KNAUR
SCIENCE FICTION FANTASY
Herausgeber Hans Joachim Alpers
Das dunkle Zeitalter ist
angebrochen … Krieg und Intrigen beherrschen den Planeten Darkover,
der eine sterbende Sonne umkreist. Seine Bewohner sind Nachkommen
eines vor 1000 Jahren gestrandeten irdischen Kolonistenschiffes.
Die Darkoveraner haben ihre Herkunft vergessen und sind in eine
feudalistische Geschichtsepoche zurückgefallen. Den Mangel an
Technologie machen sie mittels hochentwickelter Geisteskräfte wett.
Mit Hilfe von Matrix-Kristallen, den sogenannten »Sternensteinen«,
die die Ausstrahlung des menschlichen Gehirns verstärken und ihm
übersinnliche Kräfte verleihen, hat sich eine Kaste etabliert, die
Darkover beherrscht – die Comyn. Als die Ära des Chaos über
Darkover hereinbricht und die Machthungrigen sich der Sternensteine
bedienen, sieht sich die Familie Hastur gezwungen, Allart Hastur,
der aus Angst vor seinen übermächtigen Geisteskräften in der
Abgeschiedenheit eines Klosters lebt, zurückzuholen. Und Hastur
begegnet Dorilys, der »Herrin der Stürme« … Marion Zimmer Bradley,
geboren 1930 in Albany/New York, entdeckte die phantastische
Literatur im Alter von sechzehn Jahren. 1953 veröffentlichte sie
die ersten Kurzgeschichten in dem renommierten
Magazine of Fantasy & Science
Fiction. Sie gilt als Tolkien-Expertin und betont wie die meisten
ihrer Kolleginnen die abenteuerlich-romantische Komponente der
phantastischen Literatur. Der vorliegende Roman ist der neueste aus
dem Darkover-Zyklus, dem großen Erfolg der letzten Jahre auf dem Gebiet der
Fantasy-Literatur. September 1979 Deutsche Erstausgabe ©
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich 1979
Titel der Originalausgabe »Stormqueen!« Copyright © 1978 by Marion
Zimmer Bradley Aus dem Amerikanischen von Bernd Holzrichter
Umschlagillustration Selecciones Ilustradas Satz Appl, Wemding
Druck und Bindung Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
Printed in Germany • 2 • 5 • 281 ISBN 3-426-05717-4 2. Auflage
Fantasy-Roman Deutsche Erstausgabe
DROEMER KNAUR
Widmung
Für Catherine L. Moore First Lady der Science Fiction
Ich habe, so hoffe ich, mit der Nachahmung aufgehört, von der man sagt, sie sei die offenste Form der Schmeichelei. Ich werde dennoch, so hoffe ich, nie darüber hinauswachsen, ihr nachzueifern; und ebensowenig über die Bewunderung, die Zuneigung und die Begeisterung, die sie in jeder Frau erzeugt hat, die Science Fiction und Fantasy schreibt – wie auch in den meisten Männern!
MZB
Vorbemerkung der Autorin
Seit dem dritten oder vierten Darkover-Roman haben mir meine erstaunlich treuen
Leser geschrieben und gefragt: »Warum schreiben Sie keinen Roman
über das Zeitalter des Chaos?«
Lange Zeit war ich unschlüssig, zögerte, diesem Wunsch
nachzukommen. Der Kern der Darkover-Romane schien mir folgender zu sein: das
Zusammentreffen der Zivilisationen von Darkover und Terra. Hätte
ich den Bitten, über die Zeit »vor der Ankunft der Terraner« zu
schreiben, nachgegeben, wäre – so meinte ich – dieser Kern
verlorengegangen; was übriggeblieben wäre, hätte große Ähnlichkeit
mit tausend anderen Science-Fantasy-Romanen gehabt, die sich mit
fremden Welten befassen, deren Bewohner seltsame Kräfte und andere
Interessen haben. Es waren meine Leser, die mich letztendlich dazu
überredet haben, dies doch in Angriff zu nehmen. Wenn jeder, der
einem Autor schreibt, nur ein Hundertstel von denen repräsentiert,
die es nicht tun (und mir wurde gesagt,
das Verhältnis sei noch höher), müssen es bislang mehrere
tausend sein, die an der Zeit
interessiert sind, die als Zeitalter des Chaos bekannt ist; jene
Zeit, bevor die Comyn das Bündnis ihrer sieben großen Häuser
etabliert hatten, um über die Reiche zu herrschen; und auch die
große Zeit der Türme und der merkwürdigen Technologie, die als
»Sternenstein« bekannt ist und später zur Wissenschaft der
MatrixTechnik wurde.
Leser des Buches » The Forbidden Tower«
werden wissen wollen, daß »Herrin der
Stürme« sich mit einer Zeit befaßt, bevor Varzil, der Bewahrer von Neskaya, der auch
als »der Gute« bekannt ist, die Techniken vervollkommnete, die es
Frauen gestatteten, als Bewahrer in den Türmen der Comyn zu
dienen.
In »Die Amazonen von Darkover« sagt
Lady Rohana:
»Es gab eine Zeit in der Geschichte der Comyn, in der wir die
selektive Fortpflanzung einsetzten, um diese Gaben in unserem
Rassenerbe festzuschreiben. Es war eine Zeit großer Tyrannei, an
die wir nicht gerade mit Stolz zurückdenken.«
Dies hier ist die Geschichte der Männer und Frauen, die unter
dieser Tyrannei lebten; eine Geschichte darüber, wie diese Tyrannei
ihr Leben und das jener, die nach ihnen kamen, beeinflußte.
Marion Zimmer Bradley
1
Mit dem Sturm stimmte etwas nicht.
Anders konnte Donal ihn nicht einschätzen …es
stimmte etwas nicht. In den Bergen, die man die Hellers
nannte, war Hochsommer, und eigentlich dürfte es außer den endlosen
Schneegestöbern auf den weiten Höhen über der Baumgrenze und den
seltenen wilden Gewittern, die durch die Täler schossen, von Wipfel
zu Wipfel sprangen und entwurzelte Bäume und manchmal Brände in den
Schneisen ihrer Blitze zurückließen, keine Stürme geben.
Aber obwohl der Himmel blau und wolkenlos war, grollte leiser
Donner in der Ferne, und die Luft schien von der Spannung eines
Sturms erfüllt. Donal kauerte sich hoch auf den Zinnen zusammen,
hielt den Falken in seiner Armbeuge, streichelte den unruhigen
Vogel mit einem Finger und summte ihm fast unbewußt eine Melodie
vor. Er wußte, daß der in der Luft liegende Sturm und die
elektrische Spannung den Falken ängstigten. Er hätte ihn heute
nicht aus dem Vogelgatter nehmen dürfen – es würde ihm recht
geschehen, wenn der alte Falkner ihn prügelte, und vor einem Jahr
noch hätte dieser das auch ohne viel nachzudenken getan. Aber jetzt
waren die Verhältnisse anders. Donal war erst zehn, aber in seinem
kurzen Leben hatte es bereits viele Veränderungen
gegeben.
Die herausragendste davon war, daß im Verlauf weniger Monde die
Falkner, Hauslehrer und Reitknechte aufgehört hatten, ihn als ›den
Bengel‹ zu bezeichnen und ihn statt dessen mit ›junger Herr‹
ansprachen. Und außerdem hatten sie aufgehört, ihm mit Knüffen,
Stößen oder sogar Schlägen Respekt einzubläuen.
Gewiß war das Leben für Donal jetzt leichter, aber das Ausmaß der
Veränderung bereitete ihm Unbehagen; denn es war keine Folge seines
eigenen Tuns. Es hatte etwas mit der Tatsache zu tun, daß seine
Mutter, Aliciane von Rockraven, nun das Bett mit Dom Mikhail, dem
Lord von Aldaran, teilte und ihm schon bald ein Kind gebären
würde.
Ein einziges Mal, vor langer Zeit (seitdem waren zwei
Mittsommerfeste ins Land gegangen), hatte Aliciane zu ihrem Sohn
darüber gesprochen.
»Hör mir genau zu, Donal, denn ich werde dies nur ein einziges Mal
und dann nie wieder sagen. Das Leben ist nicht leicht für eine
schutzlose Frau.« Donals Vater war in einem der kleinen Kriege
gestorben, die sich zwischen den Vasallen der Gebirgsfürsten
entzündet hatten, und so besaß er keinerlei Erinnerung an ihn; ihr
gemeinsames Leben hatte sich seitdem als unbeachtete Beziehung in
den Heimen immer anderer Verwandter abgespielt. Donal hatte die
abgelegte Kleidung dieses oder jenes Cousins getragen, war immer
auf dem schlechtesten Pferd aus den Stallungen geritten, hatte
unbeachtet herumgelungert, wenn Cousins und männliche
Familienmitglieder die Waffenkunst erlernten, und versucht,
möglichst viel durch Zuhören aufzuschnappen.
»Ich könnte dich in Pflege geben. Dein Vater hat Verwandte in den
Hügeln, und du könntest dort aufwachsen, um bei einem von ihnen in
den Dienst zu treten. Nur gäbe es dann für mich nichts, außer
Küchenmädchen oder Näherin zu sein, oder im besten Fall Sängerin im
Haushalt eines Fremden. Aber ich bin zu jung, um dies Los
erträglich zu finden. Daher bin ich als Sängerin in die Dienste
Lady Deonaras getreten; sie ist schwächlich und gealtert, und hat
keine lebenden Kinder geboren. Man sagt von Lord Aldaran, er habe
ein Auge für die Schönheit der Frauen. Und ich bin schön,
Donal.«
Donal hatte Aliciane heftig umarmt; sie war wirklich sehr schön,
eine schlanke, mädchenhafte Frau mit flammend hellem Haar und
grauen Augen, die für die Mutter eines achtjährigen Burschen zu
jung aussah.
»Was ich im Begriff bin zu tun, tue ich zumindest teilweise für
dich, Donal. Meine Verwandtschaft hat mich dafür verstoßen;
verdamme mich nicht, wenn die, die das nicht verstehen, schlecht
von mir sprechen.«
Es sah in der Tat anfangs so aus, als hätte Aliciane es eher zum
Besten ihres Sohnes, als zu ihrem eigenen getan; Lady Deonara war
zwar freundlich, zeigte aber die Reizbarkeit aller chronisch
Kranken. Aliciane war bescheiden und zurückhaltend geblieben, hatte
Deonaras Strenge und den boshaften Neid der anderen Frauen gutmütig
und gelassen auf sich genommen. Aber Donal besaß nun zum ersten Mal
in seinem Leben maßgeschneiderte Kleidung, ein eigenes Pferd, einen
eigenen Falken und lernte bei den Hauslehrern und Waffenmeistern
von Lord Aldarans Schützlingen und Pagen.
In diesem Sommer war Lady Deonara erneut von einem totgeborenen
Sohn entbunden worden; woraufhin Mikhail, Lord von Aldaran,
Aliciane von Rockraven zur Barragana
genommen und ihr geschworen hatte, daß ihr Kind – ob männlich oder
weiblich – gesetzlich anerkannt und so lange als Erbe seiner Linie
gelten solle, bis er eines Tages Vater eines ehelichen Kindes
werden würde. Sie war die anerkannte Favoritin Lord Aldarans –
selbst Deonara, die sie für ihres Fürsten Bett ausgewählt hatte,
liebte sie – und Donal konnte von ihrer hervorragenden Stellung
profitieren. Einmal hatte Lord Mikhail, grauhaarig und
furchteinflößend, ihn sogar zu sich rufen lassen und ihm
mitgeteilt, daß Hauslehrer und Waffenmeister Gutes über ihn
berichteten. Dann hatte er ihn in eine freundliche Umarmung
gezogen. »Ich wünschte in der Tat, du seist von meinem Blut,
Pflegesohn. Wenn deine Mutter mir solch einen Sohn gebiert, werde
ich sehr zufrieden sein.«
Donal hatte gestammelt, »Ich danke Euch, Verwandter«, ohne jedoch
den Mut zu haben, den alten Mann »Pflegevater« zu nennen. Jung wie
er war, wußte er doch, daß er – sollte seine Mutter Lord Aldaran
ein lebendes Kind gebären – der Halbbruder von Aldarans Erbe sein
würde. Die Änderung seines Status war bereits außergewöhnlich und
bemerkenswert gewesen.
Aber der drohende Sturm … er erschien Donal wie ein böses Omen für
die bevorstehende Geburt. Er schauderte; ein Sommer seltsamer
Stürme lag hinter ihnen, mit Blitzstrahlen aus dem Nirgendwo und
nie verstummendem Grollen und Krachen. Ohne zu wissen warum,
verband Donal den Sturm mit Ärger – dem
Ärger seines Großvaters Lord Rockraven, als dieser von der
Entscheidung seiner Tochter erfahren hatte. Verloren in einer Ecke
kauernd hatte Donal mit anhören müssen, wie Lord Rockraven sie als
Flittchen und Hure beschimpfte. Er
hatte seine Mutter mit Namen belegt, die Donal noch weniger
verstand. An diesem Tag war die Stimme des alten Mannes vom Donner
fast verschluckt worden, während er in der Stimme seiner Mutter das
Krachen zorniger Blitze vernahm, als sie zurückgeschrien hatte:
»Was soll ich denn tun, Vater? Zuhause warten, meine Wäsche stopfen
und mich und meinen Sohn von deiner erbärmlichen Ehre ernähren?
Soll ich mit ansehen, wie Donal aufwächst, um ein gedungener
Söldner zu werden? Oder in deinem Garten nach seinem Brei graben?
Du verschmähst Lady Aldarans Angebot…«
»Nicht Lady Aldaran ist es, die ich
verschmähe«, schnaubte ihr Vater, »aber sie ist es nicht, der du
dienen wirst, und das weißt du so gut wie ich!«
»Hast du ein besseres Angebot für mich gefunden? Soll ich einen
Hufschmied oder einen Köhler heiraten? Lieber bin ich die
Barragana Aldarans, als die Ehefrau
eines Kesselflickers oder Lumpensammlers!« Donal wußte, daß er von
seinem Großvater nichts zu erwarten hatte. Rockraven war nie ein
reiches oder mächtiges Haus gewesen; es war verarmt, weil der alte
Lord für vier Söhne und drei Töchter sorgen mußte, von denen
Aliciane die jüngste war. Einmal hatte sie voll Bitterkeit gesagt,
wenn ein Mann keine Söhne habe, sei dies eine Tragödie; besäße er
aber zuviele, dann sei es um so schlimmer für ihn, denn er müsse
dann mitansehen, wie sie sich um seinen Besitz stritten. Als
letztes seiner Kinder war Aliciane mit einem jungen Mann ohne Titel
verheiratet worden, der knapp ein Jahr nach ihrer Heirat gestorben
war und Aliciane und den gerade geborenen Donal zurückgelassen
hatte, der nun im Haus eines Fremden aufgezogen werden mußte.
Jetzt, als er auf den Zinnen von Burg Aldaran kauerte und den
klaren, von unerklärlichen Blitzen erfüllten Himmel betrachtete,
weitete Donal sein Bewußtsein nach außen – er konnte die Linien der
Elektrizität und das merkwürdige Schimmern im Magnetfeld des Sturms
beinahe sehen. Gelegentlich war er
fähig gewesen, den Blitz zu rufen; einmal, als ein Sturm wütete,
hatte er sich damit vergnügt, den großen Blitzschlag dorthin zu
lenken, wo er ihn haben wollte. Es gelang ihm nicht immer, und er
konnte es nicht allzuoft tun, sonst würde er krank und schwach
werden. Einmal, als er (ohne zu wissen wie) durch die Haut gefühlt
hatte, daß der nächste Blitz in den Baum, unter dem er stand,
einschlagen würde, hatte er etwas in seinem Innern ausgestreckt. Ein unsichtbares Körperglied hatte
die Kette explodierender Kraft ergriffen und sie in eine andere
Richtung geschleudert. Der Blitz war zischend in einen Strauch
eingeschlagen, hatte ihn zu einem Haufen geschwärzter Blätter
verschmolzen und eine kreisförmige Grasfläche versengt, während
Donal schwindlig und mit trübem Blick zu Boden gesunken war. Der
Schmerz hatte seinen Kopf beinahe in Stücke bersten lassen, und er
war tagelang nicht in der Lage gewesen, richtig zu sehen. Aliciane
hatte ihn daraufhin umarmt und ermahnt.
»Mein Bruder Caryl konnte das auch, aber er starb in jungen
Jahren«, sagte sie zu ihm. »Es gab eine Zeit, da die Leroni in Hali versuchten, die Fähigkeit der
Sturmkontrolle in unser Laran
hineinzuzüchten, aber es war zu gefährlich. Ich kann die
Donnergewalten zwar ein wenig sehen,
aber nicht beeinflussen. Sei auf der Hut, Donal. Nutze diese Gabe
nur, um Leben zu retten. Ich möchte meinen Sohn nicht von den
Blitzen, die zu beherrschen er anstrebt, verbrannt sehen.« Und sie
hatte ihn mit ungewöhnlicher Herzlichkeit erneut umarmt.
Laran. Gespräche über die Gabe der
außersensorischen Kräfte, denen sich die Bergfürsten – ja, sogar
auch die weit draußen in den Tiefländern lebenden – so intensiv
widmeten, hatten seine Kindheit stets begleitet. Wenn er wirklich
eine außergewöhnliche Gabe, etwa die der Telepathie, oder die
Fähigkeit, Falken, Hunden oder Eichelhähern seinen Willen
aufzuzwingen, besäße, wäre er in die Zuchtlisten der Leroni aufgenommen worden, jener Zauberinnen, die
Aufzeichnungen über die Elternschaften derjenigen anfertigten, in
denen das Blut von Hastur und Cassilda, den legendären Vorfahren
der begabten Familien, floß. Aber er besaß keine. Er konnte ein
wenig Sturm-Sehen und spürte, wenn Gewitter sich zusammenbrauten
oder Waldbrände zuschlugen. Eines Tages, wenn er etwas älter war,
würde er seinen Platz als Feuerwächter einnehmen. Es würde
hilfreich für ihn sein, zu wissen, wohin sich das Feuer als
nächstes bewegte. Aber seine Fähigkeit war nur eine mindere Gabe
und keiner Fortzüchtung wert. Selbst in Hali hatte man schon vor
Generationen davon abgelassen, und Donal wußte – ohne sich darüber
im klaren zu sein, woher –, daß dies ein Grund für das
Nichtweiterblühen der Rockraven-Familie war.
Aber dieser Sturm lag weit jenseits seiner Kräfte. Irgendwie schien
er sich, ohne von Wolken oder Regen begleitet zu sein, über der
Burg zu sammeln. Mutter, dachte er,
es hat mit meiner Mutter zu tun. Er
wünschte sich, den Mut zu haben, durch die erschreckende und
zunehmende Bewußtheit des Sturms zu ihr zu laufen, sich zu
vergewissern, daß mit ihr alles in Ordnung war. Aber ein Junge von
zehn Jahren konnte nicht wie ein kleines Kind zu seiner Mutter
rennen, um auf ihrem Schoß zu sitzen. Außerdem war Aliciane, die
sich wenige Tage vor ihrer Niederkunft befand, schwerfällig und
unbeholfen geworden. Es würde unmöglich sein, sie jetzt mit seinen
Ängsten und Sorgen zu behelligen.
Besonnen nahm er den Falken wieder auf und trug ihn die
Treppenstufen hinab. In einer Luft, von Blitzen und diesem
merkwürdigen und unerhörten Sturm erfüllt, konnte er ihn nicht frei
fliegen lassen. Der Himmel war blau (es sah nach einem guten Tag
für Falken aus), aber Donal konnte die schweren und drängenden
magnetischen Ströme in der Luft und das mächtige Knistern der
Elektrizität fühlen.
Ist es meiner Mutter Angst, die die Luft mit
Blitzen füllt, so wie es bisweilen der Zorn meines Großvaters
tat? Plötzlich wurde er von seiner eigenen Angst
überwältigt. Er wußte wie jedermann, daß Frauen manchmal während
einer Geburt starben. Er hatte sich Mühe gegeben, nicht daran zu
denken, aber jetzt, von der Angst um seine Mutter überwältigt,
konnte er das Knistern seiner eigenen Angst im Blitzschlag fühlen.
Noch nie hatte Donal sich so jung und hilflos gefühlt. Er wünschte
sich sehnlichst an den ärmlichen Hof von Rockraven zurück. Selbst
die in Lumpen gekleidete und unbeachtete Existenz als armer Cousin
in der Festung irgendeines Verwandten wäre ihm jetzt recht gewesen.
Zitternd brachte er den Falken zu den Käfigen zurück. Den Tadel des
Falkners akzeptierte er mit solcher Ergebenheit, daß der alte Mann
glaubte, der Junge müsse krank sein.
Weit weg, in den Räumen der Frauen, hörte
Aliciane das unablässige Grollen des Donners; undeutlicher als
Donal spürte sie das Merkwürdige an diesem Sturm. Und sie fürchtete
sich.
Die Rockravens waren aus dem intensiven Zuchtprogramm für die
Laran-Gaben ausgesondert worden. Wie die meisten ihrer Generation
hielt Aliciane dieses Zuchtprogramm für eine abscheuliche Tyrannei.
In diesen Tagen würde kein freies Bergvolk erdulden, daß man
Menschen im Hinblick auf wünschenswerte Eigenschaften wie Vieh
heranzüchtete.
Und doch hatte sie ihr Leben in zwanglosen Gesprächen über tödliche
Gene, rezessive Merkmale und Blutlinien, die das erwünschte
Laran in sich trugen, verbracht. Wie
konnte eine Frau ein Kind ohne Angst gebären? Aber hier war sie nun
in Erwartung der Geburt eines Kindes, das Aldarans Erbe werden
konnte, und im Bewußtsein, daß sein Grund, sie zu wählen, weder
ihrer Schönheit – wenngleich sie ohne Eitelkeit wußte, daß sie es
ihrem Aussehen verdankte, daß sein Blick auf sie gefallen war –
noch der vorzüglichen Stimme, die sie zu Lady Deonaras bevorzugter
Balladensängerin gemacht hatte, zuzuschreiben war. Aldaran wußte,
daß sie einen kräftigen, mit Laran
begabten Sohn geboren, damit ihre Fruchtbarkeit unter Beweis
gestellt hatte und die Geburt eines Kindes überleben
konnte.
Oder besser: Ich habe sie einmal überlebt.
Aber beweist das mehr, als daß ich Glück hatte?
Als reagiere es auf ihre Angst, strampelte das ungeborene Kind
heftig. Aliciane ließ eine Hand über die Saiten der Rryl, einer kleinen Harfe, die sie im Schoß hielt,
gleiten und hielt das Instrument mit der anderen fest. Sie spürte
die beruhigende Wirkung der Schwingungen. Als sie zu spielen
begann, spürte sie Unruhe unter den Frauen, die zu ihrem Beistand
anwesend waren. Lady Deonara liebte ihre Sängerin aufrichtig und
hatte in diesen letzten Tagen ihre geschicktesten Ammen und
Kammerzofen geschickt. Mikhail, Lord Aldaran, kam in ihr Zimmer. Er
war ein großer Mann in der Blüte seines Lebens, wenn auch sein Haar
vor der Zeit ergraut und er weit älter war als Aliciane, die erst
im letzten Frühjahr ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert
hatte. Sein Schritt klang schwer in diesem ruhigen Raum, er hörte
sich eher nach dem Tritt genagelter Schuhe auf dem Schlachtfeld
an.
»Spielst du zu deinem eigenen Vergnügen, Aliciane? Ich hatte
geglaubt, eine Musikantin gewänne ihre größte Freude aus dem
Applaus, und doch finde ich dich hier, für dich und deine Frauen
spielend«, sagte er lächelnd und zog einen zierlichen Stuhl heran,
um sich neben sie zu setzen. »Wie steht es um dich, mein kostbarer
Schatz?« »Ich fühle mich wohl, aber auch müde«, sagte sie lächelnd.
»Es ist ein unruhiges Kind, und ich spiele zum Teil deshalb, weil
die Musik eine beruhigende Wirkung auf es ausübt. Vielleicht
überträgt sich meine Beruhigung aber
auch nur auf das Kind.«
»Das mag wohl sein«, sagte er und fuhr, als sie die Harfe zur Seite
legte, fort: »Nein, Aliciane, singe nur, falls du nicht zu müde
bist.« »Wie du wünschst, mein Fürst.« Sie entlockte den Saiten der
Harfe einige Akkorde und sang mit weicher Stimme ein Liebeslied aus
den weiten Hügeln:
»Wo bist du
jetzt?
Woher zieht mein Geliebter?
Nicht über die Hügel, nicht am Ufer des
Meeres, nicht weit draußen über die See,
Liebster, wo bist du jetzt?
Dunkel die Nacht, und ich bin so müde. Liebster, wann kann ich die Suche beenden? Dunkelheit überall, über und unter mir, Wo weilt er, mein Liebster?«
Mikhail beugte sich zu der Frau hinunter, seine
schwere Hand fuhr sachte über ihr leuchtendes Haar. »Ein grämliches
Lied«, sagte er sanft, »und so deprimierend. Ist Liebe für dich
wirklich eine Sache der Traurigkeit, meine Aliciane?«
»Nein, das ist sie nicht«, widersprach Aliciane und täuschte eine
Fröhlichkeit vor, die sie nicht fühlte. Ängste und Zweifel waren
für verwöhnte Ehefrauen da, nicht für eine Barragana, deren Stellung davon abhing, daß sie
ihren Fürsten entspannte und mit Charme und Schönheit bei guter
Laune hielt. Für sie zählte ihre Kunstfertigkeit als Unterhalterin.
»Aber die schönsten Liebeslieder singen nun einmal von Kummer und
Liebe, mein Fürst. Würde es dich mehr erfreuen, wenn ich Lieder vom
Lachen und der Kühnheit sänge?«
»Mich erfreut alles, was du singst, mein Schatz«, sagte Mikhail
freundlich. »Wenn du erschöpft oder bekümmert bist, brauchst du mir
keine Fröhlichkeit vorzuspielen, Carya.« Er sah das Aufflackern von Mißtrauen in
ihren Augen und dachte: Zu meinem eigenen
Vorteil bin ich zu feinfühlig. Es muß angenehm sein, sich der
Gedanken der anderen nie zu bewußt zu sein. Liebt Aliciane mich
aufrichtig? Oder schätzt sie nur ihre Stellung als meine anerkannte
Favoritin? Und selbst wenn sie mich liebt: Ist es um meiner selbst
willen, oder nur, weil ich reich und mächtig bin und ihr Sicherheit
geben kann? Er gab den Frauen einen Wink, und sie zogen sich
ans entgegengesetzte Ende des langen Zimmers zurück, um ihn mit
seiner Mätresse allein zu lassen. Zwar waren sie weiterhin
anwesend, um der Anstandsregel, daß eine Frau, die im Begriff war,
ein Kind zur Welt zu bringen, nie ohne Beistand sein sollte, Genüge
zu tun, befanden sich aber außer Hörweite.
»Ich traue nicht allen diesen Frauen«, sagte er.
»Lady Deonara hat mich aufrichtig gern, glaube ich. Sie würde
niemals jemanden in meine Nähe lassen, der mir oder meinem Kind
etwas Übles will«, sagte Aliciane.
»Deonara? Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Mikhail und dachte
daran, daß sie nun zweimal zehn Jahre Lady von Aldaran war und
seinen brennenden Wunsch nach einem Kind, dem künftigen Erben
seines Besitzes, teilte. Sie konnte ihm jetzt nicht einmal mehr die
Hoffnung darauf versprechen. Und so hatte sie die Nachricht
begrüßt, daß er gewillt war, Aliciane, die zu ihren eigenen
Günstlingen gehörte, in Herz und Bett aufzunehmen. »Aber ich habe
Feinde, die nicht zu diesem Haushalt gehören, und nur zu einfach
ist es, einen Spion mit Laran
einzuschmuggeln, der alles, was hier geschieht, dem enthüllen kann,
der mir Böses will. Ich habe Verwandte, die viel dafür geben
würden, die Geburt eines lebenden Erben meiner Linie zu verhindern.
Ich wundere mich nicht, daß du bleich aussiehst, mein Schatz. Es
ist sehr schwer, eine Verderbtheit als gegeben anzunehmen, die
einem kleinen Kind schaden würde, aber ich bin mir nie sicher
gewesen, ob Deonara nicht das Opfer von jemandem war, der die
ungeborenen Kinder in ihrem Leib tötete. Das ist gar nicht so
schwer; selbst eine geringe Kunstfertigkeit mit der Matrix oder dem
Laran kann die schwache Verbindung des
Kindes zum Leben zerreißen.«
»Jeder, der mir etwas antun wollte, Mikhail, müßte von deinem
Versprechen, daß mein Kind gesetzlich anerkannt wird, wissen und
sein böses Handeln auch gegen mich richten«, sagte Aliciane
besänftigend, »und doch habe ich dieses Kind ohne Krankheit
getragen. Deine Furcht ist grundlos, Liebster.«
»Mögen die Götter geben, daß du recht hast! Aber ich habe Feinde,
die vor nichts zurückschrecken. Bevor dein Kind geboren wird, werde
ich eine Leronis bitten, alle auf die
Probe zu stellen. Ich wünsche bei deiner Niederkunft die
Anwesenheit keiner Frau, die nicht unter dem Wahrheitszauber
schwören kann, daß sie dir gutgesonnen ist. Ein böser Wunsch kann
dem Kampf eines neugeborenen Kindes um das Leben ein plötzliches
Ende geben.«
»Gewiß ist diese Kraft des Laran
selten, mein Fürst.«
»Nicht so selten, wie ich es wünschte«, sagte Mikhail. »Und seit
kurzem habe ich merkwürdige Gedanken. Ich halte diese Gaben für
eine Waffe, die meine Hand abschneiden können. Ich habe Zauberei
benutzt, um Feuer und Chaos auf meine Feinde zu schleudern; jetzt
fühle ich, daß sie die Kraft dazu besitzen, sie auch gegen mich zu
richten. Als ich jung war, empfand ich das Laran als eine Gabe der Götter; als hätten sie mich
berufen, dieses Land zu beherrschen und mir diese Gabe verliehen,
um meine Herrschaft zu stärken. Aber jetzt, da ich älter werde,
halte ich es für einen Fluch, nicht für einen Segen.«
»So alt bist du nicht, mein Fürst, und sicher würde niemand deine
Herrschaft bedrohen.«
»Offen wagt es niemand, Aliciane. Aber ich bin allein unter denen,
die darauf warten, daß ich kinderlos sterbe. Ich werde noch manchen
Kampf auszufechten haben… Mögen die Götter geben, daß dein Kind ein
Sohn ist, Carya.«
Aliciane begann zu zittern. »Und wenn nicht… mein Fürst…« »Nun,
dann, Schatz, wirst du mir ein weiteres gebären«, sagte Lord
Aldaran freundlich. »Selbst, wenn du das nicht tust, werde ich eine
Tochter haben, deren Begabung mein Vermögen sein wird und mir
starke Verbündete verschafft. Selbst ein weibliches Kind würde
meine Stellung stärken. Und dein Sohn
wird ihr Pflegebruder und Friedensstifter sein, ein Schild im
Streit und ein starker Arm. Ich liebe deinen Sohn aufrichtig,
Aliciane.«
»Ich weiß.« Wie konnte sie auf diese Weise in eine Falle geraten …
herauszufinden, daß sie den Mann liebte, den sie zuerst nur mit den
Vorzügen ihrer Stimme und ihrer Schönheit zu betören gedachte?
Mikhail war freundlich und ehrenhaft, er hatte ihr den Hof gemacht,
als er sie als gesetzmäßiges Opfer hätte nehmen können, und ihr
ungefragt versichert, daß Donals Zukunft gesichert sei, selbst wenn
es ihr mißlingen sollte, ihm einen eigenen Sohn zu schenken. Bei
ihm fühlte sie sich sicher. Sie hatte ihn lieben und um ihn zu
fürchten gelernt.
In meiner eigenen Falle
gefangen!
Beinahe lachend sagte sie: »So viele Versicherungen benötige ich
nicht. Ich habe nie Zweifel an dir gehegt.«
Er akzeptierte es mit der lächelnden Höflichkeit eines Telepathen.
»Aber Frauen sind in solchen Tagen furchtsam, und jetzt ist es
gewiß, daß Deonara mir kein Kind mehr gebären wird, selbst wenn ich
sie nach so vielen Tragödien darum bäte. Weißt du, wie es ist,
Aliciane, wenn du die Kinder, nach denen du dich sehntest und die
du schon liebtest, bevor sie geboren wurden, sterben siehst, noch
ehe sie einen Atemzug getan haben? Als wir verheiratet wurden, habe
ich Deonara nicht geliebt. Ich hatte ihr Gesicht nie gesehen, denn
wir wurden einander wegen eines Familienbündnisses versprochen.
Aber wir haben zusammen viel ertragen, und auch wenn es dir
merkwürdig erscheint, mein Kind: Liebe kann aus geteiltem Leid
ebensogut entstehen, wie aus geteilter Freude.« Sein Gesicht
verdüsterte sich. »Ich liebe dich sehr, Carya
Mea, aber es lag weder an deiner Schönheit noch der Pracht
deiner Stimme, daß ich dich erwählte. Wußtest du, daß Deonara nicht
meine erste Frau ist?« »Nein, mein Fürst.«
»Zum ersten Mal wurde ich verheiratet, als ich ein junger Mann war;
Clariza Leynier gebar mir zwei Söhne und eine Tochter, alle gesund
und stark … Schwer ist es, Kinder bei der Geburt zu verlieren, aber
es ist noch schwerer, Söhne und Töchter zu verlieren, die fast zu
Erwachsenen herangereift sind. Und doch verlor ich sie – einen nach
dem andern, als sie heranwuchsen. Ich verlor alle drei beim
plötzlichen Einsetzen des Laran – sie
starben an Krämpfen, der Geißel unseres Geschlechts. Ich selbst war
kurz davor, an tiefer Verzweiflung zu sterben.«
»Mein Bruder Caryl ist so gestorben«, flüsterte Aliciane.
»Ich weiß. Aber er war nur einer aus eurer Linie, und dein Vater
hatte viele Söhne und Töchter. Du selbst hast mir gesagt, daß dein
Laran nicht während der Pubertät zum
Vorschein kam, sondern daß du von Kindesbeinen an langsam in es
hineingewachsen bist, wie viele vom Geschlecht der Rockraven. Und
ich weiß, daß dies in deiner Familie dominant ist. Donal ist kaum
zehn Jahre alt, und wenn ich auch nicht glaube, daß sein
Laran schon voll entwickelt ist,
besitzt er doch viel davon und wird zumindest nicht auf der
Schwelle sterben. Ich wußte, daß ich mich um deine Kinder nicht zu
ängstigen brauche. Auch Deonara entstammt einer Blutlinie, in der
das Laran früh einsetzte, aber keines
der Kinder, die sie mir geboren hat, lebte lange genug, daß man
erkennen konnte, ob es Laran besaß oder
nicht.«
Alicianes Gesicht zeigte deutliche Bestürzung, und Lord Aldaran
legte seinen Arm zärtlich um ihre Schulter. »Was ist, mein Liebes?«
»Mein Leben lang habe ich Abscheu davor empfunden – Menschen wie
Vieh zu züchten!«
»Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht daran denkt, seine
Rasse zu verbessern«, sagte Mikhail leidenschaftlich. »Wir
kontrollieren das Wetter, bauen Burgen und Straßen mit der Kraft
unseres Laran, erforschen immer größere
Gaben des Geistes – sollten wir nicht danach streben, uns ebenso zu
verbessern, wie unsere Welt und unsere Umgebung?« Dann wurde sein
Gesichtsausdruck weich. »Aber ich verstehe, daß eine Frau, die so
jung ist wie du, nicht in Kategorien von Generationen und
Jahrhunderten denkt. Solange man jung ist, denkt man lediglich an
sich und seine Kinder, aber in meinem Alter ist es natürlich, auch
all jene mit einzubeziehen, die nach uns kommen werden, wenn wir
und unsere Kinder seit Jahrhunderten dahingegangen sind. Aber
solche Dinge sollten erst dann etwas für dich sein, wenn du an sie
denken möchtest. Jetzt denk an deine Tochter, Liebes, und daran,
daß wir sie bald in unseren Armen halten werden.«
Aliciane zuckte zusammen und fragte leise: »Dann weißt du also, daß
ich ein Mädchen gebären werde. Und du bist nicht böse?«
»Ich sagte dir, daß ich nicht böse sein würde. Wenn ich betrübt
bin, dann nur deshalb, weil du mir nicht genügend vertrautest und
es mir nicht gleich sagtest, als du es erfuhrst«, sagte Mikhail,
aber seine Worte waren dabei so sanft, daß sie kaum einen Vorwurf
offenbarten. »Komm, Alidane, vergiß deine Befürchtungen: Wenn du
mir keinen Sohn schenkst, so hast du mir doch einen starken
Pflegesohn gegeben – und deine Tochter wird eine mächtige Kraft
sein, um mir einen Schwiegersohn zu bringen. Und sie wird
Laran haben.«
Aliciane lächelte und erwiderte seinen Kuß; aber sie war immer noch
ängstlich gespannt, als sie das ferne Knistern des ungewöhnlichen
Sommerdonners hörte, der mit den Wellen ihrer Angst zu kommen und
zu gehen schien. Kann es sein, daß Donal sich
vor dem, was dieses Kind für ihn bedeutet, fürchtet? fragte
sie sich. In diesem Augenblick wünschte Aliciane sich
leidenschaftlich, die Gabe der Zukunftsschau zu besitzen, das
Laran des Aldaran-Clans, um wirklich zu
wissen, daß alles gut werden würde.
2
»Hier ist die Verräterin!«
Aliciane zitterte vor dem Zorn in Lord Aldarans Stimme, als er
wütend in ihr Zimmer trat und mit beiden Händen eine Frau vor sich
her stieß. Hinter ihm erschien eine Leronis, die Zauberin seines Haushalts, die die
Matrix – einen blauen Sternenstein – trug, die die Kräfte ihres
Laran verstärkte. Sie kam auf
Zehenspitzen; eine zerbrechliche, hellhaarige Frau, deren blasse
Gesichtszüge von dem durch sie entfachten Aufruhr verzerrt
waren.
»Mayra«, sagte Aliciane bestürzt, »ich hielt dich für meine
Freundin und die Lady Deonaras. Was ist dir widerfahren, daß du
statt dessen meine Feindin und die meines Kindes bist?«
Mayra – sie war eine von Deonaras Ankleidefrauen, eine stämmige
Frau mittleren Alters – stand furchtsam und dennoch trotzig
zwischen Lord Aldarans kräftigen Händen. »Von dem, was diese
Zauberhexe über mich sagt, weiß ich nichts. Ist sie vielleicht auf
meine Stellung eifersüchtig, da sie selbst nichts zu tun hat, als
sich in den Geist der Privilegierten einzuschleichen?«
»Es wird dir nicht von Nutzen sein, mich mit Schimpfnamen zu
belegen«, sagte die Leroni Margali.
»Ich habe all diesen Frauen nur eine Frage gestellt, und zwar mit
Hilfe des Wahrheitszaubers, damit ich es in meinem Kopf hören
konnte, falls sie logen: ›Gilt deine Treue Mikhail, Lord Aldaran,
oder der Vai Domna, seiner Lady
Deonara?‹ Erwiderten sie Nein, oder
sagten sie mit Zweifel oder einer Verneinung ihrer Gedanken
Ja, fragte ich sie – und das wieder
unter dem Wahrheitszauber –, ob ihre Treue dem Ehemann, dem Vater,
oder dem Hausherrn gelte. Im Falle dieser Frau bekam ich keine
ehrliche Antwort, sondern nur die Erkenntnis, daß sie alles
verschleierte. Und daher teilte ich Lord Aldaran mit, daß –
vorausgesetzt, es gibt eine Verräterin unter den Frauen – nur sie
diese sein könne.«
Mikhail ließ die Frau los und drehte sie, ohne unsanft dabei zu
werden herum, daß sie ihm ins Gesicht blickte. Er sagte: »Es ist
wahr, daß du lange in meinen Diensten gestanden hast, Mayra.
Deonara behandelte dich stets mit der Freundlichkeit einer
Pflegeschwester. Bin ich es, dem du Böses willst, oder meiner
Lady?«
»Meine Lady ist immer freundlich zu mir gewesen, und ich bin
erbost, sie für eine andere beiseite geschoben zu sehen«, sagte
Mayra mit zitternder Stimme. Die Leronis hinter ihr sagte in leidenschaftslosem
Tonfall: »Nein, Lord Aldaran, auch jetzt spricht sie nicht die
Wahrheit. Sie hegt weder Liebe für Euch, noch für Eure
Lady.«
»Sie lügt!« Mayras Stimme wurde fast zu einem Kreischen. »Sie lügt!
Ich wünsche euch nichts Übles, Fürst, außer dem, was Ihr selbst
über Euch brachtet, indem Ihr die Hündin von Rockraven in euer Bett
genommen habt. Diese Viper ist es, die eure Männlichkeit verhext
hat!« »Ruhe!« Lord Aldaran bebte. Es
schien, als wolle er die Frau schlagen, aber sein Wort allein
genügte. Jeder in Reichweite wurde von Stummheit ergriffen, und
Aliciane zitterte. Nur ein einziges Mal hatte sie Mikhail die – wie
es in der Sprache des Laran hieß –
Befehlsstimme gebrauchen hören. Es gab nicht viele Menschen, die
genügend Kontrolle über ihr Laran
besaßen, um sie anzuwenden; sie war keine angeborene Gabe, sondern
erforderte sowohl Talent als auch ein ausgeklügeltes Training. Und
wenn Mikhail, Lord Aldaran, mit dieser Stimme Ruhe anordnete, war niemand in Hörweite dazu in der
Lage, ein Wort herauszubringen.
Die Stille im Zimmer war so extrem, daß Aliciane die leisesten
Geräusche hören konnte: Kleine Insekten, die im Holzwerk der Wände
knisterten, das furchtsame Atmen der Frauen, das weit entfernte
Rollen des Donners. Es scheint, dachte
sie, daß wir den ganzen Sommer über Donner
hatten. Mehr als je zuvor …An was für einen Unsinn ich doch denke,
wo vor mir eine Frau steht, die meinen Tod hätte bedeuten können,
hätte man sie an meinem Kindbett dienen lassen …
Mikhail blickte die Frau, die zitternd dastand und sich an der
Lehne eines Stuhls aufrechthielt, an. Dann sagte er zu der
Leronis: »Hilf Lady Aliciane. Hilf ihr,
sich zu setzen, oder sich aufs Bett niederzulegen, wenn sie sich
dadurch besser fühlt…« Aliciane spürte, wie Margalis kräftige Hände
sie stützten, ihr in den Stuhl halfen und schüttelte sich
ärgerlich, voller Haß auf die physische Schwäche, die sie nicht zu
kontrollieren vermochte.
Dieses Kind zehrt an
meiner Kraft, wie Donal es nie getan hat … Warum bin ich so
geschwächt? Ist es der böse Wille dieser Frau, ihre Zaubersprüche
…?Margali legte ihre Hände auf Alicianes Stirn, und sie
spürte die besänftigende Ruhe, die sie ausstrahlten. Sie versuchte,
sich unter der Berührung zu entspannen, gleichmäßig zu atmen und
die heftige Unruhe, die sie in den Bewegungen des Kindes in ihrem
Leib spürte, zu besänftigen. Arme Kleine …
auch sie ist geängstigt, und kein Wunder …
Lord Aldarans Stimme sagte: »Mayra, sage mir, warum du mir Böses
willst und versuchst, Lady Aliciane oder ihrem Kind Schaden zu
bringen!«
»Ich soll Euch das sagen?«
»Du weißt, daß du das tun wirst«, sagte Mikhail von Aldaran. »Du
wirst uns sogar mehr sagen, als du selbst je geglaubt hast – ob
freiwillig und ohne Schmerzen zu erleiden – oder unter anderen
Bedingungen. Ich liebe es nicht, wenn man Frauen foltert, Mayra,
aber ich bin ebenso wenig bereit, in meinem Zimmer eine
Skorpion-Ameise zu beherbergen! Erspare uns diesen Konflikt.« Mayra
sah ihn stumm und trotzig an. Mikhail zuckte kaum merklich die
Achseln. Eine Starre, die Aliciane kannte – und der sich zu
widersetzen sie nicht gewagt hätte –, erfaßte sein Gesicht. Er fuhr
fort: »Du entscheidest es selbst Mayra. Margali, bring deinen
Sternenstein. Nein, es ist besser, wenn du Kirizani holen läßt.«
Aliciane zitterte, obwohl Mikhail sich auf seine eigene Art gnädig
erwies. Kiriseth war eine aus einem
halben Dutzend Drogen und den Harzen der Kirisethblume, deren
Pollen den Wahnsinn brachten, wenn der Geisterwind durch die Hügel
blies, destillierte Mixtur. Kirizani
war jener Bestandteil des Harzes, der die Schranken gegen einen
telepathischen Kontakt niederriß und die Gedanken für jeden, der in
sie eindrang, bloßlegte. Die Droge war weniger schlimm als die
Folter, und doch … Sie schrak zurück, als sie die wütende
Entschlossenheit auf Mikhails Gesicht und den lächelnden Trotz der
Frau Mayra sah. Als das Kirizani
gebracht wurde – eine helle Flüssigkeit in einer durchsichtigen
Ampulle –, standen alle schweigend da.
Mikhail entkorkte sie und sagte ruhig: »Wirst du es ohne Widerstand
nehmen, Mayra, oder sollen die Frauen dich festhalten und es in
deine Kehle gießen, so wie man einem Pferd eine Arznei einflößt?«
Das Blut schoß in Mayras Wangen; sie spuckte ihn an. »Ihr glaubt,
Ihr könntet mich mit Hexerei und Drogen zum Sprechen bringen, Lord
Mikhail? Ha – ich verachte Euch! Ihr bedürft meines üblen Willens
nicht – in Eurem Haus und im Leib Eurer verfluchten Mätresse lauert
schon genug! Der Tag wird kommen, an dem Ihr darum betet, kinderlos
gestorben zu sein – aber trotzdem wird es keine weiteren mehr
geben! Ihr werdet keine andere mehr mit ins Bett nehmen, sondern
genauso weiterleben, wie seit dem Tage, an dem Ihr die Hündin von
Rockraven mit ihrer Hexen-Tochter schwanger machtet! Meine Arbeit
ist getan, Vai Dom!« Sie schleuderte
ihm den respektvollen Ausdruck mit höhnischem Spott entgegen. »Mehr
Zeit brauche ich nicht! Von diesem Tag an werdet Ihr weder eine
Tochter noch einen Sohn zeugen können. Eure Lenden werden leer sein
wie ein vom Winter getöteter Baum! Und Ihr werdet weinen und beten
…«
»Bringt diese Todesfee zum Schweigen!« sagte Mikhail. Margali löste
sich von der kraftlosen Aliciane und hob ihre Juwelen-Matrix, aber
die Frau spuckte ein zweitesmal aus, lachte hysterisch, keuchte und
stürzte zu Boden. Während die anderen fassungslos schwiegen, ging
Margali auf sie zu und legte mechanisch eine Hand auf ihre
Brust.
»Lord Aldaran, sie ist tot! Man muß sie dazu konditioniert haben,
bei einem Verhör zu sterben.«
Bestürzt und mit unbeantworteten Fragen auf den Lippen starrte
Aldaran auf den leblosen Körper der Frau. Er sagte: »Jetzt werden
wir weder erfahren, was sie getan hat, noch wer der Feind ist, der
sie hierher geschickt hat. Ich nehme es auf meinen Eid, daß Deonara
nichts von ihr wußte.«
Als enthielten seine Worte eine Frage, legte Margali ihre Hand auf
das blaue Juwel und sagte bedachtsam: »Bei meinem Leben, Lord
Aldaran, Lady Deonara hegt keine bösen Wünsche gegen Lady Alicianes
Kind. Oft genug hat sie mir gesagt, wie sehr sie sich für Euch und
Aliciane freut. Und ich weiß, wann ich die Wahrheit
höre.«
Mikhail nickte, aber Aliciane bemerkte, daß die Linien um seinen
Mund ausgeprägter wurden. Wenn Deonara, eifersüchtig auf Lord
Aldarans Hingabe, Aliciane hätte schaden wollen, wäre es zumindest
verständlich gewesen. Aber wer, so fragte sie sich in ihrer
geringen Kenntnis über die Fehden und Machtkämpfe von Aldaran,
konnte einem Mann, der so edel wie Mikhail war, Böses wollen? Wer
konnte eine Spionin in die Reihen der Kammerfrauen seiner Frau
einschleusen, um dem Kind einer Barragana Schaden zuzufügen oder Laran-verstärkte
Flüche gegen seine Männlichkeit zu schleudern?
»Bringt sie fort«, sagte Aldaran schließlich. Er hatte seine Stimme
noch nicht völlig unter Kontrolle. »Hängt ihre Leiche an die Zinnen
der Burg, damit die Kyorebni sie
zerfetzen können. Sie hat die Bestattungsfeier einer treuen
Dienerin nicht verdient.« Er wartete regungslos das Erscheinen der
hochgewachsenen Wächter ab, die kamen, um Mayras toten Körper
wegzutragen, auszukleiden und aufzuhängen, damit die großen
Raubvögel ihn auseinanderrissen. Aliciane hörte in der Ferne das
Krachen des immer näher kommenden Donners. Aldaran trat zu ihr,
seine Stimme war weich vor Zärtlichkeit.
»Hab keine Furcht mehr, mein Schatz; sie ist dahingegangen, und mit
ihr ihr böser Wille. Wir werden weiterleben und ihre Flüche
verlachen, mein Liebling.« Er sank in einen neben ihr stehenden
Sessel und nahm mit zärtlichem Griff ihre Hand. Durch die Berührung
spürte Aliciane, daß er besorgt und erschreckt war. Aber sie war
nicht stark genug, ihn wieder zu beruhigen. Sie fühlte sich wie vor
einer erneuten Ohnmacht. In ihren Ohren hallten Mayras Flüche wie
die zurückgeworfenen Echos in den Canyons rund um Rockraven, in die
sie als Kind, aus Freude daran, die eigene Stimme tausendfach
vermehrt aus allen Windrichtungen zurückkommen zu hören,
hineingeschrien hatte.
Ihr werdet weder Sohn noch Tochter zeugen …
Eure Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum …
Der Tag wird kommen, an dem Ihr darum betet, kinderlos gestorben zu
sein … Die widerhallenden Laute schwollen an und
überwältigten sie. Aliciane lag tief in ihrem Sessel, nahe daran,
das Bewußtsein zu verlieren.
»Aliciane, Aliciane …« Sie spürte seine starken Arme, wurde
aufgehoben und zu Bett getragen. Er legte sie auf die Kissen
nieder, setzte sich neben sie und streichelte sanft ihr
Gesicht.
»Du darfst dich nicht vor einem Schatten erschrecken, Aliciane.«
Zitternd sagte sie das erste, was ihr in den Sinn kam: »Sie hat
deine Männlichkeit mit einem Fluch belegt, mein Fürst.«
»Ich fühle mich nicht sehr gefährdet«, gab Mikhail mit einem
Lächeln zurück.
»Aber … ich habe es selbst bemerkt und mich gewundert … du hast,
seitdem ich so schwer bin, keine andere in dein Bett genommen, wie
du es sonst zu tun pflegtest.«
Ein schwacher Schatten fuhr über sein Gesicht, und in diesem Moment
waren sich ihre Gedanken so nahe, daß Aliciane ihre Worte
bedauerte. Sie hätte nicht an seiner eigenen Angst rühren dürfen.
Er erwiderte mit fester Stimme, Furcht mit Herzlichkeit
verdrängend: »Was das angeht, Aliciane, so bin ich nicht mehr ein
so junger Mann, daß ich nicht einige Monde enthaltsam leben könnte.
Deonara bedauert es nicht, von mir frei zu sein, glaube ich; meine
Umarmungen haben ihr mehr eine Pflicht bedeutet — und sterbende
Kinder. Und heutzutage scheinen mir, du natürlich ausgenommen, die
Frauen nicht mehr so schön zu sein, wie in den Zeiten meiner
Jugend. Es war für mich keine Anstrengung, nicht um das zu bitten,
was dir zu geben keine Freude gewesen wäre – aber wenn unser Kind
geboren ist und du wieder wohlauf bist, wirst du sehen, ob die
Worte dieser Närrin eine Auswirkung auf meine Männlichkeit hatten.
Wenn du mir keinen Sohn mehr schenken wirst, Aliciane, werden wir
zumindest noch viele freudvolle Stunden zusammen
verbringen.«
Immer noch zitternd erwiderte sie: »Möge der Herr des Lichts es so
einrichten.« Er beugte sich vor und küßte sie sanft, aber die
Berührung seiner Lippen brachte sie nicht nur nahe zusammen,
sondern trieb ihr auch Angst und plötzlichen Schmerz in die
Glieder.
Abrupt richtete er sich auf und rief nach den Frauen. »Helft meiner
Lady.«
Aliciane klammerte sich an seine Hände. »Mikhail, ich habe Angst«,
wisperte sie und fing seinen Gedanken auf. Es
ist tatsächlich kein gutes Omen, wenn sie, die Flüche dieser Hexe
noch im Ohr, in die Wehen kommen sollte … Ebenso spürte sie
die starke Beherrschung, mit der er sich zügelte und seine Gedanken
sofort wieder unter Kontrolle brachte. Er wollte vermeiden, daß
ihre Furcht größer wurde. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt in
etwas hineinsteigern. Mit sanftem Befehlston sagte er: »Du mußt
versuchen, nur an unser Kind zu denken, Aliciane, und ihm Stärke zu
verleihen. Denk nur an unser Kind – und an meine Liebe.«
Es ging auf Sonnenuntergang zu. Wolken ballten
sich auf den Höhen jenseits von Burg Aldaran, mächtige Sturmwolken,
die sich höher und höher türmten. Aber dort, wo Donal in die Höhe
stieg, war der Himmel blau und unbewölkt. Sein schlanker Körper lag
auf einem Gestell aus leichten Hölzern ausgestreckt, zwischen
weiten Schwingen aus dünnstem Leder, das auf einen schmalen Rahmen
gezogen war. Von Luftströmungen getragen stieg er empor, die Hände
nach beiden Seiten ausgestreckt, um die starken Böen von links oder
rechts auszubalancieren. Es war die Luft, die ihn nach oben trug,
und das kleine Matrix-Juwel, das am Kreuzstück befestigt war. Er
hatte den Schwebegleiter selbst gebaut, mit nur wenig Hilfe von den
Stallknechten. Viele Jungen des Haushalts bauten sich ein solches
Spielzeug, sobald sie im Gebrauch der Sternensteine so geübt waren,
daß sie ihre Schwebekünste ohne allzu große Gefahr praktizieren
konnten. Aber die meisten der Burschen nahmen jetzt am Unterricht
teil. Donal hatte sich zu den Höhen der Burg davongemacht und war
alleine emporgestiegen, obwohl er wußte, daß man ihm zur Strafe den
Gebrauch des Gleiters vielleicht für Tage verbieten würde. Er
konnte die Spannungen und die Angst überall in der Burg
spüren.
Eine Verräterin war entdeckt worden, die gestorben war, bevor man
Hand an sie hatte legen können. Ein Todeszauber hatte sie, nachdem
sie Lord Aldarans Männlichkeit mit einem Fluch belegt hatte,
niedergestreckt.
Wie ein Buschfeuer hatte sich der Klatsch auf Burg Aldaran
ausgebreitet, entfacht von den wenigen Frauen, die tatsächlich in
Alicianes Zimmer gewesen waren und alles verfolgt hatten. Sie
hatten zuviel gesehen, um stumm zu bleiben, aber zu wenig, um in
der Lage zu sein, einen wahren Bericht abzugeben.
Flüche waren gegen die kleine Barragana
geschleudert worden, und Aliciane von Rockraven war in die Wehen
gekommen. Die Verräterin hatte Lord Aldarans Männlichkeit mit einem
Fluch belegt – und es traf zu, daß er, der vorher bei jedem
Mondwechsel eine neue Frau zu sich holte, keine andere mehr in sein
Bett nahm. Eine neue, heimliche Frage in den Klatschgesprächen ließ
Donal frösteln. Hatte die Lady von Rockraven seine Männlichkeit so
verzaubert, daß er keine andere mehr wollte, damit sie ihren Platz
in seinem Arm und seinem Herz behielt? Einer der Männer, ein
ungehobelter Kämpe, hatte ein tiefes, andeutungsvolles Lachen
ausgestoßen und gesagt: »Die braucht keine Zaubersprüche. Wenn Lady
Aliciane mir ein Auge zuwürfe, würde ich meine Männlichkeit mit
Freuden verpfänden.« Aber der Waffenmeister hatte streng erwidert;
»Sei still, Radan. Solche Reden ziemen sich nicht vor jungen
Burschen. Achte gefälligst darauf, wer zwischen ihnen steht. Geh an
deine Arbeit. Du bist nicht hier, um schmutzige Reden zu führen!«
Als der Mann ging, sagte der Waffenmeister freundlich: »Solches
Gerede ist ungebührlich, aber es ist nur scherzhaft gemeint, Donal.
Er ist nur betrübt, weil er selbst keine Frau hat, und würde von
jeder anständigen Frau so reden. Auf keinen Fall wollte er deine
Mutter herabsetzen. Im Gegenteil – auf Aldaran wird es viel Freude
geben, wenn Aliciane von Rockraven unserem Herrn einen Erben
schenkt. Du darfst über das gedankenlose Gerede nicht zornig sein.
Wenn du jedem bellenden Hund zuhörst, hast du keine Muße mehr, um
Weisheit zu erlernen. Geh zum Unterricht, Donal, und verschwende
keine Zeit damit, darüber nachzugrübeln, was unwissende Männer über
Menschen reden, die ihnen überlegen sind.«
Donal war gegangen, aber nicht zum Unterricht. Er hatte seinen
Gleiter auf die Zinnen getragen und war in die Luftströmungen
aufgestiegen, auf denen er jetzt ritt und die sorgenvollen
Gedanken, ganz im Rausch des Steigens gefangen, hinter sich ließ.
Er fühlte sich wie ein Vogel, der nach Norden schoß und sich dann
wieder nach Westen wendete, wo die große, blutrote Sonne dicht über
den Gipfeln hing.
So muß sich ein schwebender Falke
fühlen… Unter seinen gefühlvollen Fingerspitzen neigte sich
der Holz-und-Leder-Flügel leicht abwärts. Er sank in das Zentrum
des Luftstroms und ließ sich von ihm abwärts tragen. Sein Gehirn
versank in der Hyper-Bewußtheit des Juwels, sah den Himmel nicht
als blaue Leere, sondern als großes Netzwerk aus Feldern und
Strömen, die man zum Gleiten nutzen konnte. Er schwebte so lange
abwärts, bis es ihm so vorkam, als würde er auf eine große
Felsspitze zurasen und zerschmettern. In letzter Sekunde ließ er
sich von einem Aufwind fortreißen, schwebte mit dem Wind … Er trieb
dahin, ohne Gedanken, aufsteigend, in Ekstase gehüllt.
Der grüne Mond Idriel stand tief am sich rötenden Himmel. Die
Silbersichel Mormollars war der bleichste der Schatten, und der
violette Liriel – der größte der Monde – begann gerade, langsam vom
östlichen Horizont emporzuschweben. Ein leises Krachen aus den
massiven Wolken, die hinter der Burg hingen, ließen Donals
Befürchtungen erneut erwachen. Vielleicht würde man ihn in einer
Zeit wie dieser wegen seiner Drückebergerei vor dem Unterricht
nicht einmal züchtigen – aber wenn er bis nach Sonnenuntergang
ausblieb, würde er bestimmt bestraft werden. Bei Sonnenuntergang
kamen stets starke Winde auf, und vor etwa einem Jahr war ein Page
aus dem Schloß abgestürzt, hatte seinen Gleiter zerschmettert und
sich auf den Felsen den Ellbogen gebrochen. Er hatte Glück gehabt,
daß er dabei nicht umgekommen war. Aufmerksam blickte Donal auf die
Mauern der Burg und suchte nach einem Aufwind, der ihn in die Höhen
tragen konnte. Fand er keinen, mußte er nach unten auf die Böschung
zuschweben und den Gleiter, der zwar leicht, aber sehr sperrig war,
den ganzen Weg hinauftragen. Durch die Wahrnehmungsfähigkeit der
Matrix wurde seine eigene vervielfacht. Er spürte den leichtesten
Lufthauch und erwischte schließlich einen Aufwind, der ihn –
vorausgesetzt, er schwebte vorsichtig – über die Burg hinaus tragen
würde. Es wäre dann kein Problem mehr, auf eines der Dächer
hinabzugleiten.
Von hier oben aus konnte er mit einem Frösteln den aufgedunsenen,
nackten Frauenleib sehen, der an den Zinnen hing. Das Gesicht war
schon von den herumfliegenden Kyorebni
zerfetzt worden. Die Frau war bereits nicht mehr zu erkennen. Donal
schauderte. Auf ihre Art war Mayra stets freundlich zu ihm gewesen.
Hatte sie wirklich seine Mutter verflucht? Er erschauerte. Zum
ersten Mal wurde er sich wirklich des Todes bewußt.
Menschen sterben. Sie sterben wirklich und
werden von Raubvögeln in kleine Stücke zerhackt. Auch meine Mutter
könnte bei dieser Geburt sterben … In plötzlichem Entsetzen
zuckte sein Körper zusammen und er spürte, wie die zerbrechlichen
Schwingen des Gleiters – von der Kontrolle seines Verstandes und
Körpers befreit – flatterten und nach unten glitten, fielen … Rasch
meisterte er die Situation, brachte den Gleiter wieder unter
Kontrolle und schwebte dahin, bis er wieder eine Strömung fand. Er
konnte die schwache Spannung, die sich aufbauende Statik, jetzt
deutlich in der Luft spüren.
Über ihm krachte der Donner; ein Blitzstrahl raste auf die Spitze
von Burg Aldaran zu und hinterließ in Donals Nase den Geruch von
Ozon und Verbranntem. Während des betäubenden Donners sah er das
Flakkern der Blitze in den geballten Wolken über der Burg und
dachte, von plötzlicher Angst erfüllt: Ich muß
nach unten, ich muß hier raus. Es ist nicht ungefährlich, in einem
aufkommenden Sturm zu fliegen … Wieder und wieder war ihm
gesagt worden, sorgsam den Himmel nach Lichtblitzen in den Wolken
abzusuchen, bevor er den Gleiter startete. Ein plötzlicher,
heftiger Abwind erfaßte ihn und schickte das zerbrechliche Gerät
aus Holz und Leder senkrecht nach unten. Donal, jetzt wirklich
verängstigt, klammerte sich fest an die Handgriffe, war aber
vernünftig genug, nicht zu früh dagegen anzukämpfen. Es sah aus,
als würde es ihn auf die Felsen schmettern, aber er zwang sich,
steif auf den Stützbalken liegenzubleiben, während sein Verstand
nach der Gegenströmung suchte. Genau im richtigen Moment spannte er
den Körper, vertiefte sich in die Bewußtheit der Matrix, spürte,
wie er schwebte und die Gegenströmung ihn wieder
aufwärtstrug.
Jetzt. Schnell und vorsichtig. Ich muß auf die
Höhe der Burg hinauf, dann die erste Strömung erwischen, die nach
unten zieht. Ich darf keine Zeit vergeuden … Aber jetzt
fühlte die Luft sich dick und schwer an, und Donal konnte sie nicht
nach Strömungen absuchen. Mit wachsender Angst sandte er sein
Bewußtsein in alle Richtungen, spürte aber nur die starken
magnetischen Ladungen des zunehmenden Sturms.
Mit diesem Sturm stimmt etwas nicht! Er ist
wie der von gestern. Es ist überhaupt kein richtiger Sturm, es ist
etwas anderes. Mutter! Oh, Mutter! Dem verängstigten Jungen,
der sich an die Streben des Gleiters klammerte, schien es, als
könne er Aliciane voller Entsetzen aufschreien hören: »Oh, Donal,
was wird aus meinem Jungen werden!« Er spürte, daß sein Körper
entsetzt zusammenzuckte, fühlte, wie der Gleiter seiner Kontrolle
entglitt, wie er fiel … fiel … Wäre er weniger leicht gewesen und
hätte weniger breite Flügel gehabt, wäre er auf den Felsen
zerschmettert worden, aber die Luftströme trugen ihn, auch wenn
Donal sie nicht lesen konnte. Nach wenigen Augenblicken endete der
Sturz, und er begann seitwärts abzudriften. Jetzt, da er das
Laran – die Kraft zu Schweben, die
Körper und Verstand dem Matrix-Juwel entnahmen – einsetzte, und
sein geübtes Bewußtsein durch die magnetischen Stürme nach
Strömungsspuren forschte, begann Donal, um sein Leben zu kämpfen.
Er zwang die beinahe hörbare Stimme seiner Mutter mit einer solchen
Kraft aus sich hinaus, daß sie vor Entsetzen und Schmerz aufschrie.
Er zwang die Angst, die ihn seinen Körper bereits in Stücke
gerissen auf den Felsspitzen sehen ließ, fort, tauchte ganz in das
verstärkte Laran ein, ließ die Flügel
aus Holz und Leder zu Erweiterungen seiner ausgestreckten Arme
werden und spürte die an ihnen zerrenden, rüttelnden Strömungen,
als träfen sie seine eigenen Hände und Beine. Jetzt … Bring ihn nach oben … Nur so weit … Versuche, ein
paar Längen nach Westen zu gewinnen … Er zwang sich, ganz
schlaff zu werden, als ein weiterer Blitzschlag hinter ihm aus der
Wolke zuckte. Keine Kontrolle … Er nimmt gar
keine Richtung … Hat kein Bewußtsein … Er dachte an die
Regeln der freundlichen Leronis, der er
seine geringen Kenntnisse verdankte: Ein
geübter Geist kann jedwede Naturgewalt meistern … Geradezu
feierlich rief Donal sich dies ins Gedächtnis.
Ich brauche weder Wind, noch Sturm, noch Blitz
zu fürchten, der geübte Geist kann immer … Aber da Donal
erst zehn Jahre alt war, fragte er sich aufgebracht, ob Margali je
während eines Gewitters einen Gleiter geflogen hatte.
Ein ohrenbetäubendes Krachen schaltete seinen Verstand einen Moment
lang aus. Er spürte einen plötzlichen Regenguß auf seinem
fröstelnden Körper und strengte sich an, das Zittern zu stoppen,
das sich anschickte, seinem Verstand die Kontrolle über die
flatternden Schwingen zu entwinden.
Jetzt. Stetig. Abwärts und abwärts, entlang
der Strömung … Auf den Erdboden zu, den Hang entlang … Keine Zeit,
einen anderen Aufwind zu nutzen. Hier unten werde ich vor den
Blitzen sicher sein … Seine Füße berührten fast den Boden,
als ein erneuter heftiger Aufwind die Schwingen erfaßte und ihn
wieder nach oben trug, fort von der Sicherheit der Hänge.
Schluchzend, im Kampf mit dem Apparat, bemühte Donal sich, ihn
wieder nach unten zu zwingen, indem er sich über die Kante warf und
senkrecht herabhängend die Streben über seinem Kopf ergriff,
während die Schwingen seinen trudelnden Fall bremsten. Durch die
Haut fühlte er einen Blitzschlag und sandte alle Kraft aus, ihn
abzulenken und sonstwohin zu
schleudern. Seine Hände klammerten sich krampfhaft an die Streben
über seinem Kopf, als er den Blitz und den ohrenbetäubenden
Donnerschlag hörte und mit verschwommenem Blick einen der großen,
aufrechtstehenden Felsen auf dem Hang unter krachendem Aufbrüllen
in Stücke splittern sah. Donals Füße berührten den Boden. Er
stürzte schwer, überschlug sich mehrmals, spürte, wie die Streben
des Gleiters in Stücke brachen und splitterten. Als er fiel, schoß
ein Schmerz durch seine Schulter, aber er besaß noch genügend Kraft
und Geistesgegenwart, den Körper schlaff werden zu lassen, wie man
es ihm bei den Waffenübungen beigebracht hatte. Er mußte ohne den
Widerstand der Muskeln, der die Knochen brechen lassen konnte,
hinfallen. Schluchzend – mit Prellungen und Quetschungen –, aber
lebend lag er wie betäubt auf dem felsigen Hang und spürte, wie die
Ströme des Blitzes ziellos umherfuhren, während sich das
Donnergrollen von Felsspitze zu Felsspitze fortpflanzte.
Als er wieder zu Atem gekommen war, rappelte er sich auf. Beide
Flügelstreben des Gleiters waren zerbrochen, konnten aber noch
repariert werden. Donal konnte von Glück reden, daß dies nicht auch
mit seinen Armen geschehen war. Der Anblick des zersplitterten
Felsens machte ihn benommen, sein Kopf dröhnte. Aber ihm wurde
bewußt, daß er bei all dem noch das Glück hatte, am Leben zu sein.
Er las das zerbrochene Spielzeug auf, ließ die zersplitterten
Schwingen herabhängen und begann, sich langsam den Hang zu den
Burgtoren hinaufzuschleppen.
»Sie haßt mich«, rief Aliciane entsetzt. »Sie
will nicht geboren werden!«
Durch die Dunkelheit, die ihr Gehirn zu umgeben schien, fühlte sie,
wie Mikhail ihre bebenden Hände ergriff und festhielt.
»Meine Liebste, das ist töricht«, sagte er leise und drückte die
Frau, seine eigenen Ängste fest unter Kontrolle haltend, an sich.
Auch er spürte die Fremdartigkeit der Blitze, die rund um die hohen
Fenster flackerten und krachten, und Alicianes Entsetzen verstärkte
seine eigene Angst. Jemand anders schien im Zimmer zu sein, außer
der geängstigten Frau, außer der ruhigen Margali, die mit gesenktem
Kopf dasaß, niemanden anschaute, ihr Gesicht vom Schimmer des
Matrixsteins blau erleuchtet. Mikhail konnte die besänftigenden
Wellen der Ruhe spüren, die Margali bei dem Versuch, sie alle damit
zu umgeben, ausstrahlte. Er unternahm den Versuch, Körper und Geist
dieser Ruhe hinzugeben, sich in ihr zu entspannen und begann mit
den tiefen, rhythmischen Atemzügen, die man ihn gelehrt hatte.
Schon bald spürte er, daß auch Aliciane ruhiger wurde.
Woher nur, woher das Entsetzen, der Kampf
…
Sie ist es, die Ungeborene … Es ist ihre
Angst, ihr Widerstreben … Geburt ist eine Schicksalsprüfung des
Entsetzens; es muß jemanden geben, sie zu trösten, jemanden, der
sie mit Liebe erwartet… Aldaran hatte bei der Geburt all
seiner Kinder assistiert; er hatte die gestaltlose Angst und
Erregung des ungeformten Verstandes gespürt, die Kräfte
hervorriefen, die dieser Verstand nicht begreifen konnte. Jetzt,
während er in seinen Erinnerungen forschte (War eins von Clarizas
Kindern so stark gewesen? Von Deonaras Babys war keines fähig
gewesen, um sein Leben zu kämpfen. Arme kleine Schwächlinge …),
suchte er nach den ungezielten Gedanken des sich sträubenden
Kindes, die durch die Wahrnehmung des Schmerzes und der Angst
seiner Mutter hin- und hergerissen wurden. Er versuchte,
besänftigende Gedanken von Liebe und Zärtlichkeit auszusenden; er
formte die geistigen Worte nicht für das Kind – denn das Ungeborene
besaß noch keine Kenntnis der Sprache –, sondern für sich und
Aliciane, um ihrer beider Gefühle darauf zu konzentrieren, ihm das
Gefühl von Wärme und Willkommenheit zu vermitteln.
Du darfst keine Angst haben, Kleine. Bald wird
es vorüber sein … Du wirst frei atmen, und wir werden dich in
unseren Armen halten und lieben … Du wirst seit langem erwartet und
innig geliebt … Er bemühte sich, Liebe und Zärtlichkeit
auszustrahlen, und die furchteinflößenden Gedanken an jene Söhne
und Töchter aus seinem Geist zu verbannen, die er verloren hatte.
All seine Liebe hatte ihnen nicht in die Dunkelheit zu folgen
vermocht, die das sich entwickelnde Laran auf ihren Geist geschleudert hatte. Er
versuchte, die Erinnerungen an die schwachen und mitleiderregenden
Anstrengungen von Deonaras Kindern, die nie lange genug gelebt
hatten, um auch nur zu atmen, auszulöschen … Habe ich sie genug geliebt? Hätten ihre Kinder stärker ums
Leben gefochten, wenn ich Deonara mehr geliebt
hätte?
»Zieht die Vorhänge zu«, sagte er einen Moment später, und eine der
Kammerfrauen ging auf Zehenspitzen zum Fenster und schloß den
dunkler werdenden Himmel aus. Aber der Donner grollte weiterhin,
und das Aufflackern des Blitzes war selbst durch die zugezogenen
Vorhänge zu sehen.
»Sieh nur, wie sie sich müht, die Kleine«, sagte die Amme. Margali
stand ruhig auf, trat näher, legte behutsam die Hände um Alicianes
Körper und versenkte ihr Bewußtsein in die Frau, um ihr Atmen und
den Fortgang der Geburt zu steuern. Eine Frau mit Laran, die ein Kind gebar, konnte weder körperlich
untersucht noch berührt werden, da die Gefahr bestand, das
Ungeborene durch eine fahrlässige Berührung zu verletzen oder zu
ängstigen. Das muß die Leronis tun,
indem sie die Wahrnehmungsfähigkeit der Telepathie und ihre
psychokinetischen Kräfte nutzte. Aliciane spürte die besänftigende
Berührung. Ihr angstverzerrtes Gesicht entspannte sich, aber als
Margali sich zurückzog, schrie sie vor Angst auf.
»Oh, Donal, Donal – was wird aus meinem Jungen werden?« Lady
Deonara Ardais-Aldaran, eine schlanke alternde Frau, kam auf
Zehenspitzen näher und nahm Alicianes schmale Hand in die ihre.
Beruhigend sagte sie: »Hab um Donal keine Furcht, Aliciane. Avarra
möge verhüten, daß es notwendig ist, aber ich schwöre dir, daß ich
ihm von diesem Tag an eine solch liebevolle Pflegemutter sein
werde, als sei er einer meiner eigenen Söhne.«
»Du bist freundlich zu mir gewesen, Deonara«, sagte Aliciane, »und
ich habe versucht, dir Mikhail wegzunehmen.«
»Kind, Kind – das ist nicht die Zeit, daran zu denken. Wenn du
Mikhail geben kannst, wozu ich nicht im Stande bin, dann bist du
meine Schwester, und ich werde dich lieben, wie Cassilda Camilla
liebte, das schwöre ich.« Deonara beugte sich vor und küßte die
bleiche Wange Alicianes. »Sei ganz ruhig, Breda; denk nur an die Kleine, die in unsere Arme
kommt. Auch sie werde ich lieben.«
Sanft umarmt vom Vater ihres Kindes und der Frau, die geschworen
hatte, ihr Kind wie ein eigenes in Empfang zu nehmen, wußte
Aliciane, daß man sie trösten wollte.
Und doch, als der Blitz auf den Höhen flackerte und der Donner um
die Mauern der Burg grollte, fühlte sie sich von Angst
durchdrungen. Ist es die Angst des Kindes oder
meine? Ihr Geist schwamm in die Dunkelheit hinein, während
die Leronis sie besänftigte und
Mikhail, Liebe und Zärtlichkeit ausströmend, ihr beruhigende
Gedanken zusandte. Ist es für mich, oder nur
für das Kind? Es schien keine Bedeutung mehr zu haben; sie
konnte nicht weiter sehen. Vorher hatte sie immer ein schwaches
Gespür für das, was folgte, gehabt, aber jetzt schien es, als gäbe
es nichts in der Welt außer ihrer Furcht und der des Kindes, der
gestaltlosen, wortlosen Erregung. Ihr schien, daß die Erregung sich
mit dem Donner verband, daß die sie quälenden Wellen der
Geburtsschmerzen mit dem Kommen und Gehen der Blitze identisch
waren … Als sei der Donner nicht dort draußen auf den Höhen,
sondern in ihrem gequälten Körper existent. Entsetzen und Erregung
dehnten sich in ihr aus … Die Blitze brachten Nervosität und
Schmerzen. Sie rang nach Atem und schrie auf, und fast mit
Erleichterung sank ihr Geist ins Dunkel, in die Stille, ins Nichts
…
»Ai! Sie ist ein wenig ungestüm«, sagte die Amme, die behutsam das
sich sträubende Kind hielt. »Du mußt sie beruhigen, Domna, bevor ich ihr Leben von dem ihrer Mutter
trenne, sonst wird sie sich wehren und zuviel Blut verlieren – aber
sie ist eine kräftige, gesunde Frau!« Margali beugte sich über den
kreischenden Säugling. Das Gesicht war dunkelrot, verzerrt in einem
Aufschrei voller Wildheit; die Augen, zusammengekniffen und fast
geschlossen, waren von strahlendem Blau. Der runde, kleine Kopf war
von dichtem rotem Flaum bedeckt. Margali legte ihre mageren Hände
auf den nackten Körper des Säuglings und stimmte eine beruhigende
Melodie an. Unter ihrer Berührung beruhigte sich das Kind ein wenig
und stellte den Kampf ein; die Hebamme trennte die Nabelschnur und
band sie ab. Aber als die Frau den Säugling nahm und in eine warme
Decke wickelte, begann er wieder zu kreischen und zu strampeln.
Erschreckt die Hand zurückziehend, legte sie ihn nieder.
»Ai! Evanda sei gnädig, sie ist eine von denen! Nun, wenn es groß ist, braucht sich das
kleine Mädchen vor Räubern nicht zu fürchten, wenn es schon jetzt
mit Laran zuschlagen kann. Ich habe bei
einem so kleinen Kind noch nie davon gehört!«
»Du hast sie erschreckt«, sagte Margali. Aber als sie das Kind
nahm, schwand ihr Lächeln. Wie alle Damen Deonaras hatte auch sie
die anmutige Aliciane geliebt. »Armes Kind, eine so liebevolle
Mutter zu verlieren, und so früh.«
Mikhail von Aldaran, das Gesicht in großem Schmerz verzerrt, kniete
neben dem Körper der Frau, die er geliebt hatte, nieder. »Aliciane!
Aliciane, meine Liebste«, sagte er. Dann hob er den Kopf. Sein
Gesicht zeigte Bitterkeit. Deonara hatte Margali den in eine Decke
gewickelten Säugling abgenommen und hielt ihn mit dem Heißhunger
verhinderter Mutterschaft an ihre schmächtige Brust
gepreßt.
»Du bist nicht unzufrieden darüber, Deonara – daß keiner mit dir
wetteifern wird, diesem Kind Mutter zu sein, nicht wahr?«
»Solche Worte sind deiner nicht würdig, Mikhail«, erwiderte
Deonara, Alicianes Kind eng an sich drückend. »Ich habe Aliciane
geliebt. Möchtest du, daß ich ihr Kind jetzt von mir weise? Kann
ich meine Liebe nicht am besten dadurch zeigen, daß ich es so
liebevoll aufziehe, als sei es mein eigenes? Sonst nimm sie, mein
Gatte, bis du eine andere Geliebte findest.« So sehr sie sich auch
mühte – Lady Aldaran konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht
zurückhalten. »Sie ist dein einziges Kind. Und wenn sie jetzt schon
Laran besitzt, wird sie viel Fürsorge
brauchen. Meine armen Babys haben nicht einmal so lange gelebt.«
Sie legte das Kind in Dom Mikhails Arme, der es mit unendlicher
Zärtlichkeit und Sorge ansah.
Maryas Fluch hallte in seinem Kopf wider: Du wirst keine andere in
dein Bett nehmen … Deine Lenden werden leer sein wie ein vom Winter
getöter Baum. Als teile sich sein Entsetzen dem Säugling in seinen
Armen mit, begann dieser erneut zu strampeln und zu schreien.
Hinter dem Fenster tobte der Sturm.
Dom Mikhail schaute in das Gesicht seiner Tochter. Dem kinderlosen
Mann erschien sie unendlich kostbar; und das würde sie um so mehr
sein, falls der Fluch sich bewahrheiten sollte. Steif lag sie in
seinem Arm und schrie. Ihr kleines Gesicht war verzerrt, als
versuche sie, die winzigen rosa Fäuste voll Zorn geballt, die Wut
des Sturms zu übertreffen. Er konnte in ihrem Gesicht schon ein
verschwommenes Miniaturbild Alicianes erkennen – die geschwungenen
Brauen, die hohen Wangenknochen, die Augen von strahlendem Blau,
der Flaum aus rotem Haar.
»Aliciane starb, um mir dieses große Geschenk zu machen. Sollen wir
dem Kind zur Erinnerung den Namen seiner Mutter geben?« Deonara
schreckte zurück. »Willst du deiner einzigen Tochter den Namen
einer Toten verleihen, mein Fürst? Du solltest einen suchen, der
besseres verheißt!«
»Wie du wünschst. Gib ihr einen Namen, der dir gefällt,
Domna.« Zögernd sagte Deonara: »Ich
wollte unsere erste Tochter Dorilys nennen, hätte sie lange genug
gelebt, um einen Namen zu bekommen. Sie soll diesen Namen tragen,
als Zeichen dafür, daß ich ihr eine Mutter sein werde.« Sie
berührte die rosige Wange des Kindes mit dem Finger. »Wie gefällt
dir dieser Name, kleine Frau? Schau – sie schläft. Sie ist vom
vielen Schreien erschöpft …«
Hinter den Fenstern verebbte der Sturm und erstarb, und kein
Geräusch war zu hören, außer dem verhaltenen Trommeln der letzten
Regentropfen.
3
Elf Jahre später
Es war die dunkle Stunde vor der
Morgendämmerung. Leise fiel Schnee auf das Kloster von Nevarsin,
das unter tiefem Schnee begraben war. Obwohl es keine Glocke gab,
die sie morgens weckte, erwachten in jeder Zelle und jedem
Schlafraum die Brüder, Novizen und Schüler aus dem Schlaf, als
hätten sie ein unhörbares Signal gehört.
Allart Hastur von Elhalyn wachte abrupt auf. Auch in seinem Kopf
war etwas erklungen, für das er empfänglich war. In den ersten
Jahren seines Hierseins hatte er oft darüber hinweggeschlafen. In
diesem Kloster würde niemand einen anderen wecken; es war ein
Bestandteil der Ausbildung, daß die Novizen das Unhörbare hörten
und das Unsichtbare sahen.
Die Kälte spürte er nicht, obwohl er vorschriftsmäßig nur mit einem
Umhang bedeckt war; inzwischen hatte er seinen Körper so weit unter
Kontrolle, daß er genug Wärme erzeugte, um ihn während des Schlafs
nicht frieren zu lassen. Ohne ein Licht anzuzünden stand er auf,
zog den Umhang über die einfache Unterkleidung, die er bei Tag und
Nacht trug, und glitt mit den Füßen in die strohgeflochtenen
Sandalen. Er steckte das kleine Gebetbuch, den Federkasten und das
versiegelte Tintenhorn, die Schale und einen Löffel in seine
Taschen. Damit war er mit allem ausgestattet, was ein Mönch
benutzen und besitzen durfte. Dom Allart Hastur war noch kein
vollvereidigter Bruder von Sankt-Valentin-imSchnee von Nevarsin. Es
würde noch ein Jahr dauern, bis er die letzte Brücke, die ihn von
der unter ihm liegenden Welt trennte, hinter sich würde abbrechen
können. Es war eine beunruhigende Welt, an die er sich jedesmal
erinnerte, wenn er die Lederriemen seiner Sandalen anzog; denn in
der Welt der Güter galt das Wort Sandalenträger als äußerste Beleidigung für einen
Mann und unterstellte weibisches Benehmen oder noch Schlimmeres.
Selbst jetzt, als er den Riemen befestigte, sah sich Allart
gezwungen, seinen Geist aufgrund der Erinnerung zu beruhigen. Er
machte drei leichte Atemzüge – Pause – wiederholte sie und murmelte
dazu ein Gebet gegen die Ursache seiner Erregung. Er war sich der
Ironie, die darin lag, schmerzlich bewußt.
Bete ich für den Frieden meines Bruders, der
mir diese Beleidigung zugefügt und mich um meiner Gesundheit willen
hierher getrieben hat? Als er merkte, daß er noch immer
Ärger und Groll verspürte, wiederholte er das rituelle Atmen,
verbannte den Bruder entschlossen aus seinen Gedanken und rief sich
die Worte des Vorstehers ins Gedächtnis.
»Du hast keine Macht über die Welt oder ihre Dinge, mein Sohn; du
hast jedwedem Wunsch nach ihr entsagt. Die Macht, die zu erwerben
du hierher kamst, ist die Macht über die Dinge im Innern. Friede
wird nur dann einkehren, wenn du dir voll bewußt wirst, daß deine
Gedanken nicht von außen kommen. Sie kommen von innen und sind
dadurch gänzlich dein. Es sind die einzigen Dinge in diesem
Universum, über die man gerechterweise vollkommene Macht haben
darf. Du, nicht deine Gedanken und Erinnerungen, beherrschst deinen
Geist. Du – und niemand anders – bist es, der sie kommen und gehen
heißt. Der Mann, der seinen eigenen Gedanken erlaubt, ihn zu
quälen, ist wie der Mann, der eine Skorpion-Ameise an seine Brust
drückt und ihr befiehlt, ihn wiederholt zu beißen.«
Allart wiederholte die Übung. Sobald er sie beendet hatte, war die
Erinnerung an seinen Bruder aus seinen Gedanken verschwunden.
Für ihn gibt es hier keinen Platz, nicht
einmal in meinen Gedanken und Erinnerungen. Beruhigt, mit
weißen Atemwolken vor dem Mund, verließ er die Zelle und bewegte
sich leise den langen Gang hinunter.
Die Kapelle, zu erreichen durch einen kurzen Weg im herabfallenden
Schnee, war der älteste Teil des Klosters. Vor vierhundert Jahren
war die erste Gruppe von Brüdern hierher gekommen, um hoch über der
Welt, der sie zu entsagen wünschten, ihr Kloster aus dem Fels des
Bergs zu graben. Sie hatten die kleine Nische ausgehöhlt, in der
der Sage nach Sankt-Valentin-im-Schnee sein Leben aushauchte. Um
die sterblichen Überreste des Eremiten herum war die Stadt
gewachsen: Nevarsin, die Schneestadt.
Jetzt gab es hier mehrere Gebäude, von denen jedes einzelne,
ungeachtet der Hilfsmittel dieser Zeit, durch die Hände aller
Mönche entstanden war. Die Brüder waren stolz darauf, nicht einen
einzigen Stein mit Hilfe einer Matrix bewegt, sondern alles mit
Händen und Geist geschaffen zu haben.
Die Kapelle war dunkel. Ein einzelnes kleines Licht glühte in jenem
Schrein, in dem die Statue des Heiligen Lastenträgers über der
letzten Ruhestätte des Heiligen stand. Mit ruhigen Bewegungen und
geschlossenen Augen, wie es die Regeln verlangten, wandte Allart
sich seinem Platz in den Bankreihen zu. Wie ein Ganzes kniete die
Bruderschaft nieder. Allart, dessen Augen noch immer
vorschriftsmäßig geschlossen waren, hörte das Fußrascheln und das
gelegentliche Straucheln eines Novizen, der sich noch auf den
äußeren, statt auf den inneren Blick verlassen mußte, um seinen
ungeschickten Körper durch die Dunkelheit des Klosters zu bewegen.
Die Schüler, noch nicht vereidigt und ohne geringste Ausbildung,
stolperten in der Dunkelheit. Sie verstanden noch nicht, weshalb
die Mönche Licht weder erlaubten noch benötigten. Flüsternd,
einander anrempelnd, stolperten sie und fielen manchmal hin, aber
schließlich befanden sich alle auf den ihnen zugewiesenen Plätzen.
Ohne ein wahrnehmbares Signal erhoben sie sich in einer einzigen,
kontrollierten Bewegung, als folgten sie einem unsichtbaren Signal
des Pater Vorsteher. Ihre Stimmen erhoben sich zur Morgenhymne:
»Eine einzige Macht schuf
Himmel und Erde,
Berge und Täler,
Dunkel und Licht;
Mann und Frau,
Mensch und Nichtmensch.
Diese Macht ist nicht zu
sehen,
Ist nicht zu hören,
Ist nicht zu ermessen.
Von nichts außer dem Geist, der teilhat an
dieser Macht. Ich nenne sie göttlich …«
Das war der Augenblick eines jeden Tages, in
dem Allarts innere Fragen, Sehnsüchte und Sorgen völlig
verschwanden. Wenn er die Stimmen seiner Brüder singen hörte, alte
und junge, kindlich schrill oder altersrauh, wenn seine eigene
Stimme sich in dem großen Konsens verlor, dann sah er sich nicht
mehr in dem Gefühl einer getrennt suchenden und fragenden Einheit.
Schwebend ruhte er in dem Wissen, daß er der Teil eines Größeren
war, ein Teil der großen Macht, die die Bewegung der Monde, Sterne,
der Sonne und des dahinterliegenden unbekannten Universums
aufrechterhielt; daß er hier einen wahrhaften Platz in der Harmonie
besaß; daß er, wenn er verschwand, ein Loch von AllartGröße in
einem universellen Geist hinterließ; daß er etwas war, das nicht
ersetzt oder verändert werden konnte. Wenn er den Gesang hörte, war
er ganz in Frieden versunken. Der Klang seiner eigenen Stimme, ein
ausgebildeter Tenor, erweckte Freude in ihm, aber nicht mehr, als
der Klang jeder anderen. Ihm gefiel selbst die rauhe und unmelodiös
zitternde Stimme des neben ihm stehenden Bruders Fenelon. Immer,
wenn er mit seinen Brüdern sang, fielen Allart die ersten Worte
ein, die er über Sankt-Valentin-im-Schnee gelesen hatte, Worte, die
ihn während der Jahre seiner größten Qual erreicht, und ihm zum
ersten Mal, seit er der Kindheit entwachsen war, Frieden gegeben
hatten.
»Jeder von uns ist wie eine einzelne Stimme in einem großen Chor,
eine Stimme wie keine zweite. Jeder von uns singt einige Jahre in
diesem großen Chor, dann ist seine Stimme für immer verstummt.
Andere nehmen dann ihren Platz ein. Aber jede Stimme ist
einzigartig, keine ist schöner als die andere, keine kann das Lied
einer anderen singen. Nichts nenne ich Sünde, außer dem
Unterfangen, das Lied eines anderen oder mit eines anderen Stimme
zu singen.«
Und Allart war beim Lesen dieser Worte klargeworden, daß er seit
seiner Kindheit auf Befehl seines Vaters und seiner Brüder, der
Hauslehrer, Waffenmeister und Stallknechte, der Untergebenen und
Vorgesetzten eine Melodie zu singen versucht hatte – mit einer
Stimme, die seiner eigenen nicht entsprach. Er war ein Cristofero geworden, was man bei einem Hastur für
unziemlich hielt; immerhin war er ein Nachkomme von Hastur und
Cassilda, ein Nachkomme von Göttern, einer, der Laran besaß – ein Hastur von Elhalyn, aus der Nähe
der heiligen Stätten von Hali, in denen die Götter einst gewandelt
waren. Seit undenklichen Zeiten beteten die Hasturs den Herrn des
Lichts an. Und doch war Allart ein Cristofero geworden, hatte seine Brüder verlassen
und auf sein Erbe verzichtet. Er war hierher gekommen, um Bruder
Allart zu sein; seine Herkunft war unter den Brüdern von Nevarsin
fast vergessen.
Sich selbst vergessend, und doch seines individuellen und
einzigartigen Platzes in Chor, Kloster und Universum völlig bewußt,
sang Allart die langen Hymnen. Später ging er, noch immer nüchtern,
an die ihm zugewiesene Morgenarbeit, die darin bestand, daß er den
Novizen und Schülern des äußeren Refektoriums das Frühstück
brachte. Er trug die dampfenden Kannen mit Tee und heißem
Bohnenbrei zu ihnen und goß das Essen in Schalen und Krüge, wobei
er bemerkte, wie sich die kalten Hände der Jungen an die Hitze
schmiegten und versuchten, sich zu wärmen. Die meisten der Kleinen
waren zu jung, um die Technik der inneren Erwärmung schon zu
beherrschen, und Allart wußte, daß einige von ihnen unter ihren
Umhängen in Decken gewickelt waren. Er spürte eine unbefangene
Sympathie für sie und erinnerte sich an seine eigenen frühen
Kältequalen. Damals, als sein Verstand noch nicht gelernt hatte,
den Körper zu erwärmen, war ihm nicht anders gewesen. Sie aber
bekamen heißes Essen und schliefen mit Extradecken. Je mehr sie die
Kälte spürten, desto eher würden sie sich bemühen, sie zu besiegen.
Allart blieb stumm (obwohl er wußte, daß er sie hätte tadeln
sollen), als sie über die Schlichtheit des Essens maulten. Hier, in
den Quartieren der Kinder, wurde ein im Vergleich reichliches,
üppiges Essen serviert. Er selbst hatte, seit er der vollen
mönchischen Lebensweise beigetreten war, nur zweimal eine warme
Mahlzeit erhalten; und der Grund dafür war gewesen, daß er in den
tiefen Fassen besonders gute Arbeit bei der Rettung eingeschneiter
Reisender geleistet hatte. Pater Vorsteher war der Meinung gewesen,
die Unterkühlung seines Körpers habe einen Punkt erreicht, die
seine Gesundheit bedrohe. Deswegen hatte er ihm befohlen, warme
Nahrung zu essen und einige Tage unter zwei Extradecken zu
schlafen. Unter gewöhnlichen Bedingungen hatte Allart sich dermaßen
unter Kontrolle, daß Sommer und Winter ihm nichts bedeuteten. Sein
Körper zog aus jeder Nahrung, ob heiß oder kalt, vollen
Nutzen.
Ein betrübter kleiner Bursche, ein verwöhntes Kind von einem der
Tiefland-Güter, mit sorgfältig geschnittenem, sich um sein Gesicht
kräuselndem Haar, zitterte – obwohl in Umhang und Decke gehüllt –
so heftig, daß Allart, als er ihm eine zweite Portion Brei gab (die
heranwachsenden Jungen konnten essen, soviel sie wollten)
freundlich sagte: »Bald wirst du die Kälte nicht mehr spüren. Das
Essen wird dich wärmen. Und du bist warm gekleidet.«
»Warm?« sagte das Kind ungläubig. »Ich habe keinen Pelzumhang mehr.
Ich glaube, ich werde vor Kälte sterben!« Er war den Tränen nahe,
und Allart legte mitfühlend eine Hand auf seine Schulter.
»Du wirst nicht sterben, kleiner Bruder. Du wirst lernen, daß dir
ohne Kleidung warm sein kann. Weißt du, daß die Novizen ohne Decke
und Umhang nackt auf dem Stein schlafen? Und bisher ist hier noch
niemand vor Kälte gestorben. Auch Tiere tragen keine Kleider. Ihre
Körper sind an das Wetter, in dem sie leben, angepaßt.« »Tiere
haben ein Fell«, protestierte das Kind mürrisch. »Ich habe nur
meine Haut.«
Allart lachte und sagte: »Und das ist der Beweis dafür, daß du
keinen Pelz brauchst; denn brauchtest du einen, um dich warm zu
halten, wärst du mit einem Fell auf die Welt gekommen, kleiner
Bruder. Dir ist kalt, weil dir seit deiner Kindheit erzählt wurde,
daß man im Schnee friert. Und dein Verstand hat diese Lüge
geglaubt; aber die Zeit wird kommen, noch vor dem Sommer, und du
wirst barfuß durch den Schnee laufen und keinerlei Unbehagen
fühlen. Jetzt glaubst du mir noch nicht, aber denke an meine Worte,
Kind. Iß jetzt deinen Brei und achte darauf, wie er im Brennkessel
deines Körpers zu arbeiten beginnt, um deinen Gliedern Wärme zu
bringen.« Er tätschelte die tränenbenetzte Wange des Jungen und
fuhr mit seiner Arbeit fort.
Auch Allart hatte einst gegen die strenge Disziplin der Mönche
aufbegehrt; aber er hatte ihnen getraut, und ihre Versprechungen
waren ehrlich gewesen. Nun hatte er seinen Frieden. Er hielt seinen
Geist unter Kontrolle und lebte nur einen Tag zur gleichen Zeit,
ohne den quälenden Druck der Vorausschau. Sein Körper war ihm ein
williger Diener geworden und tat, was ihm aufgetragen wurde, ohne
mehr zu verlangen, als er für sein Wohlergehen und seine Gesundheit
brauchte.
Über die Jahre hatte Allart vier Gruppen dieser Kinder ankommen
sehen. Sie hatten vor Kälte geweint, sich über das karge Essen und
die kalten Betten beklagt, waren verzogen und anspruchsvoll gewesen
– und in ein, zwei oder drei Jahren würden sie weggehen, fürs
Überleben ertüchtigt, mit viel Wissen über ihre Geschichte und
fähig, die eigene Zukunft zu beurteilen. Und das würde auch für
diese hier gelten, einschließlich des verzogenen kleinen Jungen,
der Angst hatte, ohne Fellumhang vor Kälte zu sterben. Sie würden
abgehärtet und ertüchtigt davongehen. Unwillkürlich bewegte sich
Allarts Geist in die Zukunft, er versuchte zu sehen, was aus dem
Kind werden würde, versuchte, sich selbst zu bestätigen. Er hatte
es gewußt – seine Strenge zu dem Jungen war
gerechtfertigt…
Allart zuckte plötzlich zusammen. Seine Muskeln versteiften sich,
wie sie es seit dem ersten Jahr hier nicht mehr getan hatten.
Automatisch atmete er, um sie zu entspannen, aber die Angst blieb.
Ich bin nicht hier. Ich kann mich im nächsten
Jahr nicht in Nevarsin sehen … Bedeutet das meinen Tod? Oder werde
ich fortgehen? Heiliger Lastenträger, gib mir
Kraft…
Das war es, was ihn hierher gebracht hatte. Er war nicht, wie
manche anderen Hasturs, ein Emmasca –
weder Mann noch Frau, dafür aber langlebig und steril. Obwohl es in
diesem Kloster Mönche gab, die tatsächlich so geboren worden waren,
und nur hier mit dem, was in dieser Zeit als Heimsuchung galt, zu
leben gelernt hatten. Nein, Allart hatte seit seiner Kindheit
gewußt, daß er ein Mann war. Und er war so ausgebildet worden, wie
es dem Sohn einer königlichen Linie, der an fünfter Stelle vom
Thron des Reiches stand, angemessen war. Aber schon als Kind hatte
er eine andere Sorge gehabt.
Er hatte angefangen, die Zukunft zu sehen, ehe er sprechen konnte.
Einmal, als sein Onkel gekommen war, um ihm ein Pferd zu bringen,
hatte er den Mann erschreckt, indem er ihm sagte, daß er sich
freue, das Schwarze statt des Grauen zu bekommen, mit dem er zuerst
aufgebrochen sei.
»Woher weißt du, daß ich zuerst mit dem Grauen aufgebrochen bin?«
hatte der Mann gefragt.
»Ich habe gesehen, wie du mir den Grauen brachtest,« hatte Allart
erwidert, »und dann habe ich gesehen, wie du das schwarze Pferd
nahmst, dein Bündel herunterfiel und du umkehrtest und überhaupt
nicht kamst.«
»Bei der Gnade des Aldones«, hatte der Mann geflüstert. »Es stimmt.
Beinahe hätte ich mein Bündel im Paß verloren. Wäre es so gekommen,
hätte ich wegen ungenügender Vorräte für die Reise umkehren
müssen.«
Nur allmählich war Allart die Natur seines Laran bewußt geworden. Er sah nicht nur die
wirkliche, sondern jede mögliche
Zukunft. Sie breiteten sich fächerförmig vor ihm aus, und jede
seiner Bewegungen erzeugte ein Dutzend neuer Alternativen. Mit
fünfzehn, als er zum Mann erklärt wurde und vor den Rat der Sieben
trat, um mit dem Zeichen seines Hauses tätowiert zu werden, wurden
ihm die Tage und Nächte zur Qual, denn er konnte bei jedem Schritt
ein Dutzend Straßen und hundert Alternativen, von denen jede
mehrere neue hervorbrachte, vor sich sehen, bis er paralysiert war
und sich aus Angst vor dem Bekannten und Unbekannten nicht mehr zu
bewegen wagte. Er wußte nicht, wie er es abschalten konnte, und
konnte nicht damit leben. Bei den Waffenübungen war er stets wie
gelähmt, denn bei jedem Hieb sah er ein Dutzend seiner eigenen
Bewegungen, die den anderen verstümmeln oder töten konnten. Jeder
auf ihn gezielte Hieb barg drei Möglichkeiten, zu treffen oder
danebenzugehen. Die Waffenübungen wurden für ihn zu einem solchen
Alptraum, daß er schließlich unbeweglich vor dem Waffenmeister
stand, zitternd wie ein verschrecktes Mädchen und unfähig, auch nur
das Schwert zu heben. Die Leronis
seiner Familie hatte versucht, in seinen Verstand einzudringen und
ihm einen Ausweg aus diesem Labyrinth zu zeigen, aber Allart war
von den verschiedenen Richtungen, in die ihre Versuche abzielten,
ebenfalls wie gelähmt. Mit der zunehmenden Empfindsamkeit Frauen
gegenüber hatte er sehen können, wie er sie packte und
würgte.
Schlußendlich hatte er sich in seinem Zimmer verborgen, sich einen
Feigling und Narren schelten lassen und sich geweigert, eine
Bewegung oder einen einzigen Schritt zu tun, aus Angst vor dem, was
geschehen konnte. Er hatte sich für einen Sonderling, einen
Verrückten gehalten …
Als er schließlich soweit gewesen war, die lange, schreckliche
Reise hinter sich zu bringen, hatte er hinter jedem Schritt einen
falschen gesehen, der ihn in den Abgrund stürzen konnte, wo er tot
oder schwer verletzt tagelang auf den Felsen unterhalb des Pfades
lag. Er hatte sich fliehen und umkehren sehen. Dann hatte der Pater
Vorsteher ihn begrüßt, sich seine Geschichte angehört und gesagt:
»Du bist weder ein Sonderling noch ein Verrückter, Allart, aber du
leidest. Ich kann nicht versprechen, daß du hier deinen wahren Weg
finden oder geheilt werden wirst, aber vielleicht können wir dich
lehren, damit zu leben.« »Die Leronis
glaubt, ich könne es mit einer Matrix kontrollieren, aber ich war
zu ängstlich«, hatte Allart gestanden, und zum ersten Mal das
Gefühl verspürt, frei von Angst zu sprechen. Angst war eine
verbotene Sache, Feigheit eine Untugend. Ein Hastur sprach nicht
über solche Dinge.
Pater Vorsteher hatte genickt und gesagt: »Du hast recht gehandelt,
die Matrix zu fürchten. Sie hätte dich durch deine Angst
kontrollieren können. Vielleicht können wir dir einen Ausweg
zeigen. Wenn es mißlingt, kannst du vielleicht lernen, mit deinen Ängsten zu leben. Als erstes mußt du
lernen, daß du sie selbst erzeugst.«
»Das habe ich immer gewußt. Ich habe mich ihretwegen hinreichend
schuldig gefunden …« protestierte Allart, aber der alte Mönch hatte
gelächelt.
»Nein. Wenn du wirklich geglaubt hast, sie seien dein, würdest du weder Schuld noch Ablehnung oder
Verdruß fühlen. Was du siehst, kommt von außerhalb deines Ichs und
befindet sich jenseits deiner Kontrolle. Aber deine Ängste sind
dein, und nur dein; wie deine Stimme, deine Finger oder deine
Erinnerungen, und daher ist es an dir, sie zu kontrollieren. Wenn
du dich der Angst gegenüber machtlos fühlst, hast du noch nicht
zugegeben, daß sie dein ist und du mit ihr nach deinem Willen
verfahren kannst. Kannst du die Rryl
spielen?«
Von diesem Gedankensprung verblüfft, bestätigte Allart, daß man ihn
unterrichtet hatte, die kleine Handharfe leidlich zu bedienen.
»Wenn die Saiten am Anfang nicht die von dir gewünschten Töne
hervorbrachten, hast du dann das Instrument verflucht oder deine
ungeschickten Hände? Irgendwann, vermute ich, kam die Zeit, als
deine Finger auf deinen Willen reagierten. Verfluche nicht dein
Laran, solange dein Geist nicht
geschult wurde, es zu kontrollieren.« Er ließ Allart einen Moment
darüber nachdenken und sagte dann: »Die Wege der Zukunft, die du
siehst, kommen von außen. Sie werden weder von Erinnerungen noch
von Furcht erzeugt. Aber die Furcht entsteht in dir und lähmt deine
Fähigkeit, dich inmitten verschiedener Wege zu bewegen. Du bist es,
der die Furcht erschafft. Wenn du lernst, deine Angst zu
kontrollieren, kannst du furchtlos einen Blick auf die vielen
Pfade, die du betreten kannst, werfen und auswählen, welchen du
einschlagen willst. Deine Angst ist wie die ungelernte Hand auf der
Harfe, die den Klang verzerrt.«
»Aber wie kann ich vermeiden, ängstlich zu sein? Ich will mich nicht fürchten.«
»Dann sag mir«, sagte Pater Vorsteher milde, »welche der Götter die
Angst wie einen Fluch in dich legen?« Beschämt war Allart
verstummt, und der Mönch sagte ruhig: »Du sprichst davon, ängstlich
zu sein. Doch Angst ist etwas, das du
aus Mangel an geistiger Kontrolle in dir erzeugst. Du wirst lernen,
es zu verstehen, wenn du dich entscheidest, ängstlich zu sein. Das
erste, was du tun mußt, ist zu lernen, daß die Angst dein ist, und
daß du sie kommen und gehen heißen kannst. Fange damit an: Immer
wenn du die Angst spürst, die eine Entscheidung verhindert, sage
dir selbst: ›Was macht mich ängstlich? Warum habe ich mich
entschieden, Angst zu spüren, die meine Entscheidung verhindert,
statt die Freiheit der Entscheidung zu wählen?‹ Angst ist ein Weg,
dir selbst zu verbieten, frei zu wählen, was du als nächstes tun
wirst; ein Weg, die Reflexe deines Körpers, keinesfalls jedoch die
Bedürfnisse des Geistes für dich entscheiden zu lassen. Und wie du
mir berichtetest, hast du in letzter Zeit meist beschlossen, nichts
zu tun, damit nichts von dem, das du fürchtest, über dich kommen
kann. Also wurden die Entscheidungen nicht von dir, sondern von
deiner Angst getroffen. Damit fang an, Allart. Ich kann nicht
versprechen, dich von ihr zu befreien, nur, daß die Zeit kommen
wird, da du ihrer Herr wirst. Und dann wird sie dich nicht länger
lähmen.« Dann hatte er gelächelt und gesagt: »Du bist doch deswegen
hierher gekommen, oder?«
»Ich hatte mehr Angst zu bleiben, als zu kommen«, erwidert Allart
und schüttelte sich.
Pater Vorsteher hatte aufmunternd gesagt: »Immerhin konntest du
zwischen einer größeren und einer geringeren Angst wählen. Du mußt
jetzt lernen, sie zu kontrollieren und über sie hinwegzuschauen. Es
wird ein Tag kommen, an dem du weißt, daß sie dein Diener ist, der
sich deinem Willen unterwirft.«
»Mögen die Götter es geben«, hatte Allart zitternd erwidert. So
hatte sein Leben hier begonnen … und währte nun sechs Jahre lang.
Langsam, Schritt für Schritt, hatte Allart die Ängste und
Forderungen seines Körpers gemeistert. Er hatte gelernt, unter den
verwirrenden, fächerförmig ausgebreiteten Möglichkeiten der Zukunft
die am wenigsten schädliche auszuwählen. Nach und nach war seine
Zukunft enger geworden. Und jetzt sah er sich nur noch hier,
erlebte nur einen Tag zur gleichen Zeit und tat, was er mußte…
Nicht mehr und nicht weniger. Und nun, nach sechs Jahren, wurde
das, was er vor sich sah, plötzlich zu einem verwirrenden Strom von
Bildern: Er sah eine Reise, Felsen und Schnee; eine fremde Burg,
seine Heimat, das Gesicht einer Frau … Allart bedeckte das Gesicht
mit den Händen, befand sich erneut im Griff der alten, lähmenden
Angst.
Nein! Nein! Ich will nicht! Ich will hier
bleiben, für mein eigenes Ziel leben, niemandes andern Lied singen,
und nicht mit eines anderen Stimme …
Sechs Jahre lang war er seiner Bestimmung überlassen gewesen und
nur den Zukunftsmöglichkeiten eigener Entscheidungen unterworfen.
Jetzt brach das Draußen wieder über ihn herein. Traf außerhalb des
Klosters jemand Entscheidungen, die ihn auf die eine oder andere
Art berührten? All die Angst, die er in den vergangenen Jahren
unterdrückt hatte, stieg in ihm wieder auf. Und langsam, indem er
atmete, wie es ihm gelehrt worden war, meisterte er sie
wieder.
Die Angst ist mein. Ich verfüge über sie, und
ich allein kann wählen … Erneut versuchte er unter den
bedrängenden Bildern einen Pfad zu sehen, auf dem er Bruder Allart
bleiben und im Frieden seiner Zelle auf seine Art für die Zukunft
der Welt arbeiten konnte …
Aber einen solchen Zukunftspfad gab es nicht, und das machte ihm
eines klar: Welche Entscheidung von außen auch immer über ihn
hereinbrach, sie würde so sein, daß er sich ihr nicht entziehen
konnte. Lange Zeit kämpfte er mit sich, kniete auf dem kalten
Steinboden der Zelle und versuchte sowohl seinen widerstrebenden
Körper als auch den Geist zu zwingen, diese Erkenntnis zu
akzeptieren. Es gelang ihm schließlich, seine Angst zu meistern. Er
wußte jetzt, daß er die Macht dazu hatte. Wenn die Herausforderung
kam, würde er ihr furchtlos begegnen.
Um die Mittagszeit hatte Allart genug von den
sich endlos verzweigend vor ihm ausbreitenden Zukunftsmöglichkeiten
gesehen, um zumindest einen Teil dessen, was ihm bevorstand, zu
erkennen. Er hatte das Gesicht seines Vaters – zornig,
schmeichelnd, entgegenkommend – in diesen Visionen nun häufig genug
gesehen, um wenigstens teilweise zu wissen, welche Prüfung ihm als
erste bevorstand.
Als Pater Vorsteher ihn zu sich rufen ließ, konnte er dem alten
Mönch mit Ruhe und leidenschaftsloser Selbstkontrolle
gegenübertreten. »Dein Vater ist gekommen, um mit dir zu sprechen,
mein Sohn. Du kannst ihn im Nord-Gästezimmer treffen.«
Allart senkte den Blick; als er ihn wieder hob, sagte er: »Pater,
muß ich mit ihm sprechen?« Seine Stimme
war ruhig, aber der Pater Vorsteher kannte ihn zu gut, um diese
Ruhe als echt hinzunehmen.
»Ich habe keinen Grund, ihn zurückzuweisen, Allart.«
Allart hatte das Gefühl, eine zornige Erwiderung zurückgeben zu
müssen. »Aber ich!« Doch er war zu gut ausgebildet, um sich an die
Unvernunft zu klammern. Schließlich sagte er beherrscht: »Ich habe
einen großen Teil des Tages damit verbracht, mich auf diese
Begegnung vorzubereiten. Ich will Nevarsin nicht verlassen. Ich
habe hier Frieden gefunden. Helft mir, einen Weg zu finden, Pater
Vorsteher.« Der alte Mann seufzte. Seine Augen waren geschlossen –
wie meistens, da er mit dem inneren Blick deutlicher sah –, aber
Allart wußte, daß sie ihn klarer denn je erblickten.
»Ich wünschte tatsächlich – um deinetwillen, Sohn –, daß ich einen
solchen Weg erkennen könnte. Du bist hier zu Zufriedenheit und
soviel Glück, wie ein Mann, der deinen Fluch trägt, nur finden
kann, gelangt. Aber ich fürchte, die Zeit der Zufriedenheit ist nun
beendet. Du mußt dir vergegenwärtigen, Junge, daß viele Menschen
nie in den Genuß einer solchen Ruhe gelangen, um Selbsterkenntnis
und Disziplin zu erlernen. Sei dankbar für das, was dir gegeben
wurde.«
Oh, ich bin dieses frommen Geredes vom
Akzeptieren und den uns auferlegten Lasten überdrüssig.
Allart unterdrückte die auflehnenden Gedanken, aber der Pater
Vorsteher hob den Kopf. Seine Augen, farblos wie ein unbekanntes
Metall, begegneten Allarts rebellischem Blick. »Du siehst, mein
Junge, du besitzt nicht wirklich die Fähigkeiten eines Mönchs. Wir
haben dir etwas Kontrolle über deine natürlichen Neigungen
vermittelt, aber von Natur aus bist du rebellisch und begierig, zu
verändern, was du verändern kannst. Aber Veränderungen können nur
dort unten durchgeführt werden.« Seine
Armbewegung umfaßte die ganze weite Welt außerhalb des Klosters.
»Du wirst dich weder damit begnügen, deine Welt selbstzufrieden
hinzunehmen, noch dich damit bescheiden, nicht in blinder
Auflehnung, die aus deinem Leid herrührt, auszuschlagen. Du mußt
gehen, Allart, und die Veränderungen, die du bewerkstelligen
kannst, in deiner Welt durchführen.«
Allart bedeckte das Gesicht mit den Händen. Bis zu diesem
Augenblick hatte er immer noch geglaubt – Wie
ein Kind, wie ein gläubiges Kind! –, daß der alte Mönch die
Macht besaß, ihm zu helfen, damit er dem Unvermeidlichen entgehen
konnte. Er wußte, daß ihm sechs Jahre Kloster nicht geholfen
hatten, darüber hinwegzukommen. Er fühlte den letzten Funken seiner
Kindheit schwinden und hatte den Wunsch, zu weinen.
Der Pater Vorsteher sagte mit einem sanften Lächeln: »Bekümmert es
dich, daß du in deinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr kein Kind mehr
bleiben kannst, Allart? Sei dankbar, daß du nach all diesen Jahren
des Lernens darauf vorbereitet bist, ein Mann zu sein.«
»Ihr hört Euch an wie mein Vater!« warf Allart ihm zornig entgegen.
»Genau das wurde mir morgens und abends mit dem Haferbrei
aufgetischt – daß ich noch nicht Manns genug sei, meinen Platz in
der Welt auszufüllen. Fangt Ihr nicht auch an, so zu sprechen,
Pater, sonst müßte ich annehmen, daß meine Jahre hier unnütz
waren.«
»Ich meine nicht das, was dein Vater meint, wenn ich sage, daß du
bereit bist, dem Kommenden als Mann zu begegnen«, sagte der Pater
Vorsteher. »Ich glaube, du weißt schon, was ich mit Männlichkeit meine. Oder war ich im Irrtum,
als ich dich heute morgen ein weinendes Kind beruhigen und
ermutigen hörte? Tu nicht so, als würdest du den Unterschied nicht
kennen, Allart.« Die strenge Stimme wurde weicher. »Bist du zu
zornig, um für meinen Segen niederzuknien, Kind?«
Allart fiel auf die Knie. Er spürte die Berührung des alten Manns
in seinem Geist.
»Der Heilige Lastenträger wird dich für das, was kommen muß,
stärken. Ich liebe dich sehr, aber es wäre selbstsüchtig, dich
hierzubehalten. Ich glaube, du wirst in der Welt, der du entsagt
hast, zu dringend gebraucht.« Als Allart aufstand, zog der Pater
Vorsteher ihn in eine kurze Umarmung, küßte ihn und ließ ihn wieder
los.
»Du hast meine Erlaubnis, zu gehen und dich in weltliche Gewänder
zu kleiden, wenn du willst, bevor du deinem Vater entgegentrittst.«
Erneut, zum letzten Mal, berührte er Allarts Gesicht. »Mein Segen
sei immer bei dir. Wir mögen uns nicht wiedersehen, Allart, aber du
wirst in den kommenden Tagen oft in meinen Gebeten sein. Sende
eines Tages deine Söhne zu mir, wenn du es wünschst. Geh jetzt.« Er
setzte sich, ließ seine Kapuze über das Gesicht gleiten, und Allart
wußte, daß er aus den Gedanken des alten Mannes ebenso deutlich wie
aus seiner Gegenwart entlassen worden war.
Er machte von der Erlaubnis, die Kleidung zu wechseln, keinen
Gebrauch. Ärgerlich dachte er: Ich bin ein
Mönch. Und wenn mein Vater das nicht sehen will, ist das sein
Problem und nicht meins. Ein Teil seiner Auflehnung rührte
jedoch von der Tatsache her, daß er, wenn er vorausschaute, sich
nicht mehr im Umhang eines Mönchs sah, und auch nicht hier in
Nevarsin. Würde er nie wieder zur Schneestadt
zurückkehren?
Während er zum Gästezimmer ging, versuchte er, um ruhig zu werden,
seine Atmung zu kontrollieren. Was sein Vater ihm auch immer zu
sagen hatte, durch einen schon zu Beginn ihrer Begegnung
stattfindenden Streit mit dem alten Mann würde sich nichts bessern.
Er öffnete die Tür und trat in den Raum mit dem steinernen Boden
ein.
Neben dem Feuer saß in einem geschnitzten Stuhl ein alter Mann,
aufrecht und verbissen, die Finger um die Stuhllehne geklammert.
Sein Gesicht trug die arroganten Züge der
Tiefland-Hasturs.
Als er hörte, wie Allarts Umhang sachte über den Boden strich,
sagte er gereizt: »Noch eins von diesen Gespenstern im Talar?
Schickt mir meinen Sohn!«
»Euer Sohn ist hier, um Euch zu dienen, Vai
Dom.«
Der alte Mann starrte ihn an. »Götter im Himmel, bist du das,
Allart? Wie kannst du es wagen, mir in diesem Aufzug
entgegenzutreten!« »Ich trete auf, wie ich bin, Sir. Seid Ihr
gastfreundlich aufgenommen worden? Laßt mich Speisen oder Wein
bringen, wenn Ihr es wünscht.«
»Damit bin ich bereits versorgt worden«, sagte der alte Mann mit
einer Kopfbewegung zu dem Tablett und der Karaffe auf dem Tisch.
»Ich brauche nichts als ein Gespräch mit dir, denn das war der
Zweck der scheußlichen Reise, die ich unternommen habe.«
»Und ich wiederhole, ich bin hier und zu Euren Diensten, Sir.
Hattet Ihr eine beschwerliche Reise? Was hat Euch veranlaßt, eine
solche Reise im Winter zu machen, Sir?«
»Du!« knurrte der alte Mann. »Wann wirst du bereit sein, dorthin
zurückzukommen, wo du hingehörst, um deine Pflicht gegenüber Clan
und Familie zu erfüllen?«
Allart senkte den Blick. Er ballte die Fäuste, bis seine
Fingernägel tief in die Handflächen schnitten und sie zum Bluten
brachten. Was er, einige Minuten von hier entfernt, in diesem
Zimmer sah, entsetzte ihn. In mindestens einer der
Zukunftsentwicklungen, die sich von jedem seiner Worte ableiten
ließ, lag Stephen Hastur, Lord Elhalyn, der jüngere Bruder des auf
dem Thron von Thendara sitzenden Regis II., mit gebrochenem Genick
auf dem steinernen Fußboden. Allart wußte, daß der ihn überflutende
Zorn, die Wut, die er seinem Vater gegenüber empfunden hatte,
solange er denken konnte, nur zu leicht in einer solch mörderischen
Attacke enden konnte. Sein Vater hatte wieder zu sprechen begonnen,
aber Allart hörte ihn in seinem Kampf, Geist und Körper zur
Gelassenheit zu zwingen, nicht.
Ich will nicht über meinen Vater herfallen und
ihn mit meinen Händen töten! Ich tue es nicht, Ich-tue-es-nicht!
Und ich werde es nicht! Erst als er ruhig und ohne Ärger
sprechen konnte, sagte er: »Es tut mir leid, Sir, Euch zu
enttäuschen. Ich habe gedacht, Ihr wüßtet, daß ich mein Leben als
Mönch und Heilkundiger in diesen Mauern verbringen will. In diesem
Sommer erhielt ich die Erlaubnis, meine letzten Gelübde abzulegen,
meinem Namen und meinem Erbe zu entsagen und den Rest meines Lebens
hier zu wohnen.«
»Ich weiß, daß du dies einmal gesagt hast, in der Krankheit deiner
Jugend«, erwiderte Dom Stephen Hastur, »aber ich habe gedacht, es
würde vorübergehen, wenn deine Gesundheit an Geist und Körper
wieder hergestellt ist. Wie steht es um dich, Allart? Du siehst
gesund und kräftig aus. Es scheint, daß diese Cristofero-Irren dich nicht hungern lassen und mit
Entsagungen zum Wahnsinn getrieben haben – noch nicht.«
Allart sagte liebenswürdig: »Das haben sie in der Tat nicht, Sir.
Mein Körper ist, wie Ihr sehen könnt, stark und gesund, und mein
Geist hat Frieden gefunden.«
»Stimmt das, Sohn? Dann werde ich die Jahre, die du hier verbracht
hast, nicht bedauern. Und ganz gleich, mit welchen Methoden sie
dieses Wunder vollbracht haben: Ich werde ihnen immer dankbar
sein.« »Dann setzt Eurer Dankbarkeit die Krone auf, Vai Dom, indem Ihr mir die Erlaubnis gebt, hier, wo
ich glücklich und in Frieden lebe, den Rest meines Lebens zu
bleiben.«
»Unmöglich! Wahnsinn!«
»Darf ich fragen warum, Sir?«
»Ich hatte vergessen, daß du es nicht wußtest«, gab Lord Elhalyn
zurück. »Dein Bruder Lauren ist vor drei Jahren gestorben. Er hatte
dein Laran, nur in noch schlimmerer
Form, denn er schaffte es nicht, zwischen Vergangenheit und Zukunft
zu unterscheiden. Als es in voller
Stärke über ihn kam, zog er sich in sich selbst zurück und hat nie
mehr ein Wort gesprochen oder auf irgend etwas von außen reagiert.
Und so ist er gestorben.«
Allart fühlte sich bekümmert. Lauren war für ihn das reinste Kind
und beinahe ein Fremder gewesen, als er sein Zuhause verlassen
hatte. Der Gedanke an die Leiden des Jungen betrübte ihn. Wie knapp
er doch selbst diesem Los entronnen war! »Vater, es tut mir leid.
Wie schade, daß Ihr ihn nicht hierher schicken konntet. Man wäre
vielleicht in der Lage gewesen, auch zu ihm
vorzudringen.«
»Einer war genug«, sagte Dom Stephen. »Wir brauchen keine
Schwächlinge als Söhne. Lieber jung sterben, als eine solche
Schwäche in unser Blut gelangen zu lassen. Seine Hoheit, mein
Bruder Regis, hat nur einen einzigen Erben; sein ältester Sohn
starb in der Schlacht gegen die Eindringlinge bei Serrais, und sein
einzig verbliebener Sohn, Felix, der seinen Thron erben wird, ist
von schwächlicher Gesundheit. Ich bin an nächster Stelle und dann
folgt dein Bruder Damon-Rafael. Du bist vier Plätze vom Thron
entfernt, und der König ist im achtzigsten Lebensjahr. Du hast
keinen Sohn, Allart.«
Mit plötzlich aufwallender Heftigkeit sagte Allart: »Würdest du
wollen, daß ich einen Fluch, wie ich ihn trage, an einen anderen
weitergebe? Du hast mir berichtet, daß er Lauren das Leben gekostet
hat!«
»Und doch brauchen wir diese Vorausschau«, erwiderte Stephen
Hastur, »und du hast sie bewältigt. Die Leronis von Hali hat einen Plan, um sie ohne die
Instabilität, die deine Gesundheit bedroht und Lauren getötet hat,
in unserer Linie zu verankern. Ich habe versucht, mit dir darüber
zu sprechen, bevor du uns verlassen hast, aber du warst nicht in
der Verfassung, an die Bedürfnisse des Clans zu denken. Wir haben
mit dem Aillard-Clan – wegen einer Tochter aus ihrer Linie – ein
Abkommen geschlossen. Ihre Gene sind in der Form modifiziert
worden, daß sie dominieren werden. Auf diese Weise werden deine
Kinder den Blick und die Sicherheit,
ihn ohne Gefahr zu nutzen, haben. Du wirst dieses Mädchen heiraten.
Zudem hat sie zwei Nedestro-Schwestern,
und die Leroni vom Turm haben eine
Technik entwickelt, die dir die Sicherheit geben, daß du von ihnen
allen nur Söhne bekommen wirst. Wenn das Experiment gelingt, werden
deine Söhne den Vorausblick und auch die Kontrolle darüber
besitzen.« Er sah den Widerwillen auf Allarts Gesicht und sagte
aufbrausend: »Bist du denn nichts anderes als ein empfindlicher
Knabe?«
»Ich bin ein Cristofero. Die erste
Maxime des Credo der Reinheit ist, keine Frau gegen ihren Willen zu nehmen.«
»Das ist gut und schön für einen Mönch, aber nicht für einen Mann!
Keine von ihnen wird abgeneigt sein, wenn du sie nimmst, das
versichere ich dir. Wenn du willst, werden die beiden, die nicht
deine Ehefrau sind, nicht einmal deinen Namen erfahren. Wir
besitzen jetzt Drogen, die zur Folge haben, daß sie nur die
Erinnerung an ein angenehmes Intermezzo behalten. Und jede Frau hat
den Wunsch, ein Kind der Linie von Hastur und Cassilda zur Welt zu
bringen.«
Allart zog eine Grimasse der Abscheu. »Ich will keine Frau, die mir
unter Drogen bewußtlos ausgeliefert wird. Gegen ihren Willen heißt nicht nur, daß sie sich
aus Angst vor Vergewaltigung wehrt; es bedeutet auch, daß die
Fähigkeit einer Frau, ihre Zustimmung frei zu geben oder zu
verweigern, durch Drogen zerstört worden ist!«
»Ich wollte es nicht erwähnen«, sagte der alte Mann zornig, »aber
du hast deutlich geäußert, daß du nicht bereit bist, die Pflicht,
die deiner Kaste und dem Clan zukommt, aus freiem Willen zu
erfüllen! In deinem Alter hatte Damon-Rafael ein Dutzend
Nedestro-Söhne von ebensovielen
willigen Frauen! Aber du, ein Sandalenträger …«
Allart senkte den Kopf und bekämpfte den Reflex des Zorns, der ihn
antrieb, den dünnen, alten Hals zwischen seine Hände zu nehmen und
das Leben aus ihm herauszuquetschen. »Damon-Rafael hat seine
Meinung über meine Männlichkeit häufig genug geäußert, Vater. Muß
ich das auch von Euch hören?«
»Was hast du denn getan, um mir eine bessere Meinung von dir zu
vermitteln? Wo sind deine
Söhne?«
»Ich stimme nicht mit Euch überein, daß Männlichkeit allein an den
Söhnen gemessen werden muß, Sir; aber über diesen Punkt will ich
jetzt nicht mit Euch streiten. Ich will den Fluch meines Blutes
nicht weitergeben. Ich weiß einiges über das Laran. Ich spüre, daß Ihr falsch handelt, wenn Ihr
versucht, größere Kraft in diesen Gaben heranzuzüchten. An mir –
und noch mehr an Lauren – könnt Ihr sehen, daß der menschliche
Geist nie dazu vorgesehen war, ein solches Gewicht zu tragen. Wißt
Ihr, was ich damit meine, wenn ich von rezessiven und tödlichen
Genen spreche?«
»Bist du dabei, mich in meinem eigenen Fach zu unterrichten,
Jüngling?«
»Nein, aber bei allem Respekt, Vater, ich will daran keinen Anteil
haben. Wenn ich je Söhne haben sollte …«
»Da gibt es kein wenn. Du mußt Söhne haben.«
Die Stimme des alten Mannes klang entschlossen, und Allart seufzte
auf. Sein Vater hörte einfach nicht zu. Oh, natürlich fingen seine
Ohren die Worte auf. Aber er hörte nicht zu; sie gingen durch ihn
hindurch, weil das, was Allart sagte, nicht mit dem festgelegten
Glauben von Lord Elhalyn übereinstimmte – daß es die allererste
Pflicht seines Sohnes sei, Söhne heranzuzüchten, die die legendären
Gaben von Hastur und Cassilda, das Laran, weitertragen würden.
Laran war Zauberei; Psi-Kraft, die
ihren Familien eine bevorzugte Stellung bei der Handhabung der
Matrixsteine, die die verborgenen Kräfte des Geists verstärkten,
gab; was ihnen die Möglichkeit verschaffte, die Zukunft zu kennen,
den Geist anderer Menschen zu unterjochen, unbeseelte Gegenstände
zu manipulieren und den Geist von Säugetier und Vogel zu
beherrschen. Laran war jenseits aller
Vorstellungskraft der Schlüssel zur Macht, und seit Generationen
hatte man Menschen dafür herangezüchtet.
»Vater, hört mich an, ich bitte Euch.« Allart war jetzt weder
zornig noch streitsüchtig, sondern ernsthaft verzweifelt. »Ich sage
Euch, es kann sich nichts als Böses aus diesem Zuchtprogramm
entwickeln, das aus Frauen schiere Instrumente macht, um
Geistes-Monster ohne Menschlichkeit zu züchten. Ich habe ein
Gewissen; ich kann es nicht tun.«
Sein Vater schnaubte: »Liebst du etwa Männer, daß du unserer Kaste
keine Söhne geben willst?«
»Das tue ich nicht«, sagte Allart, »aber ich habe noch keine Frau
gehabt. Wenn ich mit dieser bösen Gabe des Laran verflucht bin …« »Schweig! Du lästerst unsere
Vorväter und den Herrn des Lichts, der uns das Laran gab!«
Jetzt wurde Allart wieder zornig: »Ihr seid es, der lästert, Sir,
wenn Ihr glaubt, die Götter könnten auf diese Weise menschlichen
Zielen unterworfen werden!«
»Du unverschämter …« Sein Vater sprang auf, hielt aber mit enormer
Anstrengung seine Wut unter Kontrolle. »Mein Sohn, du bist jung und
von diesen Mönchs-Ansichten irregeleitet. Komm zurück zu dem Erbe,
für das du geboren bist, und du wirst eines besseren belehrt. Was
ich von dir verlange, ist rechtens und nützlich, wenn die Hasturs
gedeihen sollen. Nein …« Mit einer Armbewegung gebot er, als Allart
etwas sagen wollte, Schweigen. »… von diesen Dingen weißt du noch
immer nichts, deine Ausbildung muß vervollständigt werden. Eine
männliche Jungfrau« – obwohl er sich bemühte, konnte Lord Elhalyn
die Verachtung nicht aus seiner Stimme verbannen – »ist nicht
befähigt, darüber zu urteilen.«
»Glaubt mir«, sagte Allart, »der Charme der Frauen ist mir nicht
gleichgültig. Aber ich will den Fluch meines Blutes nicht
weitergeben. Und ich werde es nicht.«
»Das steht nicht zur Diskussion«, sagte Dom Stephen mit einem
drohenden Unterton in der Stimme. »Du wirst mir den Gehorsam nicht
verweigern, Allart. Ich würde es zwar als Schande empfinden, wenn
mein Sohn, mit Drogen betäubt, wie eine widerstrebende Braut, Söhne
zeugen müßte, aber es gibt Dinge, die dich dazu bringen, wenn du
uns keine Wahl läßt.«
Heiliger Lastenträger, hilf mir! Wie soll ich
davon ablassen, ihn zu töten, wenn er sich weiterhin so
aufführt?
Ruhiger fuhr Dom Stephen fort: »Es ist jetzt nicht die Zeit für
einen Streit, mein Sohn. Du mußt uns Gelegenheit geben, dich zu
überzeugen, daß deine Bedenken unbegründet sind. Ich bitte dich:
Geh jetzt und kleide dich, wie es einem Mann und Hastur geziemt,
und bereite dich darauf vor, mit mir zu reisen. Du wirst gebraucht,
mein lieber Sohn, und … weißt du nicht, wie sehr ich dich vermißt
habe?«
Die aufrichtige Liebe in seiner Stimme ließ Allarts Herz schmerzen.
Tausend Kindheitserinnerungen tauchten in ihm auf und vermischten
mit ihrer Zartheit Vergangenheit und Zukunft. Er war für den Stolz
und das Erbe seines Vaters eine Schachfigur, sicher, aber
ungeachtet dessen liebte Lord Elhalyn alle seine Söhne innig und
war aufrichtig um seine geistige und körperliche Gesundheit besorgt
gewesen – sonst hätte er ihn nicht ausgerechnet zu einem
Cristofero-Kloster geschickt. Allart dachte: Ich kann ihn nicht einmal hassen. Es würde viel leichter
sein, wenn ich es könnte!
»Ich komme mit, Vater. Glaube mir, ich habe nicht den Wunsch, dich
zu erzürnen.«
»Und ich will dir nicht drohen, Junge.« Dom Stephen hielt die Arme
ausgebreitet. »Ist dir bewußt, daß wir uns noch nicht wie Verwandte
begrüßt haben? Fordern diese Cristofero
dich auf, die Verwandtschaftsbande aufzugeben, Sohn?«
Allart umarmte seinen Vater; bestürzt spürte er die knochige
Zerbrechlichkeit im Körper des alten Mannes, und ihm wurde klar,
daß sein zorniges Auftreten die fortschreitende Schwäche und das
Alter nur kaschieren sollten. »Alle Götter mögen verhüten, daß ich
das tue, solange du lebst, Vater. Laß mich gehen und mich auf die
Reise vorbereiten.« »Geh nur, mein Sohn. Denn es mißfällt mir mehr,
als ich es sagen kann, dich in einer Tracht zu sehen, die für einen
Mann unangebracht ist.« Allart gab darauf keine Antwort, sondern
verbeugte sich und ging davon, um die Kleider zu wechseln. Er würde
mit seinem Vater gehen, jawohl, und als pflichtgetreuer Sohn
auftreten. Mit gewissen Einschränkungen würde er das. Jetzt wußte
er, was der Pater Vorsteher gemeint hatte. Veränderungen waren in
seiner Welt notwendig, und hinter Klostermauern konnte er sie nicht
bewirken.
Er konnte sich fortreiten und einen großen, am Himmel schwebenden
Falken sehen, das Gesicht einer Frau … einer Frau. Er wußte sowenig
von Frauen. Und jetzt wollten sie ihm nicht nur eine, sondern
gleich drei zuführen, mit Drogen betäubt und willfährig …
dagegen würde er bis zum Ende seiner
Willenskraft und seines Gewissens kämpfen; er würde kein Teil des
monströsen Zuchtprogramms der Reiche werden. Niemals. Das Mönchsgewand abgelegt, kniete er zum
letzten Mal kurz auf den kalten Steinen seiner Zelle.
»Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft, daß ich meinen Anteil am
Weltgewicht tragen kann …« murmelte er. Dann stand er auf und legte
die gewöhnliche Kleidung eines Edlen der Reiche an. Zum ersten Mal
seit sechs Jahren trug er nun wieder ein Schwert.
»Gebenedeiter Sankt-Valentin-im-Schnee, gewähre, daß ich es gerecht
verwende …« Allart seufzte und sah sich zum letzten Mal in seiner
Zelle um. Bekümmert und von innerer Gewißheit erfüllt wußte er, daß
er sie nie wiedersehen würde.
4
Das Chervine, das
kleine Hirsch-Pony der Darkovaner, wählte seinen Weg auf dem Pfad
sorgfältig; gegen den neuen Schneefall protestierend schüttelte es
seine Geweihstangen. Sie hatten die Berge jetzt hinter sich
gelassen, Hali war nicht mehr als drei Tagesritte entfernt. Für
Allart war es eine lange Reise gewesen, länger als die sieben Tage,
die sie tatsächlich gedauert hatte. Er fühlte sich, als wäre er
Jahre gereist, endlose Wegstunden, hinweg über tiefe Abgründe der
Veränderung. Und er war erschöpft.
Es erforderte die ganze Disziplin seiner Jahre in Nevarsin, um sich
sicher durch die Wirrnis, die er jetzt sah, zu bewegen. Legionen
möglicher Zukunftsentwicklungen verzweigten sich mit jedem Schritt
vor ihm, wie verschiedene Straßen, die er hätte nehmen können, neue
Möglichkeiten, die von jedem Wort, jeder Handlung erzeugt wurden.
Als sie durch die gefährlichen Gebirgspässe ritten, konnte Allart
jeden möglichen falschen Schritt sehen, der ihn über Abgründe
führte, die ihn zerschmettern konnten; ebenso sah er jeden sicheren
Schritt, den er tatsächlich tat. In Nevarsin hatte er gelernt, sich
den Weg durch die Angst zu bahnen, aber die Anstrengung machte ihn
schwach und müde.
Und immer tat sich ihm eine andere Möglichkeit auf. Immer wieder
während ihrer Reise hatte er seinen Vater gesehen, tot zu seinen
Füßen liegend, in einem unbekannten Zimmer.
Ich will mein Leben außerhalb des Klosters
nicht als Vatermörder beginnen! Heiliger Lastenträger, gib mir
Kraft …! Er wußte, daß er seinen Zorn nicht leugnen konnte;
in ihm lag die gleiche Lähmung wie in der Angst, keinen Schritt zu
tun, aus Furcht, er würde zur Katastrophe führen.
Der Zorn ist mein, ermahnte er sich
diszipliniert. Ich kann entscheiden, was ich
mit meinem Zorn mache, und ich kann mich entscheiden, nicht zu
töten. Aber es beunruhigte ihn, in dieser fremdartigen
Szene, die ihm während der Reise immer vertrauter wurde, die Leiche
seines Vaters zu sehen, wie sie in einem Zimmer mit grünen, gold
umrandeten Vorhängen lag, am Fuß eines Sessels, dessen
Schnitzereien er hätte nachziehen können, so oft hatte er sie mit
dem Blick seines Laran gesehen. Wenn er
in das Gesicht seines Vaters sah, war es schwer, ihn nicht mit dem
Bedauern und dem Entsetzen anzuschauen, das er beim Anblick des
Toten empfinden würde. Und es strengte ihn an, Lord Elhalyn nichts
davon zu zeigen.
Sein Vater hatte während der Reise die verächtlichen Worte für
Allarts mönchische Standhaftigkeit nicht wiederholt und gänzlich
aufgehört, mit ihm darüber zu streiten. Er sprach ausschließlich
freundlich mit seinem Sohn, meist von seiner Kindheit in Hali
(bevor der Fluch über Allart gekommen war), von ihrer
Verwandtschaft und den Aussichten der Reise. Er sprach von Hali und
den Minenarbeiten, die im Turm von den Leuten des Matrix-Kreises
getan wurden, um Kupfer-, Eisen- und Silbererz an die Erdoberfläche
zu bringen; von Falken und Chervines,
und von den Zuchtexperimenten mit zell-tiefen Veränderungen, die
sein Bruder angestellt hatte. Er sprach von regenbogenfarbenen
Falken und Chervines mit
phantastischen, juwelenbunten Geweihsprossen, die den sagenhaften
Tieren aus der Legende glichen.
Von Tag zu Tag stieß Allart auf mehr von jener Kindheitsliebe, die
er für seinen Vater empfand. Er erinnerte sich an jene Tage, bevor
ihn das Laran und sein
Cristofero-Glaube von ihm getrennt hatten, und erneut fühlte er
Schmerzen der Trauer, wenn er das verfluchte Zimmer mit den
grün-goldenen Vorhängen sah, den großen geschnitzten Sessel, und
das Gesicht seines Vaters, weiß und starr und voller Überraschung.
Auf dieser Straße hatten immer wieder andere Gesichter versucht,
aus der Verschwommenheit des Unbekannten in die mögliche Zukunft zu
kommen. Die meisten von ihnen ignorierte Allart, wie er es im
Kloster gelernt hatte, aber zwei oder drei tauchten wiederholt auf
und machten ihm klar, daß es sich nicht um Gesichter von Leuten
handelte, die er treffen konnte,
sondern um die derjenigen, die in sein Leben treten würden. Eins, das er verschwommen erkannte, war das
seines Bruders Damon-Rafael, der ihn einen Sandalenträger und
Feigling genannt hatte und froh gewesen war, den Rivalen
loszuwerden, damit er allein Elhalyns Erbe sein konnte.
Ich wünschte, mein Bruder und ich könnten
Freunde sein und einander lieben, wie Brüder es sollten. Doch unter
den möglichen Zukunftsentwicklungen sehe ich nirgendwo eine Chance
…
Und da war das Gesicht einer Frau, das regelmäßig vor seinen
geistigen Augen auftauchte, obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte.
Eine kleine Frau, von angenehmem Äußeren, mit von dunklen Wimpern
beschatteten Augen, einem blassen Gesicht und mit Haaren, die aus
gesponnenem schwarzen Glas zu sein schienen. Er sah sie in seinen
Visionen – ein ernstes, bekümmertes Gesicht, dessen dunkle Augen
ihm mit quälendem Flehen zugewandt waren.
Wer bist du? fragte er sich.
Dunkles Mädchen meiner Visionen, warum
marterst du mich auf diese Weise?
Nach den Jahren im Kloster schien es Allart seltsam, daß er anfing,
auch erotische Visionen von dieser Frau zu haben; er sah sie
lachen, liebevoll, ihr Gesicht im Verlangen nach Zärtlichkeit dem
seinen entgegengehoben, die Augen in der Verzückung eines Kusses
geschlossen. Nein! dachte er. Ganz
gleich, wie sehr ihn sein Vater mit der Schönheit dieser Frau
verlocken sollte, er würde an seinem Entschluß festhalten und kein
Kind zeugen, das den Fluch seines Blutes zu tragen hatte! Aber die
Anwesenheit des Gesichts dieser Frau blieb im Träumen und Wachen,
und er wußte, daß sie eine von jenen war, die sein Vater für ihn
als Braut wählen würde. Allart fragte sich, ob die Möglichkeit
bestand, daß er ihrer Schönheit nicht zu widerstehen
vermochte.
Ich bin schon halb verliebt in sie,
dachte er, und ich kenne nicht einmal ihren
Namen!
Eines abends, als sie in ein weites grünes Tal hinabritten, begann
sein Vater erneut von der Zukunft zu sprechen.
»Unter uns liegt Syrtis. Die Leute von Syrtis sind seit
Jahrhunderten Hastur-Vasallen gewesen; wir werden unsere Reise dort
unterbrechen. Du wirst froh sein, wieder in einem Bett zu schlafen,
nehme ich an.« Allart lachte. »Das ist mir egal, Vater. Während
dieser Reise habe ich weicher geschlafen als jemals in
Nevarsin.«
»Vielleicht hätte ich solche mönchische Zucht erfahren sollen,
bevor meine alten Knochen eine solche Reise machten! Ich jedenfalls
werde über eine Matratze froh sein, wenn du es schon nicht bist!
Wir sind jetzt nur noch zwei Tagesritte von Zuhause entfernt und
könnten an sich schon etwas für deine Heirat planen. Mit zehn
Jahren wurdest du mit deiner Verwandten Cassandra Aillard verlobt,
erinnerst du dich?« So sehr er es auch versuchte, Allart konnte
sich nur an ein Fest erinnern, zu dem er einen neuen Anzug bekommen
hatte und stundenlang herumstehen und lange Ansprachen der
Erwachsenen anhören mußte. Das sagte er seinem Vater, und Dom
Stephen erwiderte, erneut sehr liebenswürdig: »Das überrascht mich
nicht. Vielleicht war das Mädchen nicht einmal da; ich glaube, es
war damals nur drei oder vier Jahre alt. Ich bekenne auch, daß ich
an dieser Verbindung meine Zweifel hatte. Die Aillards haben
Chieri-Blut und die üble Angewohnheit,
dann und wann Töchter zu gebären, die Emmasca sind – sie sehen wie wunderschöne Frauen
aus, aber sie werden nie reif zur Vereinigung und gebären auch
keine Kinder. Ihr Laran ist
nichtsdestoweniger stark, deshalb habe ich die Verlobung riskiert.
Und als das Mädchen zur Frau wurde, ließ ich sie in Anwesenheit
ihrer Amme von unserer eigenen Leronis,
die ihre Überzeugung äußerte, daß sie Kinder gebären könnte,
untersuchen. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen, aber man hat
mir berichtet, sie sei zu einer anmutigen Jungfrau herangewachsen.
Und sie ist eine Aillard. Ihre Familie ist ein starker Verbündeter
unseres Clans, den wir sehr benötigen. Hast du nichts dazu zu
sagen, Allart?«
Allart zwang sich, ruhig zu sprechen.
»Du kennst meine Einstellung zu dieser Sache, Vater. Ich will nicht
mit dir darüber streiten, aber ich habe meine Meinung nicht
geändert. Ich habe nicht den Wunsch, zu heiraten, und werde auch
keine Söhne zeugen, die den Fluch unseres Blutes weitertragen. Mehr
habe ich nicht zu sagen.«
Erneut tauchten vor seinem geistigen Auge das Zimmer mit den
grüngoldenen Vorhängen und das tote Gesicht seines Vaters auf; mit
solcher Deutlichkeit, daß er heftig blinzeln mußte, um den Vater
wieder neben sich reiten zu sehen.
»Allart«, sagte sein Vater mit freundlicher Stimme, »während der
Tage unserer gemeinsamen Reise habe ich dich zu gut kennengelernt,
um dir das zu glauben. Immerhin bist du mein Sohn, und wenn du in
die Welt zurückgekehrt bist, in die du gehörst, wirst du diese
Mönchs-Ansichten nicht lange behalten. Wir wollen nicht mehr
darüber sprechen, Kihu Caryu, bis die
Zeit dafür reif ist. Die Götter wissen, daß ich nicht mit dem
jüngsten Sohn, den man mir gelassen hat, streiten will.« Allart
fühlte seine Kehle sich vor Kummer zusammenziehen. Ich kann nicht anders. Ich habe meinen Vater lieben
gelernt. Wird er dadurch schließlich meinen Willen brechen? Nicht
mit Gewalt, sondern mit Freundlichkeit? Und wieder blickte
er in das tote Gesicht und das grün- und goldverhängte Zimmer, und
das Gesicht des dunklen Mädchens aus seinen Visionen tauchte vor
seinen flimmernden Augen auf.
Das Herrschaftshaus von Syrtis bestand aus
einem alten, steinernen Bergfried, einem Burggraben mit Zugbrücke,
großen Außengebäuden aus Holz und Stein, und einem gestalteten
Innenhof mit glasähnlicher Überdachung in vielen Farben.
Der Boden bestand aus farbigen Steinen, die mit einer solchen
Präzision zusammengesetzt waren, die kein Arbeiter hätte erlernen
können. Allart schloß daraus, daß die Syrtis-Leute zu den
Neu-Reichen gehörten, die aus der ornamentalen und schwierig zu
handhabenden Matrix-Technologie vollen Nutzen schöpfen konnten, um
solch schöne Dinge herzustellen. Wie kann man
so viele Laran-Begabte finden, um seinen Willen
auszuführen?
Der alte Lord Syrtis war ein rundlicher, weichlicher Mann, der
selbst in den Innenhof kam, um seinen Großfürsten zu begrüßen, und
mit schmeichlerischer Höflichkeit auf die Knie fiel. Er erhob sich
mit einem Lächeln, das fast zur hämischen Grimasse wurde, als Dom
Stephen ihn in eine brüderliche Umarmung zog. Er umarmte auch
Allart, der vor dem Kuß des Mannes auf seine Wange
zurückwich.
Ugh, er ist wie eine einschmeichelnde
Hauskatze!
Dom Marius führte sie in die große, mit verschwenderischem Luxus
gefüllte Halle, komplimentierte sie auf kissenübersäte Diwans und
rief nach Wein. »Das ist ein neues Erfrischungsgetränk, aus unseren
Äpfeln und Birnen hergestellt; ihr müßt es probieren ;.. Ich habe
eine neue Zerstreuung und werde euch davon erzählen, wenn wir
gegessen haben«, sagte Dom Marius von Syrtis, während er sich in
die wogenden Kissen zurücklehnte. »Und das ist dein jüngster Sohn,
Stephen? Ich hatte ein Gerücht gehört, daß er sich von Hali
losgesagt und ein Mönch bei den Cristoferos geworden sei, oder irgend so einen
Unsinn. Ich freue mich, daß das eine bösartige Lüge ist; manche
Leute erzählen einfach alles.«
»Ich gebe dir mein Wort, Cousin, Allart ist kein Mönch«, erwiderte
Dom Stephen. »Ich gab ihm die Erlaubnis, in Nevarsin zu wohnen, um
seine Gesundheit wiederherzustellen. In seiner Jugend litt er sehr
unter der Schwellenkrankheit. Aber er ist gesund und stark, und nun
ist er nach Hause gekommen, um verheiratet zu werden.«
»Aha, so ist das also«, sagte Dom Marius und betrachtete Allart mit
seinen zwinkernden, in dicke Fettpolster eingebetteten Augen. »Ist
die glücklich zu preisende Jungfrau mir bekannt, mein
Junge?«
»Genausowenig wie mir«, erwiderte Allart mit widerwilliger
Höflichkeit. »Man hat mir gesagt, es sei meine Cousine Cassandra
Aillard; ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, und da war sie
ein kleines Mädchen.«
»Aah, die Domna Cassandra! Ich habe sie
in Thendara gesehen, als sie beim festlichen Ball auf Burg Comyn
zugegen war«, sagte Dom Marius mit einem Seitenblick.
Angewidert dachte Allart: Er will uns nur
wissen lassen, daß er bedeutend genug ist, um dort eingeladen zu
werden!
Dom Marius trug den Dienern auf, Speisen zu bringen. Was seine
nichtmenschlichen Lakaien anbetraf, entpuppte sich Dom Marius als
Anhänger der jüngsten Modelaune. Er hielt sich Cralmac, künstlich aus den harmlosen Schweifern der
Hellers gezüchtete, mit Matrix-modifizierten Genen und menschlicher
Befruchtung gezeugte Wesen. Allart erschienen diese Geschöpfe
häßlich, weder Mensch noch Schweifer. Die Schweifer, obwohl
fremdartig und mönchgleich, besaßen ihre eigene fremde Schönheit.
Aber die Cralmac zeichneten sich für
Allart nur durch die Widerwärtigkeit von etwas Unnatürlichem aus,
auch wenn einige von ihnen recht ansehnlich wirkten.
»Ja, ich habe die dir versprochene Braut gesehen. Sie ist so
anmutig, daß sie selbst einen überzeugten Mönch dazu bringen würde,
seine Gelübde zu brechen«, kicherte Dom Marius. »Du wirst dem
Kloster keine Träne nachweinen, wenn du dich mit ihr hinlegst, auch
wenn all diese AillardMädchen unglückliche Frauen sind. Einige sind
so steril wie Riyachiyas, und andere so
zerbrechlich, daß sie kein Kind austragen können.« Er ist auch einer von denen, die gerne Katastrophen
voraussagen, dachte Allart. »Ich habe keine große Eile,
einen Erben zu bekommen. Mein älterer Bruder lebt, ist bei bester
Gesundheit und hat NedestroSöhne
gezeugt. Ich werde nehmen, was die Götter mir geben.« Darauf
bedacht, das Thema zu wechseln, fragte er: »Habt Ihr die
Cralmac auf Euren eigenen Gütern
gezüchtet? Während der Reise erzählte mein Vater mir von den
Experimenten meines Bruders, der durch MatrixModifikationen
Zier-Chervines gezüchtet hat. Eure
Cralmac sind kleiner und hübscher als
die in Hali gezüchteten, die, wie ich mich erinnere, nur zum
Stallausmisten und anderen schweren Arbeiten taugen. Man überläßt
ihnen Dinge, mit denen man einen menschlichen Vasallen nicht
beauftragen könnte.«
Mit plötzlicher Beklemmung – Wie schnell ich
doch vergesse! – fiel ihm ein, daß man ihn in Nevarsin
gelehrt hatte, daß es keine Arbeit gab, die die Würde des Menschen
untergrub. Aber seine Worte hatten Dom Marius die Gelegenheit zu
neuen Prahlereien gegeben.
»Ich habe eine Leronis der Ridenows in
einer Schlacht gefangen. Sie ist in solchen Dingen sehr geschickt.
Sie glaubte, ich hätte Gutes mit ihr vor, als ich ihr zusicherte,
sie nie gegen ihr eigenes Volk zu verwenden – aber wie sollte ich
ihr nach einer solchen Schlacht noch trauen? –, und sie widersetzte
sich nicht, einige Aufträge für mich zu erledigen. Sie hat mir die
Cralmac gezüchtet, und sie sind
wirklich hübscher und ansehnlicher als alle, die ich vorher hatte.
Ich könnte dir ein Zuchtpärchen zum Hochzeitsgeschenk machen, wenn
du willst, Dom Allart; deine Gattin würde ansehnliche Diener
zweifellos begrüßen. Die Leronis hat
für mich auch eine neue Rasse von Riyachiyas gezüchtet. Möchtest du sie sehen,
Cousin?«
Lord Elhalyn nickte, und als sie das Mahl beendet hatten, wurden
die versprochenen Riyachiyas
hereingebracht. Allart sah sie mit einem Gefühl von Abscheu an:
exotische Spielzeuge für übersättigte Geschmäkker. Von Gestalt
waren sie schlanke Frauen mit anmutigen Gesichtern und ebenmäßigen
Brüsten, die die durchsichtigen Falten ihrer Gewänder hoben. Aber
ihre Taillen waren zu schmal und ihre Beine zu lang, um aus ihnen
echte Frauen zu machen. Es waren vier, zwei hellhaarig, zwei
dunkel; sonst waren sie identisch. Sie knieten sich Dom Marius zu
Füßen, bewegten schlangengleich die schlanken Hälse. Als sie sich
verbeugten, wirkten sie wie holde Schwäne, und Allart fühlte hinter
seiner Abscheu ein ungewohntes Verlangen.
Zandrus Hölle! Aber sie sind schön, so schön
und unnatürlich wie Dämonenhexen!
»Würdest du vermuten, Cousin, daß sie in Cralmac-Leibern geboren
wurden?« fragte Dom Marius. »Sie sind von meinem Samen und dem der
Leronis, so daß ein penibler Mann –
wenn sie menschlich wären – sagen könnte, sie seien meine Töchter,
und dieser Gedanke gibt dem Ganzen in der Tat ein kleines … ein
kleines Etwas«. Er kicherte. »Es sind Zwillingspärchen …« Er wies
auf das hellhaarige Paar und fuhr fort: »Lella und Rella; die
Dunklen sind Ria und Tia. Sie werden euch nicht allzusehr mit Reden
belästigen, obwohl sie sprechen und singen können. Ich habe sie
tanzen, die Rryl spielen, und Speisen
und Getränke zu servieren gelehrt. Aber ihre hauptsächlichen
Talente dienen natürlich dem Vergnügen. Sie sind selbstverständlich
unter Matrix-Bann … Wie ich sehe, Stephen, kannst du deine Augen
nicht von ihnen nehmen. Ebensowenig« – Dom Marius gluckste – »wie
dein Sohn.«
Allart schreckte auf und wandte sich ärgerlich von den schrecklich
verlockenden Gesichtern und Körpern der unmenschlich schönen, seine
Begierde anstachelnden Geschöpfen ab.
»Oh, ich bin nicht kleinlich; du kannst sie heute nacht haben«,
sagte Dom Marius mit einem geilen Kichern. »Eine oder zwei, ganz
wie du willst. Und da du, Allart, sechs Jahre der Frustration in
Nevarsin verbracht hast, mußt du ihre Dienste dringend benötigen.
Ich werde dir Lella schicken; sie ist meine eigene Favoritin. Oh,
was diese Riyachiya alles kann! Selbst
ein eingefleischter Mönch würde sich ihrer Berührung hingeben.«
Seine Beschreibungen wurden detaillierter, und Allart wandte sich
ab.
»Ich bitte Euch, Onkel«, sagte er, versuchend den Widerwillen zu
verbergen, »Euch nicht selbst Eurer Favoritin zu
berauben.«
»Nein?« Dom Marius verdrehte seine in Fett gepolsterten Augen mit
gespielter Sympathie. »So steht es also? Nach so vielen Jahren im
Kloster bevorzugst du die Freuden, die unter Brüdern zu finden
sind? Ich selbst begehre selten einen Ri’chiyu, aber ich halte einige aus
Gastfreundschaft, und manche Gäste brauchen dann und wann eine
Abwechslung. Soll ich dir Loyu schicken? Er ist wahrhaftig ein
schöner Knabe, und ich habe sie alle so modifizieren lassen, daß
sie auf Schmerzen kaum reagieren. Du kannst ihn, wenn du willst,
auf jede gewünschte Art benutzen.«
Dom Stephen, der sah, daß Allart jeden Moment explodieren konnte,
warf hastig ein: »Die Mädchen werden uns genügen. Mein Kompliment
für das Geschick deiner Leronis, sie zu
züchten.«
Nachdem Marius sie zu den vorbereiteten Räumen gebracht hatte,
sagte Dom Stephen aufgebracht: »Du wirst uns nicht die Schande
bereiten, diese Höflichkeit zurückzuweisen! Ich will nicht, daß man
hier rumtratscht, daß mein Sohn kein ganzer Mann ist!«
»Er ist wie eine große, fette Kröte! Vater, spiegelt es meine
Männlichkeit wider, daß der Gedanke an soviel Schmutz mich mit
Abscheu erfüllt? Ich würde seine dreckigen Geschenke gern in sein
Kichergesicht schleudern!«
»Du ermüdest mich mit deinen mönchischen Skrupeln, Allart. Die
Leroni haben nie etwas besseres
zustande gebracht, als uns die Riyachiyas zu züchten. Deine zukünftige Frau wird
es dir nicht danken, wenn du ablehnst, eine in deinem Haushalt zu
haben. Bist du so unwissend, daß du nicht weißt, daß eine
Schwangere eine Fehlgeburt haben kann, wenn du dich zu ihr legst?
Es ist ein Teil des Preises, den wir für das Laran zahlen, das wir mit so großen Schwierigkeiten
in unsere Linie hineingezüchtet haben, daß unsere Frauen schwach
sind und für Fehlgeburten anfällig. Deshalb müssen wir sie schonen,
wenn sie ein Kind tragen. Wenn du dein Verlangen nur auf eine
Riyachiya richtest, dann braucht sie
nicht eifersüchtig zu sein, als hättest du deine Zuneigung einem
richtigen Mädchen gegeben, das einen gewissen Anspruch auf deine
Gedanken hätte.«
Allart wandte das Gesicht ab. In den Tiefländern galt diese Art von
Gespräch zwischen den Generationen als Gipfel des Unanständigen.
Das war so seit der Zeit, als Gruppenhochzeiten noch die Regel
gewesen waren und jeder Mann im rechten Alter ebenso der Vater
eines Menschen, wie jede Frau, die alt genug war, seine Mutter sein
konnte. Seitdem war das sexuelle Tabu zwischen den Generationen
absolut. Entschuldigend sagte Dom Stephen: »Ich hätte mich nie so
sehr vergessen, Allart, aber du bist nicht bereit gewesen, deiner
Pflicht unserer Kaste gegenüber Genüge zu tun. Aber ich bin sicher,
daß du als mein Sohn Manns genug bist, mit einer Frau in deinen
Armen leben zu können!« Grob fügte er hinzu: »Du brauchst keine
Skrupel zu haben; diese Geschöpfe sind steril.«
Krank vor Abscheu dachte Allart: Vielleicht
warte ich gar nicht auf das Zimmer mit den grünen und goldenen
Vorhängen. Ich kann ihn hier und jetzt töten. Aber sein
Vater hatte sich umgedreht und war in sein Zimmer
gegangen.
Aufgebracht dachte er, während er sich auf die Nachtruhe
vorbereitete, daran, wie verderbt sie geworden waren. Wir, geheiligte Nachfahren des Herrn des Lichts, das Blut
von Hastur und Cassilda in unseren Adern – oder ist das auch nur
ein hübsches Märchen? Waren die Laran-Gaben der von Hastur
abstammenden Familien nur das Werk anmaßender Sterblicher,
vermischt mit Gen-Stoff und Hirnzellen, eine Hexerei mit dem
Matrix-Juwel, das Protoplasma modifizierte, wie es Dom Marius’
Leronis mit diesen Riyachiyas angestellt hatte, indem sie exotische
Spielzeuge für lasterhafte Männer produzierte?
Den Göttern selbst — wenn es wirklich Götter
gibt — muß es bei unserem Anblick übel werden!
Das warme, luxuriöse Zimmer machte ihn krank; er wünschte sich nach
Nevarsin, in die weihevolle Nachtstille zurück. Als er das Licht
gelöscht hatte, hörte er fast geräuschlose Schritte. Das Mädchen
Lella näherte sich ihm vorsichtig in einem dünnen Gewand.
»Ich bin zu deiner Befriedigung hier, Vai
Dom.«
Ihre Stimme war ein heiseres Murmeln; einzig ihre Augen enthüllten,
daß sie nicht menschlich war, denn es waren dunkelbraune Tieraugen,
groß, weich und merkwürdig unerklärlich.
Allart schüttelte den Kopf.
»Du kannst wieder gehen, Lella. Ich werde heute Nacht allein
schlafen.«
Sexuelle Bilder quälten ihn, all die Dinge, die er tun könnte, all die möglichen Zukunftsentwicklungen,
ein unendlich großes Bündel von Wahrscheinlichkeiten, die von
diesem Augenblick abhingen. Lella saß auf dem Bettrand; ihre
weichen, schlanken Finger, so anmutig, daß sie keine Knochen zu
haben schienen, legten sich behutsam in die seinen. Flehend
murmelte sie: »Wenn ich dich nicht erfreue, Vai Dom, werde ich bestraft. Was, wünscht du, soll
ich tun? Ich kenne viele, viele Arten, Freude zu
bereiten.«
Er wußte, daß sein Vater auf diese Situation hingesteuert hatte.
Die Riyachiyas wurden gezüchtet,
ausgebildet und ausgewählt, um unwiderstehlich zu sein. Hatte Dom
Stephen erhofft, sie würde Allarts Hemmungen
niederreißen?
»Mein Herr wird wirklich sehr zornig sein, wenn es mir nicht
gelingt, dir Freude zu schenken. Soll ich nach meiner Schwester
schicken, die so dunkel ist, wie ich hellhaarig bin? Und sie ist
sogar noch geschickter. Oder würde es dir Freude machen, mich zu
schlagen, Herr? Ich habe es gern, geschlagen zu werden,
wirklich.«
»Still, still!« Allart fühlte sich krank. »Niemand würde sich eine
Schönere wünschen als dich.« Und der wohlgeformte junge Körper, das
entzückende kleine Gesicht, das lose duftende Haar, das über seinen
Körper fiel, waren tatsächlich verführerisch. Sie strömte einen
süßen, moschusartigen Duft aus; bevor er sie berührt hatte, hatte
er irgendwie geglaubt, sie würde wie ein Tier, nicht wie ein Mensch
riechen.
Ich bin in ihrem Bann, dachte er. Wie
sollte er widerstehen können? Mit einem Gefühl tödlicher Müdigkeit
dachte er, als er ihre schmalen Fingerspitzen eine Linie über
seinen nackten Hals vom Ohrläppchen zur Schulter ziehen fühlte:
Was macht es schon aus? Ich habe beschlossen,
frauenlos zu leben und den Fluch, den ich trage, niemals
weiterzugeben. Aber dieses arme Geschöpf ist steril, ich kann mit
ihr kein Kind zeugen, selbst, wenn ich wollte. Vielleicht wird
Vater geneigt sein, mich nicht mehr zu verletzen oder mich einen
halben Mann zu nennen, wenn er weiß, daß ich hierbei seinem Willen
gefolgt bin, Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ich gebrauche
nur Entschuldigungen für das, was ich tun will. Warum sollte ich
nicht? Warum muß ich allein das ablehnen, was jedem Mann meiner
Kaste zu Recht gegeben ist? In seinem Kopf drehte es sich.
Tausend verschiedene Zukunftsmöglichkeiten rotierten vor ihm dahin:
in einer packte er das Mädchen und würgte ihren Hals; in einer
anderen sah er sich und das Mädchen in zärtlicher Umklammerung. Und
dieses Bild wuchs, trieb das Bewußtsein der Begierde in seinen
Körper. In einer weiteren Vision sah er das dunkle Mädchen tot vor
sich liegen … So viele Zukunftsmöglichkeiten,
so viel Tod und Verzweiflung … Krampfhaft, verzweifelt, die
vielfache Zukunft auszulöschen versuchend, nahm er das Mädchen in
die Arme und zog es aufs Bett nieder. Selbst als seine Lippen sich
auf die ihren senkten, dachte er an Verzweiflung und Leere. Was
macht das aus, wenn nur Untergang vor mir.
liegt …?
Wie aus dem Nichts kommend hörte er ihre kurzen Freudenschreie und
dachte in seinem Elend: Wenigstens ist sie
nicht unwillig. Und dann dachte er überhaupt nicht mehr. Es
war eine große Erleichterung.
5
Als er aufwachte, war das Mädchen fort, und
Allart lag einen Moment lang völlig bewegungslos, von Übelkeit und
Selbstverachtung überwältigt. Wie soll ich
mich davon abhalten, den Mann zu töten, der das über mich gebracht
hat …? Aber als das tote Gesicht seines Vaters in dem
vertrauten Zimmer mit grünen und goldenen Vorhängen vor ihm
auftauchte, erinnerte er sich streng: Mein war
die Wahl; er hat nur für die Gelegenheit gesorgt.
Trotzdem fühlte er eine überwältigende Verachtung gegen sich
selbst, während er durch das Zimmer ging und sich für die Reise
fertigmachte. In der vergangenen Nacht war ihm etwas über sich
selbst klargeworden, das er lieber nicht gewußt hätte.
In seinen sechs Jahren in Nevarsin hatte er keine Schwierigkeiten
gehabt, im frauenlosen Bereich des Klosters zu leben, ohne einen
Gedanken an sie zu verschwenden; sie hatten ihn nie gelockt, nicht
einmal beim Mittsommerfest, wenn auch die Mönche frei waren, sich
an den Lustbarkeiten zu beteiligen, Liebe oder ihr trügerisches
Abbild in der unteren Stadt zu suchen. So war er nie in die
schwierige Situation geraten, um seinen Entschluß kämpfen zu müssen
– nicht zu heiraten und keine Kinder zu zeugen, die den monströsen
Fluch des Laran trugen. Und doch, trotz
der Abscheu und des Ekels für das Ding, das Lella war, waren bei
der Berührung der auf obszöne Art weichen Fingerspitzen der
Riyachiya sechs Jahre selbstauferlegten
Zölibats in Minuten weggeworfen worden.
Was soll jetzt aus mir werden? Wenn ich meinem
Entschluß nicht eine einzige Nacht treu bleiben kann … In
den verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten, die er vor seinem nächsten
Schritt sah, gab es eine neue, und sie mißfiel ihm zutiefst: daß er
eine Kreatur wie Dom Marius werden könnte, die Hochzeit tatsächlich
hinnahm, um seine Gelüste später mit diesen unnatürlichen
gezüchteten Freudenmädchen zu befriedigen. Er war dankbar, daß ihr
Gastgeber nicht zum Frühstück erschien. Es war schon schwer genug,
seinem Vater gegenüberzutreten, und die Vision seines toten
Gesichts wischte die wirkliche, lebendige Präsenz des alten Mannes,
der wohlgelaunt über Brot und Haferbrei saß, beinahe aus. Dem
unausgesprochenen Verdruß seines Sohnes spürend (Allart fragte
sich, ob er von den Dienern oder Lella erfahren hatte, ob sein Sohn
zu den Männern gezählt werden konnte), blieb Dom Stephen stumm, bis
sie ihre Reitmäntel überzogen. Dann sagte er: »Wir werden die
Reittiere hier lassen, Sohn. Dom Marius hat uns einen Luftwagen
angeboten, der uns direkt nach Hali bringt, und die Diener können
sie in einigen Tagen nachbringen. Du bist nicht mehr mit einem
Luftwagen geflogen, seit du ganz klein warst, nicht
wahr?«
»Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt jemals mit einem geflogen
zu sein«, erwiderte Allart, der gegen seinen Willen. Interesse
verspürte. »Damals waren sie gewiß noch nicht sehr
verbreitet?«
»Nein, sie waren sehr selten, und natürlich sind sie Spielzeuge für
die Begüterten, da sie einen geschickten Laran-Fahrer erfordern«,
sagte Lord Elhalyn. »In den Bergen sind sie nutzlos; Böen und Winde
würden jedes Fahrzeug, das schwerer als Luft ist, gegen die Felsen
schleudern. Aber hier im Tiefland sind sie ausgesprochen sicher,
und ich habe gedacht, so ein Flug würde dich ablenken.«
»Ich gestehe, daß ich neugierig bin«, sagte Allart. Er überlegte,
daß Dom Marius von Syrtis wohl kein Opfer scheute, um sich bei
seinem Großfürsten einzuschmeicheln. Erst stellte er ihnen seine
bevorzugten Freudenmädchen zur Verfügung – und jetzt das! »Aber ich
habe in Nevarsin gehört, daß diese Apparate auch im Tiefland nicht
sicher sind. Wenn zwischen Elhalyn und Ridenow Kriege toben, könnte
man uns allzuleicht angreifen.«
Achselzuckend sagte Dom Stephen: »Wir haben alle Laran und könnten mit jedem Angreifer kurzen Prozeß
machen. Nach sechs Jahren Kloster sind deine Kampffertigkeiten ohne
Zweifel eingerostet, falls es zu einem Gefecht kommen sollte, aber
ich hege keine Zweifel, daß du jeden, der uns aus der Luft
angreift, schlagen kannst. Ich habe Feuer-Talismane.« Verschmitzt
schaute er seinen Sohn an und fuhr fort: »Oder willst du mir etwa
erzählen, daß die Mönche einen solchen Mann des Friedens aus dir
gemacht haben, daß du nicht dein Leben und das deiner Verwandten
verteidigen würdest, Allart? Mir scheint, ich erinnere mich, daß du
als Junge keine Lust zu kämpfen hattest.«
Nein, denn bei jedem Hieb sah ich für mich
oder einen anderen Tod oder Verderben, und es ist grausam von dir,
meine kindliche Schwäche zu verspotten, die nicht mein Fehler war,
sondern eine folge des verfluchten Erbes deines Blutes …
Laut jedoch sagte Allart, der sich zwingen mußte, das tote Gesicht,
das ständig vor seinen Augen erschien und das lebendige Gesicht
seines Vaters verschwimmen ließ, zu ignorieren: »Solange ich lebe,
werde ich meinen Vater und Fürsten bis zum letzten Blutstropfen
verteidigen, und die Götter mögen mir gnädig sein, wenn ich dabei
versage oder zögere.«
Erregt und von irgend etwas in Allarts Stimme entzückt, streckte
Lord Elhalyn die Arme aus und umarmte seinen Sohn. Zum ersten Mal,
solange Allart zurückdenken konnte, sagte der alte Mann zu ihm:
»Vergib mir, mein Sohn. Es war unter meiner Würde. Ich sollte dich
nicht grundlos beschuldigen.« Und Allart fühlte Tränen in seine
Augen schießen.
Die Götter mögen mir vergeben. Er ist nicht
grausam, und wenn er es doch ist, dann nur aus Angst um mich
… Er hat den aufrichtigen Wunsch, freundlich
zu sein …
Der Luftwagen war lang und glatt. Er bestand aus glänzendem,
glasähnlichem Material mit Zierstreifen aus Silber an den Seiten,
einer langen Kanzel mit vier Sitzen und war zum Himmel hin offen.
Cralmac rollten ihn aus dem Schuppen
und auf das Schmuckpflaster des Innenhofs, und der Fahrer, ein
schlaksiger junger Mann mit rotem Haar, das ihn als einen der
geringeren Edlen aus den Killgard-Hügeln auswies, näherte sich
ihnen mit einer knappen Verbeugung. Es war eine rein mechanische
Geste der Ehrerbietung; ein bestens ausgebildeter Experte, ein
Laranzu dieser Art brauchte niemandem
gegenüber untertänig zu sein, nicht einmal dem Bruder des Königs
von Thendara.
»Ich bin Karinn, Vai Dom. Ich habe den
Auftrag, Euch nach Hali zu bringen. Bitte nehmt Eure Sitze
ein.«
Er überließ es den Cralmac, Dom Stephen
in den Sitz zu heben und die Gurte festzuzurren, aber als Allart
seinen Platz einnahm, zögerte er einen Moment und fragte: »Seid Ihr
je in einem dieser Luftwagen geflogen, Dom Allart?«
»Nicht, daß ich wüßte. Wird er von einer Matrix angetrieben, die
Ihr allein handhaben könnt? Das wäre kaum zu glauben.«
»Nicht ganz. Dort drinnen« – Karinn zeigte auf den Luftwagen – »ist
eine Batterie, um die Turbinen anzutreiben. Es würde in der Tat
mehr Energie erfordern, als ein Mann zu seiner Verfügung hat, einen
solchen Apparat in die Höhe zu heben und zu bewegen, aber die
Batterien werden von Matrix-Kreisen aufgeladen, und deswegen wird
mein Laran nur benötigt, um das
Fahrzeug zu führen und zu steuern – und auf Angreifer zu achten und
ihnen auszuweichen.«
Sein Gesicht war ernst. »Ich würde mich meinem Großfürsten nie
widersetzen, und es ist meine Pflicht, zu tun, was mir aufgetragen
wird, aber … habt Ihr Laran?«
Während Karinn sprach, löste sich die Unruhe in Allart mit einer
plötzlichen, scharfen Vision auf. Er sah den Luftwagen
auseinanderbersten, explodieren, wie einen Stein vom Himmel fallen.
War das nur eine entfernte Wahrscheinlichkeit, oder lag sie
wirklich vor ihnen? Er hatte keine Möglichkeit, das zu
erfahren.
»Ich besitze genügend Laran, um
Unbehagen darüber zu fühlen, daß ich mich diesem merkwürdigen
Apparat anvertraue. Vater, man wird uns angreifen. Weißt du
das?«
»Dom Allart«, sagte Karinn, »dieser merkwürdige Apparat, wie Ihr
ihn nennt, ist das sicherste Transportmittel, das je von der
Matrix-Technologie ersonnen wurde. Zwischen hier und Hali würdet
Ihr, solltet Ihr drei Tage zu Pferd reisen, angreifbar sein. Mit
dem Luftwagen werdet Ihr vormittags schon dort sein, und man müßte
einen Angriff äußerst exakt vorausplanen. Darüber hinaus ist es
leichter, sich gegen Laran zu
verteidigen, als gegen solche Waffen, die man Euch mit Männern
entgegenschicken könnte. Es wird der Tag kommen, an dem alle Großen
Häuser sich solcher Erfindungen bedienen, um sich gegen mißgünstige
Rivalen oder aufständische Vasallen zu schützen. Dann wird es keine
Kriege mehr geben, denn kein vernünftiger Mensch wird diese Art von Tod und Zerstörung riskieren. Sicher
mögen solche merkwürdigen Apparate wie
dieser, Vai Dom, jetzt nur teure
Spielzeuge für die Reichen sein, aber irgendwann werden sie uns in
ein Friedenszeitalter führen, wie Darkover es noch nicht erlebt
hat.«
Er sprach mit einer solchen Überzeugung und Begeisterung, daß
Allart seine eigene aufkeimende Vision der schrecklichen
Kriegsführung mit noch gräßlicheren Waffen anzweifelte. Karinn
mußte Recht haben. Solche Waffen mußten vernünftige Menschen
einfach davon abhalten, Krieg zu führen. Wer solche Dinge erfand,
arbeitete unbewußt für den Frieden.
Seinen Sitz einnehmend sagte Allart: »Aldones, der Herr des Lichts,
möge geben, daß Ihr mit wahrer Voraussicht sprecht, Karinn. Und
jetzt wollen wir dieses Wunder sehen.«
Ich habe viele Möglichkeiten zukünftiger
Ereignisse gesehen, die nie eingetreten sind. Ich habe an diesem
Morgen herausgefunden, daß ich meinen Vater liebe, und ich werde
mich an die Überzeugung klammern, daß ich nie Hand an ihn legen
werde, ebensowenig, wie ich in der letzten Nacht den Hals jener
armen, harmlosen Riyachiya drosseln
wollte. Ich werde keinen Angriff fürchten, aber ich werde wachsam
sein, während ich mich an dieser neuen Art zu reisen
erfreue. Allart ließ sich von Karinn zeigen, wie man die
Gurte, die ihn im Sitz halten sollten, falls die Luft turbulent
würde, befestigte; er ließ sich auch das Gerät erklären, das seinen
Sitz hinter eine große Glasscheibe schwenkte, damit er sofort jeden
Angreifer und jede Bedrohung ins Blickfeld bekam. Aufmerksam
lauschte er, als der Laranzu seinen
Sitz einnahm, sich anschnallte und den Kopf in wacher
Aufmerksamkeit vorbeugte. Die batteriegetriebenen Turbinen fingen
an zu brüllen. Als Junge hatte Allart oft die winzigen Gleiter
benutzt, die von einer kleinen Matrix hochgehoben wurden, und war
auf den Luftströmen rund um den See von Hali geflogen. Er wußte um
die grundlegenden Prinzipien des Schwererals-Luft-Flugs, aber es
erschien ihm unglaublich, daß ein Matrix-Kreis – eine Gruppe eng
verbundener telephatischer Gehirne – eine Batterie stark genug
aufladen konnte, um solch mächtige Turbinen mit Energie zu
versorgen. Aber das Laran konnte
mächtige Kräfte hervorrufen, und eine Matrix die elektrischen
Ströme von Gehirn und Körper außerordentlich verstärken. Er fragte
sich, wie viele Gehirne es erforderte, und wie lange sie arbeiten
mußten, um solche Batterien mit laut summender Energie aufzuladen.
Er hätte Karinn gern gefragt – wollte aber die Konzentration des
Laranzu nicht stören –, warum solch ein
Gefährt nicht für den Bodentransport verwendet werden konnte, aber
sofort fiel ihm ein, daß für jedes Bodenfahrzeug Wege und Straßen
notwendig waren. Vielleicht würden Straßen eines Tages möglich
sein, aber auf dem unebenen Gelände im Norden der Killgard-Hügel
mußte der Bodenverkehr wahrscheinlich immer auf die Füße von Mensch
und Tier beschränkt bleiben.
Die summende Energie ließ sie schnell über eine ebene Startbahn
gleiten, deren glasähnliches Material auch mit Matrix-Kraft
gegossen sein mußte. Dann wurden sie in die Luft getragen, erhoben
sich schnell über Baumwipfel und Wälder und bewegten sich mit einer
solch erregenden Geschwindigkeit, daß sie Allart den Atem nahm, in
die Wolken hinein. Dies hier war mehr als ein Segelflug mit einem
Gleiter. Dieser Apparat war dem Spielzeug seiner Kindertage so
überlegen, wie ein Gleiter dem Trott des Chervine. Karinn machte eine Handbewegung. Der
Luftwagen wandte seine Schwingen nach Süden und flog über die
Wälder der Sonne entgegen.
Sie waren eine beträchtliche Zeit geflogen, als Allart anfing, die
Gurte als einengend zu empfinden und wünschte, er könne sie ein
wenig lokkern. Plötzlich spürte er Erregung, Alarmbereitschaft und
Angst in sich.
Wir werden beobachtet, verfolgt – man wird uns
angreifen! Schau nach Westen, Allart …
Allart blinzelte ins Licht. Kleine Punkte tauchten dort auf, einer,
zwei, drei – waren es Gleiter? Falls es zutraf, konnte so ein
Luftwagen sie schnell abhängen. Und Karinn wendete das Fahrzeug
tatsächlich mit flinken Handbewegungen, um den Verfolgern zu
entkommen. Einen Moment lang schien es, daß man ihnen nicht folgte.
Einer der gleitenden Punkte – Das sind keine
Gleiter. Sind es Falken? – segelte aufwärts, flog über ihnen
dahin, höher und höher. Es war tatsächlich ein Falke, aber Allart
konnte menschliche Intelligenz und ein Bewußtsein spüren, das sie
mit böswilliger Absicht beobachtete. Kein natürlicher Falke hatte
jemals Augen gehabt, die glitzerten wir große Juwelen! Nein, das ist kein normaler Vogel! Voller Unruhe
beobachtete er den schwebenden Flug des Tieres, das immer höher
stieg und sich mit weiten, schnellen Flügelschlägen in den Himmel
erhob …
Plötzlich löste sich ein schlanker, glänzender Gegenstand von dem
Vogel, fiel senkrecht nach unten und schoß wie ein Pfeil auf den
Luftwagen zu. Allarts Vision vermittelte ihm, bevor er einen
Gedanken fassen konnte, das Wissen um das, was geschehen würde,
wenn dieses lange, tödliche, wie Glas glänzende Ding den Luftwagen
traf: Er würde explodieren, jedes Stück von schrecklichem Haftfeuer
bedeckt, das hängen blieb an allem, was es berührte und unlöschbar
weiterbrannte, durch Metall und Glas, durch Fleisch und
Knochen.
Allart griff nach der Matrix, die er um den Hals trug, zerrte sie
mit zitternden Fingern aus der schützenden Seide. Ich habe wenig Zeit… Sich in die Tiefen des
Edelsteins versenkend, veränderte er sein Zeitbewußtsein, sah das
glasartige Ding immer langsamer fallen und konzentrierte sich so
auf seinen Brennpunkt, als nähme er es zwischen unsichtbare,
energetische Finger … Langsam, langsam, vorsichtig … Er durfte
nicht riskieren, es zu zerstören, solange es in den Luftwagen
fallen und Teile des Haftfeuers Fleisch und Wagen zerstören
konnten. Das verlangsamte Bewußtsein wirbelte beschleunigte
Zukunftsvisionen durch seinen Geist – er sah den Luftwagen in
Stücken auseinanderfliegen, seinen Vater vornübersinken, mit
Haftfeuer im Haar auflodern, Karinn wie eine Fackel aufflammen, und
den Luftwagen außer Kontrolle geraten, während er abstürzte,
schwerer als ein Stein … Aber von diesen Möglichkeiten durfte sich
keine ereignen!
Mit unendlicher Feinfühligkeit versenkte sich Allarts Geist in die
pulsierenden Lichter der Matrix, und mit geschlossenen Augen schob
er das glasartige Ding vom Luftwagen weg. Er spürte Widerstand,
wußte, daß der, der den Apparat führte, mit ihm um die Kontrolle
kämpfte. Er kämpfte stumm, ihm war, als versuchten seine wirklichen
Hände ein schlüpfriges, sich windendes, lebendes Ding zu halten,
während andere sich mühten, es ihm zu
entwinden und auf ihn zu schleudern. Karinn,
schnell, bring uns höher, wenn du kannst, damit es unter uns
zerbricht…
Er fühlte, wie sein Körper gegen die Gurte schleuderte, als der
Luftwagen abrupt nach oben kurvte; sah mit einem Teil seines
Verstandes seinen Vater zusammenbrechen und dachte mit jähem
Selbstbewußtsein: Er ist alt, gebrechlich,
sein Herz kann es nicht vertragen … Aber der Hauptteil
seines Verstandes war noch immer in den energetischen Fingern, die
mit dem sich windenden Apparat, der sich unter der Kontrolle seines
Geistes zu krümmen schien, kämpften. Jetzt waren sie beinahe weit
genug …
Die Explosion kam mit einem wilden Krachen. Sie schien Raum und
Zeit zu erschüttern, und Allart spürte einen beißenden, brennenden
Schmerz in den Händen. Schnell zog er sein Bewußtsein aus der Nähe
des explodierten Apparats zurück, aber das Brennen blieb. Er
öffnete die Augen und sah, daß das Ding tatsächlich unter ihnen
detoniert war, und Bruchteile des Haftfeuers in einem geschmolzenen
Schauer nach unten fielen, um die unter ihnen liegenden Wälder in
Flammen zu setzen. Ein Stück der gläsernen Hülle war nach oben
geschleudert worden, über den Rand des Luftwagens hinaus.
Dünnes Feuer breitete sich am Rand der Kanzel aus und griff mit
flammenden Fingern nach der Stelle, wo sein Vater vornübergebeugt
und bewußtlos lag.
Allart kämpfte seinen ersten Impuls nieder – sich vorzulehnen und
das Feuer mit den Händen auszuschlagen. Auf diese Weise konnte
Haftfeuer nicht gelöscht werden. Jedes Stück, das seine Hände
berührte, würde durch seine Kleider und sein Fleisch bis auf die
Knochen durchbrennen, solange es Nahrung fand. Erneut versenkte er
sich in die Matrix – er hatte keine Zeit, den Feuer-Talisman, den
Karinn ihm gegeben hatte, herauszuholen; er hätte ihn bereit halten
sollen! – rief seine eigenen Flammen und setzte sie dem Haftfeuer
entgegen. Sie loderten kurz empor, dann erstarb das Haftfeuer mit
einem letzten Lichtfleckchen und war verschwunden.
»Vater!« schrie Allart. »Bist du verletzt?«
Sein Vater streckte ihm zitternde Hände entgegen. Die äußere Kante
und der kleine Finger waren versengt, geschwärzt, aber soweit
Allart erkennen konnte, hatte er keine schwereren Verletzungen. Mit
schwacher Stimme sagte Dom Stephen: »Die Götter mögen mir vergeben,
daß ich deinen Mut in Frage gestellt habe, Allart. Du hast uns alle
gerettet. Ich fürchte, ich bin zu alt für einen solchen Kampf. Aber
du hast das Feuer sofort besiegt.«
»Ist der Vai Dom verletzt?« rief Karinn
von den Kontrollen her. »Seht! Sie sind geflohen.« Tatsächlich,
tief am Horizont konnte Allart die abziehenden Punkte sehen. Hatten
sie richtige Vögel mit dem Zauber der Matrix belegt, damit sie ihre
scheußlichen Waffen trugen? Oder handelte es sich um monströse,
herangezüchtete Mutationen, die ebensowenig Vögel, wie die
Cralmac Menschen waren? Oder hatte man
einen schrecklichen, mechanischen Apparat mit Matrix-Energien
ausgestattet, und ihn ausgeschickt, um tödliche Waffen gegen sie
anzuwenden? Allart wußte es nicht, und sein Vater befand sich in
einem solchen Zustand, daß er eine Verfolgung der Angreifer nicht
einmal in Gedanken erwog.
»Er hat einen Schock und geringfügige Verbrennungen«, rief er
Karinn besorgt zu. »Wie lange wird es dauern, bis wir da
sind?«
»Nur noch wenige Augenblicke, Dom Allart. Ich kann schon den Glanz
des Sees erkennen. Da, dort unten …«
Der Luftwagen kreiste, und Allart konnte die Uferlinie und den
schimmernden See sehen, der wie ein Meer von Edelsteinen an den
Küsten von Hali lag … Die Legende sagt, daß
jeder Sand, auf dem Hastur, der Sohn des Lichts, wandelt, zu
Edelsteinen wird … Und da waren die merkwürdigen
Heller-als-Wasser-Wellen, die sich unaufhörlich am Ufer brachen. Im
Norden standen glänzende Türme, das Herrenhaus von Elhalyn, und am
entfernten Ende des Sees der Turm von Hali, in sanftem Blau
schimmernd. Als Karinn abwärts steuerte, löste Allart die
beengenden Gurte und kletterte neben seinen Vater, nahm die
verbrannten Hände in seine und versenkte sich in die Matrix, um mit
dem geistigen Auge zu sehen und das Ausmaß der Verletzungen
festzustellen. Die Wunde war in der Tat nur geringfügig; sein Vater
litt nur unter einem Schock. Und sein Herz raste mehr aus Angst,
als vor Schmerz. Unter sich konnte Allart Diener in den
Hastur-Farben sehen. Sie rannten auf das Landefeld, als der
Luftwagen sich heruntersenkte. Allart hielt die Hände seines Vaters
in den seinen und versuchte, alles, was er voraussehen konnte,
auszulöschen. Visionen, keine von ihnen ist
wahr … Der Luftwagen ist nicht in einem Flammenmeer explodiert… Was
ich sehe, muß nicht notwendigerweise eintreten — es handelt sich
nur um das, was kommen kann, aus meinen Ängsten geboren
…
Der Luftwagen berührte den Boden. Allart schrie: »Holt die
Leibdiener meines Vaters! Er ist verwundet. Ihr müßt ihn
hineintragen!« Er hob seinen Vater hoch, ließ ihn in die wartenden
Arme der Diener gleiten und folgte ihnen, als sie die gebrechliche
Gestalt hineintrugen. Von irgendwo sagte eine vertraute Stimme, die
ihm vor Jahren verhaßt gewesen war: »Was ist mit ihm geschehen,
Allart? Seid ihr in der Luft angegriffen worden?« Sie gehörte
seinem älteren Bruder, Damon-Rafael.
Er beschrieb kurz die Begegnung, und nickend sagte Damon-Rafael:
»Das ist die einzige Art, mit diesen Waffen umzugehen. Sie haben
also die Falken-Dinger benutzt? Sie haben sie uns schon ein- oder
zweimal geschickt, aber bisher nur eine Baumwiese verbrannt.
Deswegen waren in diesem Jahr die Nüsse knapp.«
»Im Namen aller Götter, Bruder, wer sind diese Ridenows? Sind sie
vom Blut von Hastur und Cassilda, daß sie solche LaranWaffen gegen uns senden können?«
»Sie sind Aufsteiger«, sagte Damon-Rafael. »Am Anfang waren sie
Trockenstadt-Banditen, dann sind sie nach Serrais gezogen und haben
die alten Familien gezwungen – oder sie eingeschüchtert –, ihnen
ihre Töchter zu Frauen zu geben. Die Serrais hatten starkes
Laran, einige von ihnen jedenfalls, und
jetzt kannst du das Ergebnis sehen. Sie werden stärker. Sie reden
von Waffenstillstand, und ich glaube, wir müssen mit ihnen
verhandeln, denn die Kämpfe können nicht mehr lange so weitergehen.
Aber sie werden keine Kompromisse akzeptieren. Sie wollen den
Besitz von Serrais und erheben den Anspruch, daß sie mit ihrem
Laran das Recht dazu haben … Aber das
ist nicht die Zeit, um über Krieg und Politik zu sprechen, Bruder.
Wie steht es um unseren Vater? Er schien nicht sehr schlimm
verletzt, aber wir müssen ihm sofort eine Heilkundige schicken.
Komm.«
Man hatte Dom Stephen in der Großen Halle auf eine gepolsterte Bank
gelegt. Eine Heilkundige stand neben ihm, strich Salben auf seine
verbrannten Finger und verband sie mit weichen Stoffen. Eine andere
Frau hielt einen Weinbecher an die Lippen des alten Fürsten. Er
streckte eine Hand nach seinen auf ihn zueilenden Söhnen aus, und
Damon-Rafael kniete neben ihm nieder. Als er seinen Bruder
anblickte, kam es Allart vor, als schaue er in einen Zerrspiegel.
Sieben Jahre älter, war DamonRafael ein wenig größer und schwerer
als er selbst, hellhaarig und grauäugig wie alle Hasturs von
Elhalyn, und sein Gesicht zeigte erste Anzeichen zunehmenden
Alters.
»Die Götter seien gepriesen, daß Ihr uns erhalten geblieben seid,
Vater!« »Dafür mußt du deinem Bruder danken, Damon. Er war es, der
uns gerettet hat.«
»Und wenn es nur dafür wäre, würde ich ihn zuhause willkommen
heißen«, sagte Damon-Rafael, wandte sich um und zog seinen Bruder
in eine herzliche Umarmung.
»Willkommen, Allart. Ich hoffe, du bist gesund und ohne die
krankhaften Launen, die du als Junge hattest, zu uns
zurückgekehrt.« »Bist du verletzt, mein Sohn?« fragte Dom Stephen
mit einem besorgten Blick auf Allart. »Ich habe gesehen, daß du
Schmerzen hattest.« Allart zeigte ihm seine Hände. Er war von dem
Feuer in keiner Weise körperlich berührt worden, aber er hatte dem
Feuer-Apparat mit der Berührung seines Geistes bewegt, und die
Schwingungen waren bis in seine Hände vibriert. Überall auf den
Handflächen waren rote Brandmale, die sich bis zu den Handgelenken
erstreckten, aber der Schmerz war – wenn auch heftig – traumhaft,
und ging von seinem Geist und nicht von dem verletzten Fleisch aus.
Er konzentrierte sein Bewußtsein. Der Schmerz ging zurück. Die
rötlichen Male begannen langsam zu verschwinden.
Damon-Rafael sagte: »Laß mich dir helfen, Bruder.« Er nahm Allarts
Finger in seine Hände und konzentrierte sich intensiv auf sie.
Unter seiner Berührung wurden die roten Male weiß. Lord Elhalyn
lächelte. »Ich freue mich sehr«, sagte er. »Mein jüngerer Sohn ist
zu mir zurückgekehrt, stark und ein Krieger, und meine Söhne stehen
als Brüder zusammen. Die Arbeit dieses Tages ist gut getan, wenn er
auch gezeigt hat…»
»Vater!« Allart sprang zu ihm, als die Stimme mit erschreckender
Abruptheit abbrach. Die Heilkundige kam schnell heran, als der alte
Mann nach Atem rang. Sein Gesicht wurde unter dem Blutandrang
dunkler; dann sank er vornüber, glitt auf den Boden und blieb
regungslos liegen.
Damon-Rafaels Gesicht war von Schrecken und Kummer verzerrt. »Vater
…« flüsterte er. Allart, der in Entsetzen und Verzweiflung neben
ihm stehend, blickte sich zum ersten Mal in der Großen Halle um und
sah was er in der ersten Verwirrung gar nicht wahrgenommen hatte:
die grünen und goldenen Vorhänge, der große, geschnitzte Sessel am
anderen Ende des Raumes.
Es war also die Große Halle meines Vaters, in
der er tot lag, und ich habe es erst gesehen, als es zu spät war …
Meine Vorausschau war richtig, aber ich habe ihre Ursache falsch
gedeutet… Selbst das Wissen um die vielen Möglichkeiten verhindert
nicht…
Damon-Rafael senkte weinend das Haupt. Die Arme ausstreckend sagte
er zu Allart: »Er ist tot; unser Vater ist ins Licht gegangen.« Die
Brüder umarmten sich. Allart zitterte immer noch vor Entsetzen über
das plötzliche Eintreffen der Zukunft, die er vorhergesehen
hatte.
Um sie herum knieten die Diener einer nach dem anderen nieder und
wandten sich den Brüdern zu. Damon-Rafael riß sich, obwohl sein
Gesicht von Kummer verzerrt war und sein Atem stoßweise kam,
zusammen, als sie die traditionellen Worte sprachen.
»Unser Fürst ist tot. Lang lebe unser Fürst.« Und kniend streckten
sie ihre Hände aus, um Damon-Rafael zu huldigen.
Allart kniete nieder. Er war, wie es Recht und Gesetz entsprach,
der erste, der dem neuen Großfürsten von Elhalyn, Damon-Rafael,
Gehorsam gelobte.
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