Aber er wollte nicht, daß eine Fremde Alicias Schmuck trägt. Er wollte, daß du ihn bekommst und etwas ganz für dich alleine besitzt, das du auch verkaufen oder eintauschen könntest, falls du einmal in Not geraten solltest.«

Caillen wußte nicht, was sie davon halten sollte. Wie sie es auch drehte und wendete, es beunruhigte sie, selbst wenn sich dadurch neue Möglichkeiten eröffneten.

»Und schließlich noch ein Geschenk von eher sentimentalem Wert.

Er wünschte, daß du zur Erinnerung an ihn seinen Siegelring behältst.«

»Nein, das kann nicht sein!« Diesmal widersprach sie heftig. »Das Siegel gebührt dem Herren des Gutes. Es symbolisiert Asturias. Ich bin mir sicher, daß es dir gehört.«

»Glaub mir, Schwester, es ist, wie ich es gesagt habe. Vater hat es mir ausführlich erklärt, damit ich mich nicht zurückgesetzt fühle oder glaube, er liebte mich weniger, weil ich nicht sein leiblicher Sohn bin. Das Siegel soll dich trösten und daran erinnern, daß er auf dich genauso stolz wie auf seinen Erben war. Und dann sagte er mir noch, daß ich mich jederzeit an dich um Rat wenden könnte, falls die Verantwortung in jungen Jahren an mich fiele, denn du weißt alles, was ein Erbe Di Asturiens wissen muß.«

Caillen nahm das Siegel in ihre Hand, und jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Corys war bestürzt und versuchte verlegen, sie aufzumuntern.

»Laß nur, es ist schon in Ordnung. Aber ich möchte jetzt eine Weile allein sein.«

Sie trocknete ihre Tränen und ließ sich von der neuen Erkenntnis trösten. Nach der langen Zeit der Mißverständnisse war ihr plötzlich alles klar geworden. Diese beiden gerissenen Alten, Aldric und Geom!

Jetzt erkenne ich, was für einen Handel ihr abgeschlossen habt.

Zum ersten Mal wurde ihr die ganze Tragweite dieses Handels bewußt. Aldric gewann einen prächtigen Erben für Asturias, den er aufziehen konnte, ohne seine Frau damit zu beschämen. Und zudem hatte er in Lord Elhalyn einen neuen, mächtigen Verbündeten.

Geom seinerseits konnte auch seinem jüngeren Sohn ein stattliches Gut sichern. Aber was noch wichtiger war: Er bekam eine Schwiegertochter, die Elhalyn vor der Mißwirtschaft des unfähigen Erbens bewahren konnte. Jetzt verstehe ich, worin meine Mitgift wirklich bestand. Es war meine Erziehung, die gesamte Vorbereitung auf das, was ich als Herrin der Domäne benötigen würde, um sie vor Rauls Stümperei zu schützen und für eine kommende Generation zu erhalten.

Diese nächste Generation trug sie jetzt unter ihrem Herzen. Caillen legte ihre Hand auf den Bauch und konnte das winzige Leben, das sich in ihr regte, spüren. Und da wußte sie mit Gewißheit, was sie bislang schon geahnt hatte: Das Kind würde ein Mädchen werden.

Also gut, Vater, ich nehme meine Rolle in eurem Handel an …

zumindest fürs erste. Es würde ihr nun leichter fallen, da sie wußte, daß sie ihr Schicksal nicht etwa der Geringschätzung ihres Vaters verdankte, sondern im Gegenteil der großen Hochachtung, die die beiden Verstorbenen für sie empfanden. Sie würde nach Elhalyn zurückkehren und ihr Möglichstes tun. Sollte es völlig unerträglich werden, hatte Aldric ihr durch sein letztes Vermächtnis immer noch einen Ausweg offen gelassen.

Aber hört noch eines, Aldric und Geom, wo immer ihr jetzt seid. Ich füge dem Handel meine eigene Bedingung hinzu. Falls mein Kind sich würdig erweist, falls meine Tochter mehr nach der Mutter als nach dem Vater kommt, dann werde ich dafür sorgen, daß sie eines Tages Elhalyn in ihrem Namen regieren kann. Das soll mein Vermächtnis sein.

AIMEE KRATTS

Die Hexe aus den Kilghard-Bergen

Aimee Kratts schreibt mir: »Ich bin überrascht, erschrocken, glücklich und aufgeregt, weil sie meine Geschichte für ihre Anthologie ausgewählt haben!

Ich habe in den letzten Jahren Ihre Bücher gelesen und bewundert, aber erst kürzlich habe ich den Mut aufgebracht, selbst etwas einzuschicken. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es veröffentlicht würde. Schließlich ist es die erste Erzählung, die ich einem Verleger angeboten habe. Wer hätte das gedacht?«

Aber wie ich richtig vermutet habe, schreibt Aimee schon seit Jahren alles mögliche. (Mir ging es nicht anders. Ich habe zu »schreiben« begonnen, noch ehe ich einen Bleistift richtig halten konnte, indem ich meiner Mutter Gedichte diktierte. Mir graut bei dem Gedanken, daß irgend jemand auf der Suche nach einem obskuren Dissertationsthema sie eines Tages ausgraben könnte.)

Aimee wuchs in einer Kleinstadt namens Saranac Lake im Norden des Staates New York auf, und sie fügt hinzu: »Sie dürfen mir glauben, da oben ist es kälter als in den Hellers.« Das kann ich nur bestätigen. Ich bin selber dort groß geworden, und die Idee zu den Hellers kam mir sicherlich nicht, als ich in Texas lebte. Und noch eine Gemeinsamkeit: Aimee erreicht wie ich das »Gardemaß« von 1,60 m. »Und für alle, die an weiteren äußerlichen Details interessiert sind: Ich habe braune Haare, braune Augen und unzählige Sommersprossen. Von der Abstammung her bin ich zu drei Viertel deutsch, aber man könnte mich leicht für eine Irin halten. Es reicht zumindest, um in Heathrow gefilzt zu werden.« Sie hat eine Schwäche für Sport, Handarbeiten, alte Spielfilme, Kunstgewerbe, Schokolade und Whiskey-Liköre. Nun ja, Sport und Schokolade überlasse ich gerne anderen. Die Geschmäcker sind eben verschieden, und es wäre langweilig, wenn beim Rennen alle auf das gleiche Pferd setzen würden – sofern man sich überhaupt für Pferderennen interessiert. Wie lautet doch eine alte chinesische Weisheit: »Es steht seit langem fest, daß ein Pferd schneller als das andere rennt.« Womit ich nichts gegen Dick Francis und seine Krimis in diesem Milieu gesagt haben will – sie gehören nach wie vor zu meiner bevorzugten Lektüre.

Amilha spähte verstohlen durch die in Nebel gehüllten Bäume auf die Straße. Angestrengt lauschte sie auf die Geräusche ihrer Verfolger. Und sie konnte sie hören, zwar noch entfernt, aber sie ritten unverkennbar in ihre Richtung.

Sie kämpfte gegen ihre Angst und Tränen an und redete beruhigend auf das Pony, das sie gestohlen hatte, ein. »Psst, psssst, mein Kleiner. Du mußt ruhig bleiben. Bitte, bitte! Ja, so ist’s gut.

Komm, friß etwas. Du wirst es brauchen, wir haben noch eine lange

… Reise vor uns. Psst!«

Das Pony schnupperte am Boden und begann still zu grasen.

Das Hufgeklapper galoppierender Pferde kam näher und immer näher. Amilha schluckte und hielt den Atem an. Sie zitterte heftig.

Als die vier Reiter vorbeipreschten, hob das Pony den Kopf und schaute neugierig zur Straße. Jetzt ist es um mich geschehen. Gleich wird das Pony die anderen Pferde begrüßen und kräftig loswiehern. Aber alles blieb still. Das Pony schaute nur die Reiter an, dann Amilha, und dann begann es erneut friedlich zu grasen.

Erschöpft von der Anspannung und doch erleichtert atmete sie auf, als sie auf den Boden sank. Ich muß mich jetzt erst etwas ausruhen.

Sie konnte sich kaum mehr rühren, so sehr schmerzten ihre Muskeln. Während sie so dasaß, eilten ihre Gedanken zu den Ereignissen der vorangegangenen Nacht zurück.

Bard! Bard di Asturien! Allein schon der Name ließ sie zusammenfahren, aber ihre Angst wich mehr und mehr dem aufkommenden Zorn. Wäre ich gestern nur nicht an seinem Zimmer vorbeigegangen! Hätte ich mich nur nicht umgedreht, als er meinen Namen rief! Mit seinem Laran hat er mir die Sinne geraubt und mich gezwungen, Dinge zu tun, die ich niemals vorher getan habe. Oh, wie ich ihn hasse!

Warum haben meine Eltern mich bloß als Zofe von Lady Jerana nach Asturias geschickt? Sie kannten doch Bards Ruf! Und trotzdem haben sie mich fortgeschickt! Warum nur? Ich weiß ja, daß mein Vater nie viel für mich übrig hatte. Es war schon schlimm genug, daß er mir nicht gestattete, in den Turm zu gehen. Aber wie konnte er mich nur solch einer Gefahr aussetzen?

Sie schlang die Arme um die Knie und wiegte sich auf dem weichen Gras schluchzend hin und her. Auch ihre Mutter würde ihr nicht glauben, daß es Bards Schuld war. »Warum sollte Bard ausgerechnet dich begehren? Schau dich bloß mal an, wie unansehnlich du mit deinen struppigen Locken bist, die du nie richtig pflegst. Und überhaupt, du bestehst doch nur aus Haut und Knochen, vorne nichts und hinten nichts.« Das war stets die nüchterne Erkenntnis ihrer Mutter gewesen, wenn sie Amilhas Heiratschancen abschätzte. Und dann hätte sie Amilha sicher noch Vorwürfe gemacht: Sie habe ja schon immer geahnt, daß so etwas passieren würde! Ob sie denn keinen Anstand besäße, wie es sich für junge Mädchen gehört? Und daß sie sich ein Beispiel an ihren Schwestern nehmen solle!

Aber Amilha wußte genau, warum Bard sich an ihr vergriffen hatte. Es bereitete ihm ein perverses Vergnügen, Jungfrauen die Unschuld zu rauben und sie auf seine männlich vulgäre Art zu entehren. Beim Gedanken an den Schmerz und die Erniedrigung der letzten Nacht kamen ihr erneut die Zornestränen. Nie, nie, nie werde ich zu dieser Burg zurückkehren! Sie können nach mir suchen, bis alle Gletscher in den Hellers abgeschmolzen sind. Sie werden mich nicht finden!

Das Pony wieherte leise und holte Amilha mit einem Stups in die Gegenwart zurück. Sie richtete sich unsicher auf und atmete tief und langsam durch. »Was sollen wir heute Nacht bloß tun, mein Kleiner?« fragte sie das Pony. »Und wo sollen wir bleiben?« Es wurde bereits dunkel, und sie konnte die Entscheidung nicht länger herausschieben. Den ganzen Tag war sie nur von dem einzigen Gedanken getrieben worden, Burg Asturias so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Aber jetzt erkannte sie, wie wichtig es war, einen klaren Plan zu haben.

»Wenigstens habe ich mich noch in der Küche eingedeckt, bevor ich losgeritten bin. Sonst müßte ich mich auch von Gras ernähren wie du, mein Kleiner.« Sie nahm eine Handvoll Dörrobst aus ihrer Tasche, um ihren knurrenden Magen zu besänftigen, und überlegte sich dabei, wohin sie nun reiten könnte. »Der Turm von Neskaya liegt südlich von hier. Es ist gar nicht so weit. Aber nein, sie würden mich nicht ausbilden. Nicht in meinem Zustand, dafür hat Bard gesorgt. Ganz abgesehen davon, daß die Leronis dort das bißchen Laran, das ich anscheinend habe, nicht einmal genau identifizieren konnte. Ich wäre höchstens als Überwacherin geeignet.« Sie seufzte.

»Und außerdem würde Vater dort zuerst nach mir suchen.

Schließlich weiß er ja, wie sehr ich mir gewünscht habe, in den Turm zu gehen.«

»Edelweiß liegt ebenfalls im Süden, und auch das ist nicht weit.«

Aber beim Anblick ihrer verschmutzten Kleider mußte Amilha auch diese Möglichkeit ausschließen. »Die Städter würden sicher Verdacht schöpfen, wenn ich ganz ohne Begleitung dort auftauchte.

Der erste, der mich so sieht, wird sich in den Kopf setzen, mich zur Burg zurückzubringen, um die ausgesetzte Belohnung zu kassieren.«

»In den Bergen gibt es viele Jagdhütten. Da könnte ich mich verstecken.« Ein Jagdhorn erschallte. Amilha fuhr zusammen. Sie wußte, was es bedeutete, Jagdbeute zu sein. »Nein! Wo Jagdhütten sind, sind auch Jäger.«

Schließlich kam ihr ein anderer Gedanke, eine letzte Möglichkeit, so kühn sie auch war. »Was hältst du von der Schwesternschaft vom Schwert, mein Kleiner?« fragte sie das Pony aufgeregt. »Vielleicht brauchen sie ja eine Köchin. Oder ich könnte mich sonstwie nützlich machen.« Amilha gefiel die Vorstellung. Sie nahm die Zügel in die Hand und blickte sich noch einmal um. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Sie war es nicht gewohnt, die Nacht ganz allein im Freien zu verbringen, und wieder überkam sie lähmende Angst.

»Ach, Kleiner, was soll ich bloß tun?« klagte sie und lehnte sich an einen Baum.

Weg von der Straße! Hier bist du nicht sicher. Der Gedanke kam wie von selbst, und Amilha glaubte fast, in ihm den Rat einer alten Tante wiederzuerkennen.

Das Pony wieherte leise, trabte zu ihr hin und rieb sanft seine Nüstern an ihrer Schulter. Amilha war völlig erschöpft und gähnte.

Nur der knorrige, alte Baum, an den sie sich anlehnte, hielt sie noch aufrecht und schien sie mit seiner wuchtigen Gestalt zu trösten. »Ich bin so müde, ich könnte tot umfallen. Aber wir dürfen hier nicht bleiben. Wir müssen von der Straße weg.«

Sie drehte sich um und blickte ängstlich in den Wald, der sich dunkel und drohend vor ihr erstreckte. Vielleicht wäre es ja gar nicht so schlimm, wenn ich zur Burg zurückreite. Es war nur ein flüchtiger Gedanke, den sie sogleich verwarf. Sie redete sich laut Mut zu:

»Mach dir doch nichts vor! Auf der Burg erwartet dich nur Bestrafung und Schlimmeres, nämlich Bard. Du mußt weiter! Hier gibt es nur Bäume, und die werden dir nichts antun.«

Sie atmete tief durch und ritt in den Wald hinein. Ihr war, als ob sanfte Stimmen ihr zusäuselten: Bleib bei uns, Chiya. Wir wollen dich trösten, Chiya. Äste und Zweige hielten sie zurück und ließen sie stolpern, ihr langer Rock und ihre offenen Haare verfingen sich im Gestrüpp, so daß sie mehrfach anhalten mußte, um sich wieder zu befreien. Sie hatte kaum 200 Meter zurückgelegt und schon raste ihr das Herz wie wild. »Wir werden beobachtet, mein Kleiner! Ob das die Hexe aus den Kilghard-Bergen ist?« Vor Erschöpfung kicherte Amilha kindisch und begann, dem Pony ein altes Märchen zu erzählen.

»Du hast doch sicher schon von der Kilghard-Hexe gehört, Chiya?«

Dabei tätschelte sie, mehr zur eigenen Aufmunterung, dem Pony den Hals. »Ein häßliches altes Weib, das kleine Kinder tötet, schmort und verschlingt. Sie opfert junge Mädchen, um ihre Dämonen zu besänftigen. Jäger führt sie in die Irre, macht ihre Waffen unbrauchbar und läßt Bäume auf sie herabstürzen. Ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen, sie ist das Böse schlechthin. Ich kenne eine alte Frau, die die Hexe einmal gesehen hat …« Was tat sie denn da? Sie redete doch nur mit einem Pony, das sich weder um Märchen scherte, noch sich davor fürchtete.

Amilha setzte sich hin und rieb sich die Schläfen. »Wenn ich ehrlich bin, mein Freund, dann kenne ich keinen einzigen, der die Hexe je zu Gesicht bekommen hat. Ich habe immer nur Geschichten darüber gehört.« Und wenn sie es sich recht überlegte, konnte sich Amilha an nichts erinnern, das sie der Hexe tatsächlich zuschreiben konnte.

Märchen, nichts als Märchen.

Der Wind rauschte in den Bäumen, und die Geräusche des nächtlichen Waldes wiegten sie in den Schlaf. Sie wählte das mächtige Wurzelwerk eines großen, alten Baumes als Lager und verkroch sich in einer schützenden Kuhle. Am Himmel über ihr standen die vier Monde Darkovers, die ihr wie zauberhafte Wächter erschienen. Es war das letzte, woran sie sich erinnern konnte, bevor sie einschlief.

Im Traum begegnete ihr Bard. Sie war wieder auf der Burg, und er schlich sich an sie heran. Sie wollte fliehen, aber wie angewurzelt blieb sie stehen. Die Angst wuchs zu einem Ungeheuer an, hielt sie in seinen Klauen, raubte ihr Sinn und Verstand. Amilha kämpfte hilf- und hoffnungslos dagegen an. Bard packte sie am Arm.

Plötzlich befanden sie sich in einem Tal. Zwischen ihnen stand eine Eiche, versperrte ihm den Weg. Bard versuchte, um das Hindernis herum zu laufen, aber Amilha ließ einen der unteren Äste hervorschießen – der Trieb schlang sich um Bards Hals und erdrosselte ihn. Er lief tiefrot an und seine Augen quollen hervor.

Eine alte Frau tauchte auf und schaute abwechselnd Bard und Amilha an. Ihr zahnloser Mund verzog sich zu einer Grimasse. »Es steht in deiner Macht, dies zu vollbringen«, krächzte die Alte. »Oder aber dies …« Und Amilha sah im Traum, wie sie einen verwundeten Hirsch heilte. »Es ist deine Entscheidung. Was wirst du wählen?«

Und das Gelächter der Hexe hallte durch das ganze Tal.

Amilha schreckte aus dem Traum hoch. Sie hatte geglaubt, sie würde Bard umbringen, wenn sie dazu die Möglichkeit hätte. Jetzt hatte sie es zumindest im Traum getan, hatte von der Tat keine abstrakte Vorstellung mehr, sondern ein konkretes Bild vor Augen.

Und das ließ sie erkennen, daß sie nie fähig wäre, ihre Macht so zu mißbrauchen wie es Bard tat. Sie seufzte. So restlos zufrieden war sie mit sich und ihrer Entscheidung nicht; sollte sie denn ganz auf Rache verzichten?

Die rote Sonne stand schon seit mehreren Stunden am Himmel und hatte längst den Morgentau verdunsten lassen. Amilha stöhnte:

»Sag mal, Kleiner, bist du auf mir rumgetrampelt, während ich geschlafen habe? Ich fühle mich wie ein Tanzboden nach dem Mittwinterfest.« Ausgeruht, aber mit steifen Gliedern, erhob sie sich langsam von ihrem ungemütlichen Nachtlager.

Das Pony rupfte unbekümmert Gras, was Amilha daran erinnerte, daß sie selbst noch nichts im Magen hatte. Während sie ein paar getrocknete Früchte kaute, überlegte sie, wie die Reise weitergehen sollte.

Ich muß nach Osten reiten, um die Schwesternschaft vom Schwert zu finden. Man sagt, daß sie sich manchmal auf die Insel des Schweigens zurückziehen, um sich der Heilkunst zu widmen. Vielleicht könnte auf der Insel eine Heilerin mich darin unterweisen, mein Laran auf diese Art und Weise zu gebrauchen. Dann mußte sie wieder an Bard denken. Voller Abscheu schüttelte sie diese Gedanken schnell wieder ab und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Wenn ich ostwärts nach Marenji und zur Insel des Schweigens reite, treffe ich unterwegs vielleicht eine Schwertfrau, der ich mich anschließen kann. So ganz wohl war ihr nicht bei der Vorstellung, mit einer Gesetzlosen zu reisen.

Zumindest hatte sie immer sagen hören, diese Frauen seien gesetzlos. Sie haben kein Schamgefühl. Schneiden sich die Haare ab und tragen Hosen!

»Was werden sie wohl von mir halten, wenn sie mich so sehen?«

Die Aussichtslosigkeit ihrer Lage lastete schwer auf ihren jungen Schultern. Sie zwang sich zu einem traurigen Lächeln und versuchte, sich davon nicht ganz unterkriegen zu lassen. Sie nahm das Pony beim Zügel, orientierte sich grob am Stand der roten Sonne und wandte sich dann nach Osten, ritt immer tiefer in die Kilghard-Berge.

Gegen Abend überkam Amilha erneut ein Gefühl der Beklommenheit. Wenn sie den Geschichten, die sie über die Kilghard-Hexe gehört hatte, glauben durfte, dann hauste sie in diesem östlichen Teil des Waldes, wo seltsame Geschöpfe und geheimnisvolle Zauberwesen lauerten. Würde sie der Hexe über den Weg laufen? Amilha versuchte, erst gar nicht daran zu denken.

Sie konnte nicht genau sagen, welche Entfernung sie am ersten Tag zurückgelegt hatte. Jedenfalls schien es ihr, daß sie nur langsam vorwärts kam. Die weiten Röcke behinderten sie beim Gehen. In ihren Haaren hatte sich Ungeziefer eingenistet, obwohl sie es inzwischen hochgebunden hatte. Sie hatte sich den Kopf bereits blutig gekratzt.

Drei Tage war sie so schon unterwegs. Und drei Nächte hatte sie von Bard, den Bäumen, der Hexe und dem Hirsch geträumt.

Am vierten Tag hörte sie das Rauschen eines Flusses. Verdreckt und erschöpft wie sie war, hielt sie hoffnungsvoll darauf zu. Aber da hörte sie auch Stimmen. Männerstimmen! »Wenn ich mich nur endlich waschen könnte, Kleiner«, flüsterte sie dem Pony zu. »Und Wasser brauchen wir auch.« Die Verzweiflung trieb sie an und machte sie mutiger als sonst. Sie ließ das Pony zurück und schlich sich näher an das Gewässer heran, bis sie schließlich deutlich Gesang hören konnte.

Bredin sind wir bis zum Tod!

Steh’n uns bei in jeder Not!

Der Brüderschaft sind ewig wir geweiht!

Kein Streit im Leben uns entzweit!

Amilha wich zurück und verbarg sich hinter einem dichten Busch.

‘Noch keine Männer. Zwei junge Burschen. Sie tobten und tollten lautstark im Wasser umher und genossen ihre frisch begründete Brüderschaft in vollen Zügen. Amilha spähte erneut durch das Gebüsch. Sie waren nackt und freuten sich ohne falsche Scham an ihren Körpern. Vor ein paar Tagen noch hätte ich dem in aller Unschuld zuschauen können. Ihre Miene verfinsterte sich und sie zog sich zurück. Aber jetzt weiß ich, wie ihr wirklich seid. Ihr Schweine!

Plötzlich schnaubte ein Pferd. Amilha, fuhr zusammen. Keine zehn Fuß entfernt standen, an einen Baum gebunden, zwei Wallache. Beide trugen Satteltaschen. Welch ein Glück!

Vorsichtig und leise näherte sie sich den Pferden. Eines der beiden hob den Kopf und schnupperte an ihrer Hand, danach graste es weiter. Da von dem fremden Mädchen offenbar nichts zu befürchten war, verhielt sich auch sein Artgenosse ruhig.

Amilha öffnete eine der Satteltaschen und zog einige Kleidungsstücke hervor: eine alte, braune Reithose, ein grob gewebtes Hemd und einen schweren Wollkasack. Der anderen Tasche entnahm sie ein Paar Stiefel. Darunter entdeckte sie noch eine dicke Wolldecke, die Wärme für die Nacht versprach. Dennoch wagte sie es nicht, die Decke an sich zu nehmen. Ich hätte nie gedacht, daß eine einfache Wolldecke mir einmal so viel bedeuten würde. Amilha strich fast schon andachtsvoll mit der Hand über den rauhen Stoff, aber bevor sie noch weiter in Versuchung geriet, verschloß sie die Taschen wieder. Die Decke war so schwer, daß ihr Fehlen sofort aufgefallen wäre, und Amilha wollte nicht riskieren, verfolgt zu werden. Sie hatte sich hier schon viel zu lange aufgehalten.

Mit den erbeuteten Sachen unterm Arm lief Amilha so schnell wie möglich zu ihrem Pony zurück. Wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht im Unterholz zu straucheln und dadurch die Jungen noch zu alarmieren. Das Pony hatte wie immer geduldig auf sie gewartet.

Amilha riß ihren Unterrock in Streifen und band damit die Kleider zu einem Bündel zusammen, das sie dem Pony um den Hals hängte.

Dann nahm sie es beim Zügel und führte es vom Fluß weg weiter nach Nordosten. Da sie immer noch befürchtete, verfolgt zu werden, gönnte sie sich bis zum Abend keine Pause. Als sie endlich rasteten, war Amilha so erschöpft, daß sie unter dem nächsten größeren Baum sofort einschlief.

Am Morgen wickelte sie die Kleider aus und entdeckte dabei einen kurzen Dolch, der in dem Wollkasack verborgen gewesen war. »Na, wenn das kein Glück ist! Jetzt kann ich … ja, was eigentlich? … Ach, zu irgend etwas wird er schon nützlich sein.« Zuerst probierte sie die Hosen und Stiefel an; beide waren nur ein bißchen zu groß. Das Hemd und die Weste schlabberten etwas, waren aber sehr bequem.

Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich Amilha frei und unbeschwert.

»Schau dir das an, Kleiner! Kein blöder Rock, der dich nur einengt.«

Sie tanzte und sprang um die Bäume herum, bis sich ein Zweig in ihren Haaren verfing und sie schmerzhaft zurückhielt. »Autsch!«

Vorsichtig versuchte sie, Haare und Gebüsch zu entwirren, aber als es ihr schließlich gelang, waren ihre Locken voller Kletten.

»Wenn ich doch bloß ein Junge wäre! Dann bräuchte ich mich nicht mit langen Haaren herumärgern.« Dabei fiel ihr Blick auf den Dolch, der neben ihrem Kleid auf dem Boden lag. Seine Klinge schimmerte in der Morgensonne und schien ihr eine Lösung anzubieten.

»Nein, das geht zu weit. Ich kann mir doch nicht die Haare abschneiden«, jammerte sie zaghaft vor sich hin. »Kein Mann würde mich je heiraten …« Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende.

Stattdessen griff sie hastig nach dem Messer, und nach wenigen Augenblicken lagen ihre wundervollen Kupferlocken wie rotbraunes Herbstlaub am Boden verstreut. Trotzig warf sie den Kopf zurück, aber als sie sich niederkniete, um die einstige Lockenpracht unter einem Busch zu vergraben, mußte sie doch seufzen. »Das dürfte dann wohl das Ende meiner Mädchenjahre sein.«

Eine wohltuende Brise strich ihr warm und tröstlich um den entblößten Nacken.

Am siebten Tag erreichte Amilha einen Höhenkamm, von dem aus sie die Hügellandschaft gut überblicken konnte. Ein unter dem ständigen Wind schief gewachsenes Bäumchen bot ihrem müden Körper eine natürliche Sitzgelegenheit. Es war Hochsommer und die Bäume standen jetzt voll im Saft; ein einziger, riesiger, grüner Teppich erstreckte sich vor ihr, so weit das Auge reichte, und bedeckte Hügel und Täler. Die große Nordstraße hatte sie längst hinter sich gelassen.

»Ob wir es jemals bis zur Insel des Schweigens schaffen werden, Kleiner? Und was dann? Was könnte ich der Schwesternschaft schon anbieten, falls ich sie dort überhaupt antreffe. Ich habe nichts Wertvolles.«

Außer dir selber.

Amilha fuhr herum. Aber da war niemand! Dafür war aber sie nun am Ende ihrer Kraft und Geduld. »Wer bist du?« flehte sie.

»Warum folgst du mir und erschreckst mich so?«

Keine Antwort. Nur das Rauschen des Winds in den Blättern.

»Es ist nicht das erste Mal, daß ich dich höre!« rief sie jetzt zornig.

Wieder keine Antwort. Nur eine Biene summte zwischen den Blumen. Ihre Neugierde war stärker als ihre Angst, und so setzte sie sich wieder auf den Baumstamm und fragte fast schon vertraulich:

»Warum kann ich dich nicht sehen?«

Du kannst es! Schau dich nur um, ich bin dir so nah.

»Aber ich kann kein Geschöpf erblicken, weder Mensch noch Tier.«

Nicht mit den Augen, sondern in Gedanken sollst du mich erkennen.

Amilha schloß ihre Augen und konzentrierte sich. Sie versuchte, sich die Hexe vorzustellen, wie sie ihr im Traum erschienen war.

Aber außer der Äderung ihrer Augenlider, durch die rote Sonne noch verstärkt, konnte sie nichts wahrnehmen.

»Ich kann dich nicht sehen. Ich bitte dich, sag mir, wer du bist?«

Sie glaubte, den Widerhall eines leisen Kicherns zu hören. Oder doch nicht? Sie konnte es nicht sagen.

Amilha hatte genug von dem Ratespiel, stand auf und versuchte, eine mögliche Marschroute durch die Hügel festzulegen. Sie konnte zunächst keinen bestimmten Anhaltspunkt ausmachen, bis sich plötzlich über einem kleinen Waldstück die Wolken teilten und die Sonnenstrahlen auf ein weißes Gebäude fielen. »Was ist denn das da drüben, Kleiner? Ob da jemand wohnt? Es sieht aus wie ein weiß getünchtes Haus aus Holz, oder vielleicht sogar aus Stein. Und ist das nicht ein Türmchen auf dem Dach? Vielleicht ist es eine Kapelle!« rief sie aufgeregt. »Das würde bedeuten, daß dort eine heilige Frau lebt! Und ich könnte mich dort ein paar Tage ausruhen und Proviant sammeln, bevor wir unsere Reise fortsetzen. Oder ich könnte sie um Rat fragen. Vielleicht kann sie mir sagen, was ich tun soll.« Beflügelt von ihrer Entdeckung, rannte sie den Abhang hinunter und vergaß dabei völlig das Pony, das ihr brav hinterhertrottete.

Sie brauchte noch fast zwei Stunden, um die Waldkapelle zu finden, die sich in einem kleinen Tal befand. Amilha sah sie erst, als sie unmittelbar davor stand. Vielleicht habe ich mich schon zu weit vorgewagt. Was nun, wenn da jemand lebt, der nichts mit anderen Menschen zu tun haben möchte? Oder wenn es gar die Hexe ist? Sie wich zurück und versteckte sich hinter den Büschen, erkannte aber ihren Fehler. Es war bereits zu spät. Eine Hexe mit Laran hätte längst von ihrer Anwesenheit gewußt. Und wenn es jemand auf sie abgesehen hatte, gab es sowieso kein Davonkommen mehr. Diese Lektion hatte ihr Bard beigebracht. Aber diesmal hatte sie immerhin einen Dolch.

Der Lederknauf in ihrer Hand fühlte sich ungewohnt an, beruhigte Amilha aber dennoch. Langsam ging sie auf das Haus zu. Die Steinstufen waren mit wunderschönen Waldblumen in allen möglichen Farben überwachsen: rosarot, und gelb und orange. Aber sie ließ sich davon nicht ablenken. Sie würde sich nicht noch einmal einlullen und dann überwältigen lassen!

»Ist da jemand?« fragte sie zaghaft. Keine Antwort. Dann erinnerte sie sich an ihre eigenen bescheidenen Laran-Fähigkeiten und sandte einen forschenden Gedanken aus. Ist da jemand?

Keine Antwort, nur ein Willkommensgruß – in Gedanken?

Amilhas Herz hämmerte wie wild, als sie langsam die Stufen hinaufschlich. Sie fühlte sich so elend, als ob es zu ihrer eigenen Hinrichtung ging. Die rostigen Angeln quietschten, als sie die Eichentür einen Spalt weit öffnete. Dann warf sie sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen die altersschwache Tür, und ihr war dabei, als ob sie sich von einer Klippe stürzen würde.

Die Tür gab nach. Mit einem schrillen Schrei stürzte Amilha herein, strauchelte und schlug mit dem Gesicht auf dem Steinfußboden auf. Sie warf sich auf den Rücken und tastete panisch nach dem Dolch, den sie im Sturz hatte fallen lassen. Jetzt war sie unbewaffnet, jetzt würde die Hexe zuschlagen! Sie wußte, daß sie sofort zurückschlagen mußte, denn Laran konnte sie nicht entkommen.

Sie sprang auf. Was war das? Sie sah …

… eine zu Tode geängstigte Maus, die laut fiepend durch die offene Tür floh. Ansonsten war niemand in der Kapelle. »Niemand hier? Wie ist das möglich? Wo bist du?« schrie Amilha hysterisch.

»Mein Herz rast wie toll, ich habe mir eine blutige Nase geholt, und das alles wegen einer Maus?« Das Komische an dieser Situation schmerzte sie beinahe ebenso sehr wie ihr Sturz auf den harten Fußboden, und sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sich Amilha wieder beruhigte.

Ihr Schluckauf war noch nicht ganz vorbei, als sie sich daran machte, die Kapelle nach brauchbaren Dingen zu durchsuchen. Es war nur ein kleiner Raum, kaum größer als Lady Jeranas Nähzimmer. Der Boden war mit Staub und Unrat bedeckt, den der Wind durch die offenen Fenster hereingeweht hatte. Außer einer morschen Pritsche, die Amilha mit einem Fußtritt herausbeförderte, gab es keine Möbel. Der kleine Altar an der Kopfseite der Kapelle war kahl, und die Nische, in der einst die Statue irgendeiner Gottheit gestanden hatte, beherbergte jetzt die entflohene Maus. An jeder Seite gab es ein Fenster und in einer der Ecken neben der Tür befand sich eine kleine Feuerstelle.

»Vielleicht sollte ich mich trotz allem hier ein paar Tage ausruhen«, seufzte Amilha. »Dann kann ich hier auch gleich ein bißchen sauber machen.« Energisch stemmte sie die Hände in die Hüften und beschloß: »Als erstes verschwindet dieses Mäusenest!«

Sie hob das Nest aus Laub, Gras und Flaumen behutsam hoch, brachte es nach draußen und legte es fein säuberlich in einen morschen Baumstumpf am Talrand. Sie war schon fast wieder zur Kapelle zurückgekehrt, als sie im Unterholz etwas rascheln hörte.

Sie drehte sich schnell um, um einen Blick von dem kleinen Waldbewohner zu erhaschen. Stattdessen sah sie in der untergehenden Sonne etwas kurz aufblitzen.

Amilha ging zu der Hausecke, von der aus das Licht reflektiert worden war. »Was war denn das, Kleiner?« Das Pony schaute bei der Frage auf, konnte aber keine Antwort geben. »Hier muß irgend etwa herumliegen, das glänzt. Vielleicht noch ein Messer, oder ein Kochtopf.« Sie kniete sich hin und wühlte in einem großen Haufen aus Zweigen und totem Laub, die der Wind gegen die Hauswand geweht hatte. »Also hier scheint nichts zu sein. Halt, warte mal! Was ist denn das? Ein Tuch? Unter einem Haufen alter Blätter?«

Sie hielt einen Stoffetzen in der Hand, der anscheinend zu einem vermoderten Umhang oder Mantel gehörte. Sie versuchte, ihn aus dem Haufen hervorzuziehen, aber er steckte fest. Mit einem Ruck zerrte sie daran, und zum Vorschein kamen – Knochen.

»Aaahhh!«

Amilha

schrie

entsetzt

auf.

Es

waren

Menschenknochen, fast schon völlig vermodert. Bei dem grauenvollen Anblick hätte sie beinahe den kleinen grünen Stein übersehen, der ebenfalls hervorkullerte. Sie schnappte ihn noch schnell, bevor sie in den Wald davonstürzte.

Erst in sicherer Entfernung, als sie die Kapelle schon nicht mehr sehen konnte, blieb sie nach Atem ringend stehen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und erkannte schon bald, wie töricht es gewesen war davonzurennen. Von einem Haufen alter Knochen droht mir keine Gefahr. Wenn man es vernünftig betrachtet … Ein schwacher Trost.

Mittlerweilen war es dunkel geworden, und die Geräusche der Nacht raunten und zirpten ihr zu, doch wieder Zuflucht in der steinernen Kapelle zu suchen. Also kehrte sie langsam um und lief beklommen zur Kapelle zurück. Den Haufen Knochen umging sie so weit wie möglich. Die Holztür quietschte erbärmlich, als Amilha sie schließlich hinter sich zuzog.

»Was mache ich hier? Wo kann ich hin?« Es war niemand da, der ihr hätte antworten können. Verzweifelt glitt sie an der Wand, an der sie nach Halt suchend lehnte, hinab und begann zu weinen.

»Meine Eltern werden mich nicht wieder aufnehmen, denn für eine Heirat zu ihrem Vorteil komme ich nicht mehr in Frage. Der Turm ist mir verwehrt, denn ich bin keine Jungfrau mehr. Die Schwesternschaft wird mich für zu schwach halten. Und wie soll ich ohne Arbeit in den Städten überleben? Ich kenne kein Gewerbe …

und das eine Gewerbe … nein, niemals! Oh, Avarra, hilf mir! Was kann ich tun?«

Amilha hatte ganz vergessen, daß sie immer noch den Stein in Händen hielt. Als sie sich nun Rotz und Wasser aus dem Gesicht wischte, schürfte sie sich damit die Wange auf. »Autsch!« Da sie im Dunkel aber weder die Wunde, noch den Stein untersuchen konnte, steckte sie ihn vorsichtig in ihren Beutel. Dann verkroch sie sich in die vom Eingang am weitesten entfernte Ecke, wo sie auf den Anbruch der Dämmerung warten wollte. In ihrer Erschöpfung überkam sie bald ein tiefer, traumloser Schlaf.

Es war noch immer dunkel, als eine Stimme sie weckte. Nur Idriel sandte ihre Mondstrahlen in das Zimmer, in dem sie lag. »Wer ist da?« flüsterte sie.

Niemand antwortete.

Sie wartete noch eine Weile, aber nichts passierte. Ihr schwaches Laran, so glaubte Amilha, hatte sie wieder einmal zum Narren gehalten. Sie wollte sich keine falschen Hoffnungen machen, aber sie mußte immer wieder an den grünen Stein in ihrem Beutel denken.

Sie konnte ihn förmlich durch den Stoff pulsieren spüren. Vorsichtig öffnete sie den Beutel und nahm den Stein heraus. Er fühlte sich weder heiß noch kalt an, aber im Mondlicht erstrahlte er in einem Grün, das sie nie zuvor gesehen hatte. »Wie wunderschön er ist!«

Amilha drehte den Stein hin und her und versuchte ihn so zu halten, daß sich das Mondlicht an seinen Kanten brach und funkelte, aber es gelang ihr nicht. Der Stein schien die Mondstrahlen in sich aufzunehmen und nicht wieder freizugeben. Da wußte sie, was sie in den Händen hielt. Einen Sternenstein!

Aber ein grüner Sternenstein? Bislang hatte sie nur blaue gesehen, aber das war auch egal; Sternensteine waren jedenfalls kein Spielzeug, und eigentlich sollte sie ihn sofort wieder sicher verwahren. Das wollte sie auch tun, aber irgend etwas hielt sie davon ab. Seine Schönheit zog sie magisch an. Und jemand schien sie darum zu bitten, tiefer in die Matrix zu blicken. »Nein! Das werde ich nicht tun! Du kannst mich nicht dazu zwingen! Eher werde ich dich zertrümmern!« Tastend suchte sich nach ihrem Dolch, aber sobald sie ihn berührte, schreckte ihre Hand davor zurück. Stattdessen umschloß sie den Stein mit beiden Händen. »Du kannst mich nicht dazu zwingen, in dich hineinzuschauen!« schrie sie.Doch dann tat sie genau das.

Amilha spürte, wie sie immer weiter in die smaragdgrüne Tiefe des Steins hinabgezogen wurde. Ein grüner Sternenregen blendete sie und betäubte ihre Sinne. Tiefer und tiefer versank sie in dem allumfangenden Grün – das Grün des Lebens im Wald, in den Blättern an den Bäumen und dem Gras auf den Wiesen. Es war das Grün der Natur selbst.

Hallo, Amilha, sprach eine sanfte Stimme.

Sie war noch immer ganz vom Grün verschlungen, aber die Angst war von ihr gewichen. »Hallo?« erwiderte sie.

Kannst du mich jetzt sehen? fragte die Stimme.

Es war hellichter Tag!

»Nein. Wer bist du? Bist du der Geist jener Knochen, den ich gestört habe?«

Sie vernahm ein warmes Lachen wie das muntere Plätschern von Regentropfen im Sommer. Nein, das bin ich nicht, aber ich kannte sie, als sie noch lebte. Sie war einst ein junges Mädchen wie du.

»Aber wer bist du dann? Und wo bist du?«

In der Stimme lag die Frische des Frühlings und die Reife des Herbsts, als sie antwortete. Im Wald, Chiya. Und in deinen Gedanken.

Dein Laran läßt uns miteinander sprechen.

»Mein Laran? Aber die Leronis hat gesagt, mein Laran wäre kaum der Rede wert.«

Aber das ist es! Es ist eine ganz besondere Form von Laran , Chiya. Nur eine unter Zehntausend besitzt es. Es ist die besondere Gabe, die dich in Verbindung mit –

»Aber du hast mir noch immer nicht gesagt, wie du aussiehst und wer du bist!« unterbrach Amilha.

Diesmal färbte die Reinheit unberührten Schnees die Antwort.

Schau aus dem Fenster und dort wirst du mich erkennen: in jedem Baum, jedem Grashalm, jeder Blume, jedem Bach, in jedem Regentropfen und Sonnenstrahl. Ich bin, wonach du immer gesucht hast. Ich bin die Natur.

Die Hexe aus den Kilghard-Bergen.

LYNNE ARMSTRONG-JONES

Garrens Gabe

Während ich die eingesandten Geschichten lese, kommt mir immer eine Annahme in den Sinn, die ich hier – aufgrund meiner fünfzigjährigen Erfahrung – richtig stellen möchte. Es scheint nämlich ein weitverbreitetes Mißverständnis zu sein, daß ein angehender Autor immer »jemanden kennen« muß. Das stimmt nicht; als ich zu schreiben begann, war ich eine unscheinbare kleine Hausfrau im hintersten Texas und kannte keine Seele –

jedenfalls keinen Verleger! Mein erster Mann riet mir damals, mein anfängliches Geschreibsel nirgendwo einzuschicken, weil die Verleger, so meinte er, auf den Gedanken kämen, ich sei als Schriftstellerin völlig unbrauchbar, und nur noch aufstöhnen würden, wenn mein Name wieder einmal auf ihrem Schreibtisch landete.

Er hatte offensichtlich unrecht, und inzwischen kann ich auch sagen warum. Ich entdecke im Stapel ungelesener Manuskripte immer wieder einen vertrauten Namen; und schon interessiere ich mich für die Arbeit von jemandem, der mir mittlerweilen wie ein alter Bekannter vorkommt; jemand, dessen Arbeit darum die Zeit und Mühe lohnt, gelesen zu werden

– ganz egal, ob ich diese Geschichte dann verwenden kann oder nicht.

Wenn ich mich mit Unmassen von Machwerken herumschlagen muß, die ebenso gut ans PLAYBOY-Magazin adressiert sein könnte, dann ist es ganz tröstlich, etwas von jemandem zu lesen, der oder die weiß, was ich will, beziehungsweise was ich nicht will.

Ich bin mir ziemlich sicher, daß Lynne mir keine weiteren Geschichten über AIDS-infizierte Vampire zusenden wird – lachen Sie nicht, auch das ist schon vorgekommen; oder aber SF-Geschichten, in denen das Raumschiff interessanter als die Besatzung ist. Und selbst wenn sie es täte, würde ich die Geschichte erst lesen, bevor ich sie ablehne; denn dazu kenne ich »meine« Autorin zu gut.

Lynne hat mir diesmal vier Geschichten eingesandt, und es tut mir leid, daß wir grundsätzlich nur eine Geschichte eines Autors pro Band annehmen können.

Es gibt eigentlich nur eines, was schöner für mich ist, als einen alten Bekannten im Poststapel wiederzutreffen – nämlich neue Bekanntschaften zu schließen.

Lynne Armstrong-Jones ist Mitte dreißig, verheiratet und hat einen Sohn; sie lebt in Kanada.

Garren blickte aus dem Fenster und betrachtete die herbstlich gefärbten Blätter, die träge zu Boden sanken. Er atmete erleichtert auf und genoß es, nicht länger auf der Hut sein zu müssen, sondern sich – endlich! – einfach nur entspannen zu können. Er bewegte Kopf und Nacken, um die schmerzende Anspannung aus seinen Schultern zu vertreiben.

Endlich! Wie viele Jahre hatte er seinem Bruder als Friedsmann dienen müssen? Aber jetzt gehörte alles ihm! Sein Bruder Piers war nun schon seit mehreren Wochen vermißt – und das machte Garren zum Herren über die Gegend. Nichts lag näher, schließlich glichen sich Garren und Piers wie ein Ei dem anderen.

Zwillinge. Eineiige Zwillinge. Und trotzdem …

Und trotzdem gab es ein Geheimnis, das nur der Familie bekannt war.

Garren hatte die Familiengabe nicht geerbt.

Garren besaß kein Laran. Piers Begabung war dagegen stark ausgeprägt … Und das hatte Garrens Lage nur umso unerträglicher gemacht.

Garren strich sich mit der Hand durch das rotbraune Haar und seufzte. Aber es sollte ihm nicht viel Zeit bleiben, seinen Gedanken nachzuhängen.

»Was gibt’s?« fragte er lauter, als er beabsichtigt hatte Er richtete sich auf und runzelte die Stirn, was seinem Gesichtsausdruck die Strenge verleihen sollte, die er für angebracht hielt.

Sie müssen mich für genau so stark wie Piers halten – auch wenn ich es nicht bin!

»Dom Garren.« Die Tür öffnete sich und ein Schwertkämpfer erschien, der sich leicht verbeugte. »Ein Bote von Dom Win ist eingetroffen. Es ist dringend, vai dom.«

Garren mußte schlucken. Er versuchte, sich gerade zu halten, und hoffte, daß man ihm seine Besorgnis nicht anmerken würde. Er verfluchte die Tatsache, daß sein Bruder, der nur ganze fünfzehn Minuten älter war als er, alle Begabungen geerbt hatte, die ihn zur Führerschaft befähigten! Dann eilte er in die Halle, um den Boten zu empfangen. Insgeheim flehte er zu Avarra, daß es eine gute Nachricht sein möge.

Das war sie aber nicht. Natürlich nicht!

Der Bote beendete die Nachricht und nahm wieder seinen normalen Gesichtsausdruck an. Als geschulter Bote hatte er es verstanden, Stimme und Mimik seines Herren Dom Win nachzuahmen, während er dessen Worte wiedergab.

Garren stammelte ein paar Dankesworte. Es machte ihn verlegen, daß seine Hand beim Gestikulieren so sehr zitterte.

»Dom Garren«, begann der Schwertkämpfer. »Was sollen wir tun, wenn diese Männer wirklich angreifen? Wir müssen unser Land beschützen! Dom Piers hätte sein mächtiges Laran eingesetzt …«

»Ich bin aber nicht Dom Piers!« fuhr ihn Garren an und wollte damit doch nur seine Unsicherheit kaschieren. »Ich weiß schon, was zu tun ist, Ronnado. Laßt mich allein.«

Ronnado musterte Garren kurz, dann verbeugte er sich und verließ den Raum. Garren gab seinem Zittern erst nach, als sich die Tür hinter dem Mann zu schließen begann.

»Ja! Was gibt es denn schon wieder?« Er warf der Haus-Leronis, die ihn durch den Türspalt beobachtete, einen mißmutigen Blick zu.

Sie war die schlechte Laune des neuen Lords noch nicht gewohnt und blinzelte verunsichert. »Dom Garren, habt Ihr in der Überwelt etwas von Dom Piers gesehen? Ich kann für Euch die Überwachung übernehmen, falls Ihr weiterzusuchen wünscht. Ihr seid sein Zwilling; bestimmt – «

»Nein!« Was wollte das verdammte Weib? Garren brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Nein, Rafa. Keine Neuigkeiten.«

Er konnte den Blick der Frau nicht erwidern. Er wußte, wie schwer es ihr fiel. Sie hatte Piers sehr gemocht.

Natürlich! Wer hatte das nicht? Und jetzt sah sich Garren der schier unmöglichen Aufgabe gegenübergestellt, den Platz seines Bruders einzunehmen – und das ohne das Laran, das seinem Bruder so viel Respekt eingebracht hatte. Sein Nacken versteifte sich erneut.

Genau in diesem Augenblick sprang eine orangefarbene Katze auf seinen Schoß. Als ob sie den Kummer ihres Herrn gespürt hätte, schmiegte sie ihren Kopf in seine Hand und schnurrte beruhigend.

Da gestattete Garren sich schließlich doch ein leichtes Lächeln.

Während sein Bruder damit beschäftigt gewesen war, sein Laran zu entwickeln, hatte Garren die meiste Zeit in den Stallungen oder im Hof bei den Tieren verbracht, die ihn bedingungslos akzeptierten.

Es war mitten in der Nacht, als Ronnado ihn weckte. Dom Win hatte nur allzu recht behalten.

In dem Streben, Land und Macht ihrer Vorväter wiederzuerlangen, erhoben Rafe MacEwans Männer Anspruch auf Garrens Besitz. Trotz der nächtlichen Kühle standen Garren Schweißtropfen auf der Stirn, als er hinter Ronnado die Treppe hinabeilte. Mit schreckensgeweiteten Augen dachte er an die Unzulänglichkeit seiner Verteidigungsvorkehrungen.

Heilige Avarra, steh uns allen bei!

»Vai dom«, übertönte Ronnado den Tumult im Hof, wo die Männer aufgeregt hin- und herliefen. »Wir müssen losreiten und sie aufhalten! Wir dürfen sie nicht näher kommen lassen!«

Garren nickte. Er wußte, daß Ronnado das einzig Richtige vorgeschlagen hatte. Zugleich wußte er aber auch, daß sie kaum eine Chance gegen die Übermacht hatten; es hieß, MacEwan habe Dutzende von Männern in seinem Gefolge. Garren schwang sich in den Sattel und schaute zu der Leronis hinüber, die auf dem Rücken ihres kleinen Ponys saß.

Sie erwiderte seinen Blick.

Sie weiß es. Er konnte es spüren.

Und seine Verzweiflung erinnerte ihn daran, wie unterschiedlich er und sein Bruder in Wahrheit waren … um wie vieles geringer er als Piers war …

»Dom Garren!« Ronnados Stimme peitschte ihn aus seinen Gedanken.

»Ja? Also dann, vorwärts!« brachte Garren mühsam hervor.

So ritten sie in den Kampf. Über ihnen wurde der schwarze Himmel von zwei Monden erhellt, während unten die Schatten im Widerschein der Fackeln tanzten.

Die ersten Strahlen der Sonne züngelten rubinrot über dem Horizont, als Garren und seine Männer die heranrückenden Angreifer sahen.

Zu viele, es waren viel zu viele!

Garren tätschelte seinem Hengst beruhigend den Hals – oder wollte er sich vielmehr selbst damit beruhigen?

Mit einem Mal war die Leronis an seiner Seite. Er blickte zu der Frau auf ihrem Pony herab, die ebenso müde und mutlos wirkte wie er.»Ich – ich habe getan, was ich konnte, um ihren Vormarsch zu verlangsamen, aber ich fürchte, ich kann allein gegen so viele nichts ausrichten. Und was ihnen an Laran fehlt, machen sie durch ihre Entschlossenheit wett. Wenn nur Dom Piers hier wäre …«

Benutze dein Laran! Ihr Blick war ein einziges Flehen. Wenn ich es nur könnte, dachte Garren.

Ein Schrei riß ihn aus seinen Gedanken. Er sah, wie einer seiner Männer zu Boden stürzte, als sein Pferd vom Pfeil getroffen unter ihm zusammenbrach.

Nein! Das darf ich nicht zulassen! Wenn ich doch nur etwas dagegen tun könnte. Irgend etwas!

Eine phantastische Vorstellung formte sich in ihm. Pferdekörper bäumten sich auf, zügellos, ihrem eigenen Willen gehorchend …

»Halt! Brrr!« Er riß seinen Hengst am Zügel herum und brachte ihn wieder mit Blickrichtung zum Feind zum Stehen.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag!

Er starrte geradeaus auf den ständig vorwärtsrückenden Feind.

Dieses Bild verbannte er aus seinen Gedanken, stattdessen konzentrierte er sich darauf, seine eigene Vorstellung auszusenden.

Wie er es mit der Katze getan hatte, wenn er als Kind allein und einsam war; wie er es mit dem Chervine getan hatte, wenn er wollte, daß es ihm durch den Wald folgte; wie er es unzählige Male …

jawohl, auch mit …

Sein Kopf hämmerte vor Konzentration; Schweiß rann ihm in die Augen, so daß alles um ihn herum verschwamm …

»Vai dom«, meldete sich Rafas ruhige Stimme. »Mit welcher ungewöhnlichen Begabung gelingt es Ihnen, Dutzende von Pferden dazu zu bewegen, mit einem Mal kehrt zu machen und in eine andere Richtung davonzugaloppieren?«

Garren wollte gerade etwas erwidern, auch wenn er nicht recht wußte, was er darauf antworten konnte, aber die Leronis fuhr fort:

»Es ist faszinierend! Mit Eurer Erlaubnis, Dom Garren, würde ich sehr gerne etwas von Eurer Fähigkeit im Umgang mit Tieren lernen.

Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, aber ich würde mir größte Mühe geben. Viel Hoffnung habe ich allerdings nicht, denn ich besitze nur ganz gewöhnliches Laran.«

Garren mußte blinzeln, bevor er den Blick der Frau erwidern konnte.

Sie lächelte ihm zu.

Und auch dieses Lächeln erwiderte er. Die Anspannung war aus Nacken und Schultern gewichen.

JOAN MARIE VERBA

Der entfesselte Sturm

Joan Verba lebt in Minnesota, eine Gegend, die – zumindest im Winter –

Darkover in mancherlei Hinsicht recht ähnlich ist. Soviel ich weiß, kennen die Eskimos elf verschiedene Ausdrücke für Schnee – oder sind es siebenundvierzig oder noch mehr? Wenn das in Minnesota nicht der Fall ist, liegt es jedenfalls nicht am Schneemangel.

Joan gehört von Anfang an zu den Freunden von Darkover und hat regelmäßig zu diesen Anthologien beigetragen. Das einzig Neue, das in ihrer Kurzbiographie entnehmen kann, ist die Tatsache, daß sie gegenwärtig ein astronomisches Sachbuch über die Voyager-Mission schreibt. Weitere Details kann man in den Einleitungen zu ihren Geschichten in vier vorausgegangenen Darkover-Anthologien nachlesen.

Ich fühlte mich wie nach einer siegreichen Schlacht. Normalerweise verliefen die Sitzungen des Comyn-Rates geruhsam; die Sitzungsperiode galt eher als soziales denn als politisches Ereignis.

Keiner hatte mit Widerstand gegen den Vorschlag gerechnet, den Bewahrern und Arbeitern der verschiedenen Türme Sitz und Stimme im Rat zu verleihen; um so größeres Vergnügen bereitete es mir, sie mit meinem Einspruch zu überraschen. Noch mehr dürfte sie schockiert haben, daß die Alton-Domäne in diesem Punkt geteilter Meinung war: ich, der angehende Erbe der Domäne, führte die Opposition an, während mein Vater, Lord Rafael Alton, ebenso vehement den Vorschlag befürwortete. Die Debatte hatte sich festgefahren und die Abstimmung wurde vertagt, was einem Sieg für mich und einer Niederlage für meinen Vater gleichkam.

Fast glaubte ich, die Wortwechsel in der jetzt leeren Kristallkammer nachklingen zu hören. Ich lehnte mich zurück, legte die Füße hoch und kostete den Augenblick voll aus. Dabei schweifte mein Blick müßig zur Decke.

»Nun, bestaunst du dein Werk?«

König Stefan Hastur war in die Kammer zurückgekommen. Ich nahm schnell die Füße vom Tisch und wollte aufstehen, aber er deutete mir mit einer Geste an sitzenzubleiben. Lächelnd kam er zur Alton-Loge herüber und setzte sich neben mich.

Ich erwiderte sein Lächeln. Stefan und ich waren Altersgenossen und hatten schon als Kinder zusammen gespielt. Ich hatte ein Jahr als Pflegesohn auf Burg Hastur verbracht, und später kam er im Gegenzug nach Armida.

»Alle Achtung für deinen Bau«, meinte Stefan. »Wenn ich Burg Thendara errichtet hätte, würde ich mir wahrscheinlich einen Hügel suchen, von dem aus ich sie ständig bewundern könnte.«

Ich lachte. »So eitel bin ich nun auch wieder nicht. Ich dachte mir nur: Wenn sich die Oberhäupter der Domänen schon jedes Jahr hier auf dem Marktplatz von Thendara versammeln, dann könnten wir uns ebenso gut ein paar Annehmlichkeiten leisten, anstatt im Matsch herumzustehen. Außerdem hatte ich dadurch wenigstens etwas Beschäftigung, als ich in diesem verdammten Turm eingesperrt war.«

»Ach so«, sagte Stefan und legte dabei einen Finger gedankenvoll an die Wange. »Deshalb hast du dich gegen das Stimmrecht des Turms ausgesprochen – eine Art Rache.«

»Von wegen Rache«, erwiderte ich. »Die Telepathenkaste maßt sich einfach zuviel an. Ich habe nichts dagegen, daß sie sich organisieren, um gemeinsam zu erreichen, was ein einzelner Telepath nicht schafft. Aber wenn man sie heute zum Rat zuläßt, dann wollen sie morgen ganz Darkover beherrschen, laß dir das gesagt sein. Jetzt verlangen sie bereits einen weiteren Turm hier in der Burg, und dabei habe ich ihnen gerade erst großzügig den bestehenden Turm gebaut. Das eine kann ich dir sagen: Dieser Burg wird erst ein weiterer Turm hinzugefügt, wenn meine Knochen am Ufer von Hali liegen, und keinen Tag früher. Ich habe diese Burg nicht für sie gebaut; ich habe sie gebaut, damit sie uns dienen können.«

»Du hast sie entworfen, Gwynn. Aber gebaut haben andere die Burg.«

»Sie haben sie nach meinen Plänen und Angaben gebaut. Ich gehörte selbst zu dem Turmkreis, der sie errichtet hat. Ohne die Macht meiner verdammten Alton-Gabe hätten sie nichts erreicht.«

Ich lehnte mich zurück. »Und mehr werde sie von mir nicht bekommen.«

»Ich werde mich davor hüten, die Alton-Gabe herauszufordern.«

Wir lächelten beide. Stefan besaß die Hastur-Gabe, die sein Vater in ihm erweckt hatte, noch bevor Stefan König wurde. Als Kind hatte Stefan weiße Haare gehabt, die erst später, als er heranwuchs, die rote Färbung annahmen. Groß und schlank wie ein Chieri stand er vor mir, aber er war natürlich kein Emmasca; er hatte bereits einen kleinen Sohn. Ich war genauso groß wie er, aber wesentlich stämmiger. Nachdem ich den Turm verlassen hatte, widmete ich mich vorzugsweise ehrlicher körperlicher Arbeit; außerdem beaufsichtigte ich unter Vaters Anweisungen die Wachen.

Als wir die Kammer verließen, machte mir Stefan einen Vorschlag.

»Könntest du nicht für mich die Münzanstalt überprüfen? Die Stadt wächst so schnell, daß wir unbedingt Neuprägungen brauchen.

Neskaya und Arilinn können den Bedarf allein nicht decken.«

»Es wird mir eine Ehre sein, Eure Hoheit.« Ich vollführte eine höfische Verbeugung, die geziemend ehrerbietig und zugleich doch spielerisch war. Stefan bog um eine Ecke und verschwand in den Hastur-Gemächern.

Mir war natürlich klar, daß ich Vater verärgert hatte. Seit dem Tag, an dem er seine verdammte Gabe meinem noch jugendlichen Hirn aufzwang, war mir jede seiner Gefühlsregungen bewußt. Mit wachsender Entfernung schwächte sich dies zwar zu einem Hintergrundgeräusch ab, aber er war ständig irgendwie anwesend, so als ob er sich an mir gerieben und mir seinen Geruch auf ewig angehängt hätte.

Sobald ich in die Alton-Gemächer eingetreten war, wandte er sich von seinem Sitz um. Sein riesiger, struppiger, roter Schnauzbart hätte bei jedem anderen lächerlich gewirkt, aber meinen Vater ließ er noch größer und mächtiger erscheinen. Die dunklen Augen in seinem großen Gesicht versuchten mich festzunageln, aber seine physische Erscheinung entging mir fast völlig. Was meine Aufmerksamkeit erregte, war der Zustand seines Laran.

Er erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. Auch seine Stimme klang sanfter, als es seine Stimmung erwarten ließ: »Ich mache dir keine Vorwürfe, mein Sohn, keinerlei Vorwürfe. Ich weiß ja, woran es wirklich liegt.«

»Wie bitte?« Ich unterließ es, seine Gedanken zu lesen, was mir unter den gegebenen Umständen sicher leicht gefallen wäre.

»Verdammt noch mal, Sohn, muß ich denn noch deutlicher werden? Nimm dir ein Weib! Es wird höchste Zeit!«

Ich drehte ihm den Rücken zu, streifte meine Handschuhe ab und warf sie auf den Tisch.

»Deine jüngeren Brüder und Schwestern habe alle schon Kinder

…«

»Wie schön für sie!« Ich wollte weggehen, aber er folgte mir.

»Was ist nur los mit dir? Du bist doch kein Ombredin; das wüßte ich! Du bist jetzt vierunddreißig; eine Heirat ist längst überfällig!

Such dir endlich eine Frau, bevor du völlig versauerst. Du muß sie ja nicht gleich heiraten, auch wenn es schön wäre, wenn du es tätest.

Bring es einfach hinter dich! Ich glaube, du bist noch nie mit einer Frau zusammengewesen. Habe ich recht?«

Ich fuhr ihn an. »Es gibt einige Dinge in meinem Leben, die sich Eurer Kontrolle entziehen, Vater!«

»Ich werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wie du dich zugrunde richtest. Du bist kein gewöhnlicher Mann; du bist der Alton-Erbe! Kommandeur der Wachen! Erbauer von Burg Thendara! Diese schändliche Rede, die du heute gehalten hast …«

»Ich stehe zu jedem Wort!«

Mit erhobenem Zeigefinger gestikulierte er wild vor meinem Gesicht. »Du hättest nie einen solch idiotischen Vorschlag gemacht, wenn du verheiratet wärst!«

»Wollt Ihr den Grund wissen, warum ich nie mit einer Frau ins Bett gegangen bin? Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, Euch dabei zu haben!«

»Wie meinst du das, du …«

»Ihr wißt ganz genau, wie ich es meine! Seit Ihr mir diese verdammte Alton-Gabe vermacht habt, seid Ihr nie mehr aus meinen Gedanken gewichen!«

Und wider der erhobene Zeigefinger. »Ich habe dir das Leben gerettet!«

Ich schlug seine Hand zurück. »Soll ich mich dafür etwa bedanken? Ich verspürte keinerlei Schmerz. Ich schied sanft und friedlich aus dieser Welt und sank in Avarras Arme. Und dann plötzlich dieser Schmerz – dieser höllische Schmerz in meinem Kopf

– das ward Ihr, Vater – Ihr habt mir die Sinne zerfetzt. Etwas von Euch blieb in mir zurück, das ich nie wieder los wurde. Und das macht mir das Leben zur Hölle! Es wäre mir besser ergangen, wenn ich an der Schwellenkrankheit gestorben wäre. Was brauchtet Ihr mich denn als Erben – Ihr hattet doch noch mehr Söhne! Aber nein, Ihr setztet alles daran, die ganze Kraft Eurer Alton-Gabe, mich zurückzuholen. Und damit habt Ihr mir, dem Erben von Alton, die gleiche verdammte Gabe eingeflößt. Deswegen mußte ich von zu Hause fort, deswegen wurde ich von meiner Mutter und meinen Geschwistern getrennt, um unter Fremden in diesem verwünschten Turm zu leben. Und was diese hohlen Phrasen anbetrifft«, – hier wurde ich immer sarkastischer – »das ganze Gerede von der ach so wunderbaren Kraft des Teilens und Heilens, die vom Laran ausgeht, davon habe ich nichts gespürt. Ich habe nur eines gespürt, und das war MACHT. Die reine, nackte Macht. Am liebsten hätte ich all mein Laran ausgekotzt.«

Es war das erste Mal, daß ich meinen Vater sprachlos erlebte. Das sollte aber nicht lange andauern. »Ich habe dich geliebt.«

»Ihr habt mich geliebt? Ihr habt mir die Sinne zerstückelt, Ihr habt mich von zu Hause fortgeschickt, von allem, was mir lieb war …«

»Es mußte sein. Ein Telepath muß sein Laran beherrschen lernen, oder er gefährdet sich und andere.«

»Ach, erspart mir bitte die frommen Sprüche. Stefan hat mir erzählt, wie sein Vater die Hastur-Gabe bei ihm erweckt und ihn darin unterwiesen hat, sie zu gebrauchen. Es wäre also auch ganz anders gegangen. Stefans Vater liebte seinen Sohn wirklich. Aber was Ihr mir angetan habt, habt Ihr nur für Euch selbst getan!« Ich stürmte an ihm vorbei, nahm meine Handschuhe wieder an mich und verließ den Raum. Ich ging aber nicht in mein Quartier zurück, um noch etwas zu essen, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte. So erging es mir immer, wenn ich mit Vater aneinandergeriet; dann vergaß ich einfach alles andere und wollte nur noch so weit wie möglich fort von ihm.

»Gwynn?«

Ich blieb stehen und drehte mich um. Es war Michela, die im Eingang zu den Aldaran-Gemächern stand.

»Hätten Sie etwas Zeit für uns?« fragte sie.

Ich ging auf sie zu. Michela war Anfang zwanzig, kleiner als ich und recht attraktiv. Stefan und ich hielten es für durchaus möglich, daß Lord Aldaran während dieser Sitzungsperiode eine Heirat für sie arrangierte.

»Würden Sie bitte eintreten?«

Ich lächelte. »Gewiß, Damisela.«

Sie führte mich in einen Salon, in dem ein Tisch gedeckt war. Drei Gedecke, drei Stühle. Am Kamin sah ich ihren Vater, Donal Lord Aldaran, stehen.

Er wies auf den Tisch und fragte: »Würden Sie uns die Ehre erweisen, Lord Gwynn?«

»Sehr gerne. Ich wollte ohnehin noch etwas essen.«

Als man aufgetragen hatte, sagte Aldaran: »Mir hat gefallen, was Sie heute im Rat gesagt haben. Meine Tochter, die die Aldaran-Gabe in vollem Umfang besitzt und weit in die Zukunft vorausblicken kann, hat mich ebenfalls vor einer Entwicklung gewarnt, bei der die Türme weiter an Macht gewinnen. Es könnte zu Kriegen mit verheerenden, nie dagewesenen Waffen führen.«

»Mit Laran läßt sich weitaus mehr erreichen als lediglich Botschaften zu übermitteln, Bauten zu errichten oder nach Metall zu schürfen«, erklärte Michela.

»Ich weiß. Ich habe auch gehört, daß man es im Turm für möglich hält, gewisse Gaben zu züchten, die weit über die bisherigen donas der einzelnen Domänen hinausgehen.«

Als ich dies darlegte, reagierte Lord Aldaran heftig. »Wenn das stimmt, wenn sie das versuchen, dann werden viele andere, und nicht nur ich, Sie in Ihren Wünschen unterstützen. Keiner kann sich wünschen, wie Chervines gezüchtet zu werden.« Er trank einen Schluck. »Jedenfalls werde ich Ihre Position vertreten, so lange ich im Rat sitze. Ganz abgesehen von den Horrorvisionen meiner Tochter werde ich es nicht dulden, daß meine Türme mir meine Autorität streitig machen. Ich regiere meine Domäne, und ich lasse mich nicht von den Laranzu’in herumkommandieren.«

»Beabsichtigen Sie denn, den Rat zu verlassen, Sir?« fragte ich.

»Nein, nicht in absehbarer Zukunft.« Mit Blick auf seine Tochter mußte Aldaran über sein unfreiwilliges Wortspiel schmunzeln.

»Aber die Reise von meiner Domäne nach Thendara ist doch immer sehr lang. Es ist durchaus nützlich und angenehm gewesen, sich hier jeden Sommer zu versammeln. Man konnte mit den anderen Lords Neuigkeiten und Ideen austauschen oder auf dem Markt einkaufen. Und durch Ihren Neubau, Gwynn, finde ich es noch angenehmer. Fast schon wie Ferien.« Dabei blickte er anerkennend im Zimmer umher. »Aber durch die Türme können wir jetzt Botschaften einfacher und schneller übermitteln. Ich bin zwar bereit, Hastur als König anzuerkennen, aber wenn der Rat versuchen sollte, sich in meine Angelegenheiten einzumischen, werde ich mir das nicht lange gefallen lassen.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Außerdem wird mein Sohn bald volljährig, und ich habe vor, allmählich ihm die Last der Verantwortung zu übertragen. Ich freue mich auf meine alten Tage, wenn meine einzige Sorge sein wird, wie lange noch Enkel auf meinem Schoß spielen werden.« Und bei diesen Worten lächelte er Michela zu.

Bei allen Göttern, ich wünschte, dieser Mann wäre mein Vater. Er hatte feste Grundsätze, ohne deswegen ein Tyrann zu sein, er konnte gütig sein, ohne herablassend zu wirken. Vor allem aber beschränkte sich der telepathische Kontakt mit ihm auf ein durchschnittliches Maß, den ich ausblenden konnte, wenn ich wollte! Mein eigener Vater ließ sich nicht so einfach ignorieren.

Wir verbrachten einen anregenden Abend bei guten Tischgesprächen. Nachdem Aldaran sich zurückgezogen hatte, zögerte ich meinen Abschied von Michela noch etwas hinaus. Wie ihr Vater besaß sie ein angenehmes, telepathisch unaufdringliches Wesen; außerdem sah sie sehr gut aus. Schließlich entschuldigte ich mich, da ich am nächsten Tag mit der Ausführung von König Stefans Auftrag vollauf beschäftigt war.

Mir war natürlich jeder Vorwand recht, mich in der Stadt aufzuhalten. Konnte sich je ein Mann in der Geschichte Darkovers rühmen, eine solche Stadt erbaut zu haben? Die gepflasterten Straßen, die überdeckten Rinnsteine, die vielen Häuser von Arm und Reich – alles hatte ich sorgfältig geplant. Und nicht alle Häuser waren Matrixkonstruktionen; einige davon waren durch ehrliche Handarbeit entstanden. Der Gesamteindruck war jedenfalls genauso beeindruckend, wie ich es vorausgesehen hatte. Und ich hatte auch die zukünftige Entwicklung berücksichtigt, indem ich genügend Platz für weitere Gebäude gelassen hatte. Alles in allem war Thendara eine blühende Stadt, die seit meiner Kindheit um das Doppelte gewachsen war und sich voraussichtlich bis zu meinem Tod noch einmal verdoppeln würde.

Die Frage der Kanalisation bereitete bei der Planung die größte Schwierigkeit. Es gab keinen größeren Fluß in unmittelbarer Nähe Thendaras. Wenn aber der Regen, oder schlimmer noch die Abwässer, nicht abfließen konnten, würden sich Pfützen bilden, die wiederum Insekten und Krankheitserreger anzogen. So schuf ich ein unterirdisches Entwässerungssystem, das die gesamten Abwässer in eine große Höhle in den angrenzenden Hügeln leitete. Dort konnten sie durch den Schwemmsand versickern und dabei gleichzeitig gefiltert werden. Schließlich gelangte das Wasser so in die Zuflüsse des Valeron und damit letztlich in die offene See.

An diesem Tag aber hatte ich mir die Münzanstalt vorgenommen, die König Stefan in Anbetracht der wachsenden Bedeutung Thendaras als Handels- und Marktzentrum neu ins Leben gerufen hatte. Durch die Möglichkeit der Türme, Metall zu schürfen, war wesentlich mehr Geld im Umlauf, das natürlich sorgfältig verteilt werden mußte. Und auch das mißfiel mir an den Machenschaften der Türme: sie konnten auf diesen Geldreserven sitzen wie der Drache, der seinen Hort hütet. Bislang hatten sie sich in dieser Frage immer dem Willen des Königs gefügt, aber wenn sie sich erst einmal Zugang zum Rat verschaffen würden, könnten sie ebensogut versuchen, die entsprechenden Entscheidungen an sich zu ziehen.

Doch noch arbeitete die Münzanstalt einwandfrei. Dort waren nur die nichtmenschlichen Kyrri beschäftigt, denen der Wert des Metalls nichts bedeutete. Metall war so selten und kostbar, daß es für alle anderen eine zu große Versuchung gewesen wäre. Ich konnte feststellen,

daß

die

Legierungen im vorgeschriebenen

Mischungsverhältnis aus Kupfer und Silber erfolgten, daß die Barren alle die Standardgröße besaßen und Gewicht und Zusammensetzung korrekt eingeprägt wurden; die Münzen Sekals und Reis wurden ordnungsgemäß mit König Stefans Konterfei geprägt. Ich überprüfte auch die Eichgewichte, die die Händler von der Münzanstalt kauften, um damit sicherzustellen, daß ihre Kunden keine manipulierten Barren benutzten. Es gab nichts zu bemängeln; die Münzanstalt von Thendara stand denen von Neskaya und Arilinn in nichts nach.

Danach ging ich in eine Töpferei, ohne dort etwas kaufen zu wollen. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, hin und wieder dort vorbeizuschauen, um zu sehen, welche Lehmarten und Glasuren, welche Muster und Verzierungen sie für die Töpfe benutzten. Dabei konnte ich mir oft Anregungen für meine eigenen Bauvorhaben holen. Seit meinem letzten Besuch hatte sich in diesem Laden kaum etwas verändert. Allerdings fiel mir ein blauer Stein auf, der als Verzierung in einen Topf eingelassen war. Ich ging damit zur Ladeninhaberin, einer älteren Frau, der schon einige Zähne fehlten.

»Du solltest wirklich keine Matrixsteine mehr in deinen Töpfen verarbeiten, mestra. Auf königlichen Befehl hin dürfen nur lizensierte und im Turm ausgebildete Matrixarbeiter mit solchen Steinen umgehen. Ich weiß ja, daß sie hübsch anzusehen sind und daß ihr sie seit langem verwendet, aber sie können auch gefährlich sein.« Die Frau schaute verlegen drein. Auch ich fühlte mich bei der Sache etwas unwohl, aber andererseits stimmte ich, trotz aller sonstigen Meinungsverschiedenheiten mit den Türmen, diesem neuen Gesetz zu. Ich zog meine Geldbörse hervor. »Ich kaufe dir diesen Topf hier ab, und auch alle anderen mit Matrixsteinen, die du noch hast. Und dann benutze sie bitte nicht mehr. Hast du mich verstanden?«

»Wie Ihr befehlt, vai dom.« Sie wich meinem Blick aus.

»Sieh auch bitte im Lager nach. Und händige mir bitte alle Matrixsteine aus, die du sonst noch besitzt.« Ich berührte meine eigene Matrix, die ich in einem Beutel um den Hals trug. »Und falls du vergessen haben solltest, wo du sie alle verstaut hast, dann man dir darüber keine Sorgen. Ich kann überprüfen, ob du irgend etwas übersehen hast.«

Ihr Gesicht wurde lang und länger. »Jawohl, vai dom.« Sie verschwand im Lager.

Wie es für einen Lord oder Erben einer Domäne bei einem offiziellen Geschäftsbesuch in der Stadt üblich war, hielten sich einige meiner Gefolgsleute in gebührender Entfernung auf. Ich rief sie in den Laden und bat sie, die Töpfe auf die Burg zu bringen; ich selbst nahm die Matrices an mich. Nachdem ich überprüft hatte, daß sich keine weiteren Matrixsteine im Laden befanden, bezahlte ich die Frau großzügig und ging. Sicherlich gab es bei anderen Töpfern und Schmuckhändlern noch viele solcher nicht registrierter Matrices. Ich würde König Stefan vorschlagen, er möge die Türme damit beauftragen, Personal in die Stadt zu schicken, um sie einzusammeln. Damit hätten sie zur Abwechslung mal etwas Vernünftiges zu tun.

Wir verließen den Laden, aber vor der Tür stolperte einer meiner Männer und hätte beinahe die Töpfe fallen lassen. Während ich ihm noch half, seine Sachen wieder aufzunehmen, konnte ich hören, wie sich die Alte gegenüber der jüngeren Frau, die ihr im Laden half, beklagte. Sicherlich glaubte sie, ich sei längst außer Hörweite, aber ich konnte jedes einzelne Wort verstehen.

»Diese Comyn! Reißen sich alles unter den Nagel, was sie kriegen können! Nicht genug damit, daß sie in ihren prächtigen Häusern sitzen und mit Besteck aus Metall speisen, während wir, das einfache Volk, uns weiterhin mit Holzlöffeln begnügen müssen.

Jetzt wollen sie uns auch noch unsere hübschen blauen Steine abnehmen. Es ist so schon schwer genug, an sie ranzukommen. Das waren meine schönsten Töpfe, die sich am besten verkauften!« So jammerte die Frau vor sich hin.

Mir tat die Alte leid, aber ich tröstete mich mit der Tatsache, daß ich ihr weitaus mehr bezahlt hatte, als die Töpfe wert waren.

Außerdem gab es noch andere Edelsteine und Methoden, wie sie ihre Töpfe verzieren konnte. Wenn sie als Töpferin so geschickt war, wie es ihre Produkte vermuten ließen, dann würde sie wegen des Verlustes dieser Matrixsteine nicht gleich ihren Laden schließen müssen.

Ich berichtete Stefan vom Zustand der Münzanstalt und von dem Vorfall in der Töpferei. Überraschenderweise zeigte er für letzteres weitaus mehr Interesse. »Natürlich dürfen die Matrices nicht länger Leuten in die Hände fallen, die damit nicht umgehen können. Dazu haben wir jetzt die Türme. Aber es ist noch gar nicht so lange her, daß es keine Türme gab und daß die Sternensteine für Nichttelepathen nichts weiter als Schmuck waren.« Stefan, der sich bislang auf seinem pompösen Thron eher leger zurückgelehnt hatte, nahm jetzt eine aufrechte und königliche Haltung ein. »Mein Urgroßvater besaß zum Beispiel ein besonderes Schwert, das das Schmiedevolk in den Hellers für ihn schuf. In den Knauf ist eine ungewöhnlich große Matrix eingefaßt. Er hatte es für zeremonielle Anlässe anfertigen lassen, aber durch die Matrix fühlte es sich so …

so lebendig an, daß er es verschlossen in einem Gewölbe auf Burg Hastur aufbewahrte. Seit Jahren schon wird es nur zu einem einzigen Anlaß hervorgeholt – bei der Übertragung der Hastur-Gabe.«

»Wissen die Türme davon?« fragte ich interessiert. »Haben sie es gesehen, als man dich auf die Hastur-Gabe hin prüfte?«

Stefan sah mich mit einer Verschwörermiene an. »Nein. Sie haben mich erst später in Hali geprüft. Als mein Vater die Hastur-Gabe in mir erweckte, war niemand sonst anwesend.«

»Dann verrate ihnen auch nichts davon«, riet ich ihm dringend.

»Sie würden es dir bestimmt wegnehmen.«

»Ich hatte nie die Absicht. Und dir habe ich nur davon erzählt, weil ich weiß, daß du der einzige bist, bei dem dies Geheimnis sicher ist.« Er lächelte mir vertrauensvoll zu.

Der restliche Sommer verlief besser als erwartet. Die Debatte über das Stimmrecht der Türme im Rat zog sich hin, ohne daß eine Einigung erzielt werden konnte. Aber immer mehr Comyn ließen sich von meiner Einstellung überzeugen. Ansonsten befaßten sich die Ratssitzungen mit ganz alltäglichen Fragen: Bekämpfung der Bergbanditen, Ausbesserung von Straßen und Transportwegen, Ernteerträge, und vieles mehr.

Wenn ich mich nicht gerade im Rat aufhielt, verbrachte ich die meiste Zeit in den Aldaran-Gemächern. Ich fühlte mich immer stärker zu Lord Aldaran und Michela hingezogen, und sie schienen mich ebenso gern zu haben. Zum Mittsommerfest wurde meine Verlobung mit Michela offiziell bekannt gegeben. Zu diesem Anlaß reisten sowohl Lady Aldaran und Michelas jüngerer Bruder als auch meine Mutter aus Armida an. Meine Mutter kam nur selten zu den Ratssitzungen, da es unausweichlich war, daß Vater und ich uns stritten, wenn wir aufeinandertrafen. Mutter wußte dann nie, auf wessen Seite sie sich schlagen sollte, und so zog sie es vor, uns beiden aus dem Weg zu gehen. Selbst zu Hause kam es nur äußerst selten vor, daß Vater und ich uns zur gleichen Zeit im selben Raum aufhielten; nur so ließ sich der Frieden wahren.

Als ich sah, wie Vater mit Aldaran so vertraulich sprach, als seien sie seit jeher Bredin, stieg der alte Groll wieder in mir auf. Aus reiner Höflichkeit unterdrückte ich mein Laran. Dennoch spürte Michela, daß etwas nicht stimmte, auch wenn sie mich nicht gleich darauf ansprach. Am Ende des Empfangs verließ sie zusammen mit ihrem Vater den Raum. Mutter konnte mir ebenfalls ansehen, daß sich ein Unwetter zusammenbraute; sie entschuldigte sich und ließ mich mit meinem Vater allein zurück.

Noch ehe ich etwas sagen konnte, stellte mich mein. Vater zur Rede. »Verdammt noch mal, Sohn, kannst du nicht wenigstens bei deiner eigenen Verlobungsfeier deinen Zorn zügeln? Der Anlaß sollte doch wohl mehr Grund zur Freude geben! Ich kann einfach nicht verstehen, worüber du dich jetzt schon wieder aufregst.«

»Da liegt genau das Problem – Ihr versteht mich nicht«, platzte ich heraus. »Und ich habe mein Laran sehr wohl unter Kontrolle gehalten. Daß es Euch nicht entgangen ist, liegt einzig und allein daran, daß unsere Gedanken unauflöslich miteinander verbunden sind.«

»Aber warum kann ich dann nicht begreifen, was dich so wütend macht?«

»Weil ich mein Laran so gut es geht abschirme, deshalb! Aber wenn Ihr nur etwas mehr Rücksicht auf meine Gefühle nehmen würdet, wüßtet Ihr, woran es liegt. Soll ich es Euch sagen? Ihr behandelt Fremde zuvorkommender als mich, Euren eigenen Sohn!«

Um meinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, schlug ich mir vor die Brust. »Mit Aldaran sprecht Ihr höchstens einmal im Jahr, und doch behandelt Ihr ihn, als ob er Euer innig geliebter, lang verschollener Bruder sei. Mich dagegen behandelt Ihr wie einen Gegenstand, wie ein Stück Eigentum!«

»Und was soll ich dazu sagen, wie du mich behandelst? So, wie du gerade jetzt wieder mit mir sprichst?!«

»Wenn Ihr mir nur halb so viel Ehre wie Aldaran erwiesen hättet, wäre diese Diskussion völlig überflüssig. Aber nein! Ihr benehmt Euch, als wärt Ihr der Mittelpunkt der Welt. Ihr habt mir eure Alton-Gabe aufgezwungen, weil Ihr es wolltet. Ihr habt mich in den Turm geschickt, weil Ihr es wolltet. Und ich konnte den Turm nur wieder verlassen, weil Ihr der Meinung ward, es sei für mich an der Zeit, das Kommando der Wache zu übernehmen. Ihr sagt mir, daß ich eines Tages die Domäne führen soll, aber gleichzeitig bestimmt nur Ihr, was in der Domäne geschieht. König Stefan überträgt mir mehr Verantwortung, als Ihr es je getan habt! Wenn Ihr morgen tot umfallen solltet, könnte ich die Domäne nur führen, weil Stefan es mich lehrte. Ich habt mir immer nur Befehle erteilt und erwartet, daß ich sie ausführe. Ihr haltet mich wie einen Cralmac an der Kette!

Und dann wundert Ihr Euch, daß ich zornig reagiere, wenn Ihr Aldaran mehr Ehre erweist als mir?«

Mein Vater schien wirklich betroffen zu sein. Nein, mehr noch, er schien es nicht nur – durch mein Laran wußte ich, daß ich ihn wirklich aus der Fassung gebracht hatte, was mich nur noch mehr anstachelte. »Ich habe dich deine zukünftige Frau selbst wählen lassen! Andere Lords hätten nicht so viel Rücksicht genommen. Sie hätten dir deine Braut am Hochzeitstag vorgestellt!«

Zum Spott verneigte ich mich. »Oh, danke schön, verbindlichsten Dank!« sagte ich sarkastisch. »Und was glaubt Ihr wohl, warum ich gerade sie heirate? Ein Grund dafür ist, daß Lord Aldaran in der kurzen Zeit, die ich ihn kenne, wie ein Vater zu mir gewesen ist –mehr jedenfalls, als Ihr es je wart! Da Ihr ja so viel von ihm haltet, könntet Ihr ihn einmal fragen, wie er das macht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte ich meinem Vater den Rücken zu und verließ den Raum.

Er ließ die Angelegenheit auf sich beruhen.

Als meine Hochzeitsnacht näher rückte, wurde ich immer nervöser.

Ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich im entscheidenden Augenblick tun sollte – oder besser gesagt: wie ich es tun sollte. Seit ich die Alton-Gabe erworben hatte, war es mir immer irgendwie bewußt gewesen, wenn meine Eltern sich liebten. Ich hatte zwar schnell gelernt, diese Wahrnehmung abzublocken, aber allein schon die Vorstellung, daß ich ihrer Zweisamkeit als ungebetener Dritter hätte beiwohnen können, beunruhigte mich. Ich mußte annehmen, daß es im umgekehrten Fall nicht anders wäre: daß mein Vater es sofort wüßte, wenn ich je mit einer Frau schlafen würde. Deshalb hatte ich mit meinen vierunddreißig Jahren noch immer nicht meine Unschuld verloren.

So suchte ich zumindest auf andere Weise, Michela körperlich so nah wie möglich zu sein, wenn wir auch nicht miteinander schliefen. Stundenlang konnten wir nebeneinander auf dem Sofa im Salon der Aldaran-Gemächer sitzen, kaum gestört von Michelas tauber Zofe Ariel, die in einer anderen Ecke des Zimmers mit Stickereiarbeiten beschäftigt war. Ariel war eine Nedestro-Tochter der Ardais-Domäne und besaß Laran, was ihr die Verständigung mit ihren Arbeitgebern sehr erleichterte, obwohl sie natürlich auch die Zeichensprache beherrschte.

Eines Abends saßen Michela und ich wieder eng beisammen, und es konnte uns gar nicht eng genug sein. Ich hatte meinen Kopf auf ihre Schultern gelegt. Plötzlich durchzuckte mich etwas. Ich fuhr hoch. Ariel hatte ihre Stickerei in den Schoß gelegt und hielt den Kopf schräg, so als ob sie auf etwas lauschte.

»Was war das?« fragte Michela.

Ich stand auf. »Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden.«

Noch ehe ich einen Schritt tun konnte, klopfte es. Aldaran steckte den Kopf zur Tür herein. »Es ist der Turm! Kommt, Gwynn!

Michela, du bleibst hier.«

Wir traten auf den Flur und befanden uns inmitten einer ganzen Schar von Comyn-Angehörigen, angeführt von König Stefan und seiner Leibwache. Jeder in Thendara, der auch nur einen Funken Laran besaß, mußte das gleiche gespürt haben. Aber ich wußte etwas mehr als sie: was immer uns alarmiert hatte – mein Vater hatte daran Anteil.

Ich hatte mich bis zu Stefan an die Spitze des Zuges vorgearbeitet, als wir den Turm erreichten. Der König ging ohne Umschweife in die Empfangsräume. Mein Vater und der Bewahrer des ersten Kreises, ein Mann namens Edric, traten uns entgegen.

»Kein Anlaß zur Besorgnis, Eure Hoheit«, erklärte Edric. »Eines unserer Experimente ist nur etwas außer Kontrolle geraten, das ist alles. Wir werden es das nächste Mal besser abschirmen.«

»Was für ein Experiment?« wollte Stefan wissen.

»Eine Art Wetterkontrolle. Besonders in der Trockenzeit wäre es äußerst hilfreich, wenn wir Regenwolken auf brandgefährdete Gebiete lenken können.«

»Wir haben lediglich den benötigten Schutzschild falsch eingeschätzt, Eure Hoheit«, schaltete sich jetzt mein Vater ein. »Im Energiefluß muß außerdem ein Leck aufgetreten sein. Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Und war das Experiment erfolgreich?« erkundigte sich Stefan.

»Nur teilweise«, gab Edric zu. »Es war unser erster Versuch.

Vielleicht haben wir etwas zu viel Energie aktiviert. Jedenfalls konnten wir sie nicht in die erhoffte Richtung lenken. Das hat das leichte Unbehagen verursacht, das Sie zu spüren bekamen. Ich möchte mich nochmals dafür entschuldigen.«

Mit ernster Miene, auch wenn seine Stimme vergleichsweise milder klang, ordnete König Stefan an: »Ich halte es für das Beste, wenn Sie die Experimente zehn Tage lang aussetzen. Sie können so mehr Zeit für die Planung Ihrer Projekte aufwenden, bevor Sie damit beginnen.«

»Aber das tun wir bereits, Hoheit«, protestierte Edric. »Wir können unsere Experimente jetzt nicht abbrechen! Das Schürfen nach Metall war anfangs auch nur ein Experiment. Ebenso die Heilverfahren mittels einer Matrix. Oder matrixgestütztes Bauen nach Angaben von Architekten.« Und dabei deutete er auf mich.

»Laßt mich bitte dabei aus dem Spiel«, entgegnete ich.

»Ich verlange auch nicht, daß Sie ihre Forschungen ganz einstellen«, beschwichtigte Stefan ihn. »Ich ordne lediglich eine Unterbrechung von einer Langwoche an. Außerdem bestehe ich darauf, daß Sie ihr Vorgehen sorgfältiger planen. Sie sollten Neues nur schrittweise ausprobieren: zunächst im kleinen Rahmen, bevor Sie dazu übergehen, mächtigeres Laran einzusetzen.«

»Auch das geschieht bereits«, sagte Edric.

»Wenn dem so ist, hätte das heute abend nicht passieren dürfen.«

Edric schwieg. Er blickte hilfesuchend zu meinem Vater, der aber auch nichts erwidern konnte.

»Wenn Sie ihre Experimente nicht unter Kontrolle halten und vertretbare Sicherheitsvorkehrungen gewährleisten können, dann muß und wird die Krone einschreiten«, schloß Stefan. »Sie haben meine Anordnung gehört: In der nächsten Langwoche finden in diesem Turm keine weiteren Experimente statt.«

»Jawohl, Eure Hoheit«, fügte sich Edric.

Stefan wandte sich jetzt an die Versammlung der Lords und Erben der Domäne, die uns zum Turm begleitet hatte. »Ich werde mich kurze Zeit nach Burg Hastur zurückziehen; während meiner Abwesenheit wird Lord Gwynn den Ratsvorsitz übernehmen.« Und zur Bestätigung legte er mir die Hand auf die Schulter. »Das wäre vorerst alles.«

Die anderen entfernten sich, aber mir deutete Stefan an, ich solle noch etwas bei ihm bleiben.

»Sagt Michela, daß ich bald folgen werde, Vater«, sagte ich zu Aldaran. Er nickte und ging. Ich konnte spüren, wenn auch nicht sehen, wie meinem eigenen Vater der Mund offen stehen blieb, als ich Aldaran so anredete. Als ich mich aber zusammen mit Stefan ihm zuwandte, hatte er sich bereits wieder gefangen.

»Dann also gute Nacht.« Mit diesen Worten verabschiedete sich der König von meinem Vater und Edric.

Stefan und ich gingen allein zu den Hastur-Gemächern zurück.

»Man muß die Türme wirklich ernsthaft an die Kandare nehmen.

Jedenfalls glaube ich, daß die Ratsdebatte jetzt zu deinen Gunsten ausgehen wird, Gwynn.«

»Weißt du, was mir aufgefallen ist? Sie hielten es für nötig, daß mein Vater ihnen bei dem Experiment hilft.«

»… jawohl, mit der Alton-Gabe, der mächtigsten Form von Laran, die wir kennen. Der Gedanke kam mir auch schon.«

»Darf ich fragen, warum du nach Hastur zurückkehrst?«

Stefan rieb sich die Fingerspitzen. »Es gibt da etwas, das ich brauche …« sagte er, ohne deutlicher zu werden.

Stefan kehrte mit einer Holzkiste von der Größe eines Sarges zurück. Er verstaute sie in einem Lagerraum, den er mit einem persönlichen Matrixschloß versah und Tag und Nacht von zwei Männern bewachen ließ. Das zeitweilige Verbot der Matrixexperimente hob er auf. Die Ratsdebatte verlief inzwischen immer hitziger. Obwohl kein Bewahrer im Rat Sitz und Stimme erhielt, gab es genügend Lords und Erben der Domänen, die früher oder noch immer Angehörige der Türme waren und deren Sache vertreten konnten. Mein Vater führte diese Fraktion an. Sie behaupteten, daß die Türme bereits einen eigenen Ehren- und Verhaltenskodex besäßen, der mit wachsender Erkenntnis und Erfahrung ständig geändert und verbessert würde. Matrixarbeit sei eine Wissenschaft, die von denjenigen, die mit dieser Wissenschaft nicht vertraut seien, nicht richtig verstanden werden könne. Deshalb sollte sie auch nicht von Leuten reglementiert werden, die keine Ahnung von den grundlegenden Prinzipien hätten. Bewahrer, so lautete ihre Schlußfolgerung, sollten einzig und allein ihrem eigenen Gewissen verpflichtet sein.

Die Opposition, die ich ebenso vehement anführte, hielt dagegen, daß Land und Leute von Darkover durch die Arbeit der Türme betroffen seien. Und so lange dies der Fall sei, sollten der König und die Lords der Domänen, die für Land und Leute Verantwortung trugen, auch das Recht behalten, die Bestimmungen festzulegen, nach denen sich die Türme zu richten hätten. Den Türmen in allem freie Hand zu geben, hieße unserer Meinung nach, dem Chaos Tür und Tor zu öffnen. Eine freiwillige Selbstkontrolle durch die Türme kam für uns nicht in Frage; es wäre gleichbedeutend mit dem Fehlen jeglicher Kontrolle. Die Türme würden dann doch nur nach eigenem Gutdünken handeln, da sie ihre Vorgehensweise gegenüber niemandem außerhalb des Turmes zu verantworten hätten.

Während sich die Diskussion so Tag um Tag hinzog, entfremdeten sich mein Vater und ich immer mehr voneinander, obwohl ich das kaum noch für möglich gehalten hatte. Meine Mutter konnte die Situation nicht länger ertragen und kehrte nach Armida heim.

Aldaran veranlaßte, daß ich in das Gästequartier seiner Gemächer umziehen konnte. Obwohl mein Vater und ich in der Kristallkammer noch immer in der selben Loge saßen, hätten wir ebenso gut verschiedenen Domänen angehören können. Ich redete ihn mit »Lord Alton« und er mich mit »Lord Gwynn« an.

Stefan und ich hatten erwartet, daß die Türme, insbesondere der in Thendara, noch einige verwegene Experimente anstellen würde, bevor sie in ihrem Handlungsspielraum durch den Rat weiter eingeengt würden. Was immer sie im Schilde führten, es geschah offenbar mit größter Sorgfalt. Nichts sickerte mehr durch. Mir kam die Ruhe verdächtig vor, aber Stefan vertrat die Ansicht, daß sie die gleiche Sorgfalt, mit der sie das Durchsickern von Informationen verhinderten, vermutlich auch auf anderen Gebieten walten ließen.

Er ließ sie vorerst gewähren.

Im Spätsommer wüteten die Flächenbrände immer am schlimmsten. Für Thendara selbst bestand kaum Gefahr. Die Stadtmauern würden die Flammen abhalten. Außerdem hatte man in der Zeit, als die Türme noch nicht unterirdisch nach Metall schürften, in den Venza-Bergen Tagebau betrieben, und dies hatte einige kahle Landstreifen hinterlassen, die als natürliche Feuerschneisen dienten. Deshalb wurde in Thendara nie Alarm ausgelöst, wenn in der Umgebung ein Feuer ausbrach.

Als wieder einmal Rauch von einem der Hügel aufstieg, nahm ich Michela zu einem Beobachtungsstand auf dem Dach der Burg mit, um von dort aus das Feuer zu sehen. Stefan schloß sich uns an.

»Kein Wölkchen am Himmel«, bemerkte ich. »Wahrscheinlich war es ein achtloser Jäger, der sein Lagerfeuer nicht richtig gelöscht hat.

Sowas kann oft tagelang vor sich hin schwelen, bevor es das Unterholz entzündet.«

Mit einem Mal wurden wir von einem Windstoß ergriffen und gegen die Brüstung geschleudert. Stefan und ich hielten Michela fest, und gemeinsam kämpften wir uns zum Eingang zurück. Als wir uns vor dem plötzlich entfesselten Sturm in Sicherheit gebracht hatten, fragte Stefan: »Was in Zandrus siebter Hölle ist das?«

Meine nie abreißende Verbindung mit meinem Vater verriet es mir. »Der Turmkreis ist am Werk. Ich glaube, sie versuchen, das Feuer auszublasen.«

»Sie versuchen …«

Stefan konnte den Satz nicht beenden. Ein grauenhaftes Geräusch übertönte ihn. Ich habe die Banshees in den Hellers schreien hören, aber das war das reinste Wiegenlied, wenn ich es mit diesem Laut verglich. Michela hielt sich die Ohren zu. Stefan sprang die Treppe hinunter.

Mit Hilfe meiner Matrix konnte ich den Kontakt zu meinem Vater klarer herstellen. Es stimmte! Sie hatten versucht, das Feuer auszublasen, aber das Ganze war außer Kontrolle geraten. Mein Vater hatte nicht nur die volle Alton-Gabe in den Sturm gelegt, sondern auch all seine Wut und Verbitterung über die Zurückweisung durch seinen Sohn. Da draußen tobte kein gewöhnlicher Sturm, sondern ein Sturmdämon, genährt durch Alton-Zorn, getrieben von der Alton-Macht. Als mein Vater erkannte, was er angerichtet hatte, versuchte er verzweifelt, es mit Hilfe der anderen im Kreis rückgängig zu machen.

Ich wußte, wie gefährlich es war, in einen Kreis einzubrechen, aber mein Vater und ich befanden uns bereits im tiefsten Rapport, und bislang hatte meine telepathische Anwesenheit die Arbeit des Kreises nicht beeinträchtigt. So lieh ich ihnen jetzt meine Kraft. Aber der Geist meines Vaters schleuderte mich mit solcher Wucht zurück, daß ich den Halt verlor. Meine Schulter prallte gegen die Innenwand der Brüstung und ich glitt zu Boden.

Aber so leicht ließ ich mich von ihm nicht abschütteln. Mit einem erneuten Griff zu meiner Matrix versuchte ich, den Kontakt wiederherzustellen, wurde aber abgeblockt. Dann versuchte ich einen anderen Zugang. Ich stieß in die Überwelt vor: die übersinnliche Ebene, die die physische Realität dieser Welt widerspiegelt. Dort erkannte ich, daß mein Vater nicht nur mich, sondern auch alle anderen aus dem Kreis zurückgestoßen hatte.

Jetzt kämpfte er allein gegen die Erscheinung des Dämons in der Überwelt. Wir versuchten alle, ihn zu erreichen, aber es war, als ob sich eine undurchdringliche Wand zwischen uns stellte. Vater kam an Kraft und Größe dem Dämon gleich.

Jetzt sah ich in meinem Vater nicht länger die Verkörperung der mir verhaßten Gabe, die mit einem selbstgeschaffenen Monstrum rang. Stattdessen sah ich, in ihm personifiziert, Darkover im Kampf mit einer vom Turm geschaffenen Waffe um die Vorherrschaft in der Welt. Sollte der Dämon gewinnen, würde ganz Darkover im Chaos versinken.

In Verbindung mit den anderen Turmarbeitern durchbrach ich die Barriere, die mein Vater errichtet hatte, um uns zu schützen. Sofort saugte der Dämon unsere vereinten Kräfte auf und wuchs an. Als Edric erkannte, daß wir den Dämon nur noch stärker werden ließen, löste er den Kreis auf. Ich blieb in der Überwelt zurück und versuchte, Vater aus den Fängen des Dämons zu befreien, aber das Ungeheuer – inzwischen um das Doppelte angewachsen –schleuderte Vater zu Boden. Seine Astralgestalt zerschellte am Grund der übersinnlichen Ebene.

Der Schock von Vaters Tod warf mich aus der Überweit in meinen eigenen Körper zurück. Als ich allmählich wieder zu mir kam, starrte ich an eine steinerne Decke. Draußen konnte ich das Triumphgeheul des Sturms hören.

Stefan kniete sich zu mir nieder und faßte mich bei der Schulter.

»Komm, Gwynn, ehe der Sturm das Burgtor erreicht.«

Meine Burg! Meine Stadt! Das war jetzt alles in Gefahr! Ich stand auf, und jetzt erst bemerkte ich, daß auch Michela noch immer da war.

Stefan wickelte etwas aus. Die Matrix an seinem Hals glühte so hell, daß ich sie selbst durch den Beutel deutlich erkennen konnte.

»Hast

du

schon

einmal

mit

anderen

Telepathen

zusammengearbeitet?« fragte er Michela.

Sie nickte und berührte ihre eigene Matrix.

»Gut.« Stefan hob das Schwert hoch und prüfte, wie es in der Hand lag. Er schien sich zum Kampf zu rüsten. Er nickte erst mir, dann Michela zu. »Also los!«

Ich wollte ihm gerade noch sagen, es sei unmöglich, sich draußen inmitten des dämonischen Sturms auf den Beinen zu halten, aber er war bereits, mit Michela an seiner Seite, zur Tür hinaus. Ich stürzte ihnen hinterher.

Stefan schwang sein Schwert. Um uns herum toste der Sturm und brach sich wie eine mächtige Flutwelle an der Brüstung der Burg, aber dort, wo wir standen, herrschte unerklärliche Windstille. Stefan glühte – ein Nimbus umgab ihn. Er lachte, und es war das Lachen eines Mannes, der siegessicher in den Kampf zieht. Vor meinen Augen verwandelte er sich: er nahm die Gestalt des legendären Hastur an, des Sohn des Lichts. Die Erscheinung war so real, daß mir im Vergleich dazu die Gemälde, die ich auf der Burg Hastur gesehen hatte, wie Kinderkrakeleien vorkamen.

Ich wollte niederknien, doch in diesem Moment nahm mich Hastur, ohne mich zu berühren, bei der Hand, und zusammen mit Michela stellten wir uns dem Dämon, der in großen Schritten auf Burg Thendara und die Stadttore zueilte. An Kraft, Größe und Macht konnte nur Stefan/Hastur es mit dem Dämon aufnehmen. Ein zorniges Tosen. Noch ein Schritt vorwärts. Und das Schwert hoch erhoben.

Stefans Stimme übertönte das Sturmgeheul und hallte an dem Burgfels wider, als er befahl: »Weiche! Zurück in die Hölle, die dich gebar!«

Augenblicklich herrschte Stille. Nur die abgerissenen Zweige und das herumgewirbelte Laub erinnerten an den soeben verstummten Sturm. Dann sah ich, daß wir uns nicht mehr auf dem Dach der Burg, sondern auf der Ebene vor den Stadttoren befanden. Ich wandte mich Michela zu. Sie war zwar verwirrt, sonst aber wohlauf.

Daraufhin drehte ich mich in die andere Richtung und suchte Stefan. Dort stand er, wieder in seiner ursprünglichen Gestalt, und lächelte uns zu. Nur eines hatte sich verändert; ich brauchte einige Zeit, bis es mir voll zu Bewußtsein kam – sein Haar war wieder so weiß wie in seiner Kindheit.

»Ich glaube, jetzt wird der Rat deinen Vorschlägen zustimmen.

Meinst du nicht auch?« sagte der König.

Meine Mutter kehrte zu Vaters Begräbnis zurück, und auch all meine Geschwister versammelten sich an seinem schlichten Grab am Ufer von Hali. Gleich daneben befand sich das nach meinen Plänen neu errichtete Gewölbe, in dem Stefans Schwert hinter einer doppelten Barriere verwahrt wurde, um es vor dem Zugriff der Türme zu schützen.

Bei Vaters Begräbnis kamen endlich auch mir die Tränen, aber ich trauerte nicht um den Mann, der in meine Gedanken eingedrungen war und sich dort eingenistet hatte. Ich trauerte um den Mann, der mir als Kind Geschichten vorgelesen, meine Ängste besänftigt und mich zu Bett gebracht hatte. Und ich trauerte um den Mann, der zuletzt erkannte, welche Schrecken er hervorgerufen hatte, und alles daran setzte, sie aufzuhalten. Vor allem aber bedeutete Vaters Tod eine große Erleichterung für mich. Ich hatte das Gefühl, daß die Ketten, die ich als Erwachsener immer verspürt hatte, endlich von mir abfielen.

Im Rat wurde ich offiziell zum neuen Lord Alton ernannt, und ich konnte mich damit durchsetzen, die Bewahrer der Türme dort auch künftig auszuschließen. Mein Triumph wurde durch die Heirat mit Michela noch mehr versüßt. Kein Geringerer als König Stefan legte die Catenas um unsere Handgelenke. Das aber war keine neue Fessel, sondern das Siegel unserer gegenseitigen Zuneigung.

In dieser Nacht liebten wir uns, und ich gab mich ihr mit meinem ganzen Herzen und all meinen Sinnen hin. Danach lagen wir uns noch lange in den Armen und sprachen miteinander.

»Ich hoffe, es kränkt dich nicht, wenn ich das sage, aber ich glaube, daß dich dein Vater trotz allem geliebt hat.«

Ich seufzte. »Ja, er hat mich tatsächlich geliebt, auch wenn ich das nicht erkennen konnte, solange wir in Gedanken aneinandergekettet waren. Wir waren uns auf so unerträgliche Art nahe, daß es nicht ausbleiben konnte, daß wir immer wieder aneinander gerieten. Und Vaters Haltung hat es mir auch nicht gerade leicht gemacht. Er glaubte, es genüge, daß er wußte, wie sehr er mich liebte – und dabei vergaß er ganz, es mir auch zu zeigen. Wenn es uns je drohen sollte, ein Kind durch die Schwellenkrankheit zu verlieren, dann werde ich alles tun, es zu retten – nur das eine nicht: Ich werde ihm nicht die Alton-Gabe aufzwingen. Keines meiner Kinder soll die gleiche Hölle durchleiden.«

Michela strich mir zärtlich über die Stirn. »Gwynn – dieser Sturmdämon, den wir bekämpften … ihn habe ich in meinen Visionen nicht gesehen. Ich habe andere, viel grauenhaftere Waffen gesehen, die von den Türmen zur Kriegsführung entworfen wurden.«

Ich umfing ihre Hand und küßte ihre Fingerspitzen. »Beunruhige dich deswegen nicht, Geliebte. Solange Stefan oder ich leben, wird das nicht geschehen. Mehr bleibt uns nicht zu tun. Wir können nur sicherstellen, daß keiner von uns solche Schrecken heraufbeschwört; und wir können unsere Kinder das gleiche lehren. Aber was unsere Kinder und Kindeskinder einmal tun werden, wenn wir längst nicht mehr sind, können wir nicht bestimmen.«

»Das weiß ich. Aber deswegen sind die Visionen nicht weniger beunruhigend.«

Und darauf wußte ich keine Antwort.

PATRICIA DUFFY NOVAK

Der Friede des Bewahrers

Pat Novak hat bereits für die letzten beiden Darkover-Anthologien und auch für das Marion Zimmer Bradley Fantasy Magazine Beiträge geschrieben, Sie ist inzwischen von einer wissenschaftlichen Assistentin zur Professorin für Agrarökonomie mit fester Lehrverpflichtung aufgestiegen.

Ein dreifaches Hurrah für uns Frauen! Als ich zu schreiben begann, waren Professorinnen – von reinen Mädchencolleges einmal abgesehen –

fast so selten wie hauptberufliche SF-Autorinnen. Das hat sich zum Glück geändert, und darüber sind wir natürlich besonders froh.

Wie schon in ihren vorangegangenen Geschichten tauchen auch hier wieder Figuren aus Herrin der Stürme auf. Und es ist eine wirklich lohnende Lektüre.

Die letzten Strahlen der blutroten Sonne warfen lange rote Schatten auf den schneebedeckten Innenhof. Renata kühlte ihre Stirn an der Fensterscheibe und versuchte verzweifelt, die grausame Wahrheit zu akzeptieren: Ihre Freundin würde sterben, und sie konnte es nicht verhindern.

»Lady Renata.«

Renata drehte sich um. »Ja, was ist, Doria?«

»Ihr solltet jetzt besser kommen. Das Kind wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.«

Renata nickte und folgte der Hebamme in das Zimmer, in dem Arielle, bleich und erschöpft, in den Wehen lag. Während Doria damit beschäftigt war, heißes Wasser und warme Decken bereitzustellen, legte Renata ihre Hand auf Arielles erhitzte Stirn.

»Wie geht es dir?«

Arielle schüttelte leicht den Kopf, und die schweißverklebten, blonden Strähnen fielen ihr ins Gesicht. »Ich fürchte, nicht besonders gut.« Sie bemühte sich zu lächeln, aber es gelang ihr nicht, da die Wehen erneut einsetzten. Sie ergriff Renatas Hand und drückte sie so fest, daß Renata beinahe selbst vor Schmerz laut aufgeschrien hätte. Erst nach einer vollen Minute atmete Arielle hörbar aus und ließ Renatas Hand los. »Ach, Renata«, sagte sie leise, und aus ihrer Stimme schien jedes Leben gewichen zu sein, »ich habe solche Angst.«

»Du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst es bald überstanden haben, und dann kannst du einen prächtigen Jungen im Arm halten.«

Arielle blickte Renata mit verweinten Augen an. »Ich werde die Geburt meines Kindes nicht überleben. Das wissen wir beide schon seit einiger Zeit.«

Renata spürte, wie auch ihr heiße Tränen in die Augen schossen.

Ungewollt stellten sich die Erinnerungen an ihre gemeinsam verbrachten Jahre im Turm von Hali wieder ein: Wie froh und lebenslustig war Arielle gewesen, als sie mit strahlendem Lächeln beim Mittsommerfest tanzte; und dann wieder ruhig und konzentriert, wenn sie als Technikerin des Kreises geschickt die Batterien überprüfte. Und auch Renata selbst war heiter und gelassen gewesen – damals, als sie von Liebe und Verlust noch nichts ahnte.

Waren seither wirklich nur zwei Jahre vergangen? Wie sehr hatte sich seitdem alles verändert! Renata hatte selber viel erleiden müssen, und ihre Tragödie war so unausweichlich wie ein Sturm in den Hellers gewesen. Aber Arielles Los hätte abgewendet werden können. Es war unentschuldbar. Renata wischte sich die Tränen aus den Augen und betrachtete die ausgemergelten Züge ihrer Freundin. Oh, Coryn, wie konntest du ihr das nur antun? Renata bebte vor Zorn; gleichzeitig tat sie alles, um ihre Gedanken vor Arielle abzuschirmen.

Arielle verzog unter Schmerzen das Gesicht. Als die letzte Wehe vorbei war, sagte sie: »Du wirst dich um mein Kind kümmern, wie du es versprochen hast? Und wenn die Zeit reif ist, wirst du ihn zu seinem Vater schicken?«

»Das werde ich«, versprach Renata. »Aber warum soll er es erst so spät erfahren?«

Arielle antwortete nicht mehr. Es waren ihre letzten Worte gewesen. Während ihr Kind ins Leben trat, versiegte ihre eigene Lebenskraft, überwältigt von dem tödlichen Laran des Babys, von einer Psi-Kraft, die, wenn auch unbeabsichtigt, die Mutter tötete. Die Mutter, die ihr Kind so sehr liebte, daß sie ihm das Leben schenkte, obwohl sie wußte, daß sie es mit dem eigenen bezahlen mußte.

Der Säugling tat seinen ersten herzhaften Schrei, während die Amme ihm behutsam den Schleim abtupfte. »Seht nur, wie gesund und munter er ist! Ein prächtiger Junge, Mylady.« Sie wollte gerade das Baby seiner Mutter an die Brust legen, als sie entsetzt aufschrie:

»Mylady! Oh nein!«

Renata nahm Doria das Baby aus dem Arm. »Er ist jetzt mein Kind, wie ich es Lady Arielle versprochen habe. Mein eigener Sohn und er sollen wie Brüder aufwachsen, bis die Zeit gekommen ist, daß er den ihm gebührenden Platz einnehmen wird.«

Sie bat Doria, den Jungen wieder an sich zu nehmen. Dann ließ Renata ihren Tränen und ihrem Kummer freien Lauf, als sie Arielles erschlaffte Hand ergriff und ein letztes Mal küßte.

Weit davon entfernt, im Turm zu Hali, trieb es den jüngsten Bewahrer durch die Überwelt. Er sah, wie Arielles Geist lautlos in ein Reich entschwand, das den Lebenden verwehrt blieb. Der Psi-Sturm seines Zorns und Schmerzes erschütterte den Turm in seinen Grundfesten.

Draußen färbten die ersten Sonnenstrahlen die Oberfläche des Sees blutrot. Von einer Fensternische aus beobachtete Ari Ridenow, wie der Tag anbrach. Ein Tag, dem er mit einer Mischung aus Erwartung und Resignation entgegensah. Er hatte vor über einer Stunde den Turm zu Hali erreicht, nachdem er die ganze Nacht durchgeritten war. Jetzt war er hungrig und müde und wartete ungeduldig darauf, daß jemand kommen und ihn aus dem Besuchszimmer in den Turm selber führen würde. Er stand auf und streckte sich.

Aber wozu die Eile? Schließlich war es nicht sein eigener Entschluß gewesen, hierher zu kommen. Immer wieder hatte er Lady Renata gebeten, ihn nicht fortzuschicken, aber in diesem Punkt hatte sie sich unnachgiebig gezeigt.

Grundsätzlich hatte er nichts dagegen, in einem Turm zu studieren. Es hätte ihm überhaupt nichts ausgemacht, ein oder zwei Jahre in Tramontana zu verbringen, nicht weit von zu Hause und seinem Patenbruder, Brenton Aldaran, entfernt. Seine Mutter, Arielle Di Asturien-Ridenow, war bei seiner Geburt gestorben, und von seinem Vater, Regis Ridenow, hatte er außer dem Nachnamen nichts erhalten. Er hatte ihn noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.

Und jetzt wies ihn auch Lady Renata aus dem Haus. Hielt sie ihn für unwürdig, Bredu ihres Sohns zu sein? Daß Aris Mutter einst in Hali gearbeitet hatte, diente doch nur als eine billige Entschuldigung, ihn fortzuschicken! Während er so an seine Pflegemutter dachte, schien sie ihm auf merkwürdige Art nahe und irgendwie mit ihm verbunden zu sein. Er schüttelte den Gedanken ab und war davon überzeugt, daß nur Hunger und Übermüdung ihm solche Phantastereien eingaben; Lady Renata war in Aldaran, meilenweit von Hali entfernt.

Hali. Hali. Hali. Der Name ging ihm immer wieder durch den Kopf. Und sein Widerwille verstärkte sich jedesmal. Selbst in den entlegensten Winkeln der Hellers hatte Ari gehört, was man sich über den Ersten Bewahrer des Turms zu Hali berichtete: ein Mann, der ganz und gar in seiner Arbeit aufging; ein wahres Monster an Laran; eisern und fast schon unmenschlich in der Disziplin, die er sich und seinen Matrixarbeitern abverlangte.

Aber das war noch nicht das Schlimmste. Coryn Hastur, so sagte man, ließ keine menschliche Regung, ja nicht einmal die Berührung durch einen Mitmenschen zu, die ihn in seiner angespannten Konzentration hätte stören können. Der Bewahrer war vom Gedanken an Waffen besessen: Haftfeuerwaffen, Matrixfallen, und jetzt die neuste und schrecklichste Geißel – Knochenwasser – deren Geheimnis nur er kannte. Wäre Allart Hastur von Elhalyn, der König in Thendara, kein so gerechter und weitsichtiger Regent gewesen, hätte er sich schon ganz Darkover Untertan machen können. Aber der König hatte den Gebrauch dieser schrecklichen neuen Waffe untersagt. Seit Generationen herrschte zum ersten Mal ein umfassender Frieden, der die ständigen Streitigkeiten zwischen den Domänen im Zaum hielt. Mit beißender Ironie nannten die Tiefländer dies »den Frieden des Bewahrers«.

Aber war eine Waffe erst einmal entwickelt, würde sie auch irgendwann zum Einsatz kommen. Ari fröstelte bei dem Gedanken.

Er brauchte kein Laran, um eine Zeit kommen zu sehen, in der die verheerende Wirkung der neuen Waffe Darkover zugrunde richten würde. Schon jetzt gab es Gerüchte, daß die Leronyn von Ardais kurz davorstanden, ihrerseits die Produktion solcher Waffen aufzunehmen. Nichts und niemand, so mußte Ari befürchten, konnte diesen Geist in die Flasche zurückzwingen. Und obwohl Lady Renata davon sicherlich wußte, hatte sie ihn nach Hali geschickt. Er konnte es einfach nicht begreifen.

Mira Lanart, die dienstälteste der Matrixarbeiter in Hali, spürte die wachsende Ungeduld des Jungen im Besucherzimmer und gab Coryn ein Zeichen, daß es längst an der Zeit war, den Kreis aufzulösen. Sie hatten ihr nächtliches Arbeitspensum mehr als erfüllt, und die anderen brauchten dringend Ruhe.

Die Rückmeldung des Bewahrers war äußerst gereizt. Sollen wir uns jetzt dem Willen dieses Ridenow-Emporkömmlings beugen? Dennoch lockerte er den Zugriff, da er gleichzeitig eingestehen mußte, daß ihr zweiter Einwand stichhaltig war: seine Matrixarbeiter waren überarbeitet.

Er ist auch Arielles Sohn, erwiderte Mira, und es war ihr gleichgültig, wer außer Coryn ihre Gedanken lesen konnte. Wir waren mit ihr befreundet, und um ihretwillen sollten wir auch ihn gut behandeln. Coryn sagte nichts. Mira hatte auch keine Antwort erwartet.

Der Bewahrer hob seine feingliedrige und dennoch kraftvolle Hand und brach damit die Verbindung ab. Unter dem Flammenhaar, in dem sich seit kurzem die ersten Silbersträhnen zeigten, verbarg er sein wahres Gesicht hinter einer Maske aus vollkommener Überheblichkeit. Daran konnten auch die zahlreichen, längst verheilten Narben, die von einem Matrixunfall stammten, nichts ändern. Mira kannte dieses Gesicht nur zu gut; sie war bereits eine altgediente Matrixarbeiterin gewesen, als Coryn erstmals die Schwelle von Hali betrat.

Wortlos verließ Coryn den Raum. Er mied schon lange die Gesellschaft seines Kreises und speiste allein. Traurig blickte Mira ihm nach. Warum konnte er sich ihnen nicht wenigstes einmal anschließen? Wo war das herzhafte Lachen geblieben, das sie früher bei ihm gekannt hatte? War das zuviel verlangt? Sie wandte ihren Blick ab. Ja, es war wohl zuviel verlangt.

Ohne großen Appetit zwang sie sich, einige der klebrigen Frucht-und Nußriegel zu sich zu nehmen. Die Arbeit als Überwacherin war anstrengend, und in ihrem Alter mußte sie besonders sorgfältig auf ihre Energiereserven achten.

Als sie zu Ende gegessen hatte, ging sie über mehrere Treppenfluchten und lange Korridore zum Besucherzimmer. Sie durchschritt das Kraftfeld.

Und dann sah sie zum ersten Mal Arielles Sohn.

Der Anblick ließ Mira beinahe das Herz stillstehen. Der Junge glich Arielle in keiner Weise. Und er war bestimmt kein Ridenow.

Dieses Gesicht hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. Diese Augen, diese Haare, dieses spöttisch vorgeschobene Kinn. Welch eine Ähnlichkeit! Renata hätte sie darauf vorbereiten müssen, hätte ihn nicht so ohne weiteres herschicken dürfen. Als sie merkte, daß der Junge ihre Bestürzung registrierte, riß sie schnell ihre Gedankenbarrieren hoch. »Ich bin Mira Lanart. Ich kannte deine Mutter, als sie hier war.«

Der Junge trat mit einem schüchternen Lächeln auf sie zu. »Lady Renata hat mir von Ihnen erzählt. Sie meinte, Sie seien sehr freundlich.«

Mira erwiderte sein Lächeln. Vielleicht ist die Ähnlichkeit doch nicht so groß. Er hat nichts von dieser Arroganz und Gedankenlosigkeit.

Vielleicht hat er doch mehr von Arielle, als es zunächst scheinen will. Zu ihm gewandt sagte sie: »Wir heißen dich in Hali willkommen. Wir haben von deiner Pflegemutter viel Gutes über dich gehört. Sie rechnet fest damit, daß du Bewahrer werden kannst.«

Ari seufzte. »Verzeiht mir, Lady Mira, aber wenn es nach mir geht, möchte ich nicht ewig im Turm bleiben. Vielleicht wird es sich Lady Renata nach ein oder zwei Jahren noch einmal überlegen und mich nach Aldaran zurückrufen.«

Mira hielt den Kopf leicht schräg. »Ach, so ist das. Wir werden ja sehen.« Insgeheim und hinter fest verschlossenen Barrieren war sie drauf und dran, Renata dafür zu verfluchen, daß sie Ari nach Hali geschickt hatte, ohne ihnen seine wahre Abstammung zu verraten.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Jetzt komm herein. Du hast eine lange Reise hinter dir und wirst müde sein.«

»Ein wenig schon.«

Da war es wieder, dieses schüchterne Zögern. Nein, das sieht Coryn ganz und gar nicht ähnlich. Mira führte ihn durch das Kraftfeld und brachte ihn zu seinem vorbereiteten Quartier.

Im Laufe des Tages streckte Dyan Syrtis, Aris Zimmernachbar, den Kopf zur Tür herein. »Hallo! Fleißig am Auspacken, wie ich sehe.«

Ari grinste. »Komm rein, Cousin.« Ari und Dyan waren, wenn überhaupt, nur ganz weitläufig miteinander verwandt; die familiäre Anrede, die Ari wählte, war mehr ein Zeichen der höflichen Verbundenheit. Dyan hatte schon am Morgen einmal vorbeigeschaut, und der junge, offenherzige Mann aus Syrtis war ihm sofort sympathisch gewesen.

Dyan kam ins Zimmer und begutachtete Aris Einrichtung. »Nicht übel. Gemütlich, wenn auch ein bißchen schlicht.« Dyan ließ sich in einen der beiden gepolsterten Sessel fallen. »Hat man dir eigentlich schon gesagt, wann sie dich prüfen werden?«

Ari schüttelte den Kopf. »Nein, Lady Mira meinte, ich sollte mich erst einmal ausruhen. Und morgen, oder vielleicht auch erst übermorgen, wird sie mich dann rufen lassen. Sag mal, ist der Test sehr schwer?«

»Überhaupt nicht. Einer der Bewahrer schaut dich an, und das war’s dann auch schon.« Dyan winkte ab. »Ich hatte ja gehofft, das Zeug zum Bewahrer zu haben, aber sie meinten, ich sei als Techniker besser geeignet.«

»Soll das heißen, daß du hier bleiben willst?«

Dyan lachte. »Klar, warum nicht? Ich bin der Jüngste in der Familie und werde kein Land erben. Hier im Turm habe ich wenigstens meine Ruhe vor den ewigen Streitereien meiner Verwandten. Glaub mir, das Leben hier ist gar nicht so übel.«

»Aber was ist mit dem Ersten Bewahrer? Ich habe gehört, daß er von der Arbeit besessen ist und seine Leute über alle Maßen antreibt.«

»Ach ja, Coryn Hastur.« Dyan verzog das Gesicht. »Der ist wirklich nicht leicht zu ertragen. Aber ich habe zum Glück kaum etwas mit ihm zu tun. In meinem Kreis ist Leander Aillard der Bewahrer, und das ist ein äußerst angenehmer Zeitgenosse. Ich glaube übrigens, daß du unserem Kreis zugeteilt werden wirst.«

Dyan lächelte ihm aufmunternd zu. »Apropos Kreis. Ich sollte mich lieber noch mal aufs Ohr hauen, denn heute nacht schürfen wir nach Metall. Das ist der schlimmste Job. Wirst du auch noch mitkriegen.«

Mit einem breiten Grinsen stand er auf und ging.

Leander Aillard trug die scharlachrote Robe des Dritten Bewahrers von Hali. Er hielt einen blauen Sternenstein in seiner sechsfingrigen Hand. Hinter ihm stellten Mira Lanart und Barak MacAran eine Reihe noch nicht entzündeter Kerzen bereit. Ari hatte Barak, einen Bären von einem Mann, am Abend zuvor beim Essen kennen und schätzen gelernt. Von Coryn Hastur hingegen hatte er bislang noch nicht einmal einen Blick erhaschen können. Aber das sei, so versicherte man ihm, nicht ungewöhnlich. Der Erste Bewahrer blieb außerhalb der Arbeitsstunden im Kreis meist für sich allein.

Leander hob den Stein langsam hoch und lenkte Aris Aufmerksamkeit darauf. »Schau in den Stein. Und dann konzentriere dich auf Feuer.«

Ari tat, wie ihm geheißen wurde. Als er wieder aufblickte, sah er, daß alle Kerzen brannten. Hinter Leanders Rücken tauschten Mira und Barak einen vielsagenden Blick.

Leander fuhr mit der Prüfung fort. »Schau jetzt noch einmal in die Matrix und versuche, dabei an gar nichts zu denken. Schaffst du das?«

Ari nickte. Das kannte er bereits, denn Lady Renata hatte während seiner Schwellenkrankheit das Gleiche von ihm verlangt. Es war ganz einfach.

Er schwebte außerhalb von Raum und Zeit, einzig noch mit Leander mental verbunden, was ihm aber kaum bewußt wurde. Ari konnte unmöglich sagen, wie lange dieser Zustand andauerte, bevor Leander den Kontakt abbrach und Ari zurückholte. Leander lächelte. »Aus dir wird einmal ein Bewahrer, junger Mann, und zwar ein sehr guter, wenn ich mich nicht täusche. Solche Fähigkeiten sind heutzutage leider allzu selten geworden.«

Ari verließ der Mut. Das war ganz und gar nicht die Zukunft, die er sich erhofft hatte. Jeder schien ihn in eine Rolle zu drängen, die er nicht ausfüllen wollte. »Ich werde es mit meiner Pflegemutter besprechen. Mir selbst liegt wenig daran, Bewahrer zu werden, aber in dieser Frage muß ich mich ihrem Willen fügen.« Höflich entschuldigte er sich.

Als er gegangen war, wandte sich Leander an Mira und Barak. »Er besitzt das Hastur- Laran. Und zwar stark ausgeprägt. Dagegen nichts von Ridenow, und auch Di Asturien-Anteile konnte ich nur geringfügig bemerken.« Leander zog die Augenbrauen hoch, so daß seine Feststellung wie eine Frage wirkte.

»Er gleicht seinem Vater sehr«, meinte Mira resigniert, aber das beantwortete Leanders Frage nicht.

»Er ist Coryns Sohn«, fügte Barak hinzu.

Der Bewahrer spreizte vor Überraschung alle sechs Finger seiner Hand. »Gerechte Götter!« Er mußte hörbar schlucken. »Weiß Coryn davon?«

Mira schüttelte den Kopf. »Nein, er hat den Jungen nie gesehen.

Du hast Coryn nicht gekannt, als er jung war, aber Ari ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Und sein Laran verrät ein übriges. Ich fürchte, Coryn wird es erfahren müssen. Selbst wenn er so mit sich selbst beschäftigt ist, daß ihm die äußere Ähnlichkeit entgeht, das Hastur- Laran wird er sofort erkennen; und er wird unweigerlich wissen, daß es nur von ihm stammen kann.« Mira schloß mit einem schweren Seufzer. »Es läßt sich nicht verhindern.«

Leander konnte ihr erneut nicht folgen. »Warum solltest du die Vaterschaft des Jungen verheimlichen wollen? Du weißt, mit welcher Hingabe Coryn dem Turm dient. Er wird wahrscheinlich hocherfreut sein, einen möglichen Nachfolger als Bewahrer zu finden, ganz gleich, wer ihn gezeugt hat.« Diese letzte Bemerkung war nicht ganz frei von Häme. Das Verhältnis zwischen Coryn und den beiden anderen Bewahrern war nicht gerade herzlich.

Barak schüttelte seinen bärenhaften Schädel. »Ganz so einfach ist das nicht. Eine ziemlich böse Angelegenheit. Renata hätte uns warnen müssen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Zu Leander gewandt, sagte er. »Du warst noch nicht hier, als Arielle starb. Das ist jetzt über fünfzehn Jahre her. Als Coryn von ihrem Tod erfuhr, raubte es ihm fast den Verstand. In seinem Zorn und Kummer wütete er derart, daß er den Turm bis in seinen Grundfesten erbeben ließ. Nur die vereinten Kräfte unseres gesamten Kreises, an der Spitze ein Bewahrer mit der Alton-Gabe, konnten ihn bändigen. Du erinnerst dich daran, Mira?«

»Ich habe es nicht vergessen.« Und noch eine Spur leiser fügte sie hinzu. »Ich wünschte, ich könnte es.« Sie rieb sich die Stirn.

»Leander, du siehst in Coryn nur den verhärteten, übel gelaunten Oberbewahrer, aber als junger Mann, da konnte er durchaus …« Sie zögerte. Ihr wollte das passende Wort nicht gleich einfallen. Dann sprach sie es verlegen lächelnd aus: »… charmant … ja, er konnte charmant sein. Gewiß, er war schon immer etwas arbeitsbesessen, aber dabei blieb er doch menschlich. Aber nach jener Nacht veränderte er sich und wurde zu dem, den du heute kennst.

Ungerührt von jeder menschlichen Regung, vereinsamt in der ausschließlichen Konzentration auf seine Arbeit. In diesen fünfzehn Jahren hat er kein einziges Mal gelacht, kein einziges Mal geweint.

Er hat sich hinter den Mauern seines Laran verschanzt, unerbittlich von einem einzigen Gedanken getrieben: er möchte das vollkommene Werkzeug seiner großen Gabe sein.«

Mira mußte tief durchatmen, bevor sie weitersprechen konnte. »Es war seine Entscheidung gewesen. Er hätte Arielle heiraten können, aber er wollte um keinen Preis seine Arbeit im Turm aufgeben. Also verließ Arielle ihn und den Turm, und ihr Vater arrangierte für sie die Heirat mit Regis Ridenow. Coryn glaubte, sie sei gestorben, als sie den Ridenows einen Erben schenkte. Und das erfüllte ihn gleichermaßen mit Zorn und Schuldgefühlen. Zorn darüber, daß Arielle ihr Leben für einen Ridenow opferte – bei ihrem Laran hätte sie das ungeborene Kind rechtzeitig auf die tödlichen Gene hin überprüfen können. Und schuldig fühlte er sich, weil er sie in diese Ehe getrieben hatte, die sie, wie er glaubte, das Leben kostete.«

»Du kennst ihn nur jetzt und vielleicht meinst du, er sei schon immer so gewesen. Aber das ist nicht der Fall. Ich könnte weinen, wenn ich daran denke, was in ihm gestorben ist, als er Arielle verlor.« Barak ging durch das Zimmer zu einer schmalen Fensternische hinüber und schaute in den Hof hinab. »Er war früher schon gefährlich, aber jetzt könnte er den Planeten aus den Angeln heben, wenn ihm danach ist.«

Mira blickte zu Barak, dessen Profil sich von der Steinwand abhob.

»Aber vielleicht machen wir uns auch ganz grundlos Sorgen. Coryn läßt sich nicht mehr so sehr von seinen Gefühlen leiten. Vielleicht berührt es ihn gar nicht mehr, daß es nicht Regis Ridenows, sondern sein Sohn war, bei dessen Geburt Arielle starb. Oder aber es berührt ihn und verändert ihn zum Guten, läßt ihn wieder menschlicher werden, anstelle des Laran-Monsters, zu dem er geworden ist.«

Barak fuhr herum und entgegnete heftig. »Darauf würde ich mich nicht verlassen! Bei allen Göttern, das Risiko ist mir zu hoch!«

»Es besteht aber keine Alternative«, meinte Leander. »Er muß erfahren, daß der Junge die Hastur-Gabe besitzt. Dann kann er daraus seine eigenen Schlüsse ziehen.« Leander erhob sich.

Mira hielt ihn zurück. »Bitte, Leander, laß uns das machen. Wir standen ihm einmal sehr nahe.«

Leander zuckte mit den Schultern. »Wie du wünscht.« und mit wehender Robe glitt er aus dem Zimmer.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?« Dyan begrüßte Ari mit einem Klaps auf die Schulter und setzte sich neben ihn. Der Aufenthaltsraum war zu dieser Abendstunde fast leer, da die Matrixarbeiter sich auf die Nachtschicht vorbereiteten; Ari hatte gehofft, hier allein gelassen zu werden. Doch Dyans Erscheinung war eine willkommene Abwechslung. Seine unbekümmerte Art munterte Ari immer auf und ließ ihn fast seinen Kummer vergessen.

Aber eben nur fast.

»Offenbar hat sich alles gegen mich verschworen, um aus mir einen Bewahrer zu machen. Ich soll dazu ausgebildet werden.«

Dyan pfiff anerkennend. »Na, Glückwunsch! Dann wirst du einmal Ari von Hali sein. Das ist mindestens so gut wie Lord einer Domäne, wenn nicht noch besser. Deine Söhne werden sich jedenfalls nicht um die Nachfolge die Köpfe einschlagen, noch bevor du unter der Erde bist.«

»Ich wünschte, ich könnte es auch so sehen. Aber ich bete noch immer, daß Lady Renata mir gestattet zurückzukehren.« Als er Renata erwähnte, hatte er wieder dieses seltsame Gefühl, als ob sie anwesend sei. Er tat es wieder als Müdigkeit und Heimweh ab und versank noch tiefer in seinen Sessel.

»Du wirst schon noch auf den Geschmack kommen. Das Leben im Turm hat durchaus seine Vorzüge.« Dyan stand auf und ging ans Fenster. Er blickte in den Hof hinab und rief Ari zu: »Schau mal, da geht Coryn Hastur. Hast du ihn eigentlich schon mal gesehen?«

Ari schüttelte den Kopf und trat hinzu. Durch die Nebelschwaden konnte er eine Gestalt in roter Robe erkennen, die am Ufer des Sees entlangging. »Ich kann nichts Außergewöhnliches an ihm finden«, stellte Ari achselzuckend fest.

Dyan grinste. »Ja, rein äußerlich vielleicht nicht. Er ist eher zierlich, so wie du. Überhaupt – « Dyan musterte Ari aufmerksam, als ob er ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekäme. »Ja, du siehst ihm ähnlich. Obwohl Hasturs Gesicht durch die Narben eines Matrixunfalls entstellt ist, bleibt die Ähnlichkeit unverkennbar.

Merkwürdig!«

Dyan starrte ihn auch weiterhin verblüfft an, was Ari immer unangenehmer wurde. »Die Di Asturiens sind mit dem Hause Hastur verwandt«, versuchte er abzuwiegeln. »Vielleicht kommt es daher.«

»Bei der zunehmenden Inzucht«, meinte Dyan scherzhaft, »würde es mich nicht wundern, wenn wir eines Tages alle mit dem gleichen Gesicht rumlaufen.«

Ari verglich Dyans grobe Züge mit seinem eigenen feingeschnittenen Gesicht und konnte sich nicht verkneifen zu grinsen. »Wenn ich dich so sehe, mein Freund, kann ich mir das nur schwer vorstellen.«

Dyan pflichtete ihm lachend bei. »Nein, wir sind uns nun wirklich nicht ähnlich. Aber du und der alte Hastur – komisch, daß mir das nicht schon früher aufgefallen ist.«

Ari wollte das leidige Thema beenden. »Es ist bestimmt nicht so wichtig.« Aber so sehr er sich auch dagegen sträubte, eine innere Stimme sagte ihm, daß diese Ähnlichkeit sich noch als äußerst wichtig herausstellen sollte.

Am folgenden Abend suchte Mira Ari in seinem Zimmer auf. Der Junge schaute etwas verunsichert zu ihr auf. »Ich dachte, ich sollte in Leanders Kreis arbeiten.« Seine Stimme verriet ein wenig seine Überraschung. »Oder ist dies ein privater Besuch? In dem Fall fühle ich mich natürlich geehrt.«

Mira schüttelte den Kopf. »Wir möchten dich einem weiteren Test unterziehen. Du besitzt eine seltene und unerwartete Begabung, und deshalb hielt man es für das Beste, daß der Erste Bewahrer dich untersucht, bevor du einem Kreis zugeteilt wirst.«

Sie bemerkte, wie der Junge blaß wurde, als er aufstand, um ihr zu folgen. »Er ist kein Unmensch«, beruhigte sie ihn, aber ihre Stimme klang schärfer, als sie es beabsichtigt hatte.

»Gewiß nicht, vai leronis. Er war wohl auch mit meiner Pflegemutter und meiner leiblichen Mutter befreundet. Zumindest hat man mir das gesagt.«

»Ja, das war er bestimmt«, lächelte Mira jetzt, milder gestimmt, während sie die Türe hinter Ari schloß.

Sie führte ihn den Flur entlang zu einem kleinen Zimmer, in dem Coryn und Barak auf sie warteten. Alle drei trugen ihre Matrix-Roben: Coryn im Scharlachrot des Bewahrers, Barak im Technikerblau, und Mira die weiße Robe einer Überwacherin. Nur Ari schien fehl am Platz, er wirkte hilflos und verstört. Ach Renata, er ist so verletzlich. Mira schirmte ihre Gedanken sorgsam gegen die anderen ab. Wie konntest du ihn nur allein hierher schicken?

Dann konzentrierte sie sich auf Coryn. Fast hielt sie den Atem an, als der Bewahrer den Jungen das erste Mal flüchtig betrachtete.

Aber was Mira halb ersehnt, halb befürchtete hatte, trat nicht ein.

Coryn zeigte keinerlei sichtbare Reaktion. »Du siehst deiner Mutter nicht sehr ähnlich«, war alles, was Coryn sagte.

Mira hatte gehofft, es würde genügen, den Jungen Coryn einfach nur vorzustellen. Sie warf Barak einen Blick zu, aber dieser zuckte nur mit den Achseln. Sie hatten Stunden damit verbracht, einen geeigneten Weg zu finden, Coryn Aris wahre Vaterschaft beizubringen. Schließlich waren sie zu dem Schluß gekommen, daß an einer direkten Gegenüberstellung nichts vorbeiführte. Coryn war zu stolz und eigensämig, um zu glauben, was er nicht selbst erlebte.

Das aber bedeutete, daß nun Coryn mit dem Jungen Gedankenverbindung aufnehmen würde.

Mira gab Barak ein Zeichen, und er trat einen Schritt vor. »Wirst du jetzt mit der Prüfung beginnen?« fragte er Coryn.

Der Bewahrer nickte. »Dräng mich nicht, Barak. Warum bestehst du überhaupt darauf, anwesend zu sein? Eine Überwacherin reicht vollkommen aus.«

»Ich habe meine Gründe«, entgegnete Barak entschlossen und verschränkte die Arme. Mira war froh, einen so standfesten Verbündeten zu haben. Selbst Coryn war es nie gelungen, Barak von etwas abzuhalten, das er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.

»Nun, wie du willst«, entschied Coryn. Er nahm einen unverschlüsselten Sternenstein aus der Tasche seiner Robe und wandte sich Ari zu. »Zeige mir jetzt, wie du deine Schwingungen an meine angleichst.«

»Jawohl, vai tenerezu.« Ari antwortete laut und klar, und Mira war erfreut, die Stärke in seiner Stimme zu hören. Sie wußte, daß er, wie die meisten außerhalb des Turms, vor Coryn Angst hatte, aber er ließ es sich nicht anmerken.

Während Coryn und Ari ihr Bewußtsein in den Sternenstein strömen und verschmelzen ließen, folgte Mira ihnen, nahm aber gleichzeitig Kontakt mit Barak auf. Und dann, als der schreckliche Augenblick der Erkenntnis die Verbindung zwischen dem Bewahrer und dem Jungen erschütterte, hielten Mira und Barak Coryn mit vereinten Geisteskräften zurück.

Der Bewahrer sprang auf. Sein Gesicht war kreidebleich, was die geröteten Narben nur um so erschreckender hervortreten ließ. Er riß sich aus Miras und Baraks geistiger Umklammerung los. »Ihr Götter, nein! Arielle!« brach es aus ihm heraus. »Warum? Warum hast du mir das verschwiegen?«

Ari sackte zusammen und verlor beinahe das Bewußtsein, als der Rückschlag ihn traf, aber Barak und Mira konnten ihn vor dem Schlimmsten bewahren. Kümmere dich um Coryn, wies Mira Barak an, während sie die Arme um den geschlagenen Jungen legte.

Coryn stürmte aus dem Zimmer. »Coryn, warte!« rief Barak und stürzte hinter ihm her. Mira nahm noch verschwommen wahr, wie Barak Coryn telepathisch suchte, ihn fand, Kontakt aufnahm und ihn beruhigte; dann widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit Ari.

»Mein Vater?« flüsterte Ari. »Gerechte Götter! Deshalb also hat mich Lady Renata fortgeschickt. Soll aus mir denn auch so ein Monster werden?«

Mira schaute ihm tief in die graugrünen Augen. »Was redest du da! Er ist kein Monster! Coryn besitzt viele hervorragende Eigenschaften. Und das gilt auch für dich.«

»Aber warum hat meine Pflegemutter mir nie etwas davon erzählt? All die Jahre konnte ich nicht begreifen, warum die Ridenows mich nicht aufnehmen wollten.« Eine einzelne Träne rann ihm über die Wange, die er aber sogleich zornig wegwischte. »All die Jahre!«

Im leichten Rapport mit ihm konnte Mira feststellen, daß seine Verwundung nicht lebensbedrohlich war. Ari war trotz seiner zierlichen Erscheinung ein zäher Bursche. Dann spürte sie, wie sich eine dritte Person in ihre mentale Verbindung einschaltete.

»Renata?« fragte sie laut. Sie hatte sich nicht geirrt. Die Herrin von Aldaran war wirklich bei ihnen.

»Ja, ich bin es.« Mira konnte Renatas Stimme hören; die Luft begann zu flirren und eine Gestalt anzunehmen, die Mira wohlvertraut war: schlank, eher unscheinbar, mit Stupsnase und Sommersprossen, dafür aber mit leuchtenden Augen und kupferrotem Haar ohne eine einzige graue Strähne.

Ari starrte die Erscheinung seiner Pflegemutter an. »Wie seid Ihr hierher gekommen?«

»Ich bin nach wie vor in Aldaran. Was du siehst, ist nur eine Projektion. Bevor du nach Hali aufgebrochen bist, habe ich meinen Sternenstein auf deine Matrix abgestimmt, damit ich ständig mit dir in Kontakt bleiben konnte. Du mußt nicht glauben, ich hätte dich je verlassen. Dazu liebe ich dich zu sehr, mein Sohn.«

»Was hast du nur getan, Renata?« warf Mira ein. »Du hättest uns warnen sollen, schon um unserer alten Freundschaft willen!«

»Das hätte ich gern getan«, erwiderte Renata, »aber ich durfte es nicht, breda. Als Arielle von den Ridenows wegen des Kindes, das sie erwartete, verstoßen wurde und zu mir kam, da mußte ich ihr versprechen, es niemandem zu verraten, sondern ihn erst zu seinem wahren Vater zu schicken, wenn die Zeit dafür reif war. Diesen Schwur konnte ich nicht brechen. Aber ich habe die ganze Zeit über Ari gewacht. Ich hätte nie zugelassen, daß ihm etwas zustößt.«

Mira verstand: Renata besaß die Alton-Gabe, mit der sie sogar Coryn eine Zeit lang im Zaum halten konnte.

Ari starrte ausdruckslos an die Decke. »Dann wurde meine Mutter also wegen mir verstoßen. Ich bin zweifach verflucht.«

»Das darfst du dir nicht einreden«, ermahnte ihn Renata. »Ich bin hier, um dir zu erklären, was sich wirklich zwischen deiner Mutter und deinem Vater zugetragen hat.«

»Dann werde ich dich jetzt besser mit deiner Pflegemutter allein lassen.« Mira verabschiedete sich von Ari.

Sie machte sich auf die Suche nach Coryn, der ihren Beistand vermutlich dringender benötigte als der Junge. Sie fand ihn in seinen Gemächern, wo er schweigend an Baraks Seite saß. Als sie eintrat, tauschte Barak einen verständnisvollen Blick mit ihr; dann ließ er Mira mit Coryn allein.

»Coryn, ich – « setzte Mira an, aber Coryn ließ sie nicht aussprechen;

»Seit wann weißt du davon?« Er sah sie nicht an.

»Erst seitdem der Junge hier aufgetaucht ist. Sein Gesicht. Deine Züge. Diese Ähnlichkeit!«

Jetzt wandte sich Coryn ihr zu, und es traf Mira wie ein Schlag: der Schmerz stand ihm offen ins Gesicht geschrieben. »Warum nur, Mira? Warum hat sie mir nie etwas gesagt? Warum opferte sie ihr Leben für mein Kind? Wie muß sie mich gehaßt haben!«

»Sie hat dich geliebt, Coryn. Daran darfst du nie zweifeln.« Mira lehnte sich vor und wollte ihre Hand auf seine legen, aber er wich aus und schüttelte den Kopf.

»Bitte nicht, Mira.« Seine Stimme klang jetzt sanfter und unendlich traurig. »Berühr mich bitte nicht. Noch nicht. Es wird mich einige Anstrengung kosten, das zu überwinden, was ich mir selber angetan habe.«

»Möchtest du, daß ich bei dir bleibe?«

»Nein, das wird nicht nötig sein. Ich werde schon zurechtkommen.«

Mira verbeugte sich. Und sie spürte, daß er es aufrichtig meinte.

Trotz des Schmerzes und der quälenden Erinnerungen würde er schließlich damit zurechtkommen. Der Bewahrer würde seinen Frieden finden. »Ihr macht uns große Ehre, vai tenerezu.« Mit diesen Worten verließ sie ihn.

Ari war in sein Zimmer zurückgekehrt und ließ sich erschöpft auf sein Bett fallen. Er war noch zu benommen, um die ganze Tragweite dessen zu begreifen, was Lady Renata ihm enthüllt hatte. Er klammerte sich nur an den einen Gedanken – Renata hatte ihm versprochen, daß er nach einem Jahr in allen Ehren nach Aldaran zurückkehren konnte, falls er nicht im Turm zu Hali bleiben wollte.

Sie liebte ihn wirklich. Und Brenton liebte ihn. Aldaran würde immer sein Zuhause bleiben.

Aber war es das, was er wirklich wollte? Er was sich selbst nicht mehr sicher. Seine Unentschlossenheit kam ihm selber abwegig vor.

Wird mir etwas verweigert, will ich es nur umso mehr. Und bietet man es mir offen an, kann ich mich nicht entscheiden! Aber er mußte sich ja nicht heute entscheiden, tröstete er sich.

Ari streckte sich und wollte schon schlafen, als es an der Tür klopfte.

»Ich bin müde, Dyan!« rief er. »Kann es nicht bis morgen warten?«

»Es geht um etwas anderes.« Die Antwort kam gedämpft durch die geschlossene Tür. »Kann ich dich kurz sprechen?«

Aris Herz schlug schneller, als er mittels seines Laran den Besucher erkannte. Dennoch stand er auf und öffnete.

Der Erste Bewahrer von Hali trat ein. Ohne die scharlachrote Robe wirkte er weniger furchterregend; ein durchschnittlicher Mann, klein und drahtig wie Ari. Vor allem aber bemerkte Ari, daß die kalte Arroganz aus seinen Augen gewichen war; offen und verletzlich gewährten sie Einblick in seine Seele.

»Es gibt da einige Punkte, die ich mit dir besprechen möchte«, erklärte der Bewahrer auf ruhige Art.

Ari bot Coryn höflich einen Stuhl an. Er selbst setzte sich ihm gegenüber auf das Bett.

»Ich würde dir sehr gern von deiner Mutter erzählen.« Coryn streckte den Arm aus und hielt seine Finger über Aris Hand.

»Möchtest du es hören?«

Ari nickte, und plötzlich ließ Coryn seine Hand auf Aris ruhen.

Ari verspürte ein leichtes, aber nicht unangenehmes Prickeln, wie bei einem schwachen Stromstoß, als Coryn Hastur, Erster Bewahrer des Turms zu Hali, nach fünfzehn Jahren zum ersten Mal wieder einen anderen Menschen berührte.

ROXANA PIERSON

Ungeziefer

Mit Roxana Pierson können wir eine alte Bekannte und Freundin Darkovers begrüßen. In ihrer Geschichte Schwarmgesang in Die Monde von Darkover hat sie uns eine wirklich ungewöhnliche Anwendung von Laran vorgeführt.

Von ihrer Kindheit weiß sie zu berichten, daß »neben den Tieren und Insekten Bücher meine einzigen Freunde waren«. Ihr Vater war Hobbyimker, und sie sagt, »ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er die tropfenden Honigwaben herausnahm und die Bienen mit bloßer Hand abstreifte.« Auch sie sei, obwohl sie keinerlei Schutzkleidung trug, nie gestochen worden. »Jahre später erfuhr ich, daß ich gegen Bienenstiche allergisch war, und da erst wurde mir klar, wie unbekümmert wir waren.«

Sie erklärt weiter, daß sie gerne Insektenkunde studiert hätte, aber ihr Vater hielt nichts davon, Geld in die Ausbildung von Mädchen zu investieren. Erst nach einer gescheiterten Ehe konnte sie zum College gehen. (Mir erging es ebenso.)

Das bekannte Thema der Trockenstädte erfährt in dieser Geschichte eine neue und überraschende Abwandlung.

Rot flirrende Mittagshitze lag über dem großen Haus von Shandar.

Alles war still. Die Dienerschaft wagte kaum zu sprechen und die Ärzte berieten sich im Flüsterton. Der Herr des Hauses, Zhalara, lag im Sterben.

Die Oberärzte zupften sich nachdenklich die Bärte und schüttelten trübsinnig die Köpfe, während die jüngeren Assistenten eifrig Zhalara untersuchten und im faulenden Fleisch, das ihm als schwabbelige Wampe herabhing, herumstocherten. Noch vor wenigen Monaten war der Alte gesund und munter gewesen; eine stattliche Erscheinung, nur daß er bei seiner Leibesfülle Schwierigkeiten hatte, ein geeignetes Pferd zu finden, das nicht gleich unter ihm zusammenbrach. Aber jetzt … eine unbekannte Form der Auszehrung hatte ihn befallen, begleitet von merkwürdigen Halluzinationen. Aber Zhalara war ohnedies alt, und wer konnte schon ewig leben?

»Mylady.« Valeron, der älteste der Ärzte, verneigte sich tief vor Zhalaras Frau Julana, die ungerührt auf einem kleinen, vergoldeten Stuhl neben Zhalaras Bett saß. Beide Hände, in Ketten gelegt, ruhten auf ihrem geschwollenen Bauch.

»So sprecht«, erwiderte sie tonlos, ohne dabei von ihren mit Juwelen besetzten Handfesseln aufzusehen.

»Ich … wir haben alles getan, was in unserer Macht steht«, erklärte Valeron und räusperte sich verlegen. Insgeheim verwünschte er den Alten, der ein Mädchen zur Frau genommen hatte, das noch kaum im heiratsfähigen Alter war. Andererseits nötigte es ihm Respekt ab, daß Zhalara sie auf seine alten Tage noch geschwängert hatte.

»Meine Kollegen und ich stimmen alle darin überein, ein solcher Krankheitsfall ist uns noch nie begegnet.«

»Sie sagen, er ißt nichts?« erkundigte sich Falyn. Als zweitältester der behandelnden Ärzte besaß er das Vorrecht, Valeron bei der Befragung von Patienten und Angehörigen zu assistieren. Die jüngeren Kollegen, die es nicht wagen durften, mit einem weiblichen Mitglied des Haushaltes zu sprechen, mußten den Patienten notgedrungen selbst untersuchen. Vorausgesetzt natürlich, daß es sich um keine Patientin handelte. In diesem Fall wurde ein Diener damit beauftragt, den Ärzten mitzuteilen, was ihr fehlte.

»Er behauptet, in seinem Essen sei … Ungeziefer«, erläuterte Julana. Mit zittriger Hand fuhr sie sich hinter ihrem Schleier übers Gesicht, als ob sie Tränen wegwischen wollte. »Ich habe ihn inständig gebeten, etwas zu essen, aber nach ein, zwei Bissen schleudert er den Teller an die Wand. Sie sehen ja selbst seinen Zustand. Überall diese wunden Stellen. Und dann kratzt er sich die Haut auf. Er meint, er habe Läuse, aber das ist Unsinn. Alles nur Einbildung.«

»Das stimmt«, bestätigte die Dienerin, die hinter ihr stand. »Als ich ihm letzte Woche das Abendessen brachte, sagte er, es sähe aus wie Würmer.«

»Was gab es denn?« fragte Falyn.

»Natürlich Nudeln. Am vierten Tag des Neumonds gibt es doch immer Nudeln. Bei Ihnen etwa nicht?«

Valeron und Falyn tauschten einen verzweifelten Blick. »Was haben Sie ihm sonst noch serviert?«

»Reis«, sagte Julana leise. »Und das war doch immer seine Leibspeise.«

»Und, hat er davon gegessen?«

»Aber nein«, antwortete die Dienerin. »Diesmal beklagte er sich, es sähe aus wie Maden. Maden! Ich bitte Sie! Aber da habe ich ihm an Ort und Stelle erklärt, daß ihn selbst bald die Würmer fressen werden, wenn er nicht anständig ißt. Aber das hat ja auch nichts geholfen! Und erst gestern habe ich ihn beobachtet, wie er sich wie verrückt kratzte, obwohl da gar nichts war. Und dann starrt er stundenlang die Wand an. Ihr seht es ja selbst.«

»Er ist wirklich zu bedauern«, stellte Valeron resignierend fest.

»Ja, jammerschade«, pflichtete Julana ihm bei.

»Meines Erachtens handelt es sich um eine Geisteskrankheit, die im fortgeschrittenen Alter auftritt«, erklärte Falyn pompös und ernsthaft. Er hatte diese Art lange genug geübt.

»Ich fürchte, da läßt sich nicht mehr viel machen«, meinte Valeron.

»Überhaupt nichts«, schloß Falyn. »Versuchen Sie wenigstens, ihm nichts vorzusetzen, das ihn gleich wieder an Würmer erinnert.«

Julana stützte sich auf die geschnitzte Balustrade und blickte in den Garten hinaus. Die Sonne verblaßte im violetten Dämmerschein, und mit der abendlichen Kühle kehrte auch das Leben zurück. Die Nachfalken krächzten heiser und die Insekten ergriffen die Flucht.

Julana streckte die Hand aus, und eine Libelle ließ sich anmutig auf ihren Fingerspitzen nieder.

Diese Tageszeit war ihr am liebsten. Es waren die einzigen Augenblicke der Muße, wenn sie sich kurz von Haushalt und Zhalara fortstehlen konnte. Meist verdöste er den ganzen Nachmittag, bis sie ihn zum Abendessen rief. Was würde nach seinem Tod geschehen, fragte sie sich. Was würde aus ihr und ihrem Sohn werden? Sie war sich sicher, daß es ein Sohn werden würde, und bis er volljährig wurde, hoffte sie, frei zu sein, so weit das einer Frau in den Trockenstädten überhaupt möglich war. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, zu den Verwandten ihrer Mutter in den Domänen zu fliehen. Einzig diese Hoffnung hatte ihr die Kraft gegeben, die langen Monate ihrer abscheulichen Ehe durchzustehen.

Julana hatte ihren Vater angefleht, sie nicht zu der Heirat mit Zhalara zu zwingen. Sie hatte den alten Fettkloß von Anfang an verabscheut. Sie brauchte nur an ihren Hochzeitstag zu denken und schon schnürte es ihr vor Zorn die Kehle zu. Womit hatte sie das nur verdient? Als er die goldene Kette um ihr Handgelenk legte, die das Band der Ehe symbolisierte, hätte sie am liebsten aufgeschrien und wie ein in die Enge getriebenes Tier um sich gebissen. Und dann erst die Nacht, die folgte! Bei der Erinnerung daran wurde ihr noch immer schlecht. Dabei hatte sie noch nicht einmal genau gewußt, was von ihr erwartet wurde. Zhalaras schweinisches Betatschen war nur schmerzhaft und abstoßend. Der Gedanke, sie müsse eine solche Behandlung ihr Leben lang erdulden, war einfach unerträglich.

Aber es kam noch schlimmer. Sie mußte erkennen, daß Zhalara nicht nur alt und häßlich, sondern auch grausam war. Julana erinnerte sich, wie ihre Mutter einmal zu ihrem Vater sagte: »Bei einem Mann seines Alters ist allenfalls die Gesinnung steif!« Damals hatte sie das nicht verstanden, aber nun wußte sie nur zu gut, was Allira damit gemeint hatte. Und natürlich hatte Zhalara seine Frustration mit Fäusten an ihr ausgelassen. Als er sie das erste Mal schlug, hatte sich Julana verkrochen und geheult. Beim zweiten Mal, sie war bereits schwanger und fürchtete um das Kind, schwor sie Rache.

»Meine Herrin?« Eine Dienerin näherte sich zögernd, kniete dann nieder und berührte mit ihrer Stirn Julanas Sandalen, wie es der Brauch war.

»Ja, was gibt’s?«

»Verzeiht mir, wenn ich Euch in Eurer Andacht störe, aber Eure Eltern sind eingetroffen.«

»Wo sind sie jetzt?«

»In den Gemächern des Herrn.«

»Du hast ihnen doch etwas zu essen und trinken angeboten?«

»Lord Jharek hat dem auch eifrig zugesprochen, aber Eure Mutter wollte zuerst Euch sprechen.«

»Gut, dann werde ich zu ihnen gehen.« Julana raffte ihre Röcke zusammen und ging ins Haus.

»Es steht nicht gut um ihn«, bemerkte Jharek, als er sich neugierig über Zhalara beugte. Der Alte ließ sich von den Besuchern offenbar nicht stören und schnarchte weiter.

»Gar nicht gut«, bekräftigte Allira im Hintergrund.

»Wie lange geht es ihm schon so?« fragte Jharek.

»Seit Monaten«, erwiderte Julana achselzuckend.

»Bei der Hochzeit sah er noch ganz rüstig aus«, meinte Allira.

»Hast du die Ärzte kommen lassen?«

»Selbstverständlich. Aber sie wissen auch keinen Rat. Sie sagen, es sei eine Art Auszehrung.«

Allira seufzte schwer. »Kind, du bist schon für die Ehe zu jung, ganz zu schweigen vom Witwenstand. Aber wenigstens wirst du gut versorgt sein.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, warf Jharek ein. »Seine Verwandtschaft ist ziemlich umfangreich.«

»Soll das heißen, daß sie alle 300 Pfund wiegen?« fragte Allira.

»Du weißt ganz genau, wie ich es meine«, schoß Jharek zurück.

»Sein Bruder – eben der, der ihn bei seiner Hochzeit begleitete – der wird alles kriegen. Julana inbegriffen. Sie gehört zum Besitz, wie du weißt.«

»Nein, das weiß ich ganz und gar nicht! Witwen können in den Trockenstädten nicht erneut heiraten. Das hast du mir selber gesagt.«

»Nicht außerhalb der Familie. Aber es entspricht durchaus den Gesetzen, wenn Zhalaras Bruder sie heiratet, um den Besitz in der Familie zu halten.«

»Das … das kann nicht Euer Ernst sein!« rief Julana bestürzt aus.

»Was hast du denn geglaubt?«

»Ich … Ich habe geglaubt … mein Sohn … alles würde ihm gehören.« Niedergeschlagen sank sie auf den nächstbesten Stuhl.

»Du willst wohl sagen, du hoffst, daß es ein Sohn werden wird,»

erklärte Jharek unerbittlich. »Aber selbst wenn dem so ist, wirst du doch das Mündel von Zhalaras Familie bleiben, bis der Junge volljährig ist. Es ist höchste Zeit, daß du allmählich erwachsen wirst und deinen Platz akzeptierst, mein Mädchen. Wenn du mir nicht mehr zu gehorchen hast, mußt du eben deinem Mann, seinen Verwandten oder deinem Sohn gehorchen. Das solltest du endlich mal in deinen hübschen Kopf bekommen.«

»Ich verstehe Euch nur zu gut, Vater.« Julana war jetzt fest entschlossen. Vielleicht war es ja zu viel verlangt, wirklich frei zu sein, aber das bedeutete nicht, daß sie sich alles hilflos gefallen lassen mußte. In Gedanken berührte sie den Tausendfüßler, der emsig einen Spalt in der Decke untersuchte. Ohne Vorwarnung verlor er seinen Halt und landete direkt auf Jhareks Kopf.

Er strich sich fluchend durch das Haar, um das Insekt abzuschütteln, das sich mit einem schmerzhaften Stich in die Hand wehrte. Jharek brüllte laut auf, dann zermalmte er den armen Wurm. Während er sich noch die schmerzende Hand rieb, rief er aufgebracht: »Warum wimmelt es in deiner Nähe immer nur so vor Ungeziefer?«

»Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte Allira. »Es gibt überall Ungeziefer.«

»Ja, Vater«, meinte Julana ruhig, »es stimmt schon – es gibt mehr Ungeziefer als Menschen. Wenn man es sich recht überlegt, gibt es sogar mehr Ungeziefer als Zhalara Verwandte hat!«

Und hinter ihrem Schleier lächelte Julana grimmig.

DIANN PARTRIDGE

Kinderstreiche

Diann Partridge lebt in Wyoming. Sie hat »einen Mann, drei Kinder, einen alten Hund und zwei Katzen.« Die frühere Angehörige der Streitkräfte sagt von sich, daß sie schreibt, so lange sie zurückdenken kann.

»Auf die Idee zu Kinderstreiche kam ich durch eine frühere Darkover-Geschichte, in der es um die Burg Thendara ging. Sie war so alt und wurde je nach Bedürfnis so oft erweitert, daß keiner genau wußte, wieviele Kammern es gab und wo die Gänge alle hinführten. Das Wort ›Burg‹ hat schon immer meine Phantasie angeregt. Dabei muß ich an Geheimtüren, Geister und unerklärliche nächtliche Geräusche denken. Diese Vorstellung habe ich dann mit den kindischen Streichen verbunden, die wir uns gegenseitig während unserer Grundausbildung spielten. Es kam bestimmt mehr als einmal vor, daß man Rasierschaum in seinen Schuhen hatte.«

Alizia Aillard packte ihre Nichte am Arm. Sie rechnete damit, daß das Kind versuchen würde, sich loszureißen, aber Luz Valeron leistete keinen Widerstand. Sie stand ungerührt im Turmhof und hielt

mit

beiden

Händen

die

hochgezogenen

und

lehmverschmierten Röcke fest. Alizia ließ die Rute auf die entblößten Beine niedersausen. Fünf scharfe Hiebe – und Luz schrie kein einziges Mal dabei. Sie biß die Zähne zusammen. Es war weniger der Schmerz als der Haß, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete.

Ihre zwei Komplizen erwiesen sich als nicht ganz so stoisch. Korin Ardais, der etwas jünger war, wehrte sich erst wie wild, und dann jaulte er bei jedem Schlag auf.

Die kleine, zierliche Callina Alton flehte herzzerreißend und vergoß wahre Sturzbäche an Tränen. Alizia ließ es bei drei Schlägen bewenden, was aber Luz nur noch mehr erboste.

»So, und jetzt hört ihr drei mir gut zu. So etwas ist in der ganzen Geschichte von Thendara noch nicht dagewesen, was ihr mit der Bewahrerin angestellt habt. Diese Frechheit …«

»Aber Tante, wir hatten es doch gar nicht auf Lady Alaynna abgesehen. Es sollte Caleb treffen. Und wir haben …«

»Luz!« fuhr Alizia sie scharf an. »Unterbrich mich nicht. Du hast schon genug ausgefressen, da brauchst du nicht auch noch vorlaut werden. Was ihr getan habt, war so oder so schlimm, ganz egal, wen es getroffen hat. Dom Caleb ist ein ausgezeichneter Lehrer, und wenn ihr nicht lernt, ihm zu gehorchen, werdet ihr es im Turm nicht weit bringen. So, ich schicke euch drei jetzt auf eure Zimmer, und da werdet ihr bis morgen früh bleiben. Das Mittsommerfest heute Nacht wird ohne euch stattfinden, und das Abendessen ist auch gestrichen. Ich erwarte von euch, daß ihr euch ruhig verhaltet, bis eure Eltern benachrichtigt sind. Ich bin sicher, eure Mütter werden sich in Grund und Boden schämen, wenn sie hören, was ihr angestellt habt.«

»Sie ist gar nicht meine Mutter«, maulte Luz.

»Still jetzt! Und ab auf eure Zimmer!«

Die drei drehten sich um und verließen den Hof. Korin schniefte, Callina heulte, nur Luz stapfte trotzig und ohne jede Reue davon.

Alizia lehnte sich an die Steinwand des Turms und verbarg ihr Gesicht; ihre Schultern zitterten. Izak Ardais, der Überwacher des Turms, kam zu ihr herüber und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.