die sein Bruder angestellt hatte. Er sprach von regenbogenfarbenen Falken und Chervines mit phantastischen, juwelenbunten Geweihsprossen, die den sagenhaften Tieren aus der Legende glichen.
Von Tag zu Tag stieß Allart auf mehr von jener Kindheitsliebe, die er für seinen Vater empfand. Er erinnerte sich an jene Tage, bevor ihn das Laran und sein Cristofero-Glaube von ihm getrennt hatten, und erneut fühlte er Schmerzen der Trauer, wenn er das verfluchte Zimmer mit den grün-goldenen Vorhängen sah, den großen geschnitzten Sessel, und das Gesicht seines Vaters, weiß und starr und voller Überraschung. Auf dieser Straße hatten immer wieder andere Gesichter versucht, aus der Verschwommenheit des Unbekannten in die mögliche Zukunft zu kommen. Die meisten von ihnen ignorierte Allart, wie er es im Kloster gelernt hatte, aber zwei oder drei tauchten wiederholt auf und machten ihm klar, daß es sich nicht um Gesichter von Leuten handelte, die er treffen konnte, sondern um die derjenigen, die in sein Leben treten würden. Eins, das er verschwommen erkannte, war das seines Bruders Damon-Rafael, der ihn einen Sandalenträger und Feigling genannt hatte und froh gewesen war, den Rivalen loszuwerden, damit er allein Elhalyns Erbe sein konnte.
Ich wünschte, mein Bruder und ich könnten Freunde sein und einander lieben, wie Brüder es sollten. Doch unter den möglichen Zukunftsentwicklungen sehe ich nirgendwo eine Chance …
Und da war das Gesicht einer Frau, das regelmäßig vor seinen geistigen Augen auftauchte, obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte. Eine kleine Frau, von angenehmem Äußeren, mit von dunklen Wimpern beschatteten Augen, einem blassen Gesicht und mit Haaren, die aus gesponnenem schwarzen Glas zu sein schienen. Er sah sie in seinen Visionen – ein ernstes, bekümmertes Gesicht, dessen dunkle Augen ihm mit quälendem Flehen zugewandt waren.
Wer bist du? fragte er sich. Dunkles Mädchen meiner Visionen, warum marterst du mich auf diese Weise?
Nach den Jahren im Kloster schien es Allart seltsam, daß er anfing, auch erotische Visionen von dieser Frau zu haben; er sah sie lachen, liebevoll, ihr Gesicht im Verlangen nach Zärtlichkeit dem seinen entgegengehoben, die Augen in der Verzückung eines Kusses geschlossen. Nein! dachte er. Ganz gleich, wie sehr ihn sein Vater mit der Schönheit dieser Frau verlocken sollte, er würde an seinem Entschluß festhalten und kein Kind zeugen, das den Fluch seines Blutes zu tragen hatte! Aber die Anwesenheit des Gesichts dieser Frau blieb im Träumen und Wachen, und er wußte, daß sie eine von jenen war, die sein Vater für ihn als Braut wählen würde. Allart fragte sich, ob die Möglichkeit bestand, daß er ihrer Schönheit nicht zu widerstehen vermochte.
Ich bin schon halb verliebt in sie, dachte er, und ich kenne nicht einmal ihren Namen!
Eines abends, als sie in ein weites grünes Tal hinabritten, begann sein Vater erneut von der Zukunft zu sprechen.
»Unter uns liegt Syrtis. Die Leute von Syrtis sind seit Jahrhunderten Hastur-Vasallen gewesen; wir werden unsere Reise dort unterbrechen. Du wirst froh sein, wieder in einem Bett zu schlafen, nehme ich an.« Allart lachte. »Das ist mir egal, Vater. Während dieser Reise habe ich weicher geschlafen als jemals in Nevarsin.«
»Vielleicht hätte ich solche mönchische Zucht erfahren sollen, bevor meine alten Knochen eine solche Reise machten! Ich jedenfalls werde über eine Matratze froh sein, wenn du es schon nicht bist! Wir sind jetzt nur noch zwei Tagesritte von Zuhause entfernt und könnten an sich schon etwas für deine Heirat planen. Mit zehn Jahren wurdest du mit deiner Verwandten Cassandra Aillard verlobt, erinnerst du dich?« So sehr er es auch versuchte, Allart konnte sich nur an ein Fest erinnern, zu dem er einen neuen Anzug bekommen hatte und stundenlang herumstehen und lange Ansprachen der Erwachsenen anhören mußte. Das sagte er seinem Vater, und Dom Stephen erwiderte, erneut sehr liebenswürdig: »Das überrascht mich nicht. Vielleicht war das Mädchen nicht einmal da; ich glaube, es war damals nur drei oder vier Jahre alt. Ich bekenne auch, daß ich an dieser Verbindung meine Zweifel hatte. Die Aillards haben Chieri-Blut und die üble Angewohnheit, dann und wann Töchter zu gebären, die Emmasca sind – sie sehen wie wunderschöne Frauen aus, aber sie werden nie reif zur Vereinigung und gebären auch keine Kinder. Ihr Laran ist nichtsdestoweniger stark, deshalb habe ich die Verlobung riskiert. Und als das Mädchen zur Frau wurde, ließ ich sie in Anwesenheit ihrer Amme von unserer eigenen Leronis, die ihre Überzeugung äußerte, daß sie Kinder gebären könnte, untersuchen. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen, aber man hat mir berichtet, sie sei zu einer anmutigen Jungfrau herangewachsen. Und sie ist eine Aillard. Ihre Familie ist ein starker Verbündeter unseres Clans, den wir sehr benötigen. Hast du nichts dazu zu sagen, Allart?«
Allart zwang sich, ruhig zu sprechen.
»Du kennst meine Einstellung zu dieser Sache, Vater. Ich will nicht mit dir darüber streiten, aber ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich habe nicht den Wunsch, zu heiraten, und werde auch keine Söhne zeugen, die den Fluch unseres Blutes weitertragen. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
Erneut tauchten vor seinem geistigen Auge das Zimmer mit den grüngoldenen Vorhängen und das tote Gesicht seines Vaters auf; mit solcher Deutlichkeit, daß er heftig blinzeln mußte, um den Vater wieder neben sich reiten zu sehen.
»Allart«, sagte sein Vater mit freundlicher Stimme, »während der Tage unserer gemeinsamen Reise habe ich dich zu gut kennengelernt, um dir das zu glauben. Immerhin bist du mein Sohn, und wenn du in die Welt zurückgekehrt bist, in die du gehörst, wirst du diese Mönchs-Ansichten nicht lange behalten. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Kihu Caryu, bis die Zeit dafür reif ist. Die Götter wissen, daß ich nicht mit dem jüngsten Sohn, den man mir gelassen hat, streiten will.« Allart fühlte seine Kehle sich vor Kummer zusammenziehen. Ich kann nicht anders. Ich habe meinen Vater lieben gelernt. Wird er dadurch schließlich meinen Willen brechen? Nicht mit Gewalt, sondern mit Freundlichkeit? Und wieder blickte er in das tote Gesicht und das grün- und goldverhängte Zimmer, und das Gesicht des dunklen Mädchens aus seinen Visionen tauchte vor seinen flimmernden Augen auf.

Das Herrschaftshaus von Syrtis bestand aus einem alten, steinernen Bergfried, einem Burggraben mit Zugbrücke, großen Außengebäuden aus Holz und Stein, und einem gestalteten Innenhof mit glasähnlicher Überdachung in vielen Farben.
Der Boden bestand aus farbigen Steinen, die mit einer solchen Präzision zusammengesetzt waren, die kein Arbeiter hätte erlernen können. Allart schloß daraus, daß die Syrtis-Leute zu den Neu-Reichen gehörten, die aus der ornamentalen und schwierig zu handhabenden Matrix-Technologie vollen Nutzen schöpfen konnten, um solch schöne Dinge herzustellen. Wie kann man so viele Laran-Begabte finden, um seinen Willen auszuführen?
Der alte Lord Syrtis war ein rundlicher, weichlicher Mann, der selbst in den Innenhof kam, um seinen Großfürsten zu begrüßen, und mit schmeichlerischer Höflichkeit auf die Knie fiel. Er erhob sich mit einem Lächeln, das fast zur hämischen Grimasse wurde, als Dom Stephen ihn in eine brüderliche Umarmung zog. Er umarmte auch Allart, der vor dem Kuß des Mannes auf seine Wange zurückwich.
Ugh, er ist wie eine einschmeichelnde Hauskatze!
Dom Marius führte sie in die große, mit verschwenderischem Luxus gefüllte Halle, komplimentierte sie auf kissenübersäte Diwans und rief nach Wein. »Das ist ein neues Erfrischungsgetränk, aus unseren Äpfeln und Birnen hergestellt; ihr müßt es probieren ;.. Ich habe eine neue Zerstreuung und werde euch davon erzählen, wenn wir gegessen haben«, sagte Dom Marius von Syrtis, während er sich in die wogenden Kissen zurücklehnte. »Und das ist dein jüngster Sohn, Stephen? Ich hatte ein Gerücht gehört, daß er sich von Hali losgesagt und ein Mönch bei den Cristoferos geworden sei, oder irgend so einen Unsinn. Ich freue mich, daß das eine bösartige Lüge ist; manche Leute erzählen einfach alles.«
»Ich gebe dir mein Wort, Cousin, Allart ist kein Mönch«, erwiderte Dom Stephen. »Ich gab ihm die Erlaubnis, in Nevarsin zu wohnen, um seine Gesundheit wiederherzustellen. In seiner Jugend litt er sehr unter der Schwellenkrankheit. Aber er ist gesund und stark, und nun ist er nach Hause gekommen, um verheiratet zu werden.«
»Aha, so ist das also«, sagte Dom Marius und betrachtete Allart mit seinen zwinkernden, in dicke Fettpolster eingebetteten Augen. »Ist die glücklich zu preisende Jungfrau mir bekannt, mein Junge?«
»Genausowenig wie mir«, erwiderte Allart mit widerwilliger Höflichkeit. »Man hat mir gesagt, es sei meine Cousine Cassandra Aillard; ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, und da war sie ein kleines Mädchen.«
»Aah, die Domna Cassandra! Ich habe sie in Thendara gesehen, als sie beim festlichen Ball auf Burg Comyn zugegen war«, sagte Dom Marius mit einem Seitenblick.
Angewidert dachte Allart: Er will uns nur wissen lassen, daß er bedeutend genug ist, um dort eingeladen zu werden!
Dom Marius trug den Dienern auf, Speisen zu bringen. Was seine nichtmenschlichen Lakaien anbetraf, entpuppte sich Dom Marius als Anhänger der jüngsten Modelaune. Er hielt sich Cralmac, künstlich aus den harmlosen Schweifern der Hellers gezüchtete, mit Matrix-modifizierten Genen und menschlicher Befruchtung gezeugte Wesen. Allart erschienen diese Geschöpfe häßlich, weder Mensch noch Schweifer. Die Schweifer, obwohl fremdartig und mönchgleich, besaßen ihre eigene fremde Schönheit. Aber die Cralmac zeichneten sich für Allart nur durch die Widerwärtigkeit von etwas Unnatürlichem aus, auch wenn einige von ihnen recht ansehnlich wirkten.
»Ja, ich habe die dir versprochene Braut gesehen. Sie ist so anmutig, daß sie selbst einen überzeugten Mönch dazu bringen würde, seine Gelübde zu brechen«, kicherte Dom Marius. »Du wirst dem Kloster keine Träne nachweinen, wenn du dich mit ihr hinlegst, auch wenn all diese AillardMädchen unglückliche Frauen sind. Einige sind so steril wie Riyachiyas, und andere so zerbrechlich, daß sie kein Kind austragen können.« Er ist auch einer von denen, die gerne Katastrophen voraussagen, dachte Allart. »Ich habe keine große Eile, einen Erben zu bekommen. Mein älterer Bruder lebt, ist bei bester Gesundheit und hat NedestroSöhne gezeugt. Ich werde nehmen, was die Götter mir geben.« Darauf bedacht, das Thema zu wechseln, fragte er: »Habt Ihr die Cralmac auf Euren eigenen Gütern gezüchtet? Während der Reise erzählte mein Vater mir von den Experimenten meines Bruders, der durch MatrixModifikationen Zier-Chervines gezüchtet hat. Eure Cralmac sind kleiner und hübscher als die in Hali gezüchteten, die, wie ich mich erinnere, nur zum Stallausmisten und anderen schweren Arbeiten taugen. Man überläßt ihnen Dinge, mit denen man einen menschlichen Vasallen nicht beauftragen könnte.«
Mit plötzlicher Beklemmung – Wie schnell ich doch vergesse! – fiel ihm ein, daß man ihn in Nevarsin gelehrt hatte, daß es keine Arbeit gab, die die Würde des Menschen untergrub. Aber seine Worte hatten Dom Marius die Gelegenheit zu neuen Prahlereien gegeben.
»Ich habe eine Leronis der Ridenows in einer Schlacht gefangen. Sie ist in solchen Dingen sehr geschickt. Sie glaubte, ich hätte Gutes mit ihr vor, als ich ihr zusicherte, sie nie gegen ihr eigenes Volk zu verwenden – aber wie sollte ich ihr nach einer solchen Schlacht noch trauen? –, und sie widersetzte sich nicht, einige Aufträge für mich zu erledigen. Sie hat mir die Cralmac gezüchtet, und sie sind wirklich hübscher und ansehnlicher als alle, die ich vorher hatte. Ich könnte dir ein Zuchtpärchen zum Hochzeitsgeschenk machen, wenn du willst, Dom Allart; deine Gattin würde ansehnliche Diener zweifellos begrüßen. Die Leronis hat für mich auch eine neue Rasse von Riyachiyas gezüchtet. Möchtest du sie sehen, Cousin?«
Lord Elhalyn nickte, und als sie das Mahl beendet hatten, wurden die versprochenen Riyachiyas hereingebracht. Allart sah sie mit einem Gefühl von Abscheu an: exotische Spielzeuge für übersättigte Geschmäkker. Von Gestalt waren sie schlanke Frauen mit anmutigen Gesichtern und ebenmäßigen Brüsten, die die durchsichtigen Falten ihrer Gewänder hoben. Aber ihre Taillen waren zu schmal und ihre Beine zu lang, um aus ihnen echte Frauen zu machen. Es waren vier, zwei hellhaarig, zwei dunkel; sonst waren sie identisch. Sie knieten sich Dom Marius zu Füßen, bewegten schlangengleich die schlanken Hälse. Als sie sich verbeugten, wirkten sie wie holde Schwäne, und Allart fühlte hinter seiner Abscheu ein ungewohntes Verlangen.
Zandrus Hölle! Aber sie sind schön, so schön und unnatürlich wie Dämonenhexen!
»Würdest du vermuten, Cousin, daß sie in Cralmac-Leibern geboren wurden?« fragte Dom Marius. »Sie sind von meinem Samen und dem der Leronis, so daß ein penibler Mann – wenn sie menschlich wären – sagen könnte, sie seien meine Töchter, und dieser Gedanke gibt dem Ganzen in der Tat ein kleines … ein kleines Etwas«. Er kicherte. »Es sind Zwillingspärchen …« Er wies auf das hellhaarige Paar und fuhr fort: »Lella und Rella; die Dunklen sind Ria und Tia. Sie werden euch nicht allzusehr mit Reden belästigen, obwohl sie sprechen und singen können. Ich habe sie tanzen, die Rryl spielen, und Speisen und Getränke zu servieren gelehrt. Aber ihre hauptsächlichen Talente dienen natürlich dem Vergnügen. Sie sind selbstverständlich unter Matrix-Bann … Wie ich sehe, Stephen, kannst du deine Augen nicht von ihnen nehmen. Ebensowenig« – Dom Marius gluckste – »wie dein Sohn.«
Allart schreckte auf und wandte sich ärgerlich von den schrecklich verlockenden Gesichtern und Körpern der unmenschlich schönen, seine Begierde anstachelnden Geschöpfen ab.
»Oh, ich bin nicht kleinlich; du kannst sie heute nacht haben«, sagte Dom Marius mit einem geilen Kichern. »Eine oder zwei, ganz wie du willst. Und da du, Allart, sechs Jahre der Frustration in Nevarsin verbracht hast, mußt du ihre Dienste dringend benötigen. Ich werde dir Lella schicken; sie ist meine eigene Favoritin. Oh, was diese Riyachiya alles kann! Selbst ein eingefleischter Mönch würde sich ihrer Berührung hingeben.« Seine Beschreibungen wurden detaillierter, und Allart wandte sich ab.
»Ich bitte Euch, Onkel«, sagte er, versuchend den Widerwillen zu verbergen, »Euch nicht selbst Eurer Favoritin zu berauben.«
»Nein?« Dom Marius verdrehte seine in Fett gepolsterten Augen mit gespielter Sympathie. »So steht es also? Nach so vielen Jahren im Kloster bevorzugst du die Freuden, die unter Brüdern zu finden sind? Ich selbst begehre selten einen Ri’chiyu, aber ich halte einige aus Gastfreundschaft, und manche Gäste brauchen dann und wann eine Abwechslung. Soll ich dir Loyu schicken? Er ist wahrhaftig ein schöner Knabe, und ich habe sie alle so modifizieren lassen, daß sie auf Schmerzen kaum reagieren. Du kannst ihn, wenn du willst, auf jede gewünschte Art benutzen.«
Dom Stephen, der sah, daß Allart jeden Moment explodieren konnte, warf hastig ein: »Die Mädchen werden uns genügen. Mein Kompliment für das Geschick deiner Leronis, sie zu züchten.«
Nachdem Marius sie zu den vorbereiteten Räumen gebracht hatte, sagte Dom Stephen aufgebracht: »Du wirst uns nicht die Schande bereiten, diese Höflichkeit zurückzuweisen! Ich will nicht, daß man hier rumtratscht, daß mein Sohn kein ganzer Mann ist!«
»Er ist wie eine große, fette Kröte! Vater, spiegelt es meine Männlichkeit wider, daß der Gedanke an soviel Schmutz mich mit Abscheu erfüllt? Ich würde seine dreckigen Geschenke gern in sein Kichergesicht schleudern!«
»Du ermüdest mich mit deinen mönchischen Skrupeln, Allart. Die Leroni haben nie etwas besseres zustande gebracht, als uns die Riyachiyas zu züchten. Deine zukünftige Frau wird es dir nicht danken, wenn du ablehnst, eine in deinem Haushalt zu haben. Bist du so unwissend, daß du nicht weißt, daß eine Schwangere eine Fehlgeburt haben kann, wenn du dich zu ihr legst? Es ist ein Teil des Preises, den wir für das Laran zahlen, das wir mit so großen Schwierigkeiten in unsere Linie hineingezüchtet haben, daß unsere Frauen schwach sind und für Fehlgeburten anfällig. Deshalb müssen wir sie schonen, wenn sie ein Kind tragen. Wenn du dein Verlangen nur auf eine Riyachiya richtest, dann braucht sie nicht eifersüchtig zu sein, als hättest du deine Zuneigung einem richtigen Mädchen gegeben, das einen gewissen Anspruch auf deine Gedanken hätte.«
Allart wandte das Gesicht ab. In den Tiefländern galt diese Art von Gespräch zwischen den Generationen als Gipfel des Unanständigen. Das war so seit der Zeit, als Gruppenhochzeiten noch die Regel gewesen waren und jeder Mann im rechten Alter ebenso der Vater eines Menschen, wie jede Frau, die alt genug war, seine Mutter sein konnte. Seitdem war das sexuelle Tabu zwischen den Generationen absolut. Entschuldigend sagte Dom Stephen: »Ich hätte mich nie so sehr vergessen, Allart, aber du bist nicht bereit gewesen, deiner Pflicht unserer Kaste gegenüber Genüge zu tun. Aber ich bin sicher, daß du als mein Sohn Manns genug bist, mit einer Frau in deinen Armen leben zu können!« Grob fügte er hinzu: »Du brauchst keine Skrupel zu haben; diese Geschöpfe sind steril.«
Krank vor Abscheu dachte Allart: Vielleicht warte ich gar nicht auf das Zimmer mit den grünen und goldenen Vorhängen. Ich kann ihn hier und jetzt töten. Aber sein Vater hatte sich umgedreht und war in sein Zimmer gegangen.
Aufgebracht dachte er, während er sich auf die Nachtruhe vorbereitete, daran, wie verderbt sie geworden waren. Wir, geheiligte Nachfahren des Herrn des Lichts, das Blut von Hastur und Cassilda in unseren Adern – oder ist das auch nur ein hübsches Märchen? Waren die Laran-Gaben der von Hastur abstammenden Familien nur das Werk anmaßender Sterblicher, vermischt mit Gen-Stoff und Hirnzellen, eine Hexerei mit dem Matrix-Juwel, das Protoplasma modifizierte, wie es Dom Marius’ Leronis mit diesen Riyachiyas angestellt hatte, indem sie exotische Spielzeuge für lasterhafte Männer produzierte?
Den Göttern selbst — wenn es wirklich Götter gibt — muß es bei unserem Anblick übel werden!
Das warme, luxuriöse Zimmer machte ihn krank; er wünschte sich nach Nevarsin, in die weihevolle Nachtstille zurück. Als er das Licht gelöscht hatte, hörte er fast geräuschlose Schritte. Das Mädchen Lella näherte sich ihm vorsichtig in einem dünnen Gewand.
»Ich bin zu deiner Befriedigung hier, Vai Dom.«
Ihre Stimme war ein heiseres Murmeln; einzig ihre Augen enthüllten, daß sie nicht menschlich war, denn es waren dunkelbraune Tieraugen, groß, weich und merkwürdig unerklärlich.
Allart schüttelte den Kopf.
»Du kannst wieder gehen, Lella. Ich werde heute Nacht allein schlafen.«
Sexuelle Bilder quälten ihn, all die Dinge, die er tun könnte, all die möglichen Zukunftsentwicklungen, ein unendlich großes Bündel von Wahrscheinlichkeiten, die von diesem Augenblick abhingen. Lella saß auf dem Bettrand; ihre weichen, schlanken Finger, so anmutig, daß sie keine Knochen zu haben schienen, legten sich behutsam in die seinen. Flehend murmelte sie: »Wenn ich dich nicht erfreue, Vai Dom, werde ich bestraft. Was, wünscht du, soll ich tun? Ich kenne viele, viele Arten, Freude zu bereiten.«
Er wußte, daß sein Vater auf diese Situation hingesteuert hatte. Die Riyachiyas wurden gezüchtet, ausgebildet und ausgewählt, um unwiderstehlich zu sein. Hatte Dom Stephen erhofft, sie würde Allarts Hemmungen niederreißen?
»Mein Herr wird wirklich sehr zornig sein, wenn es mir nicht gelingt, dir Freude zu schenken. Soll ich nach meiner Schwester schicken, die so dunkel ist, wie ich hellhaarig bin? Und sie ist sogar noch geschickter. Oder würde es dir Freude machen, mich zu schlagen, Herr? Ich habe es gern, geschlagen zu werden, wirklich.«
»Still, still!« Allart fühlte sich krank. »Niemand würde sich eine Schönere wünschen als dich.« Und der wohlgeformte junge Körper, das entzückende kleine Gesicht, das lose duftende Haar, das über seinen Körper fiel, waren tatsächlich verführerisch. Sie strömte einen süßen, moschusartigen Duft aus; bevor er sie berührt hatte, hatte er irgendwie geglaubt, sie würde wie ein Tier, nicht wie ein Mensch riechen.
Ich bin in ihrem Bann, dachte er. Wie sollte er widerstehen können? Mit einem Gefühl tödlicher Müdigkeit dachte er, als er ihre schmalen Fingerspitzen eine Linie über seinen nackten Hals vom Ohrläppchen zur Schulter ziehen fühlte: Was macht es schon aus? Ich habe beschlossen, frauenlos zu leben und den Fluch, den ich trage, niemals weiterzugeben. Aber dieses arme Geschöpf ist steril, ich kann mit ihr kein Kind zeugen, selbst, wenn ich wollte. Vielleicht wird Vater geneigt sein, mich nicht mehr zu verletzen oder mich einen halben Mann zu nennen, wenn er weiß, daß ich hierbei seinem Willen gefolgt bin, Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ich gebrauche nur Entschuldigungen für das, was ich tun will. Warum sollte ich nicht? Warum muß ich allein das ablehnen, was jedem Mann meiner Kaste zu Recht gegeben ist? In seinem Kopf drehte es sich. Tausend verschiedene Zukunftsmöglichkeiten rotierten vor ihm dahin: in einer packte er das Mädchen und würgte ihren Hals; in einer anderen sah er sich und das Mädchen in zärtlicher Umklammerung. Und dieses Bild wuchs, trieb das Bewußtsein der Begierde in seinen Körper. In einer weiteren Vision sah er das dunkle Mädchen tot vor sich liegen … So viele Zukunftsmöglichkeiten, so viel Tod und Verzweiflung … Krampfhaft, verzweifelt, die vielfache Zukunft auszulöschen versuchend, nahm er das Mädchen in die Arme und zog es aufs Bett nieder. Selbst als seine Lippen sich auf die ihren senkten, dachte er an Verzweiflung und Leere. Was macht das aus, wenn nur Untergang vor mir. liegt …?
Wie aus dem Nichts kommend hörte er ihre kurzen Freudenschreie und dachte in seinem Elend: Wenigstens ist sie nicht unwillig. Und dann dachte er überhaupt nicht mehr. Es war eine große Erleichterung.

5

Als er aufwachte, war das Mädchen fort, und Allart lag einen Moment lang völlig bewegungslos, von Übelkeit und Selbstverachtung überwältigt. Wie soll ich mich davon abhalten, den Mann zu töten, der das über mich gebracht hat …? Aber als das tote Gesicht seines Vaters in dem vertrauten Zimmer mit grünen und goldenen Vorhängen vor ihm auftauchte, erinnerte er sich streng: Mein war die Wahl; er hat nur für die Gelegenheit gesorgt.
Trotzdem fühlte er eine überwältigende Verachtung gegen sich selbst, während er durch das Zimmer ging und sich für die Reise fertigmachte. In der vergangenen Nacht war ihm etwas über sich selbst klargeworden, das er lieber nicht gewußt hätte.
In seinen sechs Jahren in Nevarsin hatte er keine Schwierigkeiten gehabt, im frauenlosen Bereich des Klosters zu leben, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden; sie hatten ihn nie gelockt, nicht einmal beim Mittsommerfest, wenn auch die Mönche frei waren, sich an den Lustbarkeiten zu beteiligen, Liebe oder ihr trügerisches Abbild in der unteren Stadt zu suchen. So war er nie in die schwierige Situation geraten, um seinen Entschluß kämpfen zu müssen – nicht zu heiraten und keine Kinder zu zeugen, die den monströsen Fluch des Laran trugen. Und doch, trotz der Abscheu und des Ekels für das Ding, das Lella war, waren bei der Berührung der auf obszöne Art weichen Fingerspitzen der Riyachiya sechs Jahre selbstauferlegten Zölibats in Minuten weggeworfen worden.
Was soll jetzt aus mir werden? Wenn ich meinem Entschluß nicht eine einzige Nacht treu bleiben kann … In den verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten, die er vor seinem nächsten Schritt sah, gab es eine neue, und sie mißfiel ihm zutiefst: daß er eine Kreatur wie Dom Marius werden könnte, die Hochzeit tatsächlich hinnahm, um seine Gelüste später mit diesen unnatürlichen gezüchteten Freudenmädchen zu befriedigen. Er war dankbar, daß ihr Gastgeber nicht zum Frühstück erschien. Es war schon schwer genug, seinem Vater gegenüberzutreten, und die Vision seines toten Gesichts wischte die wirkliche, lebendige Präsenz des alten Mannes, der wohlgelaunt über Brot und Haferbrei saß, beinahe aus. Dem unausgesprochenen Verdruß seines Sohnes spürend (Allart fragte sich, ob er von den Dienern oder Lella erfahren hatte, ob sein Sohn zu den Männern gezählt werden konnte), blieb Dom Stephen stumm, bis sie ihre Reitmäntel überzogen. Dann sagte er: »Wir werden die Reittiere hier lassen, Sohn. Dom Marius hat uns einen Luftwagen angeboten, der uns direkt nach Hali bringt, und die Diener können sie in einigen Tagen nachbringen. Du bist nicht mehr mit einem Luftwagen geflogen, seit du ganz klein warst, nicht wahr?«
»Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt jemals mit einem geflogen zu sein«, erwiderte Allart, der gegen seinen Willen. Interesse verspürte. »Damals waren sie gewiß noch nicht sehr verbreitet?«
»Nein, sie waren sehr selten, und natürlich sind sie Spielzeuge für die Begüterten, da sie einen geschickten Laran-Fahrer erfordern«, sagte Lord Elhalyn. »In den Bergen sind sie nutzlos; Böen und Winde würden jedes Fahrzeug, das schwerer als Luft ist, gegen die Felsen schleudern. Aber hier im Tiefland sind sie ausgesprochen sicher, und ich habe gedacht, so ein Flug würde dich ablenken.«
»Ich gestehe, daß ich neugierig bin«, sagte Allart. Er überlegte, daß Dom Marius von Syrtis wohl kein Opfer scheute, um sich bei seinem Großfürsten einzuschmeicheln. Erst stellte er ihnen seine bevorzugten Freudenmädchen zur Verfügung – und jetzt das! »Aber ich habe in Nevarsin gehört, daß diese Apparate auch im Tiefland nicht sicher sind. Wenn zwischen Elhalyn und Ridenow Kriege toben, könnte man uns allzuleicht angreifen.«
Achselzuckend sagte Dom Stephen: »Wir haben alle Laran und könnten mit jedem Angreifer kurzen Prozeß machen. Nach sechs Jahren Kloster sind deine Kampffertigkeiten ohne Zweifel eingerostet, falls es zu einem Gefecht kommen sollte, aber ich hege keine Zweifel, daß du jeden, der uns aus der Luft angreift, schlagen kannst. Ich habe Feuer-Talismane.« Verschmitzt schaute er seinen Sohn an und fuhr fort: »Oder willst du mir etwa erzählen, daß die Mönche einen solchen Mann des Friedens aus dir gemacht haben, daß du nicht dein Leben und das deiner Verwandten verteidigen würdest, Allart? Mir scheint, ich erinnere mich, daß du als Junge keine Lust zu kämpfen hattest.«
Nein, denn bei jedem Hieb sah ich für mich oder einen anderen Tod oder Verderben, und es ist grausam von dir, meine kindliche Schwäche zu verspotten, die nicht mein Fehler war, sondern eine folge des verfluchten Erbes deines Blutes … Laut jedoch sagte Allart, der sich zwingen mußte, das tote Gesicht, das ständig vor seinen Augen erschien und das lebendige Gesicht seines Vaters verschwimmen ließ, zu ignorieren: »Solange ich lebe, werde ich meinen Vater und Fürsten bis zum letzten Blutstropfen verteidigen, und die Götter mögen mir gnädig sein, wenn ich dabei versage oder zögere.«
Erregt und von irgend etwas in Allarts Stimme entzückt, streckte Lord Elhalyn die Arme aus und umarmte seinen Sohn. Zum ersten Mal, solange Allart zurückdenken konnte, sagte der alte Mann zu ihm: »Vergib mir, mein Sohn. Es war unter meiner Würde. Ich sollte dich nicht grundlos beschuldigen.« Und Allart fühlte Tränen in seine Augen schießen.
Die Götter mögen mir vergeben. Er ist nicht grausam, und wenn er es doch ist, dann nur aus Angst um michEr hat den aufrichtigen Wunsch, freundlich zu sein …
Der Luftwagen war lang und glatt. Er bestand aus glänzendem, glasähnlichem Material mit Zierstreifen aus Silber an den Seiten, einer langen Kanzel mit vier Sitzen und war zum Himmel hin offen. Cralmac rollten ihn aus dem Schuppen und auf das Schmuckpflaster des Innenhofs, und der Fahrer, ein schlaksiger junger Mann mit rotem Haar, das ihn als einen der geringeren Edlen aus den Killgard-Hügeln auswies, näherte sich ihnen mit einer knappen Verbeugung. Es war eine rein mechanische Geste der Ehrerbietung; ein bestens ausgebildeter Experte, ein Laranzu dieser Art brauchte niemandem gegenüber untertänig zu sein, nicht einmal dem Bruder des Königs von Thendara.
»Ich bin Karinn, Vai Dom. Ich habe den Auftrag, Euch nach Hali zu bringen. Bitte nehmt Eure Sitze ein.«
Er überließ es den Cralmac, Dom Stephen in den Sitz zu heben und die Gurte festzuzurren, aber als Allart seinen Platz einnahm, zögerte er einen Moment und fragte: »Seid Ihr je in einem dieser Luftwagen geflogen, Dom Allart?«
»Nicht, daß ich wüßte. Wird er von einer Matrix angetrieben, die Ihr allein handhaben könnt? Das wäre kaum zu glauben.«
»Nicht ganz. Dort drinnen« – Karinn zeigte auf den Luftwagen – »ist eine Batterie, um die Turbinen anzutreiben. Es würde in der Tat mehr Energie erfordern, als ein Mann zu seiner Verfügung hat, einen solchen Apparat in die Höhe zu heben und zu bewegen, aber die Batterien werden von Matrix-Kreisen aufgeladen, und deswegen wird mein Laran nur benötigt, um das Fahrzeug zu führen und zu steuern – und auf Angreifer zu achten und ihnen auszuweichen.«
Sein Gesicht war ernst. »Ich würde mich meinem Großfürsten nie widersetzen, und es ist meine Pflicht, zu tun, was mir aufgetragen wird, aber … habt Ihr Laran?«
Während Karinn sprach, löste sich die Unruhe in Allart mit einer plötzlichen, scharfen Vision auf. Er sah den Luftwagen auseinanderbersten, explodieren, wie einen Stein vom Himmel fallen. War das nur eine entfernte Wahrscheinlichkeit, oder lag sie wirklich vor ihnen? Er hatte keine Möglichkeit, das zu erfahren.
»Ich besitze genügend Laran, um Unbehagen darüber zu fühlen, daß ich mich diesem merkwürdigen Apparat anvertraue. Vater, man wird uns angreifen. Weißt du das?«
»Dom Allart«, sagte Karinn, »dieser merkwürdige Apparat, wie Ihr ihn nennt, ist das sicherste Transportmittel, das je von der Matrix-Technologie ersonnen wurde. Zwischen hier und Hali würdet Ihr, solltet Ihr drei Tage zu Pferd reisen, angreifbar sein. Mit dem Luftwagen werdet Ihr vormittags schon dort sein, und man müßte einen Angriff äußerst exakt vorausplanen. Darüber hinaus ist es leichter, sich gegen Laran zu verteidigen, als gegen solche Waffen, die man Euch mit Männern entgegenschicken könnte. Es wird der Tag kommen, an dem alle Großen Häuser sich solcher Erfindungen bedienen, um sich gegen mißgünstige Rivalen oder aufständische Vasallen zu schützen. Dann wird es keine Kriege mehr geben, denn kein vernünftiger Mensch wird diese Art von Tod und Zerstörung riskieren. Sicher mögen solche merkwürdigen Apparate wie dieser, Vai Dom, jetzt nur teure Spielzeuge für die Reichen sein, aber irgendwann werden sie uns in ein Friedenszeitalter führen, wie Darkover es noch nicht erlebt hat.«
Er sprach mit einer solchen Überzeugung und Begeisterung, daß Allart seine eigene aufkeimende Vision der schrecklichen Kriegsführung mit noch gräßlicheren Waffen anzweifelte. Karinn mußte Recht haben. Solche Waffen mußten vernünftige Menschen einfach davon abhalten, Krieg zu führen. Wer solche Dinge erfand, arbeitete unbewußt für den Frieden.
Seinen Sitz einnehmend sagte Allart: »Aldones, der Herr des Lichts, möge geben, daß Ihr mit wahrer Voraussicht sprecht, Karinn. Und jetzt wollen wir dieses Wunder sehen.«
Ich habe viele Möglichkeiten zukünftiger Ereignisse gesehen, die nie eingetreten sind. Ich habe an diesem Morgen herausgefunden, daß ich meinen Vater liebe, und ich werde mich an die Überzeugung klammern, daß ich nie Hand an ihn legen werde, ebensowenig, wie ich in der letzten Nacht den Hals jener armen, harmlosen Riyachiya drosseln wollte. Ich werde keinen Angriff fürchten, aber ich werde wachsam sein, während ich mich an dieser neuen Art zu reisen erfreue. Allart ließ sich von Karinn zeigen, wie man die Gurte, die ihn im Sitz halten sollten, falls die Luft turbulent würde, befestigte; er ließ sich auch das Gerät erklären, das seinen Sitz hinter eine große Glasscheibe schwenkte, damit er sofort jeden Angreifer und jede Bedrohung ins Blickfeld bekam. Aufmerksam lauschte er, als der Laranzu seinen Sitz einnahm, sich anschnallte und den Kopf in wacher Aufmerksamkeit vorbeugte. Die batteriegetriebenen Turbinen fingen an zu brüllen. Als Junge hatte Allart oft die winzigen Gleiter benutzt, die von einer kleinen Matrix hochgehoben wurden, und war auf den Luftströmen rund um den See von Hali geflogen. Er wußte um die grundlegenden Prinzipien des Schwererals-Luft-Flugs, aber es erschien ihm unglaublich, daß ein Matrix-Kreis – eine Gruppe eng verbundener telephatischer Gehirne – eine Batterie stark genug aufladen konnte, um solch mächtige Turbinen mit Energie zu versorgen. Aber das Laran konnte mächtige Kräfte hervorrufen, und eine Matrix die elektrischen Ströme von Gehirn und Körper außerordentlich verstärken. Er fragte sich, wie viele Gehirne es erforderte, und wie lange sie arbeiten mußten, um solche Batterien mit laut summender Energie aufzuladen. Er hätte Karinn gern gefragt – wollte aber die Konzentration des Laranzu nicht stören –, warum solch ein Gefährt nicht für den Bodentransport verwendet werden konnte, aber sofort fiel ihm ein, daß für jedes Bodenfahrzeug Wege und Straßen notwendig waren. Vielleicht würden Straßen eines Tages möglich sein, aber auf dem unebenen Gelände im Norden der Killgard-Hügel mußte der Bodenverkehr wahrscheinlich immer auf die Füße von Mensch und Tier beschränkt bleiben.
Die summende Energie ließ sie schnell über eine ebene Startbahn gleiten, deren glasähnliches Material auch mit Matrix-Kraft gegossen sein mußte. Dann wurden sie in die Luft getragen, erhoben sich schnell über Baumwipfel und Wälder und bewegten sich mit einer solch erregenden Geschwindigkeit, daß sie Allart den Atem nahm, in die Wolken hinein. Dies hier war mehr als ein Segelflug mit einem Gleiter. Dieser Apparat war dem Spielzeug seiner Kindertage so überlegen, wie ein Gleiter dem Trott des Chervine. Karinn machte eine Handbewegung. Der Luftwagen wandte seine Schwingen nach Süden und flog über die Wälder der Sonne entgegen.
Sie waren eine beträchtliche Zeit geflogen, als Allart anfing, die Gurte als einengend zu empfinden und wünschte, er könne sie ein wenig lokkern. Plötzlich spürte er Erregung, Alarmbereitschaft und Angst in sich.
Wir werden beobachtet, verfolgt – man wird uns angreifen! Schau nach Westen, Allart …
Allart blinzelte ins Licht. Kleine Punkte tauchten dort auf, einer, zwei, drei – waren es Gleiter? Falls es zutraf, konnte so ein Luftwagen sie schnell abhängen. Und Karinn wendete das Fahrzeug tatsächlich mit flinken Handbewegungen, um den Verfolgern zu entkommen. Einen Moment lang schien es, daß man ihnen nicht folgte. Einer der gleitenden Punkte – Das sind keine Gleiter. Sind es Falken? – segelte aufwärts, flog über ihnen dahin, höher und höher. Es war tatsächlich ein Falke, aber Allart konnte menschliche Intelligenz und ein Bewußtsein spüren, das sie mit böswilliger Absicht beobachtete. Kein natürlicher Falke hatte jemals Augen gehabt, die glitzerten wir große Juwelen! Nein, das ist kein normaler Vogel! Voller Unruhe beobachtete er den schwebenden Flug des Tieres, das immer höher stieg und sich mit weiten, schnellen Flügelschlägen in den Himmel erhob …
Plötzlich löste sich ein schlanker, glänzender Gegenstand von dem Vogel, fiel senkrecht nach unten und schoß wie ein Pfeil auf den Luftwagen zu. Allarts Vision vermittelte ihm, bevor er einen Gedanken fassen konnte, das Wissen um das, was geschehen würde, wenn dieses lange, tödliche, wie Glas glänzende Ding den Luftwagen traf: Er würde explodieren, jedes Stück von schrecklichem Haftfeuer bedeckt, das hängen blieb an allem, was es berührte und unlöschbar weiterbrannte, durch Metall und Glas, durch Fleisch und Knochen.
Allart griff nach der Matrix, die er um den Hals trug, zerrte sie mit zitternden Fingern aus der schützenden Seide. Ich habe wenig Zeit… Sich in die Tiefen des Edelsteins versenkend, veränderte er sein Zeitbewußtsein, sah das glasartige Ding immer langsamer fallen und konzentrierte sich so auf seinen Brennpunkt, als nähme er es zwischen unsichtbare, energetische Finger … Langsam, langsam, vorsichtig … Er durfte nicht riskieren, es zu zerstören, solange es in den Luftwagen fallen und Teile des Haftfeuers Fleisch und Wagen zerstören konnten. Das verlangsamte Bewußtsein wirbelte beschleunigte Zukunftsvisionen durch seinen Geist – er sah den Luftwagen in Stücken auseinanderfliegen, seinen Vater vornübersinken, mit Haftfeuer im Haar auflodern, Karinn wie eine Fackel aufflammen, und den Luftwagen außer Kontrolle geraten, während er abstürzte, schwerer als ein Stein … Aber von diesen Möglichkeiten durfte sich keine ereignen!
Mit unendlicher Feinfühligkeit versenkte sich Allarts Geist in die pulsierenden Lichter der Matrix, und mit geschlossenen Augen schob er das glasartige Ding vom Luftwagen weg. Er spürte Widerstand, wußte, daß der, der den Apparat führte, mit ihm um die Kontrolle kämpfte. Er kämpfte stumm, ihm war, als versuchten seine wirklichen Hände ein schlüpfriges, sich windendes, lebendes Ding zu halten, während andere sich mühten, es ihm zu entwinden und auf ihn zu schleudern. Karinn, schnell, bring uns höher, wenn du kannst, damit es unter uns zerbricht…
Er fühlte, wie sein Körper gegen die Gurte schleuderte, als der Luftwagen abrupt nach oben kurvte; sah mit einem Teil seines Verstandes seinen Vater zusammenbrechen und dachte mit jähem Selbstbewußtsein: Er ist alt, gebrechlich, sein Herz kann es nicht vertragen … Aber der Hauptteil seines Verstandes war noch immer in den energetischen Fingern, die mit dem sich windenden Apparat, der sich unter der Kontrolle seines Geistes zu krümmen schien, kämpften. Jetzt waren sie beinahe weit genug …
Die Explosion kam mit einem wilden Krachen. Sie schien Raum und Zeit zu erschüttern, und Allart spürte einen beißenden, brennenden Schmerz in den Händen. Schnell zog er sein Bewußtsein aus der Nähe des explodierten Apparats zurück, aber das Brennen blieb. Er öffnete die Augen und sah, daß das Ding tatsächlich unter ihnen detoniert war, und Bruchteile des Haftfeuers in einem geschmolzenen Schauer nach unten fielen, um die unter ihnen liegenden Wälder in Flammen zu setzen. Ein Stück der gläsernen Hülle war nach oben geschleudert worden, über den Rand des Luftwagens hinaus.
Dünnes Feuer breitete sich am Rand der Kanzel aus und griff mit flammenden Fingern nach der Stelle, wo sein Vater vornübergebeugt und bewußtlos lag.
Allart kämpfte seinen ersten Impuls nieder – sich vorzulehnen und das Feuer mit den Händen auszuschlagen. Auf diese Weise konnte Haftfeuer nicht gelöscht werden. Jedes Stück, das seine Hände berührte, würde durch seine Kleider und sein Fleisch bis auf die Knochen durchbrennen, solange es Nahrung fand. Erneut versenkte er sich in die Matrix – er hatte keine Zeit, den Feuer-Talisman, den Karinn ihm gegeben hatte, herauszuholen; er hätte ihn bereit halten sollen! – rief seine eigenen Flammen und setzte sie dem Haftfeuer entgegen. Sie loderten kurz empor, dann erstarb das Haftfeuer mit einem letzten Lichtfleckchen und war verschwunden.
»Vater!« schrie Allart. »Bist du verletzt?«
Sein Vater streckte ihm zitternde Hände entgegen. Die äußere Kante und der kleine Finger waren versengt, geschwärzt, aber soweit Allart erkennen konnte, hatte er keine schwereren Verletzungen. Mit schwacher Stimme sagte Dom Stephen: »Die Götter mögen mir vergeben, daß ich deinen Mut in Frage gestellt habe, Allart. Du hast uns alle gerettet. Ich fürchte, ich bin zu alt für einen solchen Kampf. Aber du hast das Feuer sofort besiegt.«
»Ist der Vai Dom verletzt?« rief Karinn von den Kontrollen her. »Seht! Sie sind geflohen.« Tatsächlich, tief am Horizont konnte Allart die abziehenden Punkte sehen. Hatten sie richtige Vögel mit dem Zauber der Matrix belegt, damit sie ihre scheußlichen Waffen trugen? Oder handelte es sich um monströse, herangezüchtete Mutationen, die ebensowenig Vögel, wie die Cralmac Menschen waren? Oder hatte man einen schrecklichen, mechanischen Apparat mit Matrix-Energien ausgestattet, und ihn ausgeschickt, um tödliche Waffen gegen sie anzuwenden? Allart wußte es nicht, und sein Vater befand sich in einem solchen Zustand, daß er eine Verfolgung der Angreifer nicht einmal in Gedanken erwog.
»Er hat einen Schock und geringfügige Verbrennungen«, rief er Karinn besorgt zu. »Wie lange wird es dauern, bis wir da sind?«
»Nur noch wenige Augenblicke, Dom Allart. Ich kann schon den Glanz des Sees erkennen. Da, dort unten …«
Der Luftwagen kreiste, und Allart konnte die Uferlinie und den schimmernden See sehen, der wie ein Meer von Edelsteinen an den Küsten von Hali lag … Die Legende sagt, daß jeder Sand, auf dem Hastur, der Sohn des Lichts, wandelt, zu Edelsteinen wird … Und da waren die merkwürdigen Heller-als-Wasser-Wellen, die sich unaufhörlich am Ufer brachen. Im Norden standen glänzende Türme, das Herrenhaus von Elhalyn, und am entfernten Ende des Sees der Turm von Hali, in sanftem Blau schimmernd. Als Karinn abwärts steuerte, löste Allart die beengenden Gurte und kletterte neben seinen Vater, nahm die verbrannten Hände in seine und versenkte sich in die Matrix, um mit dem geistigen Auge zu sehen und das Ausmaß der Verletzungen festzustellen. Die Wunde war in der Tat nur geringfügig; sein Vater litt nur unter einem Schock. Und sein Herz raste mehr aus Angst, als vor Schmerz. Unter sich konnte Allart Diener in den Hastur-Farben sehen. Sie rannten auf das Landefeld, als der Luftwagen sich heruntersenkte. Allart hielt die Hände seines Vaters in den seinen und versuchte, alles, was er voraussehen konnte, auszulöschen. Visionen, keine von ihnen ist wahr … Der Luftwagen ist nicht in einem Flammenmeer explodiert… Was ich sehe, muß nicht notwendigerweise eintreten — es handelt sich nur um das, was kommen kann, aus meinen Ängsten geboren …
Der Luftwagen berührte den Boden. Allart schrie: »Holt die Leibdiener meines Vaters! Er ist verwundet. Ihr müßt ihn hineintragen!« Er hob seinen Vater hoch, ließ ihn in die wartenden Arme der Diener gleiten und folgte ihnen, als sie die gebrechliche Gestalt hineintrugen. Von irgendwo sagte eine vertraute Stimme, die ihm vor Jahren verhaßt gewesen war: »Was ist mit ihm geschehen, Allart? Seid ihr in der Luft angegriffen worden?« Sie gehörte seinem älteren Bruder, Damon-Rafael.
Er beschrieb kurz die Begegnung, und nickend sagte Damon-Rafael: »Das ist die einzige Art, mit diesen Waffen umzugehen. Sie haben also die Falken-Dinger benutzt? Sie haben sie uns schon ein- oder zweimal geschickt, aber bisher nur eine Baumwiese verbrannt. Deswegen waren in diesem Jahr die Nüsse knapp.«
»Im Namen aller Götter, Bruder, wer sind diese Ridenows? Sind sie vom Blut von Hastur und Cassilda, daß sie solche LaranWaffen gegen uns senden können?«
»Sie sind Aufsteiger«, sagte Damon-Rafael. »Am Anfang waren sie Trockenstadt-Banditen, dann sind sie nach Serrais gezogen und haben die alten Familien gezwungen – oder sie eingeschüchtert –, ihnen ihre Töchter zu Frauen zu geben. Die Serrais hatten starkes Laran, einige von ihnen jedenfalls, und jetzt kannst du das Ergebnis sehen. Sie werden stärker. Sie reden von Waffenstillstand, und ich glaube, wir müssen mit ihnen verhandeln, denn die Kämpfe können nicht mehr lange so weitergehen. Aber sie werden keine Kompromisse akzeptieren. Sie wollen den Besitz von Serrais und erheben den Anspruch, daß sie mit ihrem Laran das Recht dazu haben … Aber das ist nicht die Zeit, um über Krieg und Politik zu sprechen, Bruder. Wie steht es um unseren Vater? Er schien nicht sehr schlimm verletzt, aber wir müssen ihm sofort eine Heilkundige schicken. Komm.«
Man hatte Dom Stephen in der Großen Halle auf eine gepolsterte Bank gelegt. Eine Heilkundige stand neben ihm, strich Salben auf seine verbrannten Finger und verband sie mit weichen Stoffen. Eine andere Frau hielt einen Weinbecher an die Lippen des alten Fürsten. Er streckte eine Hand nach seinen auf ihn zueilenden Söhnen aus, und Damon-Rafael kniete neben ihm nieder. Als er seinen Bruder anblickte, kam es Allart vor, als schaue er in einen Zerrspiegel. Sieben Jahre älter, war DamonRafael ein wenig größer und schwerer als er selbst, hellhaarig und grauäugig wie alle Hasturs von Elhalyn, und sein Gesicht zeigte erste Anzeichen zunehmenden Alters.
»Die Götter seien gepriesen, daß Ihr uns erhalten geblieben seid, Vater!« »Dafür mußt du deinem Bruder danken, Damon. Er war es, der uns gerettet hat.«
»Und wenn es nur dafür wäre, würde ich ihn zuhause willkommen heißen«, sagte Damon-Rafael, wandte sich um und zog seinen Bruder in eine herzliche Umarmung.
»Willkommen, Allart. Ich hoffe, du bist gesund und ohne die krankhaften Launen, die du als Junge hattest, zu uns zurückgekehrt.« »Bist du verletzt, mein Sohn?« fragte Dom Stephen mit einem besorgten Blick auf Allart. »Ich habe gesehen, daß du Schmerzen hattest.« Allart zeigte ihm seine Hände. Er war von dem Feuer in keiner Weise körperlich berührt worden, aber er hatte dem Feuer-Apparat mit der Berührung seines Geistes bewegt, und die Schwingungen waren bis in seine Hände vibriert. Überall auf den Handflächen waren rote Brandmale, die sich bis zu den Handgelenken erstreckten, aber der Schmerz war – wenn auch heftig – traumhaft, und ging von seinem Geist und nicht von dem verletzten Fleisch aus. Er konzentrierte sein Bewußtsein. Der Schmerz ging zurück. Die rötlichen Male begannen langsam zu verschwinden.
Damon-Rafael sagte: »Laß mich dir helfen, Bruder.« Er nahm Allarts Finger in seine Hände und konzentrierte sich intensiv auf sie. Unter seiner Berührung wurden die roten Male weiß. Lord Elhalyn lächelte. »Ich freue mich sehr«, sagte er. »Mein jüngerer Sohn ist zu mir zurückgekehrt, stark und ein Krieger, und meine Söhne stehen als Brüder zusammen. Die Arbeit dieses Tages ist gut getan, wenn er auch gezeigt hat…»
»Vater!« Allart sprang zu ihm, als die Stimme mit erschreckender Abruptheit abbrach. Die Heilkundige kam schnell heran, als der alte Mann nach Atem rang. Sein Gesicht wurde unter dem Blutandrang dunkler; dann sank er vornüber, glitt auf den Boden und blieb regungslos liegen.
Damon-Rafaels Gesicht war von Schrecken und Kummer verzerrt. »Vater …« flüsterte er. Allart, der in Entsetzen und Verzweiflung neben ihm stehend, blickte sich zum ersten Mal in der Großen Halle um und sah was er in der ersten Verwirrung gar nicht wahrgenommen hatte: die grünen und goldenen Vorhänge, der große, geschnitzte Sessel am anderen Ende des Raumes.
Es war also die Große Halle meines Vaters, in der er tot lag, und ich habe es erst gesehen, als es zu spät war … Meine Vorausschau war richtig, aber ich habe ihre Ursache falsch gedeutet… Selbst das Wissen um die vielen Möglichkeiten verhindert nicht…
Damon-Rafael senkte weinend das Haupt. Die Arme ausstreckend sagte er zu Allart: »Er ist tot; unser Vater ist ins Licht gegangen.« Die Brüder umarmten sich. Allart zitterte immer noch vor Entsetzen über das plötzliche Eintreffen der Zukunft, die er vorhergesehen hatte.
Um sie herum knieten die Diener einer nach dem anderen nieder und wandten sich den Brüdern zu. Damon-Rafael riß sich, obwohl sein Gesicht von Kummer verzerrt war und sein Atem stoßweise kam, zusammen, als sie die traditionellen Worte sprachen.
»Unser Fürst ist tot. Lang lebe unser Fürst.« Und kniend streckten sie ihre Hände aus, um Damon-Rafael zu huldigen.
Allart kniete nieder. Er war, wie es Recht und Gesetz entsprach, der erste, der dem neuen Großfürsten von Elhalyn, Damon-Rafael, Gehorsam gelobte.

6