»Gewiß, mein Lord, alles in bester Ordnung«, versicherte sich übereifrig und bemühte sich, wieder gelassen zu wirken. »Ich muß nur meinem Bruder beim Umkleiden helfen, wenn Sie gestatten. Er wird jetzt den Schwerttanz aufführen«,

Mit diesen Worten verschwand sie zusammen mit Endreas in der Menge. Und noch ehe Regis widersprechen konnte, hatte sich Dan Lawton, der Terranische Legat, zu ihnen gesellt, und man wechselte das Thema.

Alessandra folgte ihrem Bruder in die Aillard-Gemächer und schloß hinter sich die Tür. »Schalte den telepathischen Dämpfer ein«, wie sie ihn an.

»Warum denn das, Alessa? Du leidest wohl schon an Verfolgungswahn …« wandte Endreas ein.

»Mach schon!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Wenn uns irgend jemand hört, dann ist alles aus, hörst du. War dir denn überhaupt nicht klar, daß jeder es hätte aufschnappen können, als du mit mir im Ballsaal sprachst … .«

»Jetzt übertreibe nicht, Alessa! Und was wäre schon dabei, daß Endreas Aillard heute für den Schwerttanz zu krank ist und daß seine Schwester an seiner Stelle tanzen wird? Natürlich wäre es ein Sakrileg, aber doch kein Todesurteil. So ein bißchen öffentliche Schande könntest du doch verkraften, Alessa, oder etwa nicht?«

Bleich und schwach wie er war, blieb ihm doch noch immer der alte Sarkasmus.

Alessa brauste auf. »Ich habe noch überhaupt nicht zugestimmt!

Wie kannst du nur annehmen …«

»Noch nicht, aber du wirst es tun.«

»Begreifst du denn nicht, welche ungeheuerliche Sache du da von mir verlangst? Sie sagen ja immer, ich sei so – terranisch, aber selbst ich kann erkennen, wie völlig unmöglich deine Idee ist. Eine Frau, die den Part eines Mannes tanzt – und das im traditionellen Darkover! Den altehrwürdigen Kihar der Männer darzustellen, und damit diese altmodischen, ach so stolzen und leicht gekränkten Leute vor den Kopf zu stoßen! Wie würden sie wohl darauf reagieren, wenn ich das entweihte, was ihnen am meisten bedeutet: ihren albernen Stolz, den ich doch zugleich so an ihnen schätze?

Beim bloßen Gedanken daran verspüre ich Mitleid für sie.

Ihretwegen kann ich das nicht tun!«

»Gerade ihretwegen mußt du es tun! Ach Alessa, mach dir doch nichts vor! Was heißt hier männlicher Stolz?« spottete Endreas. »Ich weiß genau, was du davon hältst. Es ist dein eigener Kihar, dein eigener Stolz. Laß dir doch von niemandem etwas anderes einreden.

Und gerade deine terranischen Erfahrungen sollten dir genügend Selbstvertrauen geben. Alle glauben, dies sei ein männlicher Tanz, ein darkovanischer Tanz! Und du bist geradeso wie jeder Mann dafür geeignet! Muß ich noch mehr sagen?«

Alessa blickte ihn schweigend an, schwieg auch jetzt, als er fortfuhr: »Du weißt, Alessa, daß ich dich nicht darum bitten würde, wenn ich eine andere Wahl hätte. Aber ich fühle mich so unglaublich schwach, schon seit heute morgen. Ich könnte noch nicht einmal vor sie alle hintreten, selbst wenn ich es versuchte. Und du kennst den Tanz doch ganz genau … Komm schon, Schwester, nimm das Kostüm, zieh es an. Wir haben noch immer die gleiche Größe. Und deine Haare … die binden wir einfach zurück. Keiner wird den Unterschied bemerken. Aber der Tanz muß getanzt werden – es geht nicht anders. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Du hast recht«, stimmte Alessandra schließlich zu, aber sie zitterte doch, als sie das Kostüm entgegennahm. »Zumindest dieser eine Tanz. Ich habe ihn schon immer tanzen wollen. Nur dieses eine Mal. Für Darkover …«

Im Ballsaal der Comyn-Burg wurden die Lichter erneut gelöscht; dieses mal wurde der Raum völlig verdunkelt. Dann brachte man zwei Fackeln herein, die flackerten, als die Wächter in der Saalmitte die Zeremonienschwerter über Kreuz auf den Boden legten. Dann entfernten sie sich. Nun sollte Endreas, einer der besten Tänzer Thendaras, auftreten. Wie die Schwester, so der Bruder.

In der Ferne setzte ein einzelner Bordun klagend ein, schwoll allmählich an und wurde dann von rhythmischem Trommelwirbel abgelöst. Diesem Tanz wohnte jene eigentümliche Kraft inne, die seit Menschengedenken die Herzen schneller schlagen ließ.

Der Tänzer nahm den Rhythmus stampfend auf. Sein Gewand, schwarz und purpurrot mit dem eng gebundenen Kopftuch, unterstrich den wilden, barbarischen Eindruck aus längst vergangenen Tagen. Dieser Rhythmus und diese Verkörperung des alten Stolzes der Berge bewegte das Publikum stets aufs Neue. Es herrschte atemlose Stille.

In den heftigen Bewegungen lag etwas Ungezügeltes, Animalisches, und doch zeugte es zugleich von höchster Präzision.

Verglichen mit dem vorangegangenen Tanz seiner Schwester besaß dieser hier, so glaubte Regis, eine andere Qualität. Die Anmut und Beherrschung wurden von größerer Kraft und Kühnheit übertroffen, und hinzu kam eine nur schwer zu beschreibende sinnliche Heftigkeit, die durch und durch maskulin war. Sie nahm einen gefangen, zog einen in ihren Bann …

Der Pulsschlag erhöhte sich zu einem Crescendo, als der Tänzer wie ein wildes Katzenwesen die Schwerter ergriff und damit herumwirbelte. Der Stahl reflektierte bei jeder Drehung das Fackellicht und täuschte so optisch ein Blitzlichtgewitter vor. Die kunstvoll geführten Schwertbewegungen ahmten einen Kampf auf Leben und Tod nach – ein getanzter Kampf mit sich selbst.

Er gleicht Dyan, wie er vor all den Jahren den Schwerttanz vollführte, ein einziges Mal nur, und die Frauen reihenweise ohnmächtig werden ließ.

Für Regis verschmolzen erneut Realität und Erinnerung: er glaubte tatsächlich, den finsteren Lord Ardais zu sehen, wie er einst vor ihnen aufgetreten war, im wilden Tanze, voller mühsam gezügelter Gewalt – stolz und schön und grausam und so voller Leben! Sollte diese Nacht denn nur mit Erinnerungen an die Vergangenheit beladen sein? Oder wurden diese Erinnerungen durch eine sich all zu schnell verändernde Gegenwart hervorgerufen?

Die Trommeln und Schellen verstummten in einem gigantischen Schlußakkord, der einen barbarischen Schrecken verbreitete. Die purpurrote und schwarze Gestalt, eben noch eine tanzende Fackel, erstarrte zu einer Statue aus Stein, die Schwerter hoch über dem Kopf haltend.

Das Kopftuch!

Das schwarze Kopftuch hatte sich gelöst! Das lange, flammend rote Sharra-Haar ergoß sich auf seine – nein, auf ihre Schultern! Und mit ihm ergoß sich ewige Schande.

Alessandra Aillard blieb gerade noch genug Zeit, um zu spüren, wie das Kopftuch verrutschte, und zu begreifen, was das für sie bedeutete. Dann brach sie zusammen. In der großen Comyn-Halle herrschte Totenstille.

Als sie wieder zu sich kam, kniete Ruyven an ihrer Seite und kümmerte sich um sie, ohne daß Regis ihn erst darum bitten mußte.

Um sie herum war inzwischen der Sturm der Entrüstung losgebrochen.

Alessa war kreidebleich, und ihre langen roten Haare, die sie verraten hatten, verstärkten diese Eindruck noch. In der Menge glaubte sie, das ebenfalls bleiche Gesicht ihrer Schwester auszumachen. Aber selbst Daniela konnte ihr jetzt nicht mehr helfen.

»Ich muß hier fort«, brachte Alessa nur mühsam hervor. Sie richtete ihre klaren grünen Augen auf Ruyven, der nur wortlos nickte, ihr aufhalf und sie mit seinen starken Armen stützte. Die Menge machte ihnen voller Abscheu Platz, als sie aus der Halle eilten; es waren Rufe zu vernehmen wie: »Schamlose Schlampe! Sie ist keine Aillard, niemals! Wer hat diese Schandtat zugelassen? Ich habe die ganze Zeit geglaubt, es wäre Endreas Aillard …« Aber darunter mischten sich auch andere Stimmen: »Was für ein phantastischer Tanz das doch war! Kein Mann hat je so gut getanzt wie diese Frau, die sich als Mann ausgab! Sie hat ihren Bruder Endreas bei weitem übertroffen, und er ist einer unserer besten!«

Sie befanden sich bereits im Flur, als Ruyven sie allein weitergehen ließ. Als ob er überhaupt nicht anwesend sei, schritt Alessandra stoisch und kerzengerade weiter und nahm nichts um sie herum wahr.

Ruyven war ganz gegen seinen Willen milder gestimmt. Sein Herz öffnete sich, weil sie selbst jetzt, da in ihrem Inneren eine Welt zusammengebrochen war, so stolz und gefaßt erschien.

»Damisela …« Seine sonst so unbeteiligte Stimme war nahe daran sich zu überschlagen. »Ich werde Sie zum Quartier der Aillards zurückbringen.«

»Ich bin noch nie zuvor ohnmächtig geworden. Ich habe nie gewußt, was es bedeutet, auch nur einen Moment lang nicht mehr weiterleben zu wollen …« Ihre Worte klangen wohlüberlegt, doch ausdruckslos. Sie hörte nicht, was Ruyven zu ihr sagte.

»Kommt, Damisela, Sie müssen dieses unglückselige Kostüm ablegen. Zieht Euch um und dann ruht Euch aus. Sie werden es nötig haben, denn Euch stehen schwierige Zeiten bevor.«

»Ausruhen …« Alessas zitternde Lippen wiederholten das Wort.

Sonst zeigte ihr Gesicht keinerlei Regung. Und doch liefen ihr mit einem Mal große Tränen über die Wangen.

Ich wollte von ganzem Herzen auf diesen Planeten zurückkehren, der meine Heimat ist. Selbst wenn ich vor einem Millionenpublikum getanzt habe, wollte ich immer nur das eine: zurückkehren und den einen Tanz tanzen, der allein das Blut in meinen Adern zur Wallung bringt.

Sie schaute auf, um in die Augen des Mannes zu blicken, der anscheinend ihre Gedanken gelesen hatte. Alles Stählerne war aus seinem Blick gewichen.

»Es war wirklich unglaublich von Ihnen, Damisela. Ich hätte das an Ihrer Stelle nicht getan. Niemals!«

Sie fuhr ihn an. »Sie, Dom? Sie sind aber nicht an meiner Stelle!

Und Sie wissen nicht, was es heißt zu tanzen …«

»Darum geht es nicht. Aber was gibt Ihnen eigentlich das Recht, nach Darkover zurückzukehren und zu glauben, hier alles nach Lust und Laune verändern zu können. Glauben Sie wirklich, daß Ihre Erfahrung aus beiden Welten ausreicht, um ›das Neue mit dem Alten zu verbinden‹, wie es so schön heißt? Glauben Sie wirklich, daß Sie so Darkover bewahren können, und sei es nur dem äußeren Schein nach? Wie unser Lord Hastur, für den allein der äußere Schein zählt?«

»Das ist ganz und gar nicht Hasturs Einstellung. Er allein kann die Wirklichkeit richtig einschätzen, er allein weiß, daß das einzig Beständige der Wechsel ist, und daß auch die Comyn ihm unterworfen, oder aber zum Untergang verdammt sind, – mitsamt ihrer geheiligten Tradition!«

»Ach? Ich sehe ja, wie heilig sie Ihnen ist!«

»Mehr als Sie annehmen! Sie gehören einer aussterbenden Rasse an!« stieß Alessa von Zorn erfüllt hervor. Dann erstickte, für beide unerwartet, lautes Schluchzen ihre Stimme. Der purpurrote Schleier ihrer Haare, der die Schande über sie gebracht hatte, bedeckte ihr Gesicht und verbarg jetzt die Schmach ihrer Tränen.

Ruyven wußte nicht, wie er reagieren sollte, und verharrte schweigend vor ihr. Aus irgendeinem Grund war auch ihm nach Weinen zumute. Alessa gab sich vollkommen ihrem eigenen Schmerz hin und schämte sich nicht länger dem Schluchzen, das nun langsam verebbte.

Beide wußten es nicht, hatten es nicht in der Seele des anderen gelesen, aber beide beklagten in diesem Augenblick das unauflösliche Dilemma Darkovers.

»Verzeiht mir, Alessandra«, begann Ruyven erneut. »Ich brauche Sie wohl kaum daran zu erinnern, was gerade vorgefallen ist. Aber eines muß ich doch noch wissen, selbst wenn ich Sie damit wieder aus der Fassung bringen sollte. Warum? Sagen Sie mir bitte aufrichtig, warum Sie das getan haben. Und zwar nicht unbeabsichtigt, sondern willentlich. Wollten Sie unbedingt zeigen, daß Sie selbst auf diesem Gebiet der ehrwürdigen Tradition das Alte verbessern können? Denn ich gebe zu: Sie haben es verbessert. Aber war es all die unnötigen Schmerzen, die Sie uns damit zugefügt haben, wert? Nur um das zu beweisen …?«

»Was kümmert Sie das?«

»Ich möchte Sie nur – verstehen …«

Ihre geröteten Augen blickten zu ihm auf. »Gut, dann werde ich es Ihnen sagen, Dom …« Sie hielt kurz inne. »Ich wollte den Schwerttanz heute nicht tanzen. Zugegeben, als Künstlerin, die ihre Kunst liebt, hätte ich es gerne getan. Aber ich wußte auch ganz genau, was es für euch bedeuten würde! Nur was mein Bruder Endreas mir sagte, zwang mich dazu. Er konnte nicht tanzen, er ist krank.«

»Und wenn schon? Ein anderer aus Thendara hätte an seiner Stelle tanzen können. Ein Mann, wie es sich gehört. Jedenfalls nicht Sie!

Oder schlimmstenfalls hätte man es absagen müssen – auch das ist schon vorgekommen.«

»Nein!« unterbrach sie ihn eilig. »Begreifen Sie denn nicht, was ich Ihnen zu sagen versuche? Der Tanz an sich war gar nicht so wichtig, sondern vielmehr die Frage, ob ich das tun konnte, was getan werden mußte. Ich spreche von eben jener Tradition, die Sie so hochhalten! Sie sollte nicht unterbrochen werden. Andere hätten vielleicht die Vorstellung abgesagt. Aber ich wollte unbedingt etwas wahrhaft Darkovanisches vollbringen, wollte wenigstens dieses eine mal darkovanischer sein, als ich es in meiner Position als Comynara je sein könnte. Denn trotz meines Blutes halten sie mich für keine echte Darkovanerin. Indem ich tat, was ich tat, indem ich mehr tat, als mir zusteht, konnte ich mir selber beweisen, wer ich wirklich bin: als Comyn, als Terranerin – als Mensch.«

Ruyven hatte ihr ruhig und aufmerksam zugehört. »An dem Tag, als sie den Aillard-Eid ablegten, hatte ich im Rat etwas gesagt, dessen Bedeutung mir erst jetzt richtig bewußt wird. Ich habe gesagt, daß ein verlorener Sohn oder eine verlorene Tochter die Sprache der Eltern noch können muß, um wieder aufgenommen zu werden.«

»Und verstehen Sie als Comyn die Sprache, die ich spreche?«

flüsterte sie und blickte ihm dabei in die Augen. »Ich bin die verlorene Tochter, die zurückkehrt, um Anspruch auf mein Geburtsrecht zu erheben. Nicht um Aillard zu regieren, sondern um zu dienen, wie ich es muß. Ich bin zurückgekehrt und habe neben meinem alten Erbe ein neues und anderes mitgebracht. Beide vermischen sich, und mit beiden spreche ich zu Ihnen. Und ich frage Sie: Können Sie mich verstehen?«

Regis Hastur war nicht schlecht erstaunt, als Alessandra Kyrielle Aillard, die designierte Erbin der Domäne, nach Mitternacht den Ballsaal wieder betrat. Korrekt gekleidet und frisiert ließ ihre Erscheinung nichts zu wünschen übrig, Ihre grün schimmernden Augen blickten ruhig und hochmütig umher, als ob nichts vorgefallen wäre. Und doch lag in diesen Augen auch ein neuer Ausdruck.

Noch viel erstaunlicher war aber die Tatsache, daß die Comyn bei ihrer Rückkehr nicht sofort das übliche Protestgeschrei anstimmten, das Regis nur allzu sehr gewohnt war. Sollte sich tatsächlich ein Stimmungsumschwung eingestellt haben? War es überhaupt denkbar, daß die Comyn gelernt hatten zu verzeihen? Natürlich gab es einige, die ungläubig auf Alessa deuteten und über das Ausmaß ihrer Unverfrorenheit tuschelten. Andere aber nickten ihr sogar anerkennend zu.

Regis mußte bei aller heimlichen Sympathie ihr gegenüber zumindestens den Anschein der Strenge wahren. Dennoch ging er zu ihr hinüber und befragte sie freundlich. Auch Dan Lawton war ganz in der Nähe. Der Legat brannte darauf, endlich zu erfahren, was hinter dem ganzen Verwirrspiel steckte. Wieder irgend welche politischen Winkelzüge?

Im Ballsaal befanden sich auch einige unauffällige Beobachter, sofern man bei einem ganzen Reporterteam aus Terra inmitten einer urdarkovanischen Veranstaltung von unauffällig sprechen kann.

Zumindest hatten sie ihre Videoausrüstung ausgezeichnet getarnt.

Sie hatten beide Tänze aufgezeichnet, und das Bildmaterial wurde bereits bearbeitet, um dann intergalaktisch ausgestrahlt zu werden

…Die Comyn nahmen zur Kenntnis, daß Hastur Alessandras Anwesenheit trotz der Vorkommnisse billigte. Aber richtig überrascht waren sie alle, als der zweite Sohn Di Asturien, der die alten Sitten so hoch achtete, diesen Aillard-terranischen Emporkömmling zum Tanz aufforderte und sie aufs Parkett führte.

So lässig zu tanzen, nach allem, was geschehen war! Aber Alessa war alles andere als lässig. Als sich Ruyvens starker Arm fest um ihre Hüfte legte und sein schwarz gelockter Kopf so nah bei dem ihren war, spürte Alessa, wie sie heftig errötete, denn sie konnte seine Gedanken lesen. Gedanken, bei denen eine wohlige Wärme ihre Glieder durchströmte. Ausnahmsweise verbarg er seine Gefühle hinter keiner Maske.

Als Ruyven Di Asturien die wahre Stimme der verlorenen Tochter Darkovers gehört hatte, war ihm klar geworden, daß sie nach und wie vor eine gemeinsame Sprache besaßen; eine Sprache, die in jedem darkovanischem Herz tief verwurzelt war. Ob alt oder neu, ob Stillstand oder Veränderung – unwesentlich. Beides bestand nebeneinander und sollten auch weiterhin auf diesem paradoxen Planeten Darkover bestehen.

Mit einem Mal klang das so einfach. Oder vielleicht doch nicht?

überlegte Regis. Als er sah, wie Alessa und Ruyven auf dem Parkett ein perfektes Paar abgaben, kam Regis Hastur ein tröstlicher Gedanke: Wenn sogar ein Di Asturien sie akzeptieren konnte, dann würde auch Darkover dazu fähig sein. Jawohl, Darkover würde Alessandra Aillard willkommen heißen, denn sie hatte in der Sprache ihres Blutes zu ihnen gesprochen.

Wenn Darkover nur einsehen würde, spann Regis seine Überlegungen fort, wie relativ doch alles ist … Dann könnte Darkover eine Kehrtwendung vollziehen und im Terranischen Imperium aufgenommen werden. Denn war Darkover nicht, wie einige behaupten, dessen verlorenes Kind?

Und so wie die Dinge sich jetzt entwickelten, war Hastur auf alles gefaßt. Dazu gehörte selbstverständlich auch eine Hitzewelle in den Hellers oder – wenn Erinnerungen und Träume die gegenwärtige Wirklichkeit verwischen – das Verschwinden eines Mondes am Himmel über Darkover …

JACQUIE GROOM

Auf eigenen Füßen

Diese Geschichte stammt aus den Niederlanden. Normalerweise schicke ich Geschichten, die ich aus Übersee erhalte, zurück; jemand der nicht in Amerika oder England geboren wurde, kann nur äußerst selten gut genug auf Englisch schreiben, daß sich die Mühe für mich lohnt, es zu lesen – von meinen Lesern ganz zu schweigen. In all den Jahren meiner Tätigkeit als Herausgeberin ist es mir fast nie passiert. (Sollte Englisch Ihre Muttersprache sein, lassen Sie es mich bitte wissen.) Falls das jetzt chauvinistisch klingt, muß man mir erst das Gegenteil beweisen. Ich spreche aus Erfahrung.

Diese Geschichte gefiel mir jedenfalls, und ich möchte sie Ihnen nicht vorenthalten. Für Jacquie Groom ist es die erste Veröffentlichung, und sie schrieb mir, daß sie »vor Freude fast an die Decke gesprungen ist« als sie von der Annahme erfuhr. Sie ist Engländerin – na, was habe ich gesagt? –

hat aber schon in allen möglichen Ecken der Welt gelebt, von den Falkland Inseln bis zu den Niederlanden.

Diese Geschichte behandelt ein Thema, über das immer wieder geschrieben wird – und das meistens ziemlich schlecht. Es freut mich zu sehen, daß es auch anders geht.

Auf diesem Planeten habe ich keinerlei Freunde. Und meine Verwandten leben längst nicht mehr.«

Andrew Carr

Der verbotene Turm

»Du willst also wirklich nach Cottman IV?«

Jenny blickte trotzig zu Phil auf. »Ich muß«, wiederholte sie. »Es tut mir leid, daß ich es dir nicht früher gesagt habe, aber …«

Phil beendete den Satz für sie. »… aber letzten Endes bedeutet dir dieser Andrew Carr mehr als ich.«

Jenny kämpfte mit den Tränen und schüttelte den Kopf: »Das stimmt nicht. Ich liebe dich. Aber ich liebe auch Andy. Wir sind seit meiner Kindheit Freunde. Und jetzt steckt er in Schwierigkeiten.

Und wenn ich nicht alles unternehme, was mir möglich ist, um ihm zu helfen, werde ich mir ein Leben lang Vorwürfe machen.« Jenny setzte sich und kramte nach einem Taschentuch, fand aber keines.

»Bitte versuch doch, mich zu verstehen, Phil.«

Phil war noch immer nicht überzeugt. Er überflog die Ausdrucke, die Jenny auf dem Tisch liegengelassen hatte.

Als erstes eine kurze Mitteilung von Carr, die schon über zwölf Monate alt war: »Liebe Jen. Pläne kurzfristig geändert. Werde auf Cottman IV bleiben. Unvorhergesehenes Ereignis eingetreten. Schreibe später.«

Phil schaute sie an. »Und, hat er geschrieben?«

Jenny schüttelte den Kopf. »Ich habe geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Er war ja schon immer ziemlich schreibfaul. Und manchmal gehen Briefe auch einfach verloren. Aber dann habe ich versucht, ihn über das Comm-Netz direkt zu erreichen. Das hat auch nicht geklappt. Schließlich habe ich bei der Personalabteilung offiziell nachgefragt und um einen Bericht gebeten. Das da haben sie mir geschickt.« Sie deutete auf das zweite Blatt Papier.

»Andrew Carr, Cottman IV., Erkundungs- und Vermessungsdienst.

Nach Flugzeugabsturz vermißt, vermutlich tot.«

»Es tut mir leid, Jenny«, meinte Phil. »Er ist also tot. Aber daran kannst du doch jetzt nichts mehr ändern. Ich weiß ja, daß du immer von dem Gedanken besessen warst, du seist in ihn verliebt. Aber vielleicht kannst du jetzt endlich dein eigenes Leben leben. Die Zeit der Heldenverehrung ist vorbei.« Er wollte Jenny umarmen, doch sie wehrte ab.

»Aber er ist nicht tot. Da bin ich mir ganz sicher. Ich habe immer genau gespürt, wenn etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Da anscheinend in dieser Angelegenheit sonst niemand etwas unternimmt, werde ich es selber in die Hand nehmen. Wenn dir das nicht paßt, Phil, ist das dein Problem.« Jenny stürmte aus seinem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Auf dem Flug von der Fionarra-Raumstation nach Cottman IV hatte Jenny viel Zeit, um über alles nachzudenken. Es hatte sie überrascht und mitgenommen, daß Phil bei ihrem Abflug so sehr aus der Fassung geriet. Um dies zu verdrängen, vergrub sie sich in ihren Studien. Sie wollte sich auf das Ziel ihrer Reise gründlich vorbereiten – auch sie nannte es inzwischen lieber Darkover. Aber Phils Abschiedsworte schlichen sich immer wieder in ihre Gedanken ein und störten sei bei ihrer Arbeit. »Ich hoffe, du wirst diesen Carr finden«, hatte er schroff gesagt, wollte damit aber nur seinen eigenen Schmerz verbergen. »Tot oder lebendig, ich hoffe, du wirst ihn finden. Vielleicht kannst du dann den Mythos begraben, den du erschaffen hast. Denn erst wenn dieser Carr, den du in deiner Phantasie mit dir herumträgst, gestorben ist, werden wir gewöhnlich Sterblichen eine Chance haben.« Dann hatte er sie geküßt und die Abflughalle fluchtartig verlassen.

Hatte sie aus Andy Carr wirklich einen Mythos gemacht? Ihre ganze Schulzeit hindurch war er ihr bester Freund gewesen. Sie hatten so vieles gemeinsam unternommen: Ausritte, Schwimmen gehen, Schulaufgaben, die langen Gespräche. Ein oder zweimal hatten sie es sogar mit einem richtigen Rendezvous versucht, aber das hatte eher peinlich geendet. Schließlich gestand er ihr, daß er sie zwar sehr gern hätte, aber daß sie viel zu sehr wie eine Schwester für ihn war. Sie aber, sie hatte ihn immer geliebt. Und als er fortzog, hielt auch sie nichts mehr in ihrer Heimatstadt; sie folgte ihm und trat ebenfalls in den Raumdienst ein.

In einer Winternacht wie dieser erschien Darkover kalt und abweisend. Jenny zitterte heftig, als sie die kurze Strecke zum Raumhafen zurücklegte. Sie war jetzt seit fast zwei Wochen in Thendara und fragte sich bereits, ob es nicht ein Riesenfehler gewesen war, hierher zu kommen. Phil fehlte ihr mehr als sie gedacht hatte. Niemand schien etwas über Andrew zu wissen. Er hatte sich hier nur ganz kurz aufgehalten und keinerlei Freundschaften geschlossen. Nachdem beiläufige Erkundigungen ergebnislos verlaufen waren, hatte sie sich an offizielle Stellen gewandt.

Der Leiter des Erkundungs- und Vermessungsdienstes hatte ihr freundlich, aber bestimmt Auskunft gegeben. Keiner habe den Absturz überlebt. Er hatte ihr Luftaufnahmen der Absturzstelle sowie Klima- und Bodenstatistiken gezeigt. Lebenserwartung gleich Null. Daß Carr nach wie vor als »vermißt« geführt werde, sei eine reine Formsache, da weder die Leiche noch die Erkennungsmarke bislang aufgefunden wurden. Eine reine Formsache.

Eine reine Formsache. Jenny fiel es schwer, das zu akzeptieren.

Irgendwie spürte sie, daß Andy ihr sehr nahe war; sein Bild wich nicht aus ihren Träumen. Sie versuchte, das beiseite zu schieben und sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber in der Kommunikationsabteilung schien es nie genug für sie zu tun zu geben. So verbrachte sie ihre Zeit oft bei den Kollegen vom Vermessungsdienst und machte sich so immer besser mit Darkover vertraut. Als man eine neue Expedition zusammenstellte und einen Experten für das Nachrichtenwesen benötigte, fiel die Wahl auf sie.

Der Abteilungsleiter bat sie in sein Büro. »Ich möchte, daß Sie verstehen, wie äußerst heikel diese Operation ist. Wir wagen uns zum ersten Mal ohne einheimische Führer in ein entlegenes Gebiet von Darkover. Wir beabsichtigen, unsere eigenen Karten zu benutzen und eine Reihe von Funkfeuern zur Unterstützung der Flugnavigation zu installieren. Es kann jedenfalls ziemlich ungemütlich werden, und falls Sie sich der Sache nicht gewachsen fühlen, sollten Sie es jetzt sagen.«

Jenny hätte alles getan, um endlich aus dem Hauptquartier herauszukommen, und so packte sie schon bald ihre Sachen für die Expedition.

Sie schenkte der hell erleuchteten Handelsstadt kaum einen Blick, als ihr Helikopter mitten in Nacht abhob und Kurs auf die entlegenen Berge nahm. Sie war vollauf damit beschäftigt, den Kontakt

zwischen

den

verschiedenen

Bodenstationen

aufrechtzuerhalten und die neuen Funkfeuer einzurichten.

Eines Abends schlugen sie ihr Lager auf einem hochgelegenen Plateau in den Bergen auf. Während Jenny am Lagerfeuer vor sich hin döste, versuchte sie sich vorzustellen, wie Andy jetzt aussehen würde. Wohl kaum wie der schlaksige Teenager, den sie einst gekannt hatte. Bei dem Gedanken an ihn schien er vor ihrem geistigen Auge zu altern: die Haare waren länger, sein Gesicht wirkte zerfurchter, und doch strahlte er Zufriedenheit aus. Als sie so dalag, schien das Bild in ihrer Vorstellung weiter zu wachsen.

Schemenhafte Gestalten traten an Andys Seite. Zwei Frauen und ein Mann. Die Frauen ähnelten sich und waren doch verschieden; rotes Haar umrahmte ihre hübschen Gesichter. Der Mann war klein, wirkte fast schon gebrechlich, aber sein warmherziges Lächeln verriet große innere Stärke.

Jenny richtete sich auf und schüttelte das Traumbild ab, das sie einerseits erschreckte, von dem sie sich andererseits aber nur widerstrebend trennte. »Es muß wohl an der dünner werdenden Luft liegen«, erklärte sie einem ihrer Begleiter. »Mir gehen die merkwürdigsten Sachen im Kopf herum …«

Am nächsten Morgen erwachte sie als erste. Entgegen der ausdrücklichen Anordnung entfernte sie sich vom Lager, um einige Zeit allein in der grandiosen Landschaft zu verbringen. Das Wetter war vergleichsweise gut. Sie wußte aufgrund der Aufzeichnungen, daß Andrews Flugzeug etwa von diesen Koordinaten aus das letzte Mal Funkkontakt aufgenommen hatte. Wenn sie ganz allein, an diesem einsamen Ort von ihm Abschied nahm, dann könnte sie vielleicht ihr eigenes Leben wieder in den Griff bekommen. Wäre da nicht … Sie konnte die merkwürdige Vision vom Vorabend einfach nicht vergessen.

Nach gut einer halben Meile setzte sie sich hin und starrte gedankenverloren vor sich hin. Plötzlich wurde sie von panischen Rufen und Schmerzensschreien aus ihrer Tagträumerei gerissen.

Von Angst gepackt und völlig verwirrt stürzte sie zurück zum Lager. Zweimal verlor sie beinahe den Halt auf dem steinigen Gebirgspfad. Als sie um den letzten Felsvorsprung bog, bot sich ihr ein Bild völliger Verwüstung. Die Leichen ihrer Kollegen lagen ausgestreckt auf dem Boden, die gesamte Ausrüstung war zertrümmert. Sie biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien und sich selbst damit zu verraten. Vorsichtig schlich sie sich in das zerstörte Lager und begutachtete den angerichteten Schaden, vermied aber den Anblick der verstümmelten Leichen. Sie überprüfte das Kommunikationssystem. Totenstille. Der Proviant war verschwunden, ebenso die Waffenkiste.

»Denk nach, Jennifer, denk nach!« Immer wieder redete sie sich selbst zu. »Was mußt du jetzt tun? Wie lauten die Dienstvorschriften?« In der verzweifelten Hoffnung, doch noch irgend einen intakten Gegenstand, irgend einen letzten Fetzen Zivilisation zu finden, lief sie hin und her, bis sie sich schließlich an die Felskante setzte und ihr Gesicht in den Händen vergrub.

»Du bist mir ein schöner Freund, Andrew Carr«, schimpfte sie lauthals. »Da kommt ein Mädchen durch die halbe Galaxie, um dir zu helfen, und dann passiert so etwas.« Sie fühlte sich schon etwas besser in ihrem Zorn. »Das ist jedenfalls das letzte Mal, daß ich dir hinterherlaufe, Andy«, rief sie laut über die Schlucht. »Von jetzt an führe ich mein eigenes Leben! Verstanden?«

Ich habe verstanden.

Jenny glaubte, sie habe etwas gehört. Andrews Stimme, ganz laut und deutlich! Sie drehte sich um und rechnete fest damit, ihn dort zu sehen. Aber nichts. Und doch …

»Bin ich jetzt auch tot?« fragte sie, auch wenn niemand da war, dies zu beantworten. »Wo bin ich hier gelandet, im Himmel oder in der Hölle?« Als Antwort darauf hörte sie ein leises Lachen.

Bleib ruhig, Jenny. Wir sind gleich bei dir. Dann bist du in Sicherheit.

»Andy? Bist du das wirklich?«

Psst! Sprich jetzt nicht. Die Banditen könnten noch in der Nähe sein.

Bleib ruhig, wir sind gleich bei dir.

Ruhig bleiben. Noch nie war ihr etwas so schwer gefallen. Sie konnte beim besten Willen nicht entscheiden, ob sie die Stimmen wirklich gehört oder sich das alles nur eingebildet hatte. Ständig schwankte sie zwischen Gefühl und Verstand. Sollte sie bleiben, wo sie war, wie es das Gefühl ihr riet? Oder sollte sie die wenigen noch brauchbaren Sachen zusammenpacken und versuchen, zum Hubschrauber zu gelangen, wie es der Verstand verlangte?

Schließlich ließ sie den Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, freien Lauf.

»Jenny? Du bist es wirklich!«

»Andy?« Und Jenny rannte los und warf sich an seine breite Brust.

Als sie sich schließlich aus der innigen Umarmung löste, blickte sie zu ihrem Freund auf. »Man sagte mir, du seist tot. Ich wußte immer, daß das nicht stimmt. Aber wie hast du mich gehört?«

»Ich erkläre es dir später«, vertröstete er sie und stellte ihr seinen Begleiter vor, der zwei Pferde am Zügel hielt. »Dies hier ist Damon Ridenow.«

»Ich weiß«, meinte Jenny. »Das heißt, ich habe Sie in meinen Träumen gesehen. Zusammen mit Andy. Ach, das ist alles so verwirrend.«

»Ann’dra«, wandte sich jetzt Damon an seinen Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich finde, wir sollten nach Armida zurückreiten. Hier können wir doch nichts mehr ausrichten. Aber die Behörden sollten unterrichtet werden.«

»Es gibt da noch etwas«, platzte Jenny heraus. »Die Waffenkiste ist verschwunden.« Sie errötete und fügte kleinlaut hinzu: »Darin befinden sich auch zwei Blaster.«

Damon Ridenow war nicht wohl bei dem Gedanken. »Das ist allerdings eine ernsthafte Angelegenheit. Die Terraner haben versprochen, das Abkommen einzuhalten. Ein solcher Verstoß wird nicht so leicht toleriert werden.«

Andrew stellte inzwischen eine andere Überlegung an. »Standard-Kiste mit der üblichen Sicherung?« fragte er. »Eingebauter Sperrmechanismus gegen Fremdeinwirkung? Zwei Schlüssel?«

Jenny nickte und deutete auf die Leichen der beiden Expeditionsleiter. Andrew durchsuchte eilig ihre Sachen und kehrte mit den zwei Schlüsseln in der Hand zurück. »Die Banditen werden beim Öffnen der Kiste ihr blaues Wunder erleben!« grinste Andrew und steckte die Schlüssel in die Tasche. Dann half er Jenny beim Aufsitzen.

»Das kann schon sein«, bemerkte Damon. »Aber das entschuldigt noch lange nicht, daß unsere Regeln mißachtet wurden.«

Jenny hatte sich noch immer nicht beruhigt; sie konnte kaum die Zügel halten, so sehr zitterte sie. Einzig Andrews starke Arme schienen ihr etwas Kraft und Trost zu spenden. Er hatte sich so sehr verändert und seiner neuen Umgebung völlig angepaßt. Sein markiges Auftreten war voller Selbstvertrauen. Jenny mußte sich eingestehen, daß sie ihn beneidete; er hatte offensichtlich einen Platz im Leben gefunden.

Plötzlich erschütterte eine heftige Explosion die Ruhe. Andrews Pferd scheute, und Jenny glaubte schon, wie würden abgeworfen.

Dann aber folgten sie Damon im Galopp und hielten auf die Richtung zu, aus der die Detonation gekommen war.

Zum zweiten Mal an diesem Tag mußte Jenny vor einem schrecklichen Anblick die Augen verschließen. Sie wandte sich ab, vergrub ihr Gesicht in der Flanke des Pferdes und atmete dabei den heißen Schweißgeruch ein. Schließlich trat Andrew hinter sie.

»Hätten besser ihre Finger von der Kiste gelassen, stimmt’s? Aber es geschieht ihnen recht, nach dem Mord an deinen Freunden.«

Jenny schaute sich um und sah Damons strenge Miene. »Werden Sie Meldung erstatten, daß wir gegen das Abkommen verstoßen haben?« fragte sie mit zitternder Stimme.

Damon antwortete nicht.

»Ich kann noch immer nicht ganz glauben, daß ich so töricht war«, sagte Jenny, als sie frisch gekleidet und gestärkt mit Callista und Ellemir am Feuer saß. »Andy hat mich nie gebraucht. Ich bin ihm immer nur hinterhergezockelt. Doch dann ist er fortgegangen, ohne sich von mir zu verabschieden.«

»Ich finde es sehr bewegend, Freunde zu haben, die für einen alles aufgeben«, meine Callista in ihrer ruhigen Art.

»Du hast für mich auch alles aufgegeben«, bemerkte Andrew zärtlich und schaute dabei seiner Frau in die Augen.

Callista senkte den Blick. »Aber ich habe dadurch so unendlich viel gewonnen. Jenny hingegen hat nichts gewonnen.«

»Habe ich doch«, widersprach Jenny und starrte ins Feuer. »Ich hatte mir vorgenommen, Andy zu finden, und das ist mir gelungen.

So halbwegs«, lächelte sie, »denn eigentlich hat er ja mich gefunden.

Aber im Ernst. Ich glaube, ich habe endlich gelernt, auf meinen eigenen Füßen zu stehen. Ich muß meinen eigenen Weg gehen anstatt zu versuchen, in Andys Fußstapfen zu treten.«

»Du weißt, daß du ihm noch immer folgen könntest«, wandte Ellemir ein. »Du besitzt etwas Laran; sonst hätten wir deine Hilferufe gar nicht hören können. Und wahrscheinlich hast du dich deshalb so sehr zu Ann’dra hingezogen gefühlt. Du könntest dich uns anschließen, hier im Verbotenen Turm. Es gibt so viel zu tun.«

Als sie sich in dem freundlichen und gemütlichen Zimmer umsah, war Jenny durchaus versucht, das Angebot doch noch anzunehmen.

Dann aber schüttelte sie den Kopf. »Ich muß meinen eigenen Platz im Leben finden«, erklärte sie. »Und da schulde ich zunächst einmal jemandem auf Raumstation Fionarra noch eine Erklärung.« Sie wandte sich an Andrew und prostete ihm zu. »Andy Carr ist tot.

Lang lebe Dom Ann’dra Lanart!«

LAWRENCE SCHIMEL

Der Sohn der Amazone

Von männlicher Seite wird mir immer wieder vorgeworfen, ich sei gegenüber männlichen Autoren voreingenommen. Das liegt vielleicht daran, daß man mich, übrigens ganz zu Unrecht, als »Feministin«

abgestempelt hat. Und schon gilt jeder Autor, der in einer meiner Anthologien aufgenommen wird, als »Alibi-Mann«.

Dazu kann ich nur sagen, daß es den Männern vielleicht ganz gut tut, auch einmal ein paar Vorurteile zu spüren zu bekommen, besonders wenn man bedenkt, daß gerade in der Fantasy-Literatur Frauen jahrelang nicht zum Zuge kamen. Wir wollen aber auch nicht vergessen, daß unser verehrter Don Wollheim, der überhaupt erst den Anstoß zu diesen Anthologien gab, selber ein Mann war und nichts gegen die Rolle des

»Alibi-Mannes« einzuwenden hatte.

Lawrence Schimel, der im zweiten Jahr an der Yale University ist, schreibt, zeichnet und redigiert für verschiedene Studentenzeitungen. Zu seiner Geschichte meint er: »Es war ein Gesichtspunkt des Amazonenlebens, den ich bei meiner bisherigen Darkover-Lektüre vermißte. Deshalb fühlte ich mich verpflichtet, ihn darzulegen.«

Stelen und sein Sohn Copal waren auf dem Weg zum Gildenhaus. Je müder der Junge wurde, desto fester klammerte er sich an seinen Vater. Stelen hatte diese Straßen, durch die sie jetzt in der Abenddämmerung liefen, zuletzt vor zweiundzwanzig Jahren im gleißenden Morgenlicht gesehen. Es war an seinem fünften Geburtstag – der Tag, an dem sie ihn zwangen, bei seinem Vater zu leben. Stelen konnte sich noch an den hysterischen Anfall erinnern, den er bekam, als er das Gildenhaus verlassen mußte. Die Amazone, die ihn auf die Domäne seines Vaters brachte, mußte ihn am Sattel festbinden, sonst hätte er sich unterwegs davongeschlichen und wäre zum Gildenhaus zurückgekehrt.

Stelen blinzelte, als ihm Zornestränen in die Augen stiegen. Ich habe sie so sehr gehaßt, als sie mich fortschickte. Ich wollte bleiben. Gelobt sei Avarra, daß Copal so etwas nicht durchmachen muß. Alamena hatte sich zwar für ein Leben im Gildenhaus entschieden, aber Stelen konnte sie und seinen Sohn jeden Tag besuchen. Für Copal bedeutete sein fünfter Geburtstag jedenfalls kein traumatisches Erlebnis, sondern lediglich, daß er jetzt in einem anderen Haus übernachtete. Er sah seine Mutter auch weiterhin täglich, und heute würde er zum ersten Mal seine Großmutter besuchen. Ich habe meine Mutter zweiundzwanzig Jahre lang nicht gesehen.

Die problemlose Trennung von Alamena und Copal hatte Stelen zu dem Entschluß kommen lassen, endlich auch mit seiner eigenen Mutter Frieden zu schließen. Falls sie noch am Leben ist. Stelen schämte sich, daß er nicht einmal das wußte.

Alamena hatte sie eigentlich begleiten wollen, aber ihre Tochter Elena war für die Reise noch zu klein. Elena würde bei ihrer Mutter im Gildenhaus aufwachsen, aber es würde ihr jederzeit freigestellt bleiben, bei ihrem Vater zu leben. Alamena würde keinerlei Druck auf ihre Tochter ausüben, sich den Amazonen anzuschließen; es würde sie ebenso glücklich machen, wenn ihrer Tochter die Erfahrungen, die sie zum Eintritt in die Gilde getrieben hatten, erspart blieben.

Stelen hatte seiner Mutter nie verziehen, daß sie die Gilde der Entsagenden ihm vorgezogen hatte, bis er Alamena traf. Als er hörte, wie sehr sie gelitten hatte, erkannte er, daß er außer dem Namen nichts von seiner Mutter wußte. Warum sie eine Freie Amazone geworden war, konnte er nur vermuten, und solche Vermutungen waren keineswegs erfreulich.

Sie hatten das Gildenhaus erreicht und standen nun unentschlossen vor der Tür. Da wären wir also. Jetzt werde ich alles erfahren. Stelen versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Erst als Copal ungeduldig zu zappeln begann, klopfte er an die Tür, die sich sofort öffnete.

»Ich habe mich schon gefragt, ob Sie noch anklopfen würden oder nur den neuen Farbanstrich bewundern, den Kyella gestern aufgetragen hat.« Die dunkeläugige Amazone mit den kurz geschorenen schwarzen Haaren, die ihnen die Tür aufhielt, reichte Stelen nur bis zur Schulter. Die Frau wirkte zwar durchaus freundlich, aber mehr würde er von selbst nicht aus ihr herausbekommen. Stelen mußte schon selber die Initiative ergreifen.

Es wird einem nicht gerade leicht gemacht. Dennoch bewunderte er ihr Verhalten, denn sie brachte ihn dazu, daß er aus sich selbst heraus die Kraft fand zu fragen: »Kann ich bitte Magen n’ha Ramilys sprechen?« Jetzt gibt es kein Zurück mehr!

»Wen soll ich melden?«

Soll ich den Namen nennen? Und welchen Nachnamen? Den meines Vaters oder ihren?

»Ihren Sohn und ihren Enkel. Sagen Sie ihr, ihr Sohn ist hier.«

Die Frau starrte die beiden einen Augenblick lang an. »Ich werde ihr mitteilen, daß Sie gekommen sind. Ich hatte schon meine Zweifel, ob Sie überhaupt noch einmal auftauchen würden.

Besonders als Magen krank wurde.« Sie musterte ihn erneut eindringlich. »Es freut mich, daß Sie meine Zweifel widerlegen.«

Während Stelen noch über ihre Worte nachdachte, verschwand sie kurz und kehrte bald darauf mit einer älteren Frau zurück. Eine Stola schützte sie gegen die abendliche Frische. Sie war um so vieles älter geworden, und doch noch immer dieselbe Frau, die er aus der Erinnerung kannte. Stelen stand regungslos im Türrahmen.

»Komm her«, flüsterte sie ihm zu. »Komm zu deiner Mutter.«

Und Stelen ging auf sie zu, begleitet von seinem Sohn.

PATRICIA CIRONE

Die Gabe

Patricia Cirone meint: »Es macht mir immer viel Spaß, Ihre Einleitungen zu lesen. Es ist schon komisch, aber früher, als ich noch nicht selber schrieb, habe ich mich nie um dieses ›Zeug‹ gekümmert. Aber jetzt lese ich es immer zuerst.«

Womit wieder einmal bewiesen wäre, daß es nur auf den richtigen Blickwinkel ankommt. Ich wurde einmal gefragt, ob ich beim Herausgeben eher an die Autoren oder an die Leser denke. (Als ob sich das gegenseitig ausschließen würde.) Meine Antwort lautete natürlich: »An beide.« Denn ohne Autoren hätten die Leser nichts zu lesen; aber ohne Leser würden wir Autoren Selbstgespräche führen – wie der Prediger in der Wüste. Beide sind also gleichermaßen wichtig.

Pat Cirone hat bereits früher zu diesen Anthologien beigetragen, und sie meint, daß sich seitdem in ihrem Leben nichts Nennenswertes verändert habe. »Falls das nicht ausreicht, können Sie ja einfach etwas dazudichten.«

Genau deshalb bitte ich meine Autoren immer darum, ihre Biographien auf den neuesten Stand zu bringen; andernfalls werde ich nämlich tatsächlich etwas dazudichten, und das braucht nicht unbedingt im Sinne des Betreffenden zu sein. Das machen schließlich alle so, auch wenn die meisten nicht so ehrlich sind, es zuzugeben, und es lieber »Recherche«

nennen.

Der Regen peitschte gegen die massiven Mauern der Halle. Irina hielt ihre Hand schützend über die Flamme der Kerze, mit der sie die Lichter im Haus anzündete, um zu verhindern, daß ein plötzlicher Luftstoß sie ausblies. Im Zimmer hinter ihr wurde die schwere Tür, die von der Halle ins Freie führte, aufgestoßen und schnell wieder geschlossen. Der gesamte Clan versammelte sich.

Clan? Nein, das war nicht das passende Wort, dachte Irina. Denn innerhalb von fünf Generationen hatten sich die Familien, die hier an der Küste im Schutze der sie umgebenden Klippen siedelten, eher zu einem Dorf als zu einer großen Familie entwickelt. Aber heute abend würden alle erscheinen, um von ihrem verstorbenen Vater Abschied zu nehmen.

Irina unterbrach das Anzünden der Kerzen und kämpfte mit den Tränen, als sie auf die Bahre in der Mitte des Zimmers blickte. Es war so schwer zu fassen, daß er nun tot sein sollte; er war immer so groß und stark und so voller Leben gewesen. Dann aber, vor zwei Tagen beim Einholen der Netze, hatte er sich krampfartig an die Brust gefaßt und war vornüber auf das Deck unter ihm gestürzt.

Seine Männer hatten ihn heimgebracht. Einen Tag lang hatte er bleich und regungslos in seinem Bett gelegen; und mit wenig mehr als einem leichten Stöhnen war er schließlich gestorben.

Irina ging zur nächsten Kerze. Heute abend würden sich alle versammeln, um dem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der ihr Anführer, ihr Dai, gewesen war.

»Es ist an der Zeit, sie jetzt hereinzulassen«, meinte Anna im Hintergrund.

Irina seufzte. Es war so friedlich gewesen, als sie allein bei ihrem Vater wachte und die vielen Dinge erledigte, die sie vom Grübeln abhielten.

Jetzt würden die Familien in diesen Frieden einbrechen. Die stämmigen Männer würden verlegen und eingeengt von den Wänden herumstehen, die Frauen hingegen geschäftig und voller Mitgefühl, und die Kinder würden sich in ihren regennassen Kleidern und der verordneten Stille am unwohlsten fühlen und am liebsten ausbüxen. Irina würde mit ihnen allen sprechen und zumindest etwas von ihren Gefühlen zeigen müssen, damit man sie nicht für herzlos hielt. Sie hoffte inständig, daß sie ihre Tränen auch weiterhin zurückhalten konnte, denn jetzt hielt nur noch ihr Stolz sie aufrecht.

»Ist Mardic soweit?« fragte sie Anna ruhig und gefaßt.

»Ja, er hat sich bereits umgezogen. Aber findest du nicht auch, es wäre für den Jungen besser, wenn er erst später dazukommen würde?« sorgte sich Anna um ihren letzten Zögling.

»Nein, sein Platz ist hier«, erklärte Irina bestimmt.

»Aber es fällt ihm doch so schwer«, murmelte Anna.

»Er ist fast zehn«, entgegnete Irina. »Er muß jetzt schnell erwachsen werden.«

»Du hast wohl recht«, seufzte Anna und ging hinaus, um Mardic zu holen.

Ja, Mardic würde jetzt schnell erwachsen werden müssen. Und das galt auch für sie. Die sorgenfreien Tage, in denen sie an der Seite ihres Vaters zum Fischfang ausgefahren war und alle hausfraulichen Pflichten Anna überlassen hatte, waren endgültig vorbei. Ohne die Begleitung durch einen älteren männlichen Verwandten würde man die Anwesenheit eines jungen, unverheirateten Mädchens an Bord sicherlich nicht billigen. Außerdem würde Anna sich einen neuen Haushalt mit vielen kleinen Kindern suchen, um die sie sich so gerne kümmerte, sobald Mardic selbst mit den Booten ausfahren würde. Sie hatte das im Lauf des letzten Jahres klar und deutlich zu verstehen gegeben, aber Irina hatte diesen Gedanken immer weit von sich geschoben.

Jetzt konnte sie dem nicht länger ausweichen. Nach Vaters Tod würde Mardic seine Stelle einnehmen müssen, auch wenn er gerade mal neun war. Und sie würde die schwere Verantwortung der Haushaltsführung zu tragen haben. Keiner fragte, ob sie die damit verbundenen Arbeiten wie Kochen, Proviant sammeln und Vorräte anlegen gerne erledigte. Irgend jemand mußte es schließlich tun, und sie war immerhin vertraut damit – dafür hatten ihre Mutter und Anna schon gesorgt.

Aber die See würde ihr fehlen.

Mit Mardics Ankunft war auch ihre kurze Ruhepause beendet.

Irina öffnete die beiden Türflügel zur Halle, und die Fischer drängten mit ihren Frauen und Kindern in die Kammer.

Der Abend zog sich, wie sie befürchtet hatte, in die Länge.

Modriger Geruch feuchter Wolle und nasser Haare lag penetrant in der Luft. Regendurchnäßte Kleider klebten an Körpern, das ungewohnte Paar »guter« Schuhe drückte. Jeder fühlte sich unwohl.

Und so geschickt, wie die Männer sonst auch im Umgang mit Netzen und Segeln waren, so unbeholfen suchten sie jetzt nach den passenden Worten.

Irina war erleichtert, als die ersten Frauen sich mit ihren Kindern endlich auf den Heimweg machten. Die dicken weißen Kerzen waren schon zur Hälfte niedergebrannt.

Als sie ihren kleinen Bruder ansah, bemerkte Irina, daß er die Augen kaum noch offen halten konnte. Mardic war wie sie selbst seit dem Morgengrauen auf den Beinen gewesen und hatte bei den zahlreichen Vorbereitungen für den heutigen Abend geholfen. Und auch wenn ihr selbst genauso zumute war, durften sie beide sich das nicht anmerken lassen. Nicht heute abend.

»Bleib hübsch wach!« zischte sie ihm zu. »Und halte dich gerade!«

Er gehorchte, hob den Kopf und straffte die Schultern. Irina spürte, wie stolz sie auf ihn war.

Ihr fiel es schon schwer genug, und sie war doppelt so alt wie er; um wie vieles schwerer mußte es für ihn mit seinen neun Jahren sein! Sie erinnerte sich: auch sie war gerade erst neun gewesen, als sie so wie Mardic heute die Beileidsbekundungen entgegennehmen mußte; ihre Mutter war bei Mardics Geburt im Kindbett gestorben.

Außer ihr hatte Mardic nun niemanden mehr. Aber sie würde dafür sorgen, daß es ihm an nichts fehlen sollte, das schwor sie sich.

Sollte es irgendwelche Schwierigkeiten dabei geben, daß Mardic die Position seines Vaters in so jungen Jahren einnahm, dann würde sie auch das durchkämpfen. Und sie selbst würde bereitwillig die Verantwortung tragen, von der sie gehofft hatte, sie wenigstens noch ein Jahr lang vermeiden zu können.

Paolo, ehemals rechte Hand ihres Vaters und zweitwichtigster Mann im Dorfe, kam auf sie zu.

»Wir werden ihn morgen früh beim ersten Sonnenlicht auf See bestatten«, teilte er ihr mit. »Vorausgesetzt, das Wetter spielt mit.«

»Ich danke dir«, brachte Irina leise hervor. »Mardic und ich werden an Bord sein …« Bei dem Gedanken an die Endgültigkeit, mit der man den Leichnam ihres Vaters der See übergeben würde, erstarb ihre Stimme.

»Danach …« Paolo drehte seine feuchte Wollmütze verlegen in den Händen. »Du mußt dir jedenfalls keine Sorgen machen. Egal, wen die Männer auch als Dai wählen, er wird sicherstellen, daß man sich um dich und den Jungen kümmert.«

»Wählen? Was soll das heißen? Mardic ist jetzt Dai«, wandte Irina ein. Sie war verwirrt, bestürzt, jedenfalls mit einem Male wieder hellwach.

»Mardic? Er ist doch noch ein Kind!«

»Er ist der Sohn meines Vaters. Er ist jetzt Dai, so wie es schon sein Vater, Großvater, Urgroßvater und fünf Generationen vor ihm waren.«

»Das ist mir durchaus bekannt. Aber wir sind keine dieser Domänen, wie sie jetzt genannt werden, mit Vai Doms hinten und Vai Doms vorne, sondern ein Fischerdorf. Wir brauchen einen starken Anführer, und keinen neunjährigen Jungen als Dai. Er ist noch nicht einmal alt genug, um mit den Booten auszufahren!«

»Das dauert nicht mehr lange. In ein paar Monaten wird er zehn.

Und er besitzt das Wettergespür.«

»Er zeigt jetzt schon Anzeichen des Wettergespürs?« fragte Paolo überrascht.

»Nicht direkt. Aber er wird es haben. Die Männer in meiner Familie haben alle das Wettergespür besessen; deshalb sind sie ja Dai geworden.«

»Auch das ist mir bekannt. Und ich weiß wirklich nicht, wie wir ohne deinen Vater zurechtkommen werden. Aber wir können es uns einfach nicht leisten, fünf Jahre lang abzuwarten, bis Mardic herangewachsen und die Schwellenkrankheit durchgemacht hat, um dann festzustellen, ob er wirklich das Wettergespür entwickelt hat.

Wir brauchen jemanden, der uns jetzt führt. Jemanden, der sich mit den Booten auskennt, und mit den Fischen, und mit den Männern.«

»Ich kenne mich mit dem Booten aus. Ich bin mit meinem Vater acht Jahre lang zum Fischen ausgefahren. Und von euch kenne ich auch jeden einzelnen«, erklärte Irina verzweifelt.

Paolo prustete los, und die Fischer, die sich mittlerweile um sie geschart hatten, blickten einander ungläubig an.

»Du! Willst du jetzt allen Ernstes selbst Dai werden? Das hat uns gerade noch gefehlt. Daß du eine Frau bist, ist dabei gar nicht so wichtig. Mhari zum Beispiel hat ihr eigenes Boot fünfzehn Jahre lang ohne Verluste geführt, seit ihr Mann Teo umkam. Aber du bist gerade mal achtzehn! Ich fahre seit vierzig Jahren zur See. Raoul immerhin auch schon dreißig Jahre lang. Und da willst du dich jetzt zu unserem Anführer machen? Als ob du das Wettergespür hättest, was, wie ich sehr wohl weiß, nicht der Fall ist.«

Irina biß sich verzweifelt auf die Lippen. Es ärgerte sie, daß sie kein Wettergespür besaß und in diesem alles entscheidenden Punkt ihren Vater enttäuscht hatte. Sie hatte durchaus die Schwellenkrankheit durchgemacht, aber es war anscheinend alles umsonst gewesen. Ob es nun neblig oder sonnig war oder sich dicke Gewitterwolken am Himmel türmten, sie bemerkte es erst, wenn sie vor die Türe trat; ganz zu schweigen davon, daß sie in der Lage gewesen wäre, das Wetter auf ein, zwei oder drei Tage vorauszusagen.

»Aber Dygardis ist der einzige im ganzen Dorf, der zumindest ansatzweise das Wettergespür hat. Und seine Voraussagen sind so unzuverlässig und praktisch wertlos. Warum probiert ihr es also nicht mit mir? Nicht als Dai, das will ich gar nicht, sondern als eine Art Platzhalter für Mardic. Das seid ihr meinem Vater und meiner Familie einfach schuldig.«

»Und was passiert, wenn der Junge das Wettergespür nicht entwickelt? Oder die Schwellenkrankheit nicht überlebt? Du weißt doch, daß in deiner Familie sehr viele jung sterben.«

Die schmerzliche Erinnerung an ihren geliebten älteren Bruder und an drei jüngere Geschwister schnitt ihr in die Seele, aber das ließ Irina nur um so bestimmter auftreten. »Dann habt ihr nichts verloren«, erklärte sie. »Dann könnt ihr immer noch jemanden wählen.«

Paolo schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Ich würde für deinen Vater eine Menge tun, aber das …«

»Ihr seid es ihm schuldig«, flehte Irina unter Tränen. »Ihr seid es Großvater schuldig! Und nicht zuletzt seid ihr es Mardic schuldig!

Er kann doch nichts dafür, daß er erst neun ist. Seinen Anspruch auf Vaters Boot würdet ihr schließlich auch wahren. Warum dann nicht seinen Anspruch auf Vaters Position?«

Paolo war verunsichert, denn sie hatte recht: Auch die minderjährigen Söhne und Töchter eines verstorbenen Fischers behielten ein Anrecht auf das Boot. In einer Dorfgemeinschaft, in der so viele so früh und unerwartet starben, waren die Familienbande besonders wichtig.

»Versucht es doch«, bedrängte Irina ihn. »Wenigstens versuchen könnt Ihr es. Bis Mardic sechzehn ist. Bis wir sicher sind.«

»Also gut, bis wir sicher sind. Bis wir einen dieser Zauberkundigen erreichen – wie heißen sie noch gleich? – einen dieser Laranzus. Bis einer von denen kommt und sich den Jungen ansieht und feststellt, ob er das Wettergespür bekommt oder nicht.

Und keinen Tag länger.« Paolo blickte im Kreis umher, und die anderen nickten ihm zustimmend zu.

Irina schluckte kurz; Sieg und Niederlage lagen dicht beieinander.

»Einverstanden«, war alles, was sie sagte.

Beim Verlassen der Halle debattierten die Männer noch immer mürrisch die plötzlich eingetretene Wendung. Mhari legte ihre Hand ermutigend auf Irinas Schulter, dann folgte auch sie den anderen.

Irinas Blick fiel auf die Bahre ihres Vaters, und sie fragte sich, was sie getan hatte. Sie konnte doch unmöglich Anführerin sein. Sie, die noch nicht einmal einen Haushalt führen wollte, konnte doch unmöglich die Last der Verantwortung für das gesamte Dorf auf ihre Schultern laden!

Aber was wäre ihr anderes übriggeblieben? Sie konnte nicht zulassen, daß man Mardic um sein Erbe brachte. Wenn sie einen anderen ernannt hätten, könnte es zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre dauern, bevor Mardic die ihm zustehende Position wiedererlangen würde. Und jener andere, wer immer es auch sei, hätte wiederum Söhne, die ihrerseits Mardics Erbe streitig machen würden, selbst wenn er das Wettergespür entwickeln sollte. Und das war keinesfalls so sicher, wie Irina es in der Halle dargestellt hatte.

Nein, sie hatte keine andere Wahl gehabt. Dennoch erzitterte sie bei dem Gedanken an das, was jetzt vor ihr lag. Nun lag es an ihr, die Boote bei Sonnenschein durch die Brandung zu führen und wieder sicher zurückzubringen. Das Leben der Besatzung – Väter, Ehemänner und Söhne, und auch einige Mütter und Töchter – war ihr anvertraut. Und sie besaß kein Laran, das ihre Sicherheit gewährleistet hätte; sie besaß kein Wettergespür.

»Ach, Vater«, rief sie verzweifelt, und zum ersten Mal seit seinem Tod kniete sie am Leichnam ihres Vaters und weinte.

Der Morgen dämmerte.

Irina begrüßte ihn mit geröteten Augen und der Vorahnung eines drohenden Unheils. Sie war noch zu jung, um ihr Gefühl der Angst und Trauer besser einschätzen zu können. Mardic und sie gingen Hand in Hand zu dem Boot, auf das man den Leichnam ihres Vaters gebracht hatte.

Es war ein trüber und wolkenverhangener Tag. Normalerweise wären die Boote bei solchen Bedingungen im Hafen geblieben, und man hätte sich mit dem Ausbessern von Netzen und Segeln beschäftigt. Aber heute sollte es ohnehin nicht weit hinaus gehen, sondern nur bis zur Hafeneinfahrt und dann wieder zurück. Selbst wenn der Sturm der letzten Nacht wieder auffrischen sollte, würden die Boote sicher zurückkehren können.

Schweigend legten sie ab. Und nur kurze Zeit später wurde der Leichnam ihres Vaters der See, die ihn Zeit seines Lebens ernährt hatte, übergeben. Als sie wieder an Land waren, ging Irina zum Haus zurück und legte ihr schweres, braunes Wollkleid ab. Bei der nächsten Ausfahrt würde sie bereits die weiten Arbeitshosen anhaben, die Frauen beim Fischfang immer trugen. Und sie würde an Bord mit anpacken; ganz anders als in den sorglosen Tagen unter der Anleitung ihres Vaters, als sie sich den Wind um die Nase wehen ließ und die Gischt des Salzwassers lachend auf ihrem Gesicht spürte. Irinas Hand zitterte und das Herz war ihr schwer wie Blei, als sie daran dachte, was sie sich vorgenommen hatte.

Am nächsten Morgen herrschte jedoch wieder schlechtes Wetter.

Unablässig prasselte der Regen auf die Küste nieder. Irina entschloß sich, die Zwangspause zu nutzen, um in den Höhlen Wurzeln zu sammeln.

Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter sie zum ersten Mal mitgenommen hatte und wie düster und geheimnisvoll ihr die vielen Gänge, die sich durch die Klippen schlängelten, damals erschienen waren. Noch immer flößten die Höhlen ihr Ehrfurcht ein, aber sie genoß dieses Gefühl, ohne sich je, wie andere, davor zu fürchten. Sie hatte sich noch nie verirrt; selbst wenn sie sich in einen Seitengang vorwagte, den sie bisher noch nie erforscht hatte, wußte sie immer genau, wo sie war. Das war auch diesmal nicht anders, und so kehrte sie mit zwei schwer beladenen Körben für die Vorratskammer zurück.

Den restlichen Nachmittag verbrachte sie damit, Anna beim Sortieren der Sachen ihres Vaters zu helfen: einiges wurde für Mardic zur Seite gelegt, anderes wanderte in den Nähkorb, und der Rest wurde zusammengebündelt, um es dann den anderen Männern zukommen zu lassen. Viel hatte ihr Vater ohnehin nicht besessen. Als sie damit fertig waren, fegten sie seine Kammer aus.

Irina schloß die Tür hinter sich; etwas Endgültiges lag darin.

Am nächsten Morgen wußte Irina noch bevor sie aufstand, daß die Boote heute ausfahren würden. Nicht etwa, weil sich auf wundersame Weise das Wettergespür über Nacht eingestellt hätte, sondern weil der Morgenstern und der letzte der vier Monde am klaren Himmel standen und durch das hohe Fenster in ihr Schlafzimmer schienen.

Sie wälzte sich aus dem Bett und stand barfuß auf dem kalten Steinboden. Zitternd zog sie das schwere, ungebleichte Nachtgewand über den Kopf und schlüpfte in die groben Arbeitshosen. Dann streifte sie sich ein weißes Hemd aus schwerem Leinen und einen dicken Wollpullover über. Sie eilte nach unten, wo eine Tasse Kräutertee ihrem ausgekühlten Körper etwas Wärme spendete, während draußen die Morgendämmerung ihr perlmuttfarbenes Grau an den Himmel zauberte.

Irina schritt forsch zum Ufer hinunter und schlenkerte dabei mit den Armen, um sich warm zu halten. Jetzt, da ihr Vater nicht mehr bei ihr war, erschien ihr seine Gegenwart um so unerläßlicher.

Die meisten der Männer machten sich bereits an den Booten zu schaffen; einige Nachzügler trafen mit ihr ein. Irina sah, wie Paolo zu Dygardis ging und mit ihm sprach. Sie sah auch, daß Dygardis mit den Schultern zuckte. Paolo drängte weiter. Dygardis schüttelte den Kopf, dann wies er auf die strahlende Sonne und den wolkenlosen Himmel, als ob er damit andeuten wollte, daß es den ganzen Tag über so schön bliebe. Immerhin eine Sorge weniger, dachte sich Irina.

Sie kletterte in Paolos Boot, das die kleine Fischerflotte anführen sollte, und rieb sich die Hände, um die klammen Finger zu lockern.

Im Laufe der anfallenden Arbeiten wie Segelsetzen und Netze herrichten wurde ihr schon bald warm. Nach einigen Stunden löste sich Irinas Anspannung und sie fand sich in der vertrauten Routine wieder. Zwar vermißte sie die üblichen Frotzeleien der jüngeren Fischer fast ebenso sehr wie die heitere Gelassenheit ihres Vaters, aber das war auch schon der einzige Unterschied, der sich durch ihre neue, ungewohnte Stellung ergab.

Schließlich fragte man den Dai nur dann um Rat, wenn etwas vorgefallen war und eine Entscheidung getroffen werden mußte.

Ansonsten hatte er wie jeder andere Mann seine Arbeit an Bord zu tun. Irina holte Netze ein und versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten, während die Boote hin und her schaukelten. Vielleicht würde es ja während ihrer »Anführerschaft« immer so bleiben: strahlender Sonnenschein und ein reicher Fang.

Irina reckte sich und mußte ihre Tagträumerei selber belächeln. Sie war mit dem Meer groß geworden und wußte nur zu gut, daß selbst schon ein Dutzend solcher Tage ein unverhoffter Glücksfall war, ganz zu schweigen von fünf Jahren.

Als sie sich umdrehte, um sich wieder den Netzen zu widmen, blickte sie zur Hafeneinfahrt am Horizont zurück.

Sie erstarrte.

Eine dicke, graue Schwade verhüllte die Sicht.

Und die Nebelbank rückte beängstigend schnell näher.

»Achtung!« schrie Irina gegen das Wellengebraus an. Rücken richteten sich um sie herum auf, Köpfe schnellten an Bord der benachbarten Boote hoch.

»Heißt auf!« rief Paolo, und das Kommando wurde auf den anderen Booten wiederholt.

Schwielige Hände hievten, um die Netze rechtzeitig einzubringen: eilige Füße rannten, um die schweren Segel zu setzen.

Aber es war alles vergebens. Der Nebel kam ihnen zuvor.

Innerhalb von Minuten umhüllte sie eine Decke aus nassem Grau, die jeden Ton erstickte.

»Das wäre nie passiert, wenn wir einen Dai mit dem Wettergespür hätten«, schimpfte Paolo.

»Haben wir aber nicht«, gab Irina zornig und angstvoll zurück.

»So geht es einfach nicht. Wir werden Dygardis wählen müssen.«

»Was sollte das schon bringen? Dygardis hat das offenbar auch nicht kommen sehen. Ich habe doch beobachtet, wie du mit ihm gesprochen hast.«

Paolo ließ die Schultern hängen. »Das stimmt. Aber was sollen wir jetzt tun? So ein Nebel kann sich drei Tage lang halten. Wir könnten gegen die Klippen geschleudert werden; oder aber so weit hinaustreiben, daß wir den Rückweg nie mehr finden. Schau dich doch bloß um«, rief er angesichts des Nebels. »Wir wissen selbst jetzt nicht einmal, wie wir zum Hafen zurückkommen!«

Aber ich weiß es!

Für Irina kam diese Erkenntnis völlig überraschend. Aus einer bestimmten Richtung schien ein unsichtbares Leuchtfeuer zu kommen;, sie konnte es genauso untrüglich erkennen wie sie stets den richtigen Weg aus den Höhlen wiederfand.

»Die anderen Boote sollen ihre Laternen anzünden«, befahl sie,

»damit wir den Sichtkontakt nicht verlieren.« Paolo nickte. Einige der Fischerboote hatten dies bereits getan, die anderen folgten schnell dem Beispiel. »Der Hafen befindet sich dort«, sagte Irina und deutete in eine bestimmte Richtung.

»Hör zu, keiner kann den Hafen jetzt orten, ganz egal wie genau du ihn sehen konntest, bevor der Nebel einsetzte. Die Boote drehten sich doch ständig in der Dünung. Wer weiß schon, in welche Richtung wir gerade steuern.«

»Ich weiß es«, warf Irina ein. »Ich habe es nicht mit Augen gesehen. Ich weiß es einfach.« Sie sagte es in jenem eigentümlichen Tonfall, mit dem das einfache Volk gewöhnlich über Dinge wie Laran sprach, die sie einfach hinnahmen, ohne groß darüber nachzudenken.

»Oh … Ich verstehe … Wenn du dir so sicher bist …« lenkte Paolo ein. Er betrachtete sie besorgt.

»Ich bin mir sicher«, bekräftigte Irina.

Paolo gab dem nächsten Boot ein paar Anweisungen, die weitergeleitet wurden, bis die gesamte kleine Flotte davon in Kenntnis gesetzt war.

Die Boote drehten langsam bei, und die Männer brachte die Ruder aus. Immer darauf bedacht, beieinander zu bleiben und die Laternen der anderen Boote nicht aus dem Auge zu verlieren, ruderten sie heimwärts.

Irina mußte einige Male geringfügige Kurskorrekturen vornehmen. Da gab es das Felsenriff und Untiefen, die sie kannte, und einmal mußte sie in scharfer Kehrtwendung die Unterströmung umschiffen.

Als endlich die hohen Klippenwände aus dem Nebel auftauchten und sich im dunkleren Grau über ihnen auftürmten, atmete Irina erleichtert auf. Sie vertäuten die Boote nahezu schweigend.

»Das Wettergespür ist es jedenfalls nicht«, sagte Paolo schließlich.

»Das nicht«, räumte Irina ein, »aber vielleicht wird es uns über die nächsten Jahre hinweghelfen.«

»Möge die Göttin uns beistehen!« pflichtete ihr Paolo bei.

Irina ging in dem grauen und feuchten Nebeleinerlei nach Hause, aber in Gedanken war sie bereits damit beschäftigt, wie sie ihr Laran noch besser einsetzen könnte. Vielleicht könnte sie, wenn sie sich darin übte, Stürme ausfindig machen, so wie sie auch das Felsriff und schließlich den Hafen ausfindig gemacht hatte. Vielleicht könnten auch Dygardis und sie zusammenarbeiten; mit seiner Fähigkeit, zumindest manchmal zu spüren, wenn etwas »in der Luft lag«, und ihrer Orientierungsgabe könnten sie vielleicht einen Weg finden, das Wetter zu bestimmen bevor das Wetter sie bestimmte.

Natürlich würde sie Anna davon überzeugen müssen, bei ihnen zu bleiben. Oder, was vielleicht noch besser war, jemanden anderes finden, der die Halle versorgte, während sie sich um die Fischerflotte kümmerte. Eine von Giselles jüngeren Töchtern könnte doch diese Aufgabe übernehmen; sie müßte noch nicht einmal in der Halle übernachten, und gleichzeitig wäre es für sie eine ausgezeichnete Vorbereitung auf ihre zukünftigen Aufgaben als Ehe- und Hausfrau.

Irina würde schon einen Ausweg finden. Sie mußte bei dem Gedanken leicht lachen – schließlich war das ihr Laran: einen Weg zu finden!

»Anna, wir sind wieder zurück«, rief sie, als sie das Haus betrat.

Und als sie ihre nassen Kleider auszog, war Irina noch immer nicht ganz bewußt, daß sie sich bereits einer Zukunft verschrieben hatte, die so ganz anders war als das, was sie noch vor wenigen Tagen auf sich hatte zukommen sehen.

MARY K. FREY

Die Gunst der Götter

Mary Frey hat bereits in zwei meiner vorangegangenen Anthologien Geschichten veröffentlicht. Sie unterrichtet nach wie vor Französisch an einer High School, und »meine Schüler sind der Meinung, ich sollte den Lehrplan ändern, damit sie meine Geschichten lesen können, anstatt unregelmäßige Verben zu pauken.« Das wäre uns allen sicherlich lieber. Sie möchten natürlich auch wissen, ob sie in ihren Geschichten als Figuren auftauchen, was Mary selbstverständlich verneint.

Bob Silverberg wurde einmal gefragt, ob seine Charaktere irgendwelchen lebenden Personen nachempfunden seien. Seine Antwort lautete, daß alle Figuren in seinen Geschichten einer lebenden Person nachempfunden sind:

»Und diese Person heißt Robert Silverberg.«

In dieser Aussage liegt eine Wahrheit, die die fiktive Welt im wesentlichen immer wahrhaftiger als die bloßen Fakten erscheinen läßt. Beim Schreiben erzählt man fortlaufend »Lügen« … und doch zugleich auch eine innere Wahrheit über sich selbst. Und wer nicht bereit ist, alles zu enthüllen –

der sollte doch lieber bei seinen (anderen) Leisten bleiben. Denn selbst wenn man »klassische Fantasy« über Drachen und Elfen schreibt, wird man nicht vermeiden können, alles – jawohl, alles! – über seinen eigenen Charakter zu enthüllen. Wer sich daran nicht verbrennen möchte, der sollte besser die Finger von diesem heißen Eisen lassen.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie die Männer von Snowcloud Forest in den Stallungen oder bei der Rückkehr aus der einzigen Taverne des Dorfes Rafe als den größten Schwertkämpfer in den Hellers beschrieben. Ich war damals neun oder zehn und mächtig stolz, den Mann, dem dieses Lob galt, nicht nur persönlich zu kennen, sondern sogar mütterlicherseits mit ihm verwandt zu sein.

In jenem Jahr war ich plötzlich kräftig in die Höhe geschossen und ich setzte alles daran, jede sich mir bietende Gelegenheit zu ergreifen, in dieser Welt zu Ruhm zu gelangen.

Genaueres über Rafes Fähigkeiten erfuhr ich, als er uns von seinen Abenteuern im Tiefland erzählte, wo er den Sommer als Söldner in Lord MacArans Diensten verbracht hatte. So saßen wir an vielen dunklen Winterabenden, wenn der Wind um die Giebel pfiff und der Schnee sich vor dem Haus auftürmte, um den Herd versammelt und lauschten meinem Verwandten.

Wenn ich alleine war, versuchte ich mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn sich herausstellen sollte, daß Rafe und ich tatsächlich Halbbrüder waren; dazu dachte ich mir eine ausgeklügelte Abfolge der unwahrscheinlichsten Ereignisse aus, die dies hätte erklären können. In Wahrheit war natürlich alles wesentlich weniger romantisch: Rafes Mutter war die ältere Schwester meiner Mutter, und als seine Eltern beide am Sommerfieber starben, noch bevor Rafe ein Jahr alt war, mußte sich die Familie seiner Mutter um ihn kümmern. Meine Großmutter war zu der Zeit wohl schon zu alt, um noch ein Kind aufzuziehen, und so willigte sie ein, daß meine Mutter diese Aufgabe übernehmen sollte, auch wenn sie selber fast noch ein Kind war.

Rafe war, wie viele der Bergbewohner, in deren Adern kein Comyn-Blut floß, dunkelhaarig. Die Männer im Dorf ließen sich über Winter oft einen Bart stehen, aber da Rafe zu Dom Valentins Offizieren gehörte, war er stets glatt rasiert. Im flackernden Widerschein des Herdfeuers erschienen seine Augen eher schwarz als grau. Ich erinnere mich auch dunkel daran, wie die Frauen über sein blendendes Aussehen tuschelten, wenn sie sich von Männern unbeobachtet glaubten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jemals an Rafes Stärke und Mut gezweifelt hätte; das hätte einfach nicht zu Rafe gepaßt. Dabei war er damals höchstens zwanzig Jahre alt – aber das wurde mir erst sehr viel später klar.

Meine Freunde und ich waren unterdessen davon überzeugt, daß es für uns keine strahlendere Zukunft geben könnte, als es Rafe gleichzutun und Offizier in Dom Valentine MacArans Leibgarde zu werden. Was wir an jenen dunklen, schneereichen Winterabenden von ihm hörten, regte unsere Phantasie jedenfalls weitaus mehr an als die Aussichten als Schuster, Schmied oder in sonst einem Handwerk, auf das wir von unseren Vätern vorbereitet wurden, zu arbeiten.

Ich heiße übrigens Alaric.

Mein Vater – und damit meine ich den Mann, den ich während der ersten zwölf Jahre meines Lebens so nannte – war Hayat, der Hufschmied von Dom Valentine. Meine Mutter hatte nach dem Tod meiner Großeltern und vor ihrer Heirat mit dem Schmied eine Stellung als Näherin bei der ersten Frau des Lords gefunden, die wiederum die Mutter des Erben war, der ertrank, als -

Aber dieses tragische Ereignis gehört bereits zu Rafes Geschichte, auch wenn ich sie nie von ihm direkt erzählt bekam, als ich noch klein war. Im Dorf wurde eine Generation lang das Alter aller Kinder auf jenen Winter, in dem Dom Coryn umkam, zurückgerechnet. Ich wurde am Ende des darauffolgenden Sommers geboren.

Am Talschluß, dort wo die Straße nach Neskaya in den Bergen verschwindet, befindet sich ein See. Dom Valentines Ur-ur-urgroßvater hatte seinen Leroni einst befohlen, einen Damm im Flußbett zu errichten und so diesen See aufzustauen. Im Winter fror er meist ganz zu. Während eines besonders strengen Winters war die Eisdecke stark genug, um das Gewicht vieler Männer zu tragen.

Es kam aber viel öfter vor, daß die Eisschicht trügerisch war, und die Dorfbewohner warnten ihre Kinder immer wieder davor, das Eis zu betreten, solange es von den Erwachsenen nicht freigegeben wurde.

Rafe war in jenem Jahr zehn, also alt genug, ein Handwerk zu erlernen, aber er hatte keinen einzigen Verwandten, der ihn darin hätte unterweisen können. Als das Mittwinterfest herannahte und die MacArans mit ihren Familien und dem restlichen Gefolge im Forst eintrafen, gab es bei all den zusätzlichen Reittieren in den Stallungen genügend Arbeit. Für Rafe bedeutete das tagsüber einen Arbeitsplatz im Warmen und mittags eine warme Mahlzeit im Hof zusammen mit den anderen Stallburschen.

Eines Tages beschlossen der fünfzehnjährige Dom Coryn, der Erbe der MacArans, und seine Cousins, auf Falkenjagd zu gehen, und Rafe gehörte zu dem guten Dutzend Jungen, die sie aus der Menge im Hof ausgewählt hatten, um die Pferde zu betreuen und nötigenfalls Wild aus dem Unterholz aufzuscheuchen. Die jungen Adligen, die mit ihrem vom Wind zerzausten, kupferroten Haar und in den reich bestickten Westen umherstolzierten, waren fest entschlossen, auf ihre Kosten zu kommen und so viel Wild wie möglich zu erlegen, um später mit den blutigen Jagdtrophäen ihre kleinen Schwestern erschrecken zu können.

Von all dem Gerede und den Ereignissen des Tages erfuhr Rafe erst später durch die Berichte, die andere, wie zum Beispiel der Sohn des Schusters, verbreiteten. Als er die Geschichte zum ersten Mal hörte, war sie ihm so wenig vertraut, als ob sie sich in El Haleine oder in einer der Trockenstädte vor Hunderten von Jahren ereignet hätte. Und als er viele Jahre später davon berichtete, gestand er mir, daß er zwischen dem, was andere ihm erzählt hatten, und seinen eigenen Erinnerungen an jenen Tag nicht länger unterscheiden konnte.

Das edle Vogelweibchen, das sich mit seiner Beute auf dem zugefrorenen See niedergelassen hatte, war Dom Coryns Lieblingsfalke gewesen; es war der erste Vogel, den er eigenhändig ausgebildet hatte. An diesem Tage aber schien sie ihre Unabhängigkeit wiedererlangen zu wollen. So sehr sich Coryn auch mit Pfiffen, Zurufen und Ködern abmühte, sie war nicht zu bewegen, auf seinen Falknerhandschuh zurückzukehren.

Glaubt man den Jungen aus unserem Dorf, so befahl Dom Coryn, daß Rafe sich aufs Eis hinauswagen sollte, um den Falken zurück ans Ufer zu treiben. Seine Cousins berichteten hingegen, daß sich Rafe als kleinster und leichtester der Stallburschen freiwillig für diese Aufgabe gemeldet habe. Übereinstimmend beschrieben aber alle das entsetzliche Krachen, das so klang, als ob ein Blitz in einen Baum eingeschlagen wäre, als das Eis nachgab und Rafe vor ihren Augen versank.

Jeder von uns im Dorf kannte die eine oder andere Version der Geschichte, wie sich Dom Valentines Sohn und Erbe in das eisige Wasser stürzte und bei dem heldenhaften Versuch, den Stallburschen zu retten, umkam. Als ich es aber zum ersten Mal von Rafe selber hörte, waren wir vom Schauplatz weit entfernt, und ich war längst kein Kind mehr. Wir beide übernahmen die Mitternachtswache an einem Grenzposten von Lord Dellerays Ländereien; Rafe hielt sein Schwert griffbereit, und ich tat das gleiche mit meinem Sternenstein, falls die Tiefländer sich erdreisten sollten, im Schutze der Dunkelheit einen Angriff zu unternehmen.

Rafe erzählte mir, wie er nach über einer Stunde bewußtlos aus dem See gezogen worden war und alle annahmen, er habe das gleiche Schicksal wie Dom Valentines Erbe erlitten, bis schließlich der Laranzu doch noch ein schwaches Lebenszeichen feststellte. Als er geendet hatte, ergriff er einen knorrigen Ast und stocherte damit wie in Trance in der Glut unseres Feuers.

»Es war das Schlimmste, das mir jemals zugestoßen ist«, schloß er.

Ich nahm natürlich an, daß er damit entweder meinte, daß er dem Tod um Haaresbreite entronnen war, oder aber sich auf die Zeitdauer bezog, in der er das Gedächtnis verloren hatte; aber Rafe erklärte kurz darauf: »Ich wäre besser dran gewesen, wenn ich an jenem Tag gestorben wäre, so wie es die Götter wollten.«

Ich wußte nicht, war ich darauf antworten sollte. Rafe ließ den Ast ins Feuer fallen, so daß die Funken stoben und in der heißen Luft spiralförmig nach oben stiegen: ich blickte ihnen lange nach, bis mir davon schwindlig wurde.

»Dom Valentine behauptet, das alles, was seither geschehen ist, von den Göttern vorherbestimmt sei, aber ich weiß es besser. All das hier – « und dabei deutete er auf den reich verzierten Schwertgürtel und die Offiziersabzeichen auf der Schärpe mit dem Clanmuster der MacArans, »– all das ist nicht ihr Wille, sondern seiner. Er ist viel zu stolz und stur, um akzeptieren zu können, daß sein erstgeborener Sohn womöglich umsonst gestorben ist …«

Das konnte ich nicht unwidersprochen lassen. »Einem anderen das Leben zu retten, nennst du umsonst?«

Er schnaubte nur verächtlich. »Von dir habe ich auch nichts anderes erwartet, Alaric. Schließlich hast gerade du allen Grund dazu, dankbar zu sein, daß ich gerettet wurde.«

»Was willst du damit sagen?«

»Hat dir denn deine Mutter nicht erzählt, wem du deine Existenz zu verdanken hast – «

»Ich weiß durchaus, daß Dom Valentine mein Vater ist«, unterbrach ich ihn. »Sonst hätte ich wohl kaum diese kupferroten Haare und genug Laran, um diesen Sternenstein und eine Erziehung am Turm von Neskaya zu erhalten.«

»Und hat sie dir auch erzählt, wie Lord MacAran dazu kam, dein Vater zu sein?«

Dabei konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Hör mal, Rafe, ich war fast zwölf, als ich erfuhr, wer mein richtiger Vater ist, also alt genug um zu wissen, was Männer und Frauen so miteinander treiben. Jedenfalls habe ich es nicht für nötig gehalten zu fragen, wie ich gezeugt wurde.« Der Zeitpunkt meiner Geburt ließ den Rückschluß zu, daß die Feierlichkeiten zum traditionellen Mittwinterfest dabei eine nicht ganz unerhebliche Rolle spielten.

Das eine Ende des Astes, den Rafe ins Feuer geworfen hatte, ragte noch hervor. Er versetzte ihm einen Tritt und beförderte ihn damit in die Mitte der Flammen. »Er hat sich in den Kopf gesetzt, daß meine Rettung, bei der sein eigener Sohn umkam, ein Zeichen dafür sei, daß die Götter mir ein besonderes Schicksal zugedacht haben.

Man hat mich von deiner Mutter, meiner letzten mir verbliebenen Verwandten, getrennt, damit ich die gleiche Ausbildung wie Dom Valentines Pflegesöhne erhalten sollte. Er behauptete, er wolle mich auf mein zukünftiges großes Schicksal entsprechend vorbereiten. In Wirklichkeit aber wollte er mein Leben bestimmen und sicherstellen, daß ich immer nur als Beweis dazu diene, daß sein Sohn nicht vergebens gestorben ist. Deine Mutter ging schließlich sogar zu ihm und bat darum, daß ich zu ihr zurückkehren dürfte, da sie damals außer mir keine Angehörigen mehr besaß. Er lachte sie nur aus und meinte, daß sie schon noch ein anderes Kind bekäme, falls die Götter sie dazu bestimmt hätten. Und dann setzte er das gleich in die Tat um!«

Damals wurde mir klar, wie eifersüchtig ich im Grunde auf die Pflegesöhne

meines

Vaters

war.

Während

meiner

Telepathenausbildung im Turm von Neskaya mußte ich beständig gegen den Zorn ankämpfen, den ich gegenüber den anderen Jungen in seinem Haushalt verspürte; mein Vater überhäufte sie förmlich mit all seiner Fürsorge und Aufmerksamkeit, während er mir, seinem eigenen Fleisch und Blut, keinerlei Beachtung schenkte. Ich hatte mich zuvor nie über meine Kindheit beklagt; jetzt aber wurde mir bewußt, wie anders sie hätte verlaufen können.

Ich war so sehr in meine eigenen Gedanken vertieft, daß ich Rafes Frage fast überhört hätte. »Was wäre, wenn die Götter durch Coryns Tod gar nicht mir das Leben retten, sondern dir ins Leben verhelfen wollten?«

Ich war mir nicht sicher, ob Rafe mit seiner Behauptung recht hatte, daß Dom Valentine sich an meiner Mutter nur vergangen hatte, damit die Götter ihr ein Kind bescherten. Meine Mutter galt in ihrer Jugend als ausgesprochene Schönheit. Eines stand jedenfalls fest: Als ich auf die Welt kam, war nicht ich der Nedestro-Erbe. Mein Vater hatte in der Zwischenzeit Dom Roualt Dellerays Schwester zu seiner zweiten Frau genommen und schon bald einen Nachkommen gezeugt. Der neue Erbe war nur wenige Monate jünger als ich.

Ein Teil des Ehevertrages bestand aus einem gegenseitigen Beistands- und Verteidigungspakt zwischen Dom Roualt und Dom Valentine. Siebzehn Jahre später kämpften Lord MacAran und seine Soldaten und Leroni noch immer Dellerays Krieg mit den Tiefländern um das Gebiet zwischen Neskaya und dem Fluß aus.

Und siebzehn Jahre nach Coryns Tod beobachtete Dom Valentine Rafe noch immer aufmerksam und in der Hoffnung, endlich zu erfahren, welch großes Schicksal die Götter dem Jungen zugedacht hatte, um dessentwillen sein erstgeborener Sohn gestorben war. Je mehr ich davon jetzt selber mitbekam und zu begreifen versuchte, desto mehr fragte ich mich, was genau mein Vater eigentlich von Rafe erwartete.

Wie ich schon eingangs erwähnte, galt Rafe als äußerst geschickter Schwertkämpfer. Vielleicht war er nicht der allerbeste seiner Zeit, –von Dom Raimond Aillard erzählte man sich wahre Wunderdinge –da er kein Laran besaß und somit nicht in der Lage war, den nächsten Hieb seines Gegners vorauszuahnen. Kein telepathisch begabter Schwertkämpfer hätte sich rechtmäßig und guten Gewissens mit ihm im Zweikampf messen dürfen. Und von den normal Sterblichen wagte es keiner, da sie wußten, das sie keine Chance gegen ihn hätten. Und doch hörte ich nie, daß mein Vater auch nur ein einziges Wort des Lobes oder der Anerkennung für Rafes Fähigkeiten übrig hatte.

Rafe verstand es auch gut mit Pferden umzugehen, was besonders bemerkenswert war, da in seiner Umgebung einige über die MacAran-Gabe des Rapports mit Tieren verfügten. Im Umgang mit Menschen schien er mir nicht weniger geschickt zu sein. Die niederen Mannschaftsdienstgrade, die aus der näheren Umgebung von Snowcloud Forest kamen, behandelten Rafe gerade so, als ob er der Stellvertreter des Herrn des Lichtes sei.

Während das Heer auf Neskaya vorrückte, um Lord Lanart und seine Verbündeten dort in offener Feldschlacht zu stellen, sandte die Kavallerie Erkundungstrupps aus, die gelegentlich in Scharmützel mit den Tiefländern verwickelt wurden. Nach einem solchen Gefecht war ich zufällig anwesend, als mein Vater den Vorfall mit den daran beteiligten Offizieren besprach. Man war voll des Lobes für einen Cousin von Lord Delleray, dem es gelungen war, dem Feind zu entkommen, obwohl er sein Pferd und ein halbes Dutzend ihm unterstellter Männer verloren hatte. Lord Storns jüngerer Sohn hatte daraufhin im Übereifer befohlen, die Scheune eines örtlichen Bauern abzufackeln, obwohl dessen Familie sich seit Generationen den Dellerays gegenüber loyal gezeigt hatte. Auch das wurde lobend erwähnt, da er daran gedacht habe, einen möglichen Versorgungsstützpunkt des Gegners zu vernichten – ungeachtet der Tatsache, daß sich das Gebäude mehrere hundert Schritt hinter unseren eigenen Linien befand!

Dann wandte sich Dom Valentine Rafe zu, der sein Pferd dem glücklosen Delleray-Cousin überlassen hatte und zu Fuß ins Lager zurückgekehrt war. Ich konnte beim besten Willen nicht einsehen, was daran zu tadeln war. Aber mein Vater war offenbar der Überzeugung, die er auch gegenüber Rafe laut äußerte, daß »mein Sohn nicht gestorben ist, um dir das Leben zu retten, nur damit du dann von einem Pfeil eines verwünschten Tiefländers niedergestreckt wirst!« Ich fragte mich natürlich, wie mein Vater bei solch einer Einstellung Rafe überhaupt in den Kriegsdienst schicken konnte.

Andererseits wurde mir später klar, daß Dom Valentine sich verpflichtet fühlte, Rafe gefährlichen Situationen auszusetzen, in denen er sein wahres Heldentum unter Beweis stellen konnte.

Während das Heer nach Süden vorrückte, berichteten die Vögel, die wir Leroni zur Erkundung ausgesandt hatten, daß wir in einem Tal, das seit Generationen als Ebene von Zabal bezeichnet wurde, auf Lord Lanarts Streitmacht stoßen würden. Dort also würde es zum Kampf kommen. Wir lagerten auf dem Höhenzug am westlichen Ende, von wo aus die beiden Comyn-Lords das Schlachtfeld gut überblicken konnten. Am anderen Talende schimmerten die Lagerfeuer des Feindes wie Hunderte von Leuchtkäfern. Am Abend wurden alle Offiziere zu einer Stabsbesprechung gerufen, um die Schlachtordnung für den folgenden Tag festzulegen. Auf einer bleichen Lederbreite wurde ein Lageplan mit der Aufstellung der Soldaten im Zentrum, an den Flanken und als Reserven aufgezeichnet. Man debattierte den zu erwartenden Kampfablauf. Die gegnerische Taktik war ihnen in manchen durchaus vertraut; schließlich hatten Lord Delleray und seine Verbündeten nicht umsonst jahrelang immer wieder Krieg mit den Tiefländern geführt.

Da dies meine erste Schlacht sein sollte, war ich seit Stunden im Innersten tief aufgewühlt. Aber in die nervöse Anspannung mischte sich auch stets ein Funken Hoffnung, daß am Ende des nächsten Tages mein Name in aller Munde sein würde, daß ich den alles entscheidenden Unterschied ausmachen und unserer Seite zum Sieg verhelfen würde, indem ich im genau richtigen Moment handelte.

Wie konnte Rafe solch heldenhafte Aussichten nur so geringschätzig abtun?

Es dauerte länger als erwartet, bis es zur Schlacht kam; umso schneller war sie geschlagen. Dazwischen herrschte das reinste Chaos – so erschien es mir zumindest, und ich gehörte immerhin zu den Leroni, die bei den Kommandeuren und ihren Knappen auf der Anhöhe

zurückgeblieben

waren,

um

einen

besseren

Gesamtüberblick zu haben. So lange Lord MacAran mich benötigte, um mit den telepathisch geschulten Offizieren auf dem Schlachtfeld Kontakt aufzunehmen, war ich untrennbar mit dem Lärm und Angstschweiß des Schlachtgetümmels verbunden.

Die zwei Vollmonde, die nach Mitternacht aufgegangen waren, ermöglichten es uns, einige unserer Truppen in Stellung zu bringen.

Lord Lanart verfuhr mit seinen Soldaten in gleicher Weise. Als aber die Sonne aufging, verwandelten ihre wärmenden Strahlen den nächtlichen Tau in dichten Morgendunst, so daß beide Seiten nur ungeduldig warten konnten, bis sich der Nebel endlich auflöste und der Gegner tatsächlich in Sicht kam. Wir hatten so viele Vögel wie möglich eingesetzt. Das Gleiche galt für unsere Gegenseite, aber da sie nicht über die MacAran-Gabe des Rapports mit Tieren verfügten, mußten ihre Informationen notgedrungen unzusammenhängend bleiben.

»Ein feindlicher Trupp versucht, den Fluß an einer Furt östlich des Gebüschs zu überqueren«, meldete ich Dom Valentine und wies in die entsprechende Richtung. Kurz darauf waren Schreie zu hören, die der Wind uns gedämpft zutrug.

Gegen Mittag schien alles auf die Entscheidung zuzutreiben. Ich hatte beim Anblick der vielen Verwundeten, die ins Lager zurückkehrten, ein ungutes Gefühl, aber weder Dom Roualt noch Dom Valentine schienen übermäßig besorgt zu sein. Meine Kleider waren naßgeschwitzt, und ich mußte mich dazu zwingen, den honiggesüßten Fruchtsaft zu trinken, den der Junge, der mein Pferd hielt, mir reichte. Ich hatte meinen Sternenstein seit Beginn der Kämpfe ohne Unterbrechung eingesetzt. Noch verspürte ich die damit verbundene Anstrengung kaum; andererseits wollte ich nicht zu schwach sein, um mich noch im Sattel halten zu können, falls wir unterliegen sollten und zur Flucht gezwungen waren.

»Jetzt wird es ernst!« rief Dom Roualt aus, als sein Laranzu und ich eine erneute gegnerische Attacke meldeten. Diesmal war es kein Geplänkel; der Angriff erfolgte auf der ganzen Breite, und wir hatten große Mühe, sie aufzuhalten. Die unterschiedlichsten telepathischen Hilferufe mehrerer Offiziere stürmten gleichzeitig auf mich ein; sie alle forderten jede nur mögliche Unterstützung an.

»Die Flanke, Val!« rief Delleray meinem Vater zu. »Befehlen Sie der Reserve am rechten Flügel jetzt anzugreifen oder wir sind verloren!«

Auf der Kommandohöhe waren alle Augen auf den rechten Flügel gerichtete, wo die Reservetruppen aus Stormcloud Forest lagen. Auf Dom Valentines ausdrücklichen Wunsch hin hatte man sie Rafes Kommando unterstellt.

»Zandrus siebte Hölle über ihn, worauf wartet er denn noch?«

wollte Lord Delleray wissen. »Kann er denn deinen Laranzu nicht hören?« Ich spürte, wie sein erregter Blick auf mir lastete, als ob es meine Schuld sei, daß Rafe sich nicht rührte.

Der Pflegesohn besitzt kein Laran. Ich fing den Gedankenblitz eines Matrixarbeiters an Dom Roualts Seite auf. Hätte er ihn ausgesprochen, wäre es höchstens im Flüsterton geschehen. Er kann keinen von uns hören.

Lord Delleray knirschte mit den Zähnen, die Adern schwollen an seinen Schläfen und seine Gesichtsfarbe wurde immer röter.

»Rafe braucht uns nicht zu hören«, erklärte Dom Valentine. »Er ist von den Göttern begnadet, und nicht wir, sondern sie werden ihn führen.«

Dom Roualt brach in eine Schimpfkanonade aus, die ich nicht zu wiederholen wage. Er wandte sich an einen seiner jungen Knappen

– es war zufällig Dom Valentines zweitältester Sohn Doni – und befahl dem Jungen, sich irgendwie zum rechten Flügel durchzuschlagen und dem kommandierenden Offizier den Angriffsbefehl zu erteilen.

Kaum war Doni mit seinem Pony hinter einer Baumgruppe verschwunden, sahen wir am gleichen Ort das Banner eines Tiefländers auftauchen. Es blieb uns aber keine Zeit, darüber nachzudenken, denn im gleichen Augenblick setzte die Reserve zum Angriff an. Sie fiel der gegnerischen Hauptstreitkraft in den Rücken und schlug sie vernichtend. Der Sieg war unser.

»Gelobt sei der Herr des Lichtes!« rief Dom Valentine aus. »Habe ich also doch Recht behalten – die Götter haben zu meinem Pflegesohn gesprochen!«

Auch im Angesicht des Sieges galt es noch immer, die Verwundeten zu versorgen und die Toten zu bestatten. Wann genau die Fackeln entzündet wurden, bemerkte ich gar nicht; jedenfalls standen die Monde bereits hoch am nächtlichen Himmel, als ich endlich zu meinem Feldbett zurückkehren konnte. Mein Gewand, das mich als Angehörigen des Turms auswies, war völlig verdreckt und stank, aber das nahm ich schon lange nicht mehr wahr.

Danvan, der älteste Sohn meines Vaters aus zweiter Ehe und sein anerkannter Erbe, wartete in meinem Zelt auf mich. Dani war nur einige Monate jünger als ich. Sein glattes, sommersprossiges Gesicht war in dieser Nacht um Jahre gealtert, und auch ohne zu fragen verriet mir sein Ausdruck, daß Doni, sein zwölfjähriger Bruder, der losgeritten war, um die Reserve zu alarmieren, tot war.

»Damit habe ich heute einen Mann getötet«, berichtete Dani und deutete auf sein Schwert. Ich sah, daß er es noch immer nicht gereinigt hatte, und war verwundert, daß mein Vater oder Lord Delleray eine solche Nachlässigkeit selbst unter diesen Umständen durchgehen ließen. Ich bot Dani den einzigen Stuhl in meinem kleinen Zelt an. »Was sollen wir bloß mit Vater tun, Alaric?«

»Was meinst du damit?« fragte ich. Eines Tage würde Dani der neue Lord MacAran sein, und da ich sein Halbbruder war und länger als irgendein anderer Verwandter im Turm ausgebildet worden war, würde der Posten als sein oberster Laranzu wahrscheinlich mir zufallen. Es lag also in meinem eigenen Interesse, mich gut mit ihm zu stellen. Daß er noch nicht Rafes Statur besaß, war ein Gedanke, den ich schnell wieder verbannte, bevor Dani ihn aufgreifen konnte.

»Es kümmert ihn nicht, daß ich einen Mann eigenhändig getötet habe und dessen Gedanken im Todeskampf miterleben mußte. Und als er Donis Leiche sah, oder was Lanarts Männer davon übrig gelassen haben, da hat er keinerlei Schmerz verspürt.«

»Er ist nun einmal gewohnt, seine Gefühle zu verbergen«, lautete meine pflichtschuldige Antwort. Insgeheim aber stimmte ich Dani zu, mehr vielleicht, als er ahnen konnte. Avarra weiß, daß sich mein Vater nie viel aus mir gemacht hat.

»Das ist etwas anderes, Alaric. Für ihn zählt heute doch nur das eine: Die Götter haben zu Rafe gesprochen. Er sagt, daß sei der Beweis, daß mein Pflegebruder in der Gunst der Götter steht. Das sei der Tag, auf den er immer gewartet habe. Alles andere kümmert ihn nicht! Was sollen wir bloß tun?«

»Du weißt doch sicherlich, warum es ihm so wichtig ist?«

Dani fuhr empört auf. »Beim Heiligen Aldones! Coryn mag ja sein erstgeborener Sohn gewesen sein, aber er ist jetzt schon über siebzehn Jahre tot. Man könnte meinen, Doni und ich bedeuteten ihm nicht mehr als irgend ein Bastard, den er unterwegs gezeugt – «

Dani verstummte, als ihm klar wurde, was und vor allem wem gegenüber er das gesagt hatte. Er besaß noch genug Anstand, um verlegen zu erröten.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich weiß recht gut, was ich bin«, erwiderte ich. Dann riet ich ihm, sich einen Knappen zu suchen, der ihm beim Säubern seiner Ausrüstung helfen konnte. Er schien genauso müde zu sein wie ich. »Vielleicht ist unser Vater jetzt endlich bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen, nachdem er heute bekommen hat, worauf er all die Jahre gewartet hat.«

Ich erzählte Dani nicht, wie die Mobilisierung der Reserve sich wirklich zugetragen hatte: Ich hatte einen meiner Erkundungsvögel im Sturzflug zu Rafe geschickt und ihn so lange um dessen Pferd aufgeregt herumflattern lassen, bis Rafe einfach merken mußte, daß dies das Signal zum Angriff war.

Ich rechnete auch fest damit, daß Rafe bis zum nächsten Morgen eine Gelegenheit finden würde, Lord MacAran den wahren Sachverhalt zu enthüllen.

Das aber unterließ er. Er sonnte sich in seinem frisch erworbenen Heldenruhm und widersprach nie, wenn Dom Valentine zum wiederholten Male beschrieb, wie die Götter zu Rafe gesprochen hätten, um den Sieg für die Bergstämme zu sichern. Der Vogel, den ich ihm gesandt hatte, wurde überhaupt nicht erwähnt.

Ohne das rechtzeitige Eingreifen der Reserve unter seinem Kommando wäre die Schlacht sicherlich anders ausgegangen, und die Bergstämme hätten eine vernichtende Niederlage erlitten. So gesehen konnte man Lord MacAran noch folgen, und fast jeder hätte die Ereignisse des Tages als die große Bewährungsprobe gedeutet, für die Rafe vorherbestimmt war. Mein Vater aber gab sich damit nicht zufrieden; für ihn war der Tag lediglich ein Vorbote künftiger, noch größerer Dinge.

Zwei Tage nach der Schlacht auf der Ebene von Zabal ritten wir in Neskaya ein, um mit Lord Lanart und seinen Verbündeten die Friedensverträge zu unterzeichnen. Und wir bestatteten Doni an jenem Ort, der seit jeher die letzte Ruhestätte für Comyn-Angehörige war.

Rafe wurde auch weiterhin als der Held unseres Sieges gefeiert.

Bei den Vertragsverhandlungen hätte eigentlich Dani an der Seite seines Vaters sitzen sollen, so wie Dom Roualts ältester Sohn an dessen Seite saß; aber Dom Valentine hatte entschieden, daß der Ehrenplatz zu seiner Linken seinem Pflegesohn gebühre. Ich war mir sicher, daß Lord Delleray das nicht unwidersprochen hinnehmen würde, da dadurch der Sohn seiner eigenen Schwester zurückgesetzt wurde. Aber ob es zwischen den beiden Lords darüber je zu einer Aussprache kam, wurde mir nie bekannt.

Was ich hingegen hörte, waren Gerüchte, daß Lord MacAran Boten zu Lord Hastur, dem mächtigsten Comyn im Tiefland, nach El Haleine gesandt hatte, um dort über eine mögliche Heirat mit einer von Hasturs Töchtern zu verhandeln – und dabei ging es nicht um seinen Erben Dani, sondern um den Pflegesohn Rafe. Das gesamte Vorhaben war ungeheuerlich, da Rafe kein Laran besaß, während Hasturs Töchter alle telepathisch begabt waren. Dennoch wollten die Gerüchte nicht verstummen.

Außerdem wurde mir von verschiedenen Comyn-Angehörigen hinterbracht, – und das geschah sicherlich gezielt, da ich sein einziger Verwandter war – daß Rafe mehr anstrebe, als ihm auf Grund von Geburt und Verdienst zustehe. Ich neigte ebenfalls zu dieser Ansicht, wußte aber auch, daß nicht Rafes Ehrgeiz, sondern der Starrsinn meines Vaters es dazu hatte kommen lassen.

Was blieb Rafe denn anderes übrig? Als Pflegesohn und Offizier hatte er geschworen, Lord MacAran zu ehren und zu gehorchen, und in den Hellers nimmt man solch einen Eid sehr ernst.

Ich muß aber zugeben, daß Rafe durchaus versuchte, die Pläne meines Vaters zu durchkreuzen, und ich bewunderte damals sein Geschick dabei. An dem Tag, als die Boten aus El Haleine zurückerwartet wurden, stellte er bei einer Audienz Dom Valentine die Tochter eines Kneipenwirts aus der Stadt vor und bat um Erlaubnis, die junge Frau zu heiraten, da sie von ihm schwanger sei.

Die Geschichte war nicht ganz unglaubwürdig, da wir uns schon über einen Monat in Neskaya aufgehalten hatte. Rafe rechnete sich aus, daß man von einem verheirateten Mann schlecht erwarten konnte, eine zweite Ehe einzugehen, ganz gleich, wie hochangestellt die zweite Braut auch sein möge.

Rafes Plan wäre vielleicht aufgegangen, wenn der Vater der Auserwählten nicht so habgierig gewesen wäre. Dieser war zu Lord MacAran gelaufen, um über den Brautpreis zu feilschen. Daraufhin versprach man ihm ein nettes Sümmchen, wenn er mehrere Zeugen herbeischaffte, die beschworen, daß bereits beim letzten Mittwinterfest die Heirat seiner Tochter mit einem anderen per Handschlag besiegelt worden war. Um das Gerede zu beenden, ließ Dom Valentine verbreiten, Rafe sei in aller Unschuld von einem Mädchen übervorteilt worden, das angeblich von ihrem Bräutigam sitzengelassen worden war. Er habe lediglich versucht, edelmütig zu handeln und sie vor dem Zorn ihres Vaters zu schützen. So oder so ähnlich lautete die offizielle Version.

Die Boten kehrten mit Lord Hasturs Antwort zurück: Er wäre eventuell bereit, über eine Heirat zwischen Dom Valentines Erben und einer seiner Nedestro-Töchter zu sprechen, falls Lord MacAran im nächsten Sommer zu weiteren Verhandlungen nach El Haleine käme.

Kurz darauf erhielten wir den Rückmarschbefehl nach Snowcloud Forest.

Es war am dreizehnten Tag unserer Heimreise durch die Berge, und der Morgen unterschied sich in nichts von den vorangegangenen. In den Hellers war es jetzt Hochsommer, und nur auf den entlegensten und schattigsten Paßpassagen war der Schnee noch nicht völlig weggetaut. Von der letzten Paßhöhe aus konnten wir im Talschluß unter uns einen Bergbauernhof liegen sehen. Dom Valentine erteilte Rafe und mir den Befehl, vorauszureiten und seine bevorstehende Ankunft dem Bauern anzukündigen. Ich weiß nicht, warum er an jenem Tag ausgerechnet uns beide dazu auswählte.

Als wir die grünen Berghänge hinabritten, unterhielten wir uns über alles mögliche, bis schließlich die Rede auf Lord Hastur von El Haleine kam.

»Für einen Herrscher wie ihn würde ich ganz gewiß einen absolut schrecklichen Schwiegersohn abgeben«, meinte Rafe. »Aber als Hauptmann in seiner Armee wäre ich vielleicht ganz brauchbar. Ich könnte versuchen, Dom Valentine davon zu überzeugen, mich ein oder zwei Sommer lang für den Söldnerdienst im Tiefland freizustellen. Meinst du, ob das etwas nützt? Denk doch nur einmal an all die Abenteuer, Alaric! Und ich könnte endlich einmal das Meer sehen! Was glaubst du, ob wohl die Meerjungfrauen Gefallen an mir finden und mir eine Perle auf dem Sand hinterlassen?« Er grinste, und zum ersten Mal seit der Schlacht mit Lanart schien er wieder ganz der Alte zu sein, so wie ich ihn aus meiner Kindheit kannte.

»So viel ich von Hasturs militärischen Plänen gehört habe, wirst du in seinen Diensten bestenfalls den Sand um Carthon bewundern können.« Daß wir Lord Lanart überhaupt hatten schlagen können, lag unter anderem auch daran, daß Lord Hastur vollauf mit seinen eigenen Kriegszügen gegen die Trockenstädte beschäftigt war und deshalb keinerlei Truppen zur Unterstützung von Lanart entbehren konnte.

Ich kann nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wann ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, daß auf dem Gehöft irgend etwas nicht stimmte. Wir hatten einen Obstgarten durchritten, in dem einige kleine Schweine frei gehalten wurden, um sich am Fallobst zu mästen, und mir war aufgefallen, daß kein Kind sie hütete. Aber vielleicht war der- oder diejenige auch im Schatten eines Apfelbaumes eingeschlafen. Womöglich war es auch das Fehlen jeglichen Vogelgezwitschers, das mich am meisten beunruhigte –aber dieser Gedanke kam mir erst im Nachhinein.

Ich erinnere mich daran, daß ich eine Hand vom Zügel nahm und nach meinem Matrixstein griff, als wir den verlassenen Hof erreichten. Wir hatten schon am Tag zuvor Gerüchte über eine Räuberbande gehört, die, offenbar durch die Abwesenheit von Lord MacAran und seiner Wachen ermutigt, die Gegend unsicher machte.

Ich warf Rafe einen Blick zu und sagte gerade noch: »Merkwürdig still hier an so einem sonnigen Sommertag, findest du nicht auch?«

Da wurden wir auch schon angegriffen.

Man berichtete mir später, daß wir über zwanzig Mann gegen uns hatten. Die Räuber hatten gerade den Bauern und seine Söhne niedergemetzelt, als Rafe und ich vorritten. Es war immerhin tröstlich zu wissen, daß unser Eintreffen, so schlimm es auch für uns endete, die Schurken lange genug ablenkte, so daß die Bauersfrau und ihre Töchter sich aus der Scheune davonstehlen und unverletzt im nahegelegenen Wald Zuflucht suchen konnten.

Mein Pferd bäumte sich auf und warf mich ab, als ich vergeblich versuchte, Zügel, Sternenstein und Schwert gleichzeitig zu führen.

Ich muß wohl mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen sein, denn um mich herum wurde alles schwarz. Ich kann nur vermuten, daß die Banditen mich irrtümlich bereits für tot hielten und an Ort und Stelle liegen ließen.

Die Spitze der berittenen Truppen traf noch rechtzeitig ein, um ein halbes Dutzend der Räuber unschädlich zu machen; dem Rest der Bande gelang es freilich, in die Berge zu entkommen.

Rafe und sein Pferd waren spurlos verschwunden.

Lord MacAran weigerte sich zu glauben, daß die Banditen Rafe getötet haben könnten. Zunächst war er fest davon überzeugt, daß Rafe davongeritten sei, um die Banditen vom Hof wegzulocken, und er rechnete mit seiner Rückkehr, sobald sich die Lage geklärt hatte.

Als das nicht eintrat, bestand er darauf, daß Rafe gefangen genommen worden sei, um Lösegeld zu erpressen. Vier Tage lang warteten wir auf dem Gehöft auf irgendeine Nachricht mit den Bedingungen für Rafes Freilassung – natürlich vergeblich.

Falls die Banditen Rafe wirklich umgebracht und seine Leiche fortgeschleppt hatten, dann war damit zu rechnen, daß über kurz oder lang sein Pferd, Schwert und Sporen oder andere Teile seiner Uniform und Ausrüstung auf den Märkten in den umliegenden Handelsstädten wieder auftauchten. Aber obwohl Dom Valentine alle benachbarten Lords darum bat, darauf besonders zu achten, kam aus Rafes Besitz nichts wieder zum Vorschein. Es gingen auch keinerlei Berichte ein, daß sich irgend jemand mit der Ermordung eines dunkelhaarigen Offiziers aus Lord MacArans Wache brüstete.

Ich wußte, daß Rafe noch am Leben sein mußte. Mir ging nicht aus dem Sinn, was er an jenem letzten Tag über den Söldnerdienst im Tiefland gesagt hatte, und so mußte ich annehmen, daß er sich dort aufhielt. Es gab für ihn keinen anderen Ausweg. Er konnte die Last von Dom Valentines allzu hohen Erwartungen nur abschütteln, wenn man ihn für tot hielt. Ich glaube nicht, daß er seine Flucht geplant hatte und mich auf dem Bauernhof vorsätzlich im Stich ließ, aber als sich ihm die Chance zur Freiheit bot, ergriff er sie.

Daß Rafe einfach davongelaufen war, wäre für Lord MacAran eine völlig unerträgliche Vorstellung gewesen – Coryn konnte sein Leben doch nicht für solch einen Schwächling geopfert haben. Deshalb war für Dom Valentine die einzig mögliche Schlußfolgerung, daß Rafe bei der Erfüllung des letzten göttlichen Auftrages umgekommen war … Und damit ruhte nun endlich die ganze Aufmerksamkeit meines Vaters auf mir.

Ich gönne Rafe seine Flucht und Freiheit und hoffe, er lebt und kann sie genießen. Ich wünschte mir nur, er hätte mich nicht zurückgelassen, um die Last der Wunschträume meines Vaters alleine zu tragen.

MARGARET CARTER

Das Flüstern der Dinge

Auch diese Geschichte handelt von einer ungewöhnlichen Anwendung von Laran, und danach suche ich ja immer für diese Anthologien.

Margaret Carter, deren Beiträge bereits in vier meiner früheren Geschichtensammlungen erschienen, hat ihren Lebenslauf mit einer seitenlangen Liste von neuen Veröffentlichungen komplettiert, in denen Vampire keine geringe Rolle spielen. Daraus könnte man schließen, daß auch dies hier eine Horrorgeschichte ist, aber Ms. Carter kennt mich dazu gut genug. Obwohl ich zugeben muß, daß ich leicht stutzig wurde, als ich die erste Zeile las: »Der Türknauf raunte ihr etwas zu.«

Sie schreibt: »Zwei unserer vier Söhne haben das Nest verlassen.« Das ist nun einmal der Lauf der Dinge. Auch ich bin immer wieder überrascht, daß mein Baby inzwischen zu einer Fünfundzwanzigjährigen mit einer herrlichen Sopranstimme herangewachsen ist. Geht es uns nicht allen so: Das kleine rosige Etwas wird, ehe man es sich versieht, größer sein als man selbst. Und wie alles im Leben hat das seine guten und schlechten Seiten –

oder, wie ich übers älter werden zu sagen pflege: »Gar nicht so übel, wenn man die Alternative bedenkt!«

Margaret Carter freut sich darauf, nach San Diego, Kalifornien, umzuziehen (ihr Mann ist Marineoffizier). Über ihren Agenten versucht sie derzeit, verschiedenen Verlegern einen Vampirroman anzubieten (hätte ich mir denken können!). Wenn man sich in Buchhandlungen umsieht, könnte man meinen, daß ganze Heerscharen Vampirromane verfassen.

Warum sollte da Ms. Carter eine Ausnahme bilden?

Der Türknauf raunte ihr etwas zu.

Eine ungeordnete Bilderflut ergoß sich in ihre Gedanken – Männer und Frauen aller Altersstufen und Rassen, terranische Uniformen und einheimische darkovanische Kleidung in einem bunten Farbenreigen, ein Stimmengewirr verschiedenster Akzente.

Ich muß doch erschöpfter sein, als mir bewußt ist. Normalerweise konnte Fiona die Botschaften der unbelebten Gegenstände, die sie berührte,

abschirmen

oder

zumindest

zu

einem

Hintergrundgeräusch dämpfen.

Sie schloß ihre Barriere fester, als sie zögernd in das Empfangsbüro des Instituts für Außerterranische Anthropologie eintrat. Die Einrichtung glich jeder anderen terranischen Basis auf einem der vielen anderen Planeten. Im Inneren herrschte das vertraute gelbe Sonnenlicht, obwohl der Himmel draußen in einem rötlichen Schimmer getaucht war, wie sie beim Verlassen des Raumschiffes flüchtig bemerkt hatte.

Der dunkelhäutige, junge Mann am Schalter überprüfte ihren Ausweis und betätigte dann die Intercomanlage. Gleich darauf erschien aus einem der hinteren Büros ein kräftig gebauter, dunkelhaariger Mann. »Ich bin Jason Allison. Herzlich Willkommen beim Telepathie-Projekt, Dr. McGraw.« Er reichte ihr zur Begrüßung kurz die Hand.

Dieser Körperkontakt verursachte bei ihr keine aufdringlichen Visionen. Ihre Anomalie erstreckte sich nicht auf Lebewesen. »Ich weiß es zu schätzen, daß Sie sich die Zeit nehmen, Dr. Allison.«

Während er sie in das angrenzende Büro führte, meinte er nicht nur höflich, sondern herzlich lächelnd: »Nennen Sie mich Jason. Bei der hohen Dichte an akademischen Titeln pro Quadratmeter reden wir uns hier lieber mit dem Vornamen an. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob wir Ihnen weiterhelfen können. Schließlich sind wir nicht auf Folklore spezialisiert.«

Sie machte es sich in dem Sessel, den er ihr anbot, bequem und nahm dabei den Kasten mit ihrer Harfe auf den Schoß. »Man sagte mir, daß ich in ihrer Abteilung am ehesten einheimische Darkovaner treffen könnte, ohne allzu viel Zeit in Thendara selbst verbringen zu müssen. Leider gestattet mir mein Stipendium nicht, mich auf jedem Planeten länger aufzuhalten.«

»Ja, ja, die liebe Bürokratie und ihre Budgets«, feixte Jason.

»Kennen wir alles nur zu genau.« Nachdem er kurz etwas über die Intercomanlage durchgegeben hatte, plauderte er mit ihr über ihre Reise und andere artige Belanglosigkeiten.

Nach einigen Minuten trat ein junger, schlanker Mann mit rotgoldenem Haar ein. Jason stellte die beiden einander vor. »Fiona, Rafe wird Ihnen Ihr Quartier zeigen und Ihnen einen ersten Eindruck verschaffen. Mir scheint, Sie wollen sich hier gleich in die Arbeit stürzen.«

»Ach, Sie meinen sicherlich das hier«, erklärte Fiona mit Blick auf ihren Harfenkasten, den sie beim Aufstehen wieder unter den Arm nahm. »Ich gebe halt mein Instrument nur ungern aus der Hand.«

»Das kann ich verstehen«, bemerkte Rafe auf recht gutem Terra-Standard. »Meinen Musikerfreunden geht es nicht anders.« Er unterließ es aber, ihr die Hand zu schütteln.

Mit ihm stand Fiona erstmals einem Darkovaner gegenüber: Er war etwa so alt wie sie und hatte gelockte Haare und eine Adlernase. Seine Kleidung bestand aus dem typischen bestickten Lederwams, Wollhosen und weichen Lederstiefeln, wie sie es bereits von Hologrammen her kannte. Rafe sah vor sich eine zierliche Frau mit rotbraunen Haaren, die zu einem Knoten zurückgebunden waren.

Eine kaum zu zügelnde Erregung ergriff sie; von allen Kulturen, die sie untersucht hatte, fühlte sie sich mit dieser besonders stark verbunden, da der Planet vorwiegend von Menschen besiedelt worden war, von denen auch sie abstammte.

»Welche Form von Laran haben Sie?« erkundigte sich ihr Führer beiläufig, als sie den Flur entlanggingen.

»Wie bitte?« Natürlich kannte sie das Wort; aber daß man es mit ihr in Verbindung brachte, verwirrte sie.

Rafe hielt inne, lächelte sie verstohlen an und zog seine Augenbrauen fragend hoch.

»Ihr

Donas. Oder

Ihre

›außergewöhnliche Begabung‹ – ich glaube, dieser terranische Ausdruck kommt der Sache am nächsten.«

Sie wartete ab, bis die zwei Männer, die ihnen entgegenkamen, außer Hörweite waren. »Ich habe keine.«

»Verzeihen Sie – ich hatte angenommen, daß Sie zu Jasons Projekt gehören. Mein Laran ist übrigens – nun ja, Sie würden mich wahrscheinlich als einen ›Identifizierer‹ bezeichnen.« Er spielte an einem kleinen Beutel, der ihm an einem Lederband um den Hals hing. »Ich kann in Ihnen eine Kraft spüren. Aber es erschien mir höflicher zu fragen, anstatt Sie ohne Ihre Erlaubnis zu testen.«

Fionas Herz schlug ihr bis zum Hals. Mach dich doch nicht lächerlich.

Gerade hier wird dich keiner für abnormal oder verrückt erklären. Aber es war ihr mittlerweile so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, ihre Fähigkeit zu verbergen, daß sie dies nicht so ohne weiteres beiseite schieben konnte. »Ich habe mit dem Telepathie-Projekt nichts zu tun. Ich bin Kulturanthropologin und untersuche die Folklore Darkovers.«

Sein Blick verriet, daß er ahnte, wie sie sich lediglich hinter Halbwahrheiten verschanzte, aber er ließ es dabei bewenden. Sie sprach mit keinem darüber, daß die Gegenstände zu ihr »sprachen«

und daß sie durch ihre Musik manchmal sogar »antworten« konnte und mittels einer Kraft, die mit herkömmlichen Naturgesetzen nicht zu erklären war, vermochte, Dinge in Bewegung zu versetzen. Sie wollte auch niemandem anvertrauen, wie besorgt und ablehnend ihre Eltern reagiert hatte, als sie als Kind unbekümmert von den Sachen erzählt hatte, die sie von Dingen um sich herum aufschnappen konnte. Die qualvollen Monate der Behandlung durch wohlmeinende Therapeuten behielt sie erst recht für sich.

Schließlich hatte sie gelernt, ihre »Abartigkeit« gut genug zu kaschieren, um als »geheilt« entlassen zu werden. Sie betrachtete ihre Gabe der Psychometrie als einen Fluch, den sie, wäre es möglich gewesen, nur gar zu gern wie einen Tumor entfernt hätte.

Rafe war höflich genug, über ihre kaum verborgene Anspannung hinwegzusehen, als er ihr die verschiedenen Geräte zur Messung von Psi-Kräften vorführte. Danach zeigte er ihr das Computerzentrum, wo man ihr einen Arbeitsplatz für ihre Forschungen zuweisen würde. Unterwegs stellte er ihr die verschiedenen Mitarbeiter, Terraner und Darkovaner, vor, deren Namen sie sich aber meist nicht merken konnte. »Stört es sie nicht«, wollte sie am Ende ihres Rundgangs wissen, »daß Sie so viel Zeit im Inneren des Raumhafens verbringen müssen? Die Umgebung muß Ihnen doch völlig fremd sein. Ich meine nicht nur die Kultur, sondern ganz banale Dinge wie die Beleuchtung.«

Rafe war sichtlich erfreut, daß sie sich so gut in die Lage der Darkovaner versetzen konnte. »Sie haben vollkommen recht. Und wir haben Jasons Bürokraten schließlich dazu bewegen können, Abhilfe zu schaffen. Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen.«

Er führte sie zu einem Aufzug, der sie zwei Ebenen nach oben brachte. »Wir sind hier ganz in der Nähe der Schlafräume. In den Privatunterkünften läßt sich die Beleuchtung nach den individuellen Bedürfnissen regeln.« Bald darauf erreichten sie einen riesigen Raum. Der Boden war mit einer dicken Erdschicht bedeckt, in der Bäume eingepflanzt waren, so daß die Wände verdeckt blieben. Das war keine Plastikausstattung, es roch nach echter, feuchter Erde und Laub. Das völlig durchsichtige Dach ließ den rötlichen Schimmer der »Blutsonne« herein.

Rafe ließ sich mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung auf einer Steinbank nieder. »Hier können wir uns erholen, falls wir keine Zeit haben, nach draußen zu gehen. Selbst einige meiner terranischen Freunde genießen die Abwechslung.«

Der Raum war nicht bloß ein gepflegter Garten, sonder vielmehr die Nachbildung eines Waldes. Fiona erkannte einige der einheimischen Bäume und Pflanzen, von denen sie bislang nur Abbildungen gesehen hatte. Im Hintergrund hörte sie Insekten summen und einen Bach plätschern, der einen Teich nahe ihrer Bank speiste.

»Wie friedlich«, seufzte sie. Auf die Dauer würde das ungewohnte Licht ihr wahrscheinlich Kopfschmerzen bereiten, aber im Augenblick empfand sie es als wohltuend.

»Darf ich Sie nach Ihrer Arbeit fragen? Was genau wollen Sie hier untersuchen?« Rafes Frage kam zögerlich, als ob er erwartete, sie würde ihm erklären, das Thema sei vertraulich.

»Gerne. Aber Sie müssen mich unterbrechen, wenn ich anfange, Sie zu langweilen. Ich sammle Volkslieder, insbesondere zum Thema von Beziehungen zwischen Menschen und mythischen Wesen. Auf Terra konnten das zum Beispiel Elfen sein – nie alternde Wesen von überirdischer Schönheit. Die Menschen scheinen diese Geschichten in jede neue Welt, die sie besiedelten, mitgenommen zu haben. Die einzelnen Charaktere mögen sich verändern, aber der Grundgehalt der Geschichte bleibt erhalten.« Etwas verlegen über ihren plötzlichen Wortschwall hielt sie inne. Aber Rafe zeigte sich keinesfalls gelangweilt.

»Dann sind Sie hier also auf der Suche nach Erzählungen der Chieri?«

Sie nickte. »Oder verwandte Gattungen wie zum Beispiel die Legende von Hastur und Cassilda. Sind Sie sich eigentlich bewußt, daß Darkover einer der wenigen bekannten Planeten ist, auf dem die alten Legenden sich verwirklicht haben? Das Elfenreich war mythischer Natur, und meine Vorgänger haben die Ursprünge dieser Mythen längst zu Tode erklärt. Aber die Chieri scheinen reale Wesen zu sein.«

»Sie sind es«, erklärte Rafe. »Und die überlieferten Lieder besitzen eine tiefere Wahrheit. Einige aus dem Volk der Wälder haben sich in seltenen Fällen mit Menschen gepaart.« An dieser Stelle errötete er leicht. »In begrenztem Umfang kommt das auch heute wieder vor, da sie mittlerweilen untereinander oft unfruchtbar sind.«

Fiona beugte sich aufgeregt vor. »Ob ich wohl während meines Aufenthaltes einen von ihnen treffen könnte? Was glauben Sie, wie stehen meine Chancen?«

»Die Chieri sind seit jeher gegenüber Fremden sehr scheu, und das gilt für alle, die nicht zu ihrer Rasse gehören. Jetzt sind sie vom Aussterben bedroht und haben noch mehr Grund, auf der Hut zu sein. Wir können uns glücklich schätzen, daß zwei von ihnen an unserem Projekt mitarbeiten. Viele glauben, daß die Comyn ihre Laran-Kräfte erst durch die Verbindung mit den Chieri erhielten.«

»Das ist mir bekannt.« Fiona war drauf und dran, ihn zu bitten, einem dieser quasi-mythischen Wesen vorgestellt zu werden, wagte es aber nicht, diesen Wunsch zu äußern. Es wäre unangebracht und könnte sogar das Gegenteil bewirken.

Rafe spürte vermutlich ihre Wißbegier; schließlich gehörte er zu der legendären Telepathenkaste Darkovers. »Ich bin mit einem der beiden anwesenden Chieri eng – befreundet. Vielleicht läßt sich später ein Treffen einrichten.«

Als er sie zu ihrem Zimmer führte, sagte er: »Ich würde Ihnen bei Ihren Studien über unsere Legenden und Balladen gerne behilflich sein, so weit es mir möglich ist. Ich muß allerdings einräumen, daß mir die ganze Vorgehensweise etwas fremd ist. Die Vorstellung, abstraktes Wissen nur um seiner selbst willen anzuhäufen, ohne praktischen Nutzen – «

Solche Vorwürfe, sie forsche in einem »Elfenbeinturm«, hatte sie schon auf Terra zur Genüge gehört. Eifrig verteidigte Fiona ihre Arbeit. »Aber es findet durchaus praktische Anwendung. Was passiert zum Beispiel, wenn Menschen Kontakt mit anderen intelligenten Lebensformen aufnehmen und sie durch die Brille unserer Mythen betrachten? Behandeln wir Außerterranische unangemessen, weil wir in ihnen nur die Geschöpfe unserer eigenen Phantasie sehen, anstatt sie so wahrzunehmen, wie sie wirklich sind? Das hoffe ich, letzten Endes herauszufinden.«

»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg«, antwortete Rafe mit ernster Stimme.

Der Gedanke an Rafes Herzlichkeit erleichterte Fiona am nächsten Tag die notwendigen Vorbereitungsarbeiten für die geplanten Interviews. Sie verbrachte den Vormittag am Computer, um verschiedene Fassungen darkovanischer Balladen und epischer Fragmente über Beziehungen zwischen Menschen und Chieri abzurufen. An der Tastatur klebten noch wie Staub die Psycho-Spuren von der Berührung durch vorherige Benutzer. Ausdrucke umgaben sie stapelweise.

Gegen Mittag schaute Fiona vom Bildschirm auf und rieb sich den steifen Nacken. Trotz aller fortschrittlichen Technologie war es offenbar noch immer nicht gelungen, ein Computerpult zu entwerfen, an dem sich beim Arbeiten nicht sämtliche Muskeln verspannten.

Fiona beschloß, vor dem Mittagessen noch kurz in den »Wald« der Raumstation zu gehen. Es war nicht nur die Stille des Raumes, die sie anlockte; hier konnte sie noch am ehesten Kontakt mit jener Welt aufnehmen, der sie in den Legenden begegnet war.

Zunächst lief sie zu ihrem Zimmer zurück, um ihre Harfe zu holen. In dem künstlichen Wald setzte sie sich unter herabhängenden Zweigen voller gelber Blüten auf die Steinbank und machte sich daran, die launischen Seiten des Instruments zu stimmen. Diese vertraute, fast schon mechanische Beschäftigung entspannte und beruhigte sie. Sie blickte in den klaren Teich, in dem winzige Fische in allen Regenbogenfarben hin- und herschossen, und schlug die Harfe an.

Als sie mit dem Klang des gestimmten Instruments zufrieden war, zupfte sie zur Begleitung einer alten Ballade einige Akkorde: Ein Mann bin ich zu Lande, ein Silkie auf hoher See, und wenn ich fern vom Lande bin,

leb’ ich in Skule Skerry.

Und während sie so von der Liebe jenseits der irdischen Schranken sang, richtete sie ihren Blick auf die Kiesel am Rande des Teiches.

Ihr Lied, zunächst noch in ihren Gliedern gefangen, wuchs zu einem Gesang an, der von ihren Stimmbändern und Fingerspitzen aus in der Luft fortpulsierte und ein Netz wob, das die Kiesel aufsammelte und zum Tanzen brachte. Verzückt und entrückt beobachtete sie, wie die Steinchen in engen Spiralen über die glatte Wasseroberfläche wirbelten. Die Freude an diesem telekinetischen Spiel ließ auch diesmal die Spannung von ihr weichen und gab ihr die Kraft zurück, die sie in den langen Stunden angestrengter Arbeit verausgabt hatte. In solchen Augenblicken glaubte sie, für die Torturen, die die psychometrische Begabung ihr sonst bereitete, entschädigt zu sein.

Plötzlich verspürte sie die Anwesenheit einer Person. Sie verstummte und wandte sich dem Neuankömmling zu. Die Kiesel stürzten spritzend in den Teich.

Sie wurde auf Casta angesprochen, das Fiona im Verlauf ihrer Studien des klassischen darkovanischen Liedguts erlernt hatte.

»Verzeihen Sie mir, ich wollte Sie in Ihrer Andacht nicht stören.« Die Person war überdurchschnittlich groß – das abgegriffene Adjektiv

»gertenschlank« schien zu passen, denn er (oder sie?) besaß etwas von der Geschmeidigkeit eines jungen Baumes. Silbrige Augen und Haare hoben sich von der perlmuttfarbenen Haut ab.

Ein Chieri! Hinter – ihm? – trat Rafe ein. »Fiona, darf ich vorstellen; mein Freipartner Merrak.«

Benommen murmelte Fiona etwas zur Begrüßung.

Das Chieri glitt näher; sein seidenes Gewand schimmerte bei jeder Bewegung. »Ihr Spiel hat uns sehr erfreut. Aber wovor hatten Sie Angst?«

Sie setzte ihre Harfe behutsam ab. »Da, wo ich herkomme, sind solche Vorführungen nicht gerade – normal.« Sie sprach langsam und wählte ihre Worte mit Bedacht, da sie die Aristokratensprache nur aus Schulbüchern kannte und nicht fließend beherrschte. »Als ich noch ein Kind war und meinen Eltern erzählte, daß ich Gegenstände reden hörte und sie ohne Berührung bewegen konnte, galt ich als – krank. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, meine Fähigkeit zu verbergen.« Ohne Zögern gab Fiona ihr Geheimnis preis. Sie spürte, daß es zwecklos war zu versuchen, ihr Innerstes vor diesem strahlenden Geschöpf zu verheimlichen.

»Man hat versucht, Sie von Ihrer Gabe zu heilen?« Fiona konnte deutlich die Abscheu bemerken, die in der Frage des Chieri lag. Sie schämte sich plötzlich ihrer Angehörigen, und wußte doch nicht, weshalb sie sich schämen sollte. Also wechselte sie das Thema. »Ich bin hierher gekommen, um die alten Lieder und Legenden über Kontakte zwischen Eurem und meinem Volk kennenzulernen.«

In einer anmutigen, fließenden Bewegung ließ sich Merrak auf dem Moospolster neben der Bank nieder, während Rafe sich neben Fiona setzte. »Ja, Rafe hat mir davon erzählt. Fiona, was ist ein Elf?«

Sie war völlig fassungslos, aus dem Mund des Chieri genau das Wort zu hören, das ihr gerade in den Sinn gekommen war.

»Verzeihen Sie, ich würde nie ohne Erlaubnis in Ihre Gedanken eindringen, aber Sie haben dieses Bild so stark projiziert.«

»Auf meinem Heimatplaneten würde man Sie wohl so bezeichnen.« Fiona begann, den Mythos des Elfenreiches zu erklären, war sich aber nicht sicher, ob sie es verständlich genug ausgedrückt hatte. Deshalb fügte sie hinzu: »Wir haben einige Lieder über die Elfenkönigin und ihren sterblichen Geliebten.« Sie griff wieder zur Harfe und stimmte sanft die Ballade von Tom dem Reimer an, der sieben Jahre lang ins Feenreich entschwand. Fiona versuchte, eine bildhafte Vorstellung des Gedichts zu projizieren, da sie wußte, daß sie es nicht angemessen auf Casta wiedergeben konnte.

Als sie geendet hatte, streckte Merrak die langen, feingliedrigen Finger aus, – sechs an jeder Hand –, um die Harfe zu ergreifen. »Ich darf doch?« Er klimperte über die Seiten und entlockte ihnen eine Abfolge dissonanter Akkorde. Fiona war froh, daß Merrak nicht in der Lage war, ohne vorherige Übung sofort eine betörende Melodie hervorzuzaubern, denn dadurch erschien ihr die Situation wesentlich realer.

Schließlich schaltete sich Rafe ein. »Wir würden gerne noch mehr von Ihnen hören, aber nicht hier. Hätten Sie Zeit, uns zu begleiten und noch jemanden zu treffen?«

Neugierig wickelte Fiona rasch ihre Harfe ein und folgte den beiden durch die Flure. Sie war einigermaßen verwundert, als Rafe sie durch den Flügel der Schlafsäle zu einer Zimmerflucht führte, an deren Eingang »Säuglingsstation« stand. Zwei Männer, die der Livree nach zu urteilen der Garde Hasturs angehörten, bewachten die Tür – eine Vorsichtsmaßnahme, die Fiona bedrohlich vorkam.

Die beiden diensthabenden Krankenschwestern, eine Terranerin und eine Darkovanerin, begrüßten Rafe und Merrak, und nachdem Rafe sie vorgestellt hatte, wurde auch Fiona eingelassen.

Sie durchquerten einen großen Raum, an dessen Rand sich mehrere Nischen mit Kinderbetten befanden, von denen aber nur wenige belegt waren. In einer dieser Seitenkammern, die kaum Platz genug bot, drängten sich nun die drei dicht zusammen. Ein Mobile aus getönten Glaskugeln, das von der Decke hing, war in rötliches Licht getaucht, so daß es den Eindruck der Planetensonne erweckte.

Das Baby in der Wiege, kaum mehr als zwei oder drei Monate alt, öffnete seine silbergrauen Augen.

»Unsere Tochter Kyra«, sagte Rafe stolz. Das Baby griff nach dem schlanken Finger, den Merrak ihm hinhielt.

Fiona betrachtete Merrak von der Seite, und mit einem Male verschwamm das Bild von »ihm«. Statt des großen, hageren Jünglings erschien ihr Merrak jetzt als feingliedrige junge Frau mit sanften, wenn auch keinesfalls üppigen Rundungen. Dann stimmt es also – die Chieri sind Zwitterwesen!

Die kleine Kyra hatte milchig weiße, durchscheinende Haut und stoppeliges rotes Haar. Sie gluckste und strahlte Fiona an.

»Ich glaube, Ihre Musik wird unserer Kyra auch gefallen«, meinte Rafe. Er nickte Merrak zu, der – nein, die – jetzt eine Rohrflöte aus der Tasche zog.

Fiona nahm auf dem einzigen gepolsterten Stuhl in der Kammer Platz und packte ihre Harfe aus. Merrak trillerte die ersten Takte einer einheimischen Melodie und Fiona zupfte die ersten Akkorde zur Begleitung. Zunächst klang es wie bei jedem improvisierten Duo etwas unbeholfen, doch ganz allmählich fanden sie zusammen, und ihre Musik verband sich zu einer gemeinsamen Harmonie. Nahezu greif- und sichtbar entströmten der Flöte die Töne und umfingen Fiona wie ein seidenes Spinnennetz. Ihre Melodien verschmolzen, spannen Fäden und legten sich um die Glaskugeln, die wie in einer sanften Brise hin- und hertanzten. In einer rätselhaften Zeichensprache ruderte Kyra mit den Armen und strampelte mit den Beinen.

Fiona verlor den Kontakt mit dem Stuhl unter ihr. Wie ein Blatt trieb sie auf dem Klangstrom dahin; wie ein Blatt, das sich einst gegen den frostigen Wind zusammengerollt hatte, entfaltete sie sich jetzt in der Sonne.

Nachdem die Musik geendet hatte, dauerte es mehrere Minuten, bis sie wieder völlig zu Bewußtsein kam und die Dinge um sich herum wahrnehmen konnte. Als sie sich erhob, wurde ihr schwindelig. Sie suchte am Gitterbett Halt. Da durchfuhr es sie; eine grauenvolle Vision stieg in ihr auf. Die quälenden Gefühle ließen das Bild verschwimmen, aber sie sah einen rothaarigen Mann in terranischer Kleidung. Seine Bösartigkeit blendete sie – sie riß die Hand vom Gitter zurück, als sei es glühendes Metall–

Als die Vision wich, erkannte sie Rafe, der sie mit einer Hand stützte. Mit der anderen Hand berührte er den Lederbeutel um seinen Hals. »Es wird Ihnen gleich wieder besser gehen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß durch den Kontakt mit anderen Telepathen noch schlummerndes Laran geweckt und entwickelt wird.«

»Das muß es wohl sein«, gab Fiona noch immer zitternd zur Antwort. »Ich habe es so – lebhaft – gespürt. Stärker als je zuvor.«

Sie teilte ihnen aber nicht mir, was sie gesehen hatte, da sie unmöglich sagen konnte, ob und wie weit es in der Vergangenheit zurücklag oder ob sie womöglich ein zukünftiges Ereignis vorausgesehen hatte. Falls der Kontakt mit Rafe und Merrak wirklich ihre Begabung »entwickelt« hatte, brauchte sie Zeit, um ihre Visionen neu zu interpretieren.

Auf dem Flur fielen ihr wieder die beiden Wachposten auf. Als sie außer

Sichtweite

waren,

fragte

sie:

»Wozu

diese

Vorsichtsmaßnahmen? Wozu braucht eine Säuglingsstation bewaffnete Wächter?«

Rafes Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »In den vergangenen Jahren kam es immer wieder vor, daß Comyn-Kinder unter ungeklärten Umständen starben, weitaus öfter als es der Zufall zuläßt.«

»Sie meinen, daß irgend jemand Babies ermordet?« Ihr Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen.

»Nachdem zwei Jahre lang Ruhe geherrscht hatte, geschah es vor weniger als drei Monaten erneut – ein Neugeborenes und die Schwestern auf unerklärliche Weise tot, und nicht der geringste Hinweis auf den Täter. Es gibt einige Splittergruppen auf Darkover, die glauben, daß die ›Reinheit‹ der Telepathenkaste wichtiger sei als ihr Überleben. Das gemeine Volk oder gar ›Außenweltler‹ in Laran zu unterweisen, wie es unser Projekt tut, halten sie für einen Frevel.

Für Fanatiker, die so denken, sind die hier geborenen Kinder natürlich ein bevorzugtes Angriffsziel.«

Bei diesen Worten erzitterte Fiona genauso wie Merrak, der an ihrer Seite ging.

Ich bin einem Chieri begegnet!

Fiona lag an diesem Abend noch lange wach. Die wunderbare Begegnung und die Freude, mit Merrak, Rafe und Kyra in der Musik vereint zu sein, standen im scharfen Kontrast zu der ätzenden Erinnerung an die Bilder, die sie gleich danach überfallen hatten. Erschöpft von den widerstreitenden Gefühlen, schlief sie endlich ein.

Sie träumte von der Säuglingsstation. Die gedämpfte, indirekte Nachtbeleuchtung war den Spektralfarben zweier der vier Monde Darkovers nachempfunden. Eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt schlich sich von Schatten zu Schatten. Sie ging aufrecht, war menschlich – mehr war von ihr nicht zu erkennen.

Haß ging von ihr aus und verbreitete sich wie ein Nebel, der aus den Niederungen aufsteigt.

Der Schrei eines Babys durchschnitt Fionas Träume.

Kyra!

Sie fuhr aus dem Schlaf hoch, war hellwach, noch ehe sie erkannte, daß der Traum vorbei war. Der frisch erwachte Instinkt sagte ihr, daß dies kein gewöhnlicher Traum war. Sie warf sich einen Morgenrock über und stürzte aus dem Zimmer.

Sie war außer Atem, als sie die Säuglingsstation erreichte. Vor der Eingangstür lagen die beiden Wächter – bewußtlos oder tot. Von drinnen hörte sie ein Baby schreien – diesmal ganz real und deutlich, und kein Gedankenruf, wie sie ihn im Traum vernommen hatte. Als sie hereinstürmte, sah sie Merrak, der neben Kyras Wiege stand und das Baby auf dem Arm hielt.

»Dem Himmel sei Dank – alles in Ordnung mit Kyra?«

»Ja – ich habe ihren Angstschrei gehört – sah einen Mann im schwarzen Mantel auf der Säuglingsstation. Er schlug mich nieder, als er floh.« Merrak fragte nicht weiter, was Fiona alarmiert hatte.

Als sie sich umblickte, sah Fiona, daß auch die beiden Schwestern am Boden lagen. Dann hörte sie herbeieilende Schritte. Rafe und Jason kamen herein, gefolgt von einem weiteren Mann, der ihr bei der ersten Führung als Dr. David Hamilton vorgestellt worden war.

Hamilton kniete neben den reglosen Körpern und untersuchte sie.

»Tot, genau wie die beiden Wächter draußen. Und keine sichtbare Wunde.«

Rafe bahnte sich den Weg zu Merrak und umarmte seinen Gefährten und sein Kind. Fiona konnte spüren, daß Merrak ihm auch ohne hörbare Worte die Einzelheiten des Überfalls mitteilte.

Rafe gab kurz die Fakten an Jason und Hamilton weiter. »Ein Mann mit Mantel und Kapuze, um sein Gesicht zu verbergen. Es besteht kaum Hoffnung, ihn identifizieren zu können.«

In diesem Augenblick kam ein terranischer Sicherheitsoffizier mit einem schwarzen Bündel unterm Arm herein. »Das haben wir in einer Ecke im angrenzenden Flur gefunden, Sir.« Er übergab Jason das Tuch.

»Das wundert mich nicht«, erklärte Jason. »Diese Verkleidung hätte ihn verraten, also mußte er sie loswerden. Jetzt kann es jeder auf der Raumstation gewesen sein. Ein Außenstehender kommt nicht in Frage, er wäre zu dieser Nachtzeit nie so weit vorgedrungen.«

»Dann habe ich wenig Hoffnung, ihn zu ergreifen«, seufzte Hamilton. »Wir können doch nicht jeden einzelnen unter dem Wahrheitsbann vernehmen.«

Fiona kochte vor Wut und Enttäuschung. »Sie wollen doch nicht einfach so aufgeben?« Sie zügelte sich. Sie war selber neu hier. Was wußte sie schon über deren begrenzte Möglichkeiten?

Rafe und Merrak tauschten einen stummen Blick. In Fionas Gedanken meldete sich Merraks wohlklingende Stimme: Du kannst sehen, was hier vorgefallen ist, wer hier eingedrungen ist. Du muß uns helfen.

Rafe nahm Jason den Umhang ab und hielt ihn Fiona hin. Sie schüttelte den Kopf. »Was erwartet ihr von mir?«

Sie spürte, daß sich alle Blicke auf sie richteten, und am liebsten wäre sie davongerannt. Sprich, vernahm sie Merraks stilles Flehen.

Die Abscheu vor ihrer eigenen Feigheit war stärker als die Angst.

»Also gut, ich werde es versuchen.« Fiona nahm das schwarze Tuch in ihre Arme.

Rasender Zorn traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Beinahe hätte sie das Tuch fallen lassen. Sie drückte es an ihre Brust und atmete tief durch, um die Sturmwogen eines entfesselten Hasses zu glätten. Als sich der Aufruhr der Gefühle legte, traten hinter geschlossenen Augenlidern allmählich Bilder hervor.

»Ein Mann. Ganz in Schwarz. Er nähert sich der Tür. Sein Gesicht

– kann es nicht erkennen. Die Wachen sprechen ihn an. Er starrt den Wächter zur Linken an. Schmerz – ein stechender, erdrückender Schmerz in der Brust – der Wächter sinkt bewußtlos zusammen. Der andere ruft um Hilfe. Der Mann starrt auch ihn an – seine Stimme erstirbt – er greift sich an den Hals – er kriegt keine Luft. Auch er bricht zusammen.«

Fiona mußte selbst um Atem ringen. Sie lockerte den verkrampften Griff um das Tuch und atmete tief durch, bis die Anspannung in ihrer Brust etwas nachließ. »Der Mann benutzt den Schlüsselbund des Wächters. Er dringt ein. Die Schwestern springen erschreckt auf – eine will den Alarmknopf drücken – er schaut sie an

– seine Augen scheinen zu glühen – wie unter einem Stromstoß zuckt sie zusammen. Das gleiche geschieht mit der anderen Schwester.

Da kommt jemand – Silber und Weiß – es ist Merrak. Zorn, Angst, Verzweiflung – Kyra beginnt zu schreien. Der Mann stürzt zur Tür, schlägt Merrak nieder, rennt aus der Halle. Er verschwindet hinter einer Ecke, reißt sich das Tuch vom Leib. Er ist etwa vierzig –untersetzt – rote Haare – bestimmt ein Darkovaner, aber er trägt terranische Kleidung. Jedoch keine Uniform.« Die Vision verblaßte.

Erleichtert ließ Fiona das Tuch fallen. »Das ist alles.«

Sie taumelte. Rafe rückte einen Stuhl heran und half ihr darauf.

»Mit einem einzigen Blick, mit einem bloßen Gedanken zu töten – «

Angewidert verzog er den Mund. »Wer könnte so etwas tun?«

»Eine Perversion der Alton-Gabe«, erklärte Jason. »Ich habe von den Leroni, die bei uns gearbeitet haben, einiges darüber gehört, aber sie waren der Meinung, diese Form des Laran sei praktisch schon ausgestorben.«

»Dann sollte es keine Schwierigkeiten bereiten, den Täter zu überführen«, meinte Dr. Hamilton. »Es dürfte nicht allzu viele Darkovaner unter unserem Personal geben, auf die diese Beschreibung zutrifft und die zudem noch durch Abstammung über Alton-Gene verfügen.«

Rafe war sichtlich erleichtert. Zur Beruhigung drückte er Merrak sanft die Hand. »Ja, wir werden ihn ausfindig machen. Und mit Hilfe der Leroni sogar mögliche Komplizen entlarven.«

Fiona steckte noch alles tief in den Knochen; sie zitterte am ganzen Leib. Jason legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. »Sie sind völlig erschöpft. Sie gehen jetzt besser in die Krankenstation und lassen sich untersuchen. Eine Tasse heißer Tee wird Ihnen gut tun. Und bald werden Sie auch wieder Hunger haben.«

Nach allem, was sie gesehen hatte, fühlte sie sich zu elend, um an Essen auch nur zu denken, aber sie hatte nicht die Kraft zu widersprechen.

»Es gibt auf Darkover ein Sprichwort«, meinte Jason abschließend.

»›Lerne dein Laran kennen, oder du gefährdest dich und andere‹.

Was halten Sie davon, eine Weile bei uns zu bleiben? Lernen Sie, Ihre Begabung zu beherrschen, anstatt sich von ihr beherrschen zu lassen!«

Fiona mußte erst einmal gehörig schlucken, bevor sie antworten konnte: »Vielen Dank. Ich werde es mir überlegen.«

CHEL AVERY

Das Vermächtnis

Chel Avery – der Vorname ist übrigens eine Kurzform von Michel, was wiederum von dem französischen, weiblichen Vornamen Michelle abgeleitet ist, womit wir endlich ihr Geschlecht identifiziert hätten – sagt über sich: »Eigentlich gibt es dem, was ich Ihnen letztes Jahr über mich schrieb, nichts hinzuzufügen: Ich lebe noch immer in Philadelphia, arbeite immer noch im Bereich Konfliktforschung und Vermittlung und bin nach wie vor Quäkerin. Außerdem werden ich in diesem Jahr 40« – ein Schicksal, dem wir alle nicht entgehen, falls wir so lange leben! – »und trage mich mit dem Gedanken, mein gesamtes Leben über den Haufen zu schmeißen und die Bruchstücke neu zusammenzusetzen.«

Ihren ersten Versuch eines Romans möchte sie lieber unerwähnt lassen:

»Das Manuskript kam vom Verleger nicht etwa mit der üblichen höflichen Absage, sondern mit einer wutschnaubenden Schmähschrift zurück!« Ich kann Sie trösten, Chel, auch das hat etwas Gutes: Immerhin wird er sich an Ihre Geschichte erinnern – und die nächste um so interessierter lesen.

Denn der Feind des Guten ist nicht das Schlechte, sondern das Mittelmaß.

Ich nehme mir die Freiheit, das zu sagen, da ich aus Erfahrung spreche.

Selbst heute, nach fünfzig Jahren, kann ich mich an ein Manuskript erinnern, das ich als Siebzehnjährige für ein Fan-Magazin redigierte. Es handelte von einem siamesischen Zwillingspaar, einem Jungen und einem Mädchen! (Falls Sie es nicht wissen sollten: Siamesische Zwillinge sind naturgemäß immer gleichgeschlechtlich. Der Phantasie freien Lauf zu lassen, bedeutet nicht, jede Logik mit Stumpf und Stiel auszurotten!) Mein Vater hat mich mit einem Mann verheiratet, der das Gemüt eines Banshees und den Verstand eines Rabbithorns besitzt. Caillen unterdrückte den Stoßseufzer, sagte vielmehr entschieden: »Sie haben ganz recht, noch einmal nachzufragen, Eduin. Das war tatsächlich ein Mißverständnis. Mein Mann hat nur versehentlich angeordnet, daß die Setzlinge am Westhang gepflanzt werden, der ja den halben Tag lang im Schatten des Berges liegt. Dom Raul möchte natürlich, daß Sie am Osthang pflanzen.«

Der Gutsverwalter dankte ihr unbeholfen und vermied es dabei, ihr in die Augen zu schauen. Dann stolperte er aus dem Zimmer.

Jetzt endlich ließ sich Caillen seufzend in einen Sessel beim Feuer fallen.

Sie war gerade erst im zweiten Jahr Herrin auf dem Gut, und schon holte sich der Verwalter und Coridom hinter dem Rücken des Lords Rat bei seiner Lady, natürlich stets unter dem Vorwand, Rauls

»wahre Absichten« in der Angelegenheit zu erfragen.

Warum, Vater, warum? Warum hast du mich diesem aufgeblasenem Tolpatsch anvertraut? Ich habe immer geglaubt, du würdest mich aufrichtig lieben und hättest mir etwas besseres zugedacht als eine Ehe, die mich wie die Frau eines Trockenstädters ankettet. Hast du denn so wenig für mich übrig gehabt, daß du mein Glück deinem Stolz opfern konntest, nur um dich der tollen Partie mit dem Erben einer Domäne zu rühmen?

Wolltest du damit die einstige führende Stellung unserer Familie zurückgewinnen, die wir in den alten Kriegen verloren hatten? Du schienst dir doch nie viel daraus gemacht zu haben?

Sie versuchte, ihre Zweifel zu bekämpfen und ihre Lage objektiv einzuschätzen. Vielleicht hatte sie zuviel von der Ehe erwartet. Sie war ja auch nicht mehr die Jüngste. Im Dorf hatte man bereits zu tuscheln begonnen, ob sie als alte Jungfer enden würde, bis Dom Aldric Di Asturien sie schließlich ziehen ließ. Sie war bereits zwanzig, als das Bett des jungen Lord Elhalyn auf sie wartete. Nein, sie mußte die Sache realistisch sehen. Ehen wurden geschlossen, um der Familie Nachkommen zu sichern und den Besitzstand zu wahren – und nicht, um die Braut glücklich zu machen. Hatten ihr etwa allzu viele Balladen den Kopf verdreht?

Nein, so töricht war sie nicht. Aber sie hatte am Beispiel ihrer Mutter gesehen, was Heirat und Familie bedeuten konnten. Domna Alicia war als Frau von Dom Aldric und Herrin des Asturien-Guts durchaus glücklich und zufrieden gewesen. Man sprach oft davon, wie sehr ihr Vater an seiner Frau und der Familie hing, manchmal respektvoll, manchmal leicht spöttisch. Aber das machte es nur um so unverständlicher, daß ihr Vater für seine einzige Tochter einen so ungeeigneten Bräutigam ausgesucht hatte.

Nach Caillen, der Erstgeborenen, kamen noch eine ganze Reihe jüngerer Brüder zur Welt, die aber alle bereits kurz nach der Geburt verstarben. So war sie mit zwölf noch immer Einzelkind, als auch der letzte von Aldrics Söhnen nur wenige Stunden überlebte. Die Hebamme ermahnte Dom Aldric: »So kann es nicht weitergehen!

Die vielen Fehlgeburten bringen Ihre Frau noch ins Grab. Gebt Euch mit Eurer Tochter zufrieden und verzichtet auf weitere Nachkommen.«

Dom Aldric wartete einen halben Monat ab, bis Alicia wieder zu Kräften gekommen war; dann verabschiedete er sich von ihr mit einem zärtlichen Kuß und ritt, begleitet von zwei Männern mit drei Pferden, davon. Als er nach zwei Langwochen zurückkehrte, saß im Sattel des zusätzlichen Pferdes nicht etwa eine junge Barragana, wie jedermann erwartete und an der keiner Anstoß genommen hätte, sondern eine stämmige, ältere Amme, die einen kleinen, vielleicht vier Jahre alten Jungen im Arm hielt.

Es war der jüngere Sohn Lord Geoms von Elhalyn. Aldric übergab seiner Frau das Kind. »Ich habe ihn als meinen Erben angenommen.

Nimm ihn, Alicia, und zieh ihn für mich auf.« Und Alicia war glücklich, endlich noch ein Kind im Arm halten zu dürfen.

Klein Corys, wie er genannt wurde, war ein hübscher Knabe mit einem einnehmenden Wesen. »Nein, was für ein Prachtkerl!« rief eine Frau aus dem Gefolge ihrer Mutter. »Ich begreife nicht, wie sich Lady Elhalyn von ihm trennen konnte.«

»Die Herrin von Elhalyn ist tot«, erklärte Dom Aldric, »und Lord Geom liebt seine beiden Söhne gleichermaßen, so daß er sich glücklich schätzt, daß jeder von ihnen ein Gut erben wird. Und so wird der Jüngere nie dem Älteren sein Erbrecht streitig machen.«

»Wie könnte so ein niedlicher Fratz je jemandem etwas streitig machen«, meinten die Frauen nur verächtlich.

Einige Tage später rief Dom Aldric Caillen in sein Arbeitszimmer und hieß sie, sich hinzusetzen und gut aufzupassen. »Meine Tochter, es gibt da bei der Vereinbarung mit Elhalyn noch etwas, was dich betrifft.« Caillen machte große Augen, denn sie konnte sich zunächst nicht vorstellen, wovon er sprach. »Ich habe dich mit Raul von Elhalyn, Dom Geoms älterem Sohn und Erben, verlobt.« Dom Aldric ergriff beide Hände seiner Tochter. »Verstehst du, was das heißt, mein Kind? Der Erbe einer Domäne ist eine glänzende Partie, weitaus besser, als wir für dich erhoffen durften. Dennoch mißfällt mir dieser Brauch, die Geschicke unserer Kinder festzulegen, wenn sie noch viel zu jung sind, um zu begreifen, worum es geht. Wenn du mir also erklärst, daß dir der Sinn nicht nach Heirat steht, wenn du beispielsweise dein Leben lieber im Turm verbringen möchtest, dann ist es noch nicht zu spät. Ich könnte gegenüber Elhalyn irgendeine Entschuldigung finden und dich von diesem Versprechen entbinden.«

Caillen schüttelte den Kopf. »Ich habe nie an Heirat gedacht, Vater, aber ich sehe, wie sehr es meine Mutter glücklich macht, und so werde ich tun, was Ihr versprochen habt.«

Dom Aldric fuhr ihr zärtlich durch das Haar, das Caillen als Mädchen noch offen trug. »Du bist ja noch jung und solltest dir jetzt nicht zu viele Gedanken darüber mache. Dazu wird noch früh genug Zeit sein. Jetzt möchte ich aber noch etwas anderes mit dir besprechen. Sag mir, hat deine Mutter dich in der Haushaltsführung unterwiesen? Weißt Du schon, wie es um Küche, Wäsche, Dienerschaft und all die anderen Angelegenheiten bestellt ist?«

»Gewiß, Vater«, erklärte Caillen stolz, denn Domna Alicia hatte ihr genügend beigebracht, um den Haushalt die beiden letzten Male, als ihre Mutter im Kindbett lag, selbständig zu führen.

»Das freut mich. Dann wird es auch nichts schaden, wenn ich dich der Obhut deiner Mutter entführe. Ich habe schon viel zu lange darauf warten müssen, daß mich ein Sohn bei meinen Ausritten begleitet. Bis Klein Corys sich im Sattel eines Ponys halten kann, werden wohl noch ein paar Jahre vergehen. Solange deine Mutter mit ihm beschäftigt ist, möchte ich auf die Gesellschaft meiner Tochter nicht verzichten.«

Jene Jahre, in denen sie fast jeden Tag gemeinsam verbrachten, überzeugten Caillen mehr als alles andere, daß ihr Vater sie aufrichtig liebte. Wenn sie Seite an Seite ritten, besprach er vertrauensvoll mit ihr alles, was ihn beschäftigte: von der Aussaat über die Chervine-Zucht bis hin zum Umgang mit den Pächtern, die das Land bestellten. Wenn er sich mit Händlern zu Geschäften traf, saß sie neben ihm, und wenn Verträge unterzeichnet oder Botschaften losgesandt wurden, dann durfte sie das Pergament mit dem schweren Eisenring, der sein persönliches Wappen trug, versiegeln. Einmal nahm er sie sogar trotz der Bedenken ihrer Mutter im Sommer zu einem Waldbrand mit, wo sie Meldungen zwischen den Löschmannschaften übermittelte. Im Laufe der Zeit ging er mehr und mehr dazu über, die Gutsführung mit ihr genauso wie mit seinem Verwalter zu erörtern. Dabei legte er nicht nur seine Meinung dar, sondern wollte auch ihre hören.

Im Alter von fünfzehn wurde Caillen zum Dalereuth-Turm geschickt, wo sie den Umgang mit ihrer erwachenden übernatürlichen Begabung lernen sollte. Obwohl ihr Laran nicht besonders stark entwickelt war, blieb sie drei Jahre lang im Turm, während andere junge Frauen mit viel ausgeprägterem Laran schon nach ein oder zwei Studienabschnitten nach Hause zurückkehrten, oft genug, um verheiratet zu werden. Ihr Bewahrer, der sanftmütige Ballart von Dalereuth, rief sie jeweils zur Mittsommerzeit zu sich und teilte ihr mit: »Euer Vater hat zugestimmt, daß Ihr noch ein Jahr im Telepathenkreis bleibt.« So tat sie gehorsam ihre Dienste und half bei der Übermittlung von Botschaften von Turm zu Turm. Dadurch erfuhr sie viel über die verschiedenen Angelegenheiten der Domänen, über Beziehungen und Verträge zwischen den einzelnen Comyn-Familien und ihre rivalisierenden Untergruppen und nicht zuletzt über die Intrigen in Thendara. Als Lord Altons Frau im Kindbett starb, sagte sie als erste exakt voraus, daß die jüngste Tochter aus dem Hause Serrais, das in den letzten Ratsversammlungen mit Alton um die Vormachtstellung gestritten hatte, schon bald nach Osten reiten würde.

Schließlich wurde sie durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter nach Hause gerufen. Ihr Vater und Corys, inzwischen zu einem großen, lebhaften Jungen herangewachsen, hießen Caillen willkommen, und gemeinsam teilten sie die tief empfundene Trauer. »Du stehst bereits im achtzehnten Sommer«, seufzte ihr Vater, als er sie an sich zog,

»und schon vor zwei Sommern hätte ich dich eigentlich heiraten lassen sollen. Aber ich ertrage es nicht, Alicia und dich so kurz hintereinander zu verlieren. Bleib noch eine Weile bei mir.«

Als der Schnee im Frühling geschmolzen war, teilte Dom Aldric Caillen mit: »Ich habe einen Hauslehrer für Corys eingestellt. Etwas Bildung wird sich als nützlich erweisen; je besser er selber lesen und schreiben kann, desto weniger wird man ihn übervorteilen. Doch ich denke nicht daran, den Burschen nach Nevarsin zu schicken.

Deshalb habe ich einen Mönch kommen lassen. Er schaut sehr ernsthaft aus, und zweifellos wird ein strenger Lehrer Corys gut tun. Aber der Junge trauert noch immer sehr um seine Pflegemutter, und deswegen fände ich es gut, wenn seine Schwester sich liebevoll um ihn kümmern würde. Ich bitte dich, Caillen, arbeite mit Corys und dem Hauslehrer; dann bin ich sicher, daß sich der Unterricht auch lohnen wird.«

Bruder Domenic war in der Tat ein gestrenger Lehrmeister, und unter seiner Anleitung lernten Bruder und Schwester nicht nur Lesen und Schreiben; noch wichtiger war, daß sie sich gegenseitig besser kennen und schätzen lernten.

Von den Tag, an dem Caillen von ihrer Verlobung erfuhr, bis zum Vollzug der Ehe vergingen schließlich acht Jahre, in denen sie ihren zukünftigen Ehemann nicht einmal zu Gesicht bekam. Sein Vater, der alte Lord Elhalyn hatte sie dagegen mehrfach besucht. Caillen mochte den greisen Dom Geom und seine rauhe, aber herzliche Art.

Er war gern zu Scherzen aufgelegt, konnte aber andererseits seinen Standpunkt unbeugsam vertreten, wenn er an eine Sache glaubte. Er gab sich besondere Mühe, mit Caillen Bekanntschaft zu schließen, und diese Aufmerksamkeit verfehlte nicht ihre Wirkung. Wenn sein Sohn nur halb so warmherzig und geistvoll ist, dann darf ich mich glücklich schätzen, sagte Caillen sich. Als Dom Geom sich am Ende seines letzten Besuchs von ihrer Familie verabschiedete, küßte er Caillen auf beide Wangen und hielt ihre Hände fest umschlossen.

»Ich baue auf dich, meine Tochter«, erklärte er vielsagend, bevor er davonritt.

Neun Monate später war der alte Lord tot. Weitere drei Monate später verließ Caillen als Braut an der Seite von Dom Raul, dem neuen Lord von Elhalyn, die Domäne Asturias und ritt schweren Herzen ihrem neuen Heim entgegen. Sie trauerte um den einzigen Menschen, den sie dort gekannt und geliebt hatte.

Es sollte sich schon bald herausstellen, daß Raul nicht das Zeug zum Herren einer Domäne besaß. »Wie ein Gockel, der versucht, Eier auszubrüten« – so hätten auf Asturias die Frauen seine stümperhafte Art beschrieben, das Gut zu führen. Wenn er es nicht ganz zu Grunde richtete und sich mit sämtlichen Nachbarn anlegte, dann war das nur der vereinten Anstrengung seines Coridoms und Caillens zu verdanken, die immer wieder ausbügelten, was er angerichtet hatte. Dabei mußten sie äußerst diskret vorgehen, denn Raul war schnell beleidigt, wenn er glaubte, seine Autorität würde in Frage gestellt.

Warum nur, Vater? Warum hast du mich einem solchen Schicksal überlassen? Er war doch schon siebzehn, als du ihm meine Hand versprachst. Konntest du denn nicht schon damals seine Schwächen erkennen? Oder hat es dich einfach nicht gekümmert? Ich kann einen solchen Mann nicht lieben und ehren. Und gehorchen? Wie könnte ich so einem gehorchen? Zählen meine Gefühle denn gar nichts, Vater?

Sie erhob sich und dachte daran, die Stallungen zu besuchen, um bei den Tieren Trost oder zumindest Ablenkung von ihren Sorgen zu finden. Plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Neben ihr saß die Hebamme des Guts und strahlte, als ob sie gerade höchstpersönlich die vier Monde am Firmament aufgehängt habe.

Nach wenigen Stunden war Caillen wieder auf den Beinen, aber die folgenden Tage und Wochen sollten ihre Geduld gehörig auf die Probe stellen. Raul platzte fast vor Stolz und tat so, als ob er der erste Jungvermählte sei, der seiner Gattin einen Erben zeugte. Er behandelte Caillen, als ob die Schwangerschaft sie plötzlich aller körperlichen und geistigen Kräfte beraubt hätte. Ständig schickte er sie auf ihr Zimmer, um sich auszuruhen, und wenn sie widersprach, tat er dies als »Launen einer trächtigen Frau« ab.

Als Caillen es kaum mehr aushalten konnte, munterte sie eine Nachricht auf, die etwas Abwechslung versprach. Eine Reisegesellschaft aus Aillard wollte auf dem Weg nach Hali in Elhalyn Zwischenstation machen. Caillen erhoffte sich davon einige interessante Gespräche, zum Beispiel mit einer Frau ihres Alters. Für Raul jedoch war der Besuch nur eine Gelegenheit, noch mehr anzugeben.

»Richte ein Bankett für sie aus, Caillen«, befahl er ihr. »Und trage dazu das kupferne Filigrandiadem meiner Mutter. Ich bin sicher, daß die Frauen von Aillard trotz ihres Perlenschmucks nichts Vergleichbares besitzen. Und der Koch soll Gebäck und einen frischen Chervine-Braten bereiten.«

Caillen lachte laut. »Ich werde die Klunker Ihrer Mutter tragen, wenn es Sie glücklich macht, aber wir servieren lieber Geflügel oder Rabbithorn. Um diese Jahreszeit säugen die Chervines, die gut im Futter stehen, ihre Kälber. Und wir wollen doch keinen alten und zähen Bullen auftischen.«

Es war ein Fehler gewesen zu lachen. Raul schäumte vor Wut. »Du wirst tun, was ich dir sage. Ich werde nicht zulassen, daß die Aillards uns für geizig oder gar arm halten. Laß ein Chervine schlachten, und zwar ein richtig schmackhaftes.«

»Ich versichere Ihnen, mein Lord«, und Caillen bemühte sich diesmal, besonders ehrerbietig zu wirken, »daß die Aillards nichts dergleichen denken werden, wenn wir kein Chervine auftragen. Sie würden uns eher für Narren und Verschwender halten. Keiner schlachtet im Frühling, bevor die Jungen entwöhnt sind. Täten wir es doch, würde man sich hinter unserem Rücken nur lustig machen.«

Raul wechselte das Thema. Er würde nie offen zugeben, daß er unterlegen war. Stattdessen rächte er sich auf seine Weise. »Ich werde diesen häßlichen, schwarzen Köter einem meiner Männer geben. Er pinkelt überall hin. Vielleicht kann Eduin noch einen brauchbaren Hirtenhund aus ihm machen.«

Corys hatte ihr den Hund zum Abschied geschenkt, und es war für Caillen einer der wenigen Lichtblicke in Elhalyn, mit ihm zu spielen. Aber sie wußte, daß es keinen Zweck hatte, Raul zu bitten oder überreden zu wollen. Wenn er erst einmal damit anfing, sich schäbig zu verhalten, dann machte jeder Widerstand es nur umso schlimmer. Für den Rest des Tages ging sie auf ihr Zimmer und weinte sich in ihren Kissen aus. Am Abend erschien sie beim Bankett mit dem Kupferdiadem und geröteten Augen.

Meloria Aillard und ihr Mann Morgan, ein gebürtiger Lindir, begleiteten Melorias jüngere Schwester Genavie zum Turm von Hali und verbanden dies mit verschiedenen Besuchen. Caillen konnte sich gut an Meloria erinnern; sie hatten eine Zeit lang zusammen im Dalereuth-Turm verbracht. Obwohl Meloria ein Jahr jünger als Caillen war, erschien sie älter, gereifter, mütterlicher, und ihrer Schwester gegenüber hatte sie fast schon die Rolle einer Tante angenommen.

Caillen errötete, als sie über den telepathischen Kontakt zwischen den ehemaligen Turmschülerinnen spürte, daß Meloria ihre geschwollenen Augen und Rauls großspuriges Auftreten eindringlich musterte. Sicherlich konnte Meloria Caillens Lage in Elhalyn recht gut einschätzen.

Sie erwähnte nichts davon, aber als sie, sich am nächsten Morgen verabschiedete, drückte sie Caillen die Hand. »Wir kommen in zwei Langwochen wieder vorbei. Dann könntest du uns doch nach Aillard begleiten und dort einige Zeit ausspannen. Man sagt, daß unsere Seeluft genau das Richtige für Frauen in deinem Zustand ist.

Und du könntest mich über den Verlust meiner Schwester hinwegtrösten.«

Caillens Herz hüpfte vor Freude, aber Raul schaltete sich schnell ein. »Ihr meint es sicherlich gut, und ich danke Euch dafür. Aber ich gestatte nicht, daß meine Frau während der Schwangerschaft unnötige Reisen unternimmt. Ich möchte, daß sie hier in der Obhut ihrer Amme bleibt.«

Caillen schluckte ihren Zorn herunter. Nicht einmal diese kurze Ruhepause sollte ihr gegönnt werden. Dabei hatte Raul keine Ahnung von den wahren Bedürfnissen einer Schwangeren. Er mußte nur wieder unter Beweis stellen, wer »Herr im Haus« war.

Als sie sich auf ihr Zimmer geflüchtet hatte, reagierte sie Ärger und Enttäuschung ab, indem sie einige Kissen gegen die Wand schleuderte. Ich halte diese Ehe nicht länger aus.

Und wenn sie davonlief? Könnte sie die Schande ertragen? Aber welche Schande könnte schon schlimmer als ihr gegenwärtiges Los sein? Früher hätte sie nicht einmal daran zu denken gewagt, ihre Familie derart zu kompromittieren. Ihre Familie? Welche Familie?

Schließlich hatte ihr eigener Vater sie in diese Lage gebracht. Die ganze Zeit hat er so getan, als ob er mich liebt und stolz auf mich sei, und dann wirft er mich und mein Glück diesem Kerl zur Heirat vor. Ich darf nicht an ihn denken. Ich bin jetzt auf mich selbst gestellt. Ich muß nur an mich und mein Kind denken.

Caillen schmiedete Fluchtpläne. Meloria und ihre Gesellschaft würden bald zurückkommen. Natürlich konnte sie sich ihnen nicht offen anschließen, aber wenn sie ihnen heimlich nach Aillard folgte, würde Meloria sie aufnehmen und beschützen. Sie könnte sich auf Aillard so lange versteckt halten, bis das Kind zur Welt kam. Und dann …?

Damals beim Waldbrand hatte sie einige Frauen der alten Schwertschwesternschaft getroffen. Man sagte, daß sie vom Comyn-Rat einen Freibrief erhalten hatten, der ihnen gestattete, als Frauenorden zusammen zu leben und ihren Unterhalt zu verdienen.

Ihnen würde sie sich anschließen, falls der Orden sie und das Kind aufnehmen würden.

Und wenn es ein Junge wird? Werden sie mich dann akzeptieren?

Niemals! Caillen schob ihre Zweifel beiseite. Der Falke soll fliegen, wenn er flügge ist. jetzt muß ich erst einmal fort von hier. Das Kind, ob nun Junge oder Mädchen, wächst besser ohne einen solchen Vater auf, selbst wenn es in Armut und Schande geschieht.

Sie machte sich daran, ihre Sachen zu sortieren. Was würde sie benötigen? Was konnte sie zurücklassen?

Und so war sie bereits gerüstet, als drei Tage später aus Asturias eine unerwartete Nachricht eintraf. Caillen kannte den Boten, der ihrem Vater lange Jahre gedient hatte. Die Tränen in seinen Augen verrieten ihr, noch ehe er die rechten Worte fand, daß Dom Aldric von ihnen gegangen war.

»Er ist von seinem Pferd gestürzt, Caillen – Verzeihen Sie, ich muß jetzt wohl Domna sagen. Aber seine Zeit war gekommen, sonst hätte er sich sicher im Sattel seines alten Groby gehalten. Wir nehmen an, daß es ein Schlaganfall war. Jedenfalls starb er schnell und schmerzlos.«

»Dafür sei Avarra gedankt«, flüsterte Caillen. Aber selbst jetzt, da der Schmerz sie überwältigte und jede andere Regung zu ersticken drohte, verspürte sie auch so etwas wie Zorn. Wie konnte ihr Vater sie nur so völlig im Stich lassen? Zuerst zwang er ihr diese verhaßte Heirat auf – und dann stahl er sich aus dem Leben, bevor sie ihn zur Rechenschaft ziehen konnte.

Sie hatte sich zwar einzureden versucht, daß sie dem Elend von Elhalyn entfliehen und ganz allein der Welt trotzen könne, aber jetzt erkannte sie, daß sie insgeheim auf Asturias als Zufluchtsstätte gezählt hatte, so lange ihr Vater noch am Leben war. Und wenn schon nicht für sich, so doch zumindest für ihr Kind.

Jetzt bin ich wirklich ganz allein. Natürlich liebt mich Corys, aber was kann er schon tun? Er ist doch noch ein Kind, gerade erst zwölf, und wird noch jahrelang unter Vormundschaft stehen. Sie hoffte inständig, daß ihr Vater nicht Raul, sondern jemand anderen zum Vormund bestellt hatte; sonst würde auch das Haus, in dem sie als Kind glücklich gewesen war, zu Grunde gerichtet.

»Ich muß meinem Bruder zur Seite stehen«, erklärte sie entschieden, und unter diesen Umständen fand selbst Raul keinen Grund, der sie davon abhalten konnte.

Corys empfing sie im Burghof von Asturias. Das letzte Mal hatte sie ihn anläßlich ihrer Vermählung gesehen. Er war groß geworden. Die verflossene Zeit, der jüngste Schmerz, die neue Verantwortung – all das ließ ihn um so vieles erwachsener erscheinen. »Ich habe deine Ankunft gespürt, Schwester.« Er umarmte sie. »Könnte das schon mein Laran sein, oder habe ich dich einfach nur so sehr herbeigesehnt?«

Sie begaben sich in die Hauskapelle und unterhielten sich über alles, was ihnen in den Sinn kam. »Du erwartest also ein Kind? So schnell geht das! In diesem einen Jahr sterben dein Schwiegervater und unser Vater – ich werde Aldric immer als meinen wirklichen Vater in Erinnerung behalten – und jetzt kommt eine neue Generation. Sag mir, Caillen, bist du in Elhalyn glücklich? Nein, warte, du brauchst nicht zu antworten. Die Frage war töricht. Wie könntest du jetzt von Glück sprechen?«

Nach langem Schweigen fragte sie endlich: »Sollen wir Vater nach Hali bringen?«

»Nein, er wollte in seinem eigenen Grund und Boden bestattet werden.«

»Darüber hat er mit dir gesprochen?«

»Ja. Nachdem Geom gestorben und du davongegangen warst, hat sich unser Vater auf seinen eigenen Abschied vorbereitet. Er hat mich gebeten, seinen letzten Willen niederzuschreiben. Wir werden nachher in sein Zimmer gehen, dann zeige ich dir sein Vermächtnis.«

Nachdem sie sich von der Reise ausgeruht hatte, schlenderte sie durch die Burganlagen. Es zog sie zu den Stallungen, wo sie Groby tätschelte, der seinen Kopf traurig hängen ließ. Während Corys älter und stärker wirkte, schien das Pferd ihres Vaters älter und schwächer geworden zu sein. »Du kannst doch nichts dafür, mein alter Freund. Wenn er schon sterben mußte, so hätte er sich keinen schöneren Tod wünschen können.«

Sie kam nicht zur Ruhe, und selbst das winzige Leben, das sie austrug, schien von dieser Unruhe erfaßt zu sein. Für ihren Bruder, für die Dienerschaft, ja sogar für das Pferd ihres Vaters war die Trauer um Dom Aldric eine klare, unzweideutige Angelegenheit.

Sie hatten einen geliebten Freund verloren.

In ihre eigene Trauer mischten sich Zweifel und Zorn, die mit seinem Tod nicht erstarben. Hatte er sie geliebt oder nicht? Würde er sie, wäre er noch am Leben, in seinem Heim aufnehmen und beschützen, oder wäre ihm der Stolz der Di Asturiens wichtiger als ihr gegenwärtiges Unglück? Sie würde es nie erfahren.

Was immer auch geschehen mochte, die Heimkehr nach Asturias war ihr jetzt für immer verwehrt. Sie wollte allein sein, wollte allein die Plätze aufsuchen, die ihr einst so viel bedeutet hatte, aber wo immer sie sich zeigte, kamen Männer, Frauen und Kinder aus dem Gefolge ihres Vaters auf sie zu, um ihr Beileid auszusprechen.

Beständig wurde sie daran erinnert, daß sich alles verändert hatte.

Mit sicherem Blick für die Veränderung bei einer anderen, oder mit etwas mehr als nur gewöhnlicher weiblicher Intuition, entging es einigen der Frauen nicht, daß Caillen in anderen Umständen war, und so überbrachten sie neben den Kondolenz- auch Glückwünsche für das bevorstehende freudige Ereignis.

Würde sie je wieder Freude empfinden können?

Nach dem Abendessen ging Caillen in das Zimmer ihres Vaters und lief ziellos auf und ab. Immer wieder nahm sie die verschiedensten Erinnerungsstücke in die Hand: die ledergebundenen Zuchtbücher, die über zehn Generationen zurückreichten, den schweren Siegelring, den Humpen, aus dem er immer getrunken hatte. Nach einiger Zeit kam Corys herein.

»Ich würde gern mit dir Vaters letzte Wünsche durchgehen. Er hat seinen Dienern einiges hinterlassen, was wir morgen verteilen sollten. Seinen Verwalter Varzil hat er zum Ratgeber und inoffiziellen Vormund für mich bestimmt. Ballart von Dalereuth wird der offizielle Regent und Aufseher sein, bis ich fünfzehn bin.

Gegen eine solche Regelung wird der Comyn-Rat nichts einzuwenden haben.«

»Ich könnte mir keine bessere Lösung vorstellen«, entgegnete Caillen. In ihre Erleichterung mischte sich der alte Groll. Hätte er nicht ebenso umsichtig an das Wohlergehen seiner Tochter denken können?

Corys fuhr fort. »Varzil soll das Häuschen am Craghorn nebst Land bis hinunter zum Fluß erhalten, sobald ich volljährig bin.«

»Varzil hat ihm immer treu gedient. Ich bin froh, daß Vater so großzügig war.«

»Der Stallmeister bekommt drei Stuten, die er vom besten Hengst decken lassen kann. Und die Haushälterin erhält eine Pension, wenn sie sich zur Ruhe setzt, eventuell auch schon früher, falls ich heiraten sollte und meine Braut eine neue Haushälterin wünscht.«

Dann führte er noch verschiedene andere Bestimmungen auf.

»Schließlich hat er dir noch einige Sachen hinterlassen.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen, Corys. Ich habe doch bereits meine Mitgift erhalten.«

»Das mag schon sein, aber es gibt da noch ein paar Dinge, die Vater für dich bestimmt hat. Zunächst einmal sollst du den Schmuck unserer Mutter haben.«

»Das kann ich nicht annehmen. Ich habe doch schon den Schmuck von Rauls Mutter. Alicias Schmuck gehört deiner zukünftigen Frau.«

»Mach dir darüber keine Sorgen. Wenn ich heirate, wird neues Geschmeide angefertigt werden, so daß meine Frau keine Schande erdulden muß. Vater hat dafür extra eine Summe bereitgestellt.