Das Buch

Marion Zimmer Bradleys Darkover, die Welt unter den fünf Monden und der blutigen Sonne, ist längst zu einem Klassiker der Science Fiction- und Fantasy-Literatur geworden.

Während der ersten Kolonisationswelle des Universums durch die Terraner mußte ein Schiff auf einem unbekannten Planeten notlanden. Die Besatzung überlebte – und ihre Nachfahren entwickelten über Jahrhunderte, in denen sie vollkommen vom Rest des Universums abgeschnitten waren, eine sehr komplexe, mittelalterlich-feudalistische Kultur.

Beherrscht wird Darkover von den Comyn, aristokratischen Telepatenfamilien, die ihre besonderen Fähigkeiten, das Laran, zum Wohl des Volkes, aber auch als Waffe gegeneinander einsetzen. Entstanden sind diese geheimnisvollen Kräfte durch Vermischung mit dem geheimnisvollen Volk der Chieri, das versteckt in den Wäldern des Planeten lebt.

Nach Jahrhunderten der Isolation wird Darkover durch die Terraner wiederentdeckt – der Kampf um Aufgeschlossenheit gegenüber »der Welt da draußen«, aber auch der unbändige Wunsch nach Weiterbestehen der alten Traditionen und Lebensweisen beginnt.

Marion Zimmer Bradley selbst schrieb sechzehn Darkover-Romane und gab außerdem eine Reihe Anthologien mit den besten Fangeschichten heraus. So entdeckte sie inzwischen bekannte SF/Fantasy-Autorinnen wie Deborah Wheeler, Diana L. Paxson, Mercedes Lackey und Elisabeth Waters.

Die Herausgeberin

Marion Zimmer Bradley, geboren 1930, entdeckte ihre Liebe zur Science-Fiction und Fantasy-Literatur bereits im Alter von 16 Jahren. Ihre erste eigene Story erschien 1953 im »Vortext« SF-Magazin. Schon ihr erster Kurzroman, »Bird of Prey«

(1957), wurde ein Erfolg und legte den Grundstein für den großangelegten Zyklus um Darkover, den Planet der blutroten Sonne, mit dem sie – lange vor »Die Nebel von Avalon« – Weltruhm erreichte.

Im Wilhelm Heyne Verlag erschienen bereits ihre folgenden Romane: »Der Bronzedrache« (01/6359), »Schloß des Schreckens« (01/7712), »Trommeln in der Dämmerung« (01/9786), »Die Teufelsanbeter« (01/9962) und »Die Zauberin von Ruwenda« (01/9698). Weitere Titel sind in Vorbereitung.

MARION ZIMMER BRADLEY

und »The Friends of Darkover«

DIE TÄNZERIN

VON DARKOVER

Geschichten

Aus dem Amerikanischen

von Ronald Böhme

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

HEYNE ALLGEMEINE REIHE

Nr. 01/10389

Titel der Originalausgabe

LERONI OF DARKOVER

Umwelthinweis:

Dieses Buch wurde auf

chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Copyright 1991 by Marion Zimmer Bradley

Published in agreement with the author c/o

BAROR INTERNATIONAL, INC.

Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997

Umschlagillustration: Richard Hescox/Agentur Schlück Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck und Bindung: Ebner Ulm

ISBN 3-453-13163-0

Inhalt

VORWORT

von Marion Zimmer Bradley

LYNN MICHELS

Ein Anfang

JANET RHODES

Reifung

DIANA GILL

Auf den Schwingen der Freundschaft

DEBORAH J. MAYS

Rebellen

DIANA PERRY & VERA NAZARIAN

Die Tänzerin von Darkover

JACQUIE GROOM

Auf eigenen Füßen

LAWRENCE SCHIMEL

Der Sohn der Amazone

PATRICIA CIRONE

Die Gabe

MARY K. FREY

Die Gunst der Götter

MARGARET CARTER

Das Flüstern der Dinge

CHEL AVERY

Das Vermächtnis

AIMEE KRATTS

Die Hexe aus den Kilghard-Bergen

LYNNE ARMSTRONG-JONES

Garrens Gabe

JOAN MARIE VERBA

Der entfesselte Sturm

PATRICIA DUFFY NOVAK

Der Friede des Bewahrers

ROXANA PIERSON

Ungeziefer

DIANN PARTRIDGE

Kinderstreiche

JANNI LEE SIMNER

Gleich in Leben und Tod

DOROTHY J. HEYDT

Avarras Kinder

PRISCILLA W. ARMSTRONG

Der Turm

LANA YOUNG

Heimkehr

ELISABETH WATERS

Stumme Freunde

VORWORT

VON MARION ZIMMER BRADLEY

Alle Jahre wieder stellt sich mir die gleiche Frage: Was schreibe ich als Vorwort zu der neuen Anthologie?

Ich könnte meine Leserinnen und Leser natürlich immer auf einen kurzen Streifzug durch den Stapel nicht ernst zu nehmender Zuschriften mitnehmen – da gibt es immer etwas zu lachen, denn in meinem Briefkasten landet eine Menge äußerst merkwürdiger Sachen. Da gibt es zum Beispiel die vielen Briefe von (sich) vielversprechenden Schauspielerinnen, die glauben, ich hätte irgend etwas mit der Rollenvergabe für die Verfilmung von Die Nebel von Avalon zu tun, und die natürlich felsenfest davon überzeugt sind, daß sie die Idealbesetzung für Morgaine seien. Selbst wenn das der Fall wäre, habe das nicht ich zu entscheiden; sie müßten sich schon an Mr. Coburn wenden. Dann gibt es die Feministinnen, die nicht glauben können, daß ich diesen »feministischen Klassiker« (diese Bezeichnung stammt nicht von mir, ich zitiere nur!) ausgerechnet einem Mann anvertraut habe. Es folgen die Heerscharen von Musikern, die unbedingt die Filmmusik schreiben wollen, insbesondere die feministischen Musikerinnen, die sich natürlich besonders dazu berufen fühlen. Ganz zu schweigen von den Zeitgenossen, die dies oder das oder irgendwas von mir möchten, weil sie glauben, oder zu glauben meinen, oder mich glauben machen möchten, daß sie eine Reinkarnation von Morgaine le Fay seien. Wie schön für sie, aber was habe ich damit zu tun? Wenn die Leute nur vernünftig wären, blieben mir solche Briefe erspart. Aber das ist wohl zuviel verlangt …

Glücklicherweise habe ich von Anfang an klar gemacht, daß Darkover eine komplett fiktive Welt ist. Trotzdem werde ich immer wieder – meist von jemand verklärten und übergewichtigen gefragt:

»Mrs. Bradley, wie viel von Ihren Texten wurde Ihnen telepathisch eingegeben?« So etwas verschlägt mir regelmäßig vor Zorn die Sprache. Warum glauben diese Leute, ich sei nicht fähig, mir das alles selber auszudenken? Das erinnert mich irgendwie immer an diejenigen, die noch immer meinen, der verstorbene H. P. Lovecraft sei ein großer Anhänger des Okkultismus gewesen, und nicht der überzeugte Humanist und Rationalist, der er wirklich war. Ich kann die Artikel in Fan-Magazinen schon nicht mehr zählen, die belegen wollen, seine Einstellung sei nur vorgetäuscht, um seine Leserschaft vor dem Teufel zu beschützen; schließlich hätte er ja das alles nicht bloß erfinden können …

Wer so argumentiert, hat keine Ahnung von Literatur. Wie jeder Schriftsteller weiß, besitzt jede imaginäre Welt oder Weltensicht eine eigene Realität, mit der ihr Autor auf eigene Gefahr spielt. So gibt es für mich gewisse Dinge, die ich über Darkover nicht schreiben möchte – jedenfalls nicht, ohne dabei meine intellektuelle Integrität zu verlieren.

Als Beispiel dazu fällt mir ein Kostümball ein, auf dem ich einmal zu Gast war, und bei dem hauptsächlich leichtgeschürzte

»Amazonen« herumhüpften. Ich schrieb damals gerade an Die zerbrochene Kette und erklärte daraufhin Don Wollheim (ganz entgegen meiner sonstigen Angewohnheit, alle Fragen der Umschlagsgestaltung den Graphikern zu überlassen): »Don, wenn du es wagen solltest, eine nackte Amazone aufs Titelbild zu zaubern, dann kannst du getrost vergessen, mich je gekannt zu haben, dann war dies das letzte Buch, das ich für dich geschrieben habe.«

Als ich dieses Ultimatum stellte, konnte ich allerdings auch schon dreißig gutgehende Bücher vorweisen. Jemandem, der seinen Erstlingsroman gedruckt sehen will, würde ich selbst heute davon abraten, obwohl Autoren heute im allgemeinen besser behandelt werden als zu der Zeit, da ich mit dem Schreiben anfing.

Heutzutage kann eine Autorin sich sogar als Feministin bezeichnen und trotzdem verlegt werden.

Und das bringt mich auf einen der erstaunlichsten Umstände in der Karriere der MZB als Schriftstellerin. Bei einer Signierstunde teilte ich mir mit einer anderen Autorin einen Tisch, und um ins Gespräch zu kommen, erkundigte ich mich, wer ihr Verleger sei. Sie erklärte mir, sie bringe ihre Arbeiten im Selbstverlag heraus. Ich habe mich wohl nicht sonderlich beeindruckt gezeigt, denn sie schob trotzig nach, daß »doch jeder weiß, daß bei Science Fiction Frauen keine Chance bekommen.« Da klappte mir erst einmal der Unterkiefer runter. Als ich mich davon erholt hatte, verwies ich sie auf meine mehr als dreißig SF-Romane und fragte sie, wie ich wohl ihrer Meinung nach einen Verleger gefunden hätte. Da klärte sie mich mitleidig auf: »Ach, Marion, es weiß doch jeder, daß du dich schon vor Jahren ans männliche Establishment verkauft hast.«

Das war, gelinde gesagt, ein Schock und mir völlig neu.

Zugegeben, ich habe den (für Feministinnen) unverzeihlichen Fehler begangen, anzunehmen, der Herausgeber, und sei es auch ein Mann, würde schon wissen, was er drucken wolle. Aber jetzt, da ich selber Herausgeberin bin, nehme ich das gleiche Vorrecht für mich in Anspruch!

Daher werden sie in den vorliegenden zweiundzwanzig Geschichten keine einzige feministische Tirade finden. Falls Sie danach suchen, muß ich Sie enttäuschen. Ich bin vielleicht schrecklich altmodisch, aber ich finde, wer politisch etwas aussagen will, soll doch lieber Flugblätter verteilen oder an der Ecke des Hyde Park auf ein Podest steigen. Dort kann jeder seine Volksreden schwingen und die größten Ungereimtheiten verkünden –angefangen von Kontakten mit Außerirdischen bis hin zu einer Liebesgeschichte zwischen einer freien Amazone und (Hilfe!) Dyan Ardais …

Aber diese Seiten sind mir dafür zu schade. Tut mir leid.

LYNN MICHALS

Ein Anfang

Wonach ich beständig Ausschau halte, sind jene »Zwischenakte«, die sich außerhalb der offiziellen Geschichtsschreibung von Darkover zutragen. Die folgende Geschichte handelt von der Gründung des Comyn-Rates, zu einer Zeit, da Darkover sich daran machte, aus dem tiefen Schatten seiner dunkelsten Vergangenheit hervorzutreten.

Lynn Michals ist sechsundzwanzig Jahre alt und lebt in Baltimore. Sie wuchs in der »seltsamen Welt katholischer Schulen von New Orleans« auf; derzeit arbeitet sie an einer Dissertation im Fach Englische Literatur und studiert und lehrt gleichzeitig an der John-Hopkins-Universität.

Lynn half bei den Ausgrabungen einer walisischen Burg mit, bei denen sie unter anderem »mittelalterliche Hammelknochen ausbuddelte, die irgend jemand vor sechshundert Jahren aus dem Küchenfenster geschmissen hatte; und im Burggraben, den die Burgbewohner der späten Tudorzeit offenbar in einen Weinkeller umgewandelt hatten, fanden sich Scherben getönten Glases.« Einen weiteren Sommer verbrachte sie auf den Friedhöfen New Orleans, wo ihre Arbeit für eine historische Gesellschaft in dem Versuch bestand, die Namen und Daten auf den zerbröckelnden Grabsteinen zu entziffern, ehe sie gänzlich unlesbar wurden. Sie meint, sie hätten alle ihr bestes getan, bezweifelt aber nach wie vor, daß die Stadt eine allzu klare Vorstellung davon habe, wer da wo begraben liege.

Jedenfalls ist es wesentlich einfacher, die Geschichte einer rein imaginären Gesellschaft – wie in der folgenden Erzählung – aufzuzeichnen.

Gregori Alton stand einen Augenblick lang inmitten des Straßenlärms, starrte einen Regenbogen am Himmel an und träumte vom Frieden. Dann schüttelte er diese Träume ab, um einen klaren Kopf zu bekommen, folgte seinem Friedsmann in das verräucherte und überfüllte Stadthaus und machte sich an sein Tagesgeschäft.

»Bei Zandrus eisigem Schwanze, wo kommen die denn alle her?«

fragte ihn Donal, der verblüfft sah, wie sich nahezu der gesamte, weitverzweigte Alton-Clan mitsamt seinem Gefolge auf dem kalten Boden hingefletzt hatte.

»Hauptsächlich aus den Kilghard-Bergen«, antwortete Gregori matt. »Die Lords aus den Bergen sind derart verarmt, daß sie sich kein anderes Quartier leisten können; ein Monat Aufenthalt in Thendara würde ihre Pachteinnahmen eines ganzes Jahres verschlingen. Trotzdem wollte ich sie dabei haben, damit sie selber sehen, worum es sich bei Lord Hasturs neuem Rat eigentlich handelt.«

»Na, mir scheint, sie sind schon dahinter gekommen – Hastur gibt ihnen eine kleine Kostprobe des Großstadtlebens«, sagte Donal und grinste beim Anblick des Haufens betrunkener Adliger. Die meisten von ihnen machten den Eindruck, als ob sie die Nacht mit einem Streifzug durch die Gossen Thendaras verbracht hätten, bevor sie zurückgekrochen kamen, um auf dem Boden zwischen ihren exquisit gezüchteten Hunden zusammenzusacken.

»Sei nicht so zynisch«, wies ihn Gregori zurecht. »Schließlich ist es erst das zweite Jahr, in dem wir versuchen, solch eine Ratsversammlung abzuhalten. Sie werden sich schon noch daran gewöhnen. Jetzt laß sie uns erst einmal aufwecken.«

Gregori und sein Friedsmann wateten durch die versammelten Lordschaften der Alton-Domäne, riefen hier, rüttelten dort und schütteten auch schon mal einen Eimer kalten Wassers über ihre Häupter. Gregori, rothaarig und von den Narben vieler Schlachten gezeichnet, war die ganze Sache gründlich leid. Die letzten anderthalb Jahre hatte er damit zugebracht, eine Blutfehde gegen die Ardais auszutragen und gleichzeitig die plündernden Aldarans abzuwehren. Die Last der Verantwortung für seine umkämpfte Domäne, die er bereits in jungen Jahren übernehmen mußte, hatte ihn vorzeitig altern lassen. An seiner Seite wirkte Donal mit seinen großen, grauen Augen und dem herzförmigen Gesicht geradezu knabenhaft, zierlich und unschuldig, er schien keine nennenswerte Vergangenheit zu haben auch wenn Donal sich vor seinem Zusammentreffen mit Gregori tatsächlich schon als Dieb, Spion, Lustknabe und Attentäter betätigt hatte.

Herren wie Hunde brummten und knurrten, pinkelten in die Feuerstelle und verlangten nach ihrem Frühstück. Nachdem sie mit Bier, kaltem Braten und Brot versorgt worden waren, hieb Gregori mit dem Knauf seines Messers auf den langen Tisch und forderte Ruhe.

»Ehe wir uns mit den anderen Domänen treffen, müssen wir zunächst einmal über die Ausbesserung der Großen Straße sprechen«, gab er bekannt. »Ihr werdet sicherlich alle bemerkt haben, daß sie zwischen Syrtis und den Hellers kaum mehr als ein Trampelpfad ist – und es liegt in unserer Verantwortung, diesen Abschnitt instandzuhalten.«

»Was soll an einem Trampelpfad verkehrt sein?« rief der alte Dom Istven. »Das war schon immer ein Trampelpfad, mein ganzes Leben lang, und auch schon zu den Zeiten meines seligen Vater. Sag uns lieber, Bursche, wann du endlich heiraten wirst.«

»Jawohl! Ein Nedestro-Töchterchen hast du Aillard ja schon beschert, aber wann kriegen wir einen richtigen Erben?« grölte ein anderer und griff damit das bevorzugte Klatschthema der Domäne wieder auf. »Ein Friedsmann mag schön und gut sein, um dir das Feldbett anzuwärmen, aber einen Sohn kann er uns trotz seines süßen Gesichts auch nicht geben, oder?«

»Ruhe!« brüllte Gregori, aber inzwischen krakelten die Lords der Berge alle gleichzeitig durcheinander, schrien ihn und sich gegenseitig an.

»Ruhe!« wiederholte Gregori, doch diesmal nutzte er die Alton-Gabe des erzwungenen Rapports. Im Nu herrschte Totenstille.

»Zum ersten: Sprecht ehrerbietig von meinem Eidgenossen, oder ich werde euch Respekt lehren. Zum zweiten: Lord Hastur hat für mich eine Heirat mit Ardais arrangiert – es ist alles in unserem Waffenstillstand festgelegt«, erklärte er wohl zum hundertstenmal.

»Das haben wir doch alles schon gestern besprochen.«

An irgend einer Ecke kläfften ein paar Hunde; mehrere Lords fingen ein Würfelspiel an und soffen sich zurück unter den Tisch; und zwischen zwei anderen kam es zu Handgreiflichkeiten, als man die Frage erörterte, wer es denn nun versäumt hatte, einen verfallenen Unterstand auf halbem Wege zwischen ihren Ländereien zu reparieren. Kurz und gut: es war eine ganz gewöhnliche morgendliche Ratssitzung in Thendara im sechsten Jahr der Regentschaft Marius Hasturs, dem Lord der Sieben Domänen.

In der ganzen Stadt hatten sich die Comyn pflichtschuldig versammelt, um ihre Differenzen in geordneter Form auszutragen, so wie es Marius befohlen hatte. Aber keiner von ihnen hatten auch nur die geringste Ahnung, wie dies zu bewerkstelligen sei. Es war doch einfach wider die Natur, sich in einem großen Raum zusammenzusetzen und Kompromisse auszuhandeln – besonders wider die Natur eines Haufen von Kleindiktatoren.

Die grundgütigen Götter mögen sich unserer heute abend erbarmen, wenn alle sieben Domänen zusammenkommen, dachte Donal, während er Gregori gegen einen daherfliegenden Humpen abschirmte und beobachtete, wie ein gereizter Ausbruch an PSI-Energie sich in einem Funkenregen über ihren Köpfen entlud. Da geht es doch in einer Räuberhöhle gesitteter zu!

In der Abenddämmerung ritten Donal und Gregori langsam zur Comyn-Burg zurück, eskortiert von vier Wachen, die Bettler, Trödler und ehrbare Bürger anbrüllten, den Weg für den Lord von Armida freizugeben.

»Du hättest ihnen heute morgen wegen mir nicht gleich so an die Kehle zu springen brauchen«, sagte Donal gelassen. »Mir ist schon weitaus weniger Schmeichelhaftes zu Ohren gekommen als ›süß‹

genannt zu werden.«

»Sei nicht töricht, bredu. Meine versoffene Verwandtschaft wird sich damit begnügen müssen, die üblichen Zoten über meine Hochzeit zu reißen; aber was zwischen uns beiden ist, geht sie nichts an«, entgegnete Gregori – und duckte sich mit dem sicheren Instinkt des erfahrenen Kriegers just in dem Moment nach vorne, als ein zerzauster, drahtiger und mit einem Messer bewaffneter Kerl sich von einem Balkon auf ihn herabstürzte und kurz hinter seinem Sattel aufkam.

Die Klinge schürfte lediglich Gregoris Schulter anstatt seine Lungen zu durchbohren; und mit der ihm eigenen tödlichen Anmut fiel Donal über den Angreifer her. Im Handumdrehen war alles vorbei.

Eine häßlich klaffende Wunde durchzog Donals dunkelrotes Haar und seine Stirn, aber es war das Blut des Fremden, das sein Gewand tränkte. Gregori beugte sich über den Sterbenden und drang zum Wohl seiner Domäne rücksichtslos in dessen Gedankenwelt ein.

Wenig später brach er den Kontakt ab und stöhnte, von Schmerzen gepeinigt, auf. Er hatte alles, was er zu wissen brauchte, gefunden –und noch weit mehr als ihn zu wissen verlangte. Der Lord von Armida kauerte im Rinnstein und hielt einen sterbenden Hirten aus den Hellers in seinen Armen; ihnen gemeinsam waren die Tränen um die niedergebrannte Hütte, um die geschändete und ermordete Frau und um die zwei Söhne, die in der Fehde zwischen Ardais und Alton dahingerafft worden waren.

Donal fühlte, was Gregori fühlte, und konnte doch nichts tun, um ihm zu helfen. Ihm blieb nur, mit kalten und zornigen Worten den Straßenmob von Thendara zu verfluchen, der sich versammelt hatte, um ihn, den Blutenden, und Gregori, den Weinenden, begierig zu beäugen. Rasch zerstreute sich die Menge, die entsetzt war, solche Worte aus dem Mund eines Edelmannes zu hören.

In den Hastur-Gemächern der Comyn-Burg fragten sich die Oberhäupter der sechs anderen Domänen gerade, wo Gregori bliebe, als dieser eintrat, sein Wams blutdurchtränkt, den Arm um seinen verletzten Vasallen gelegt und begleitet von zwei Wachen, die einen Leichnam trugen.

»Davon ist mir nichts bekannt«, sagte Lord Ardais kalt, als sich alle Augen auf ihn richteten. Julian Ardais war ein dunkelhaariger Edelmann mittleren Alters; ihm war der starre Blick eines Mannes zu eigen, der viele Winter einsam in den Hellers zugebracht hatte, in denen nur der Wind seinen Namen gerufen hatte. »Nur zu, prüft mich, wenn Ihr es wünscht«, forderte er und senkte seine Barrieren.

Er hielt sich steif aufrecht, während Marius Hastur seine Gedanken durchforstete. Schließlich war es der Hastur, der zurückschreckte und sich abwandte – immerhin war er ein Ehrenmann, und einige der Erinnerungen, die er in Dom Julians Geist fand, konnte er nicht ertragen.

»Von jenem Angriff hatte er keine Kenntnis, Lord Alton. Auf mein Ehrenwort«, erklärte Marius schließlich.

»Damit ist dieses Blut reingewaschen – und der Frieden bleibt unbefleckt und unangetastet«, erwiderte Gregori formell, womit er all seine Gefolgsleute darauf verpflichtete, der Rache abzuschwören und den Frieden einzuhalten. »Doch nun entschuldigt mich, mein Friedsmann ist verletzt. Ich werde in Kürze zurückkehren, um die Verhandlungen über den Ehevertrag wieder aufzunehmen.«

Eine Leronis schloß sich Gregori und Donal in den Alton-Gemächern an und heilte Donals Wunden im Handumdrehen.

»So, damit wären wir mal wieder so gut wie neu geboren«, sagte Gregori verbittert, als er in die frische Kleidung schlüpfte, die sein Leibdiener ihm gebracht hatte. »Und jener arme, alte Tropf hängt auf dem Marktplatz am Galgen, als Warnung für andere Verzweifelte, die durch unsere Kriege zugrunde gerichtet werden!«

»Also, Greg, du bist der einzige, den ich kenne, der sich schuldig fühlt, einen Mordanschlag überlebt zu haben«, bemerkte Donal, während er den Kragen seines Kasacks zuband. »Der Alte hat gekriegt, was er verdient hat.«

»Die Comyn haben seine Familie gequält und gemetzelt, haben ihn in den Wahnsinn getrieben und schließlich umgebracht. Herr des Lichts! Diese Ratsversammlungen müssen einfach gelingen.

Sonst bluten wir unsere Leute mit all unseren Fehden noch gänzlich aus!« Eine verzweifelte Hoffnung glomm in seinen Augen. »Wir müssen einen neuen Weg beschreiten!«

Eher geht ein Chervine durch ein Nadelöhr, als daß sich unsere Comyn zusammensetzen und ihre lächerlichen Zwistigkeiten ohne Mord und Totschlag auseinanderdividieren, dachte Donal, aber das behielt er für sich. Wenn es Gregori Alton glücklich machte, an ein neues, strahlenderes Zeitalter des Friedens zu glauben, dann wollte Donal Hodge seiner zynischen Natur zum Trotz sein Möglichstes tun, um auf Sanftmut und Güte zu vertrauen. In den hoffnungslos hoffnungsvollen Gedanken Gregoris sah Donal bereits den zänkischen und blutrünstigen Mob der Comyn-Horde in Thendara versammelt, um mit einem Male das gemeinsame Wohlergehen zu entdecken – und damit einen Lichtschein, der die blutige Finsternis ihrer Kriege durchbricht.

»Ich werde besser wieder zu den anderen zurückkehren«, seufzte Gregori und schob seine Friedensträume beiseite. »Diesen triefäugigen Schlächter als Schwiegervater zu haben, ist es wohl wert, falls damit die alte Fehde wirklich beendet werden könnte.

Ruh’ dich nun aus, Donal, wie die Heilerin dir geraten hat. Bleib nicht auf – keiner weiß, wie spät es werden wird.«

»Du wirst ohne mich keinen Schritt da draußen machen, Greg«, sagte Donal und legte sein Schwert an. »Meinetwegen heirate Dom Julians Tochter, wenn dir danach der Sinn steht, aber ich werde dich keinesfalls allein mit diesem Mann in einem Raum lassen.«

»Ich hab’ ein Dutzend Leibwächter, die sich um mich kümmern«, widersprach Gregori. »Leg dich endlich hin.«

Aber die oberste Pflicht eines Friedsmannes besteht darin, seinen Herrn zu beschützen, und nicht, ihm zu gehorchen; und Donal war ein vorzüglicher Friedsmann!

»Dann mache mir aber bitte keine Vorwürfe, wenn die Beratungen die ganzen Nacht hindurch andauern«, gab Gregori schnippisch zurück, als sie gemeinsam zu den Hastur-Gemächern hochgingen.

»Inzwischen werden sie schon wieder beim Zechen sein, und die Ridenows kennen kein Halten mehr, sobald sie erst einmal ihre Kehlen angefeuchtet haben.«

Das Treffen dauerte in der Tat die ganze Nacht. Ein Dutzend hochrangiger Adliger aus jeder Domäne hatte sich im Audienzzimmer der Hastur-Gemächer zusammengedrängt, das zu diesem Anlaß mit zahlreichen zusätzlichen Stühlen vollgestopft worden war; einige von ihnen hatten ihre Hunde und Pfeifen mitgebracht, und alle taten sich ausgiebig am Wein des Gastgebers gütlich, so wie es nun einmal von adligen Gästen erwartet wurde.

Gregoris Anhänger versuchten auf der Stelle wütend, Lord Ardais herauszufordern, sobald sie von dem jüngsten Anschlag auf Gregoris Leben erfuhren. Zwischen Serrais und Valeron brach eine geringfügige Grenzzwistigkeit aus, die durch eine Wette bei einem Hundekampf beigelegt wurde. Und wiederum hatten sich alle um den Verstand getrunken und ihre Kehlen heißer geschrien, bevor man sich aus purer Erschöpfung auf die angebahnte Heirat zwischen Ardais und Alton einigte.

Bei Morgengrauen stand Gregori zusammen mit Dom Marius und Lady Arliss, der Mutter der Aillard-Domäne, und überblickte benommen das verräucherte Chaos des Audienzzimmers. Nahe der Feuerstelle schnarchte einer der weniger bedeutenden Edlen des di Asturien-Clans und bettete dabei sein Haupt auf seinen zotteligen Hund.

»Die Heilige Cassilda möge uns beistehen; welch ein Fiasko!«

sagte Marius sanft. »Und ich hatte mir von dieser Ratsversammlung so viel versprochen.«

»Nun ja, so schlimm war es ja nun auch wieder nicht, Dom Marius«, sagte Arliss, doch ihre Fröhlichkeit wirkte gezwungen.

»Schließlich haben wir einige Fragen geklärt – und immerhin wurde niemand umgebracht.«

»Ich habe darüber nachgedacht, für unser Zusammentreffen im nächsten Winter eine neue Räumlichkeit zu schaffen, größer und geräumiger, wo jeder einen Sitzplatz finden wird. Aber es scheint kaum der Mühe zu lohnen, wenn wir bestenfalls solch ein Chaos zustande bringen«, grübelte Marius.

»Mein Lord, wenn ich etwas dazu sagen darf?« fragte Donal, der wie gewöhnlich aufmerksam und bislang schweigend an Gregoris Seite gestanden hatte.

»Natürlich«, sagte Gregori. »Sprich frei heraus, Donal, so wie es alle anderen auch getan haben.«

»Lord Hastur, errichtet keinen größeren Raum wie diesen, mit Feuerstelle und gepolsterten Sitzen und Tischen, auf denen die Diener den Wein kredenzen«, erklärte Donal mit fester Stimme. »Ihr würdet Euch nur ein noch größeres Durcheinander aufhalsen.

Errichtet statt dessen einen Raum, wie ihn noch niemand zuvor gesehen hat! Gebt ihm den Anschein eines geheiligten Ortes, von Licht und Anmut durchdrungen wie Hali. Das wird eure verrohten Lords lehren sich zu benehmen, zumindest eine Zeit lang. Stattet diesen Raum mit ungemütlichen Bänken aus, die sich aus der vorgegebenen Ordnung nicht verrücken lassen. Und was immer auch geschieht, lassen Sie nicht zu, daß irgend jemand Wein oder Bier, Hunde oder Würfel einführt. Vielleicht gelingt es Ihnen so, Sir, etwas Zucht in den Haufen zu bekommen. Es wäre immerhin ein Anfang!«

»Ich danke euch, Donal. Ich werde eure Vorschläge an meine Leronis weiterleiten. Es ist in der Tat ein neuartiger Plan«, sagte Dom Marius, der verwundert das arglos schöne Gesicht des doch so durchtriebenen Friedmanns von Gregori Alton betrachtete und sich fragte, wie er wohl auf diese Idee gekommen war.

Donal verneigte sich schweigend. Er hatte aufs Geratewohl gesprochen und dabei Gregoris unmöglich erscheinende Vision der Sanftmut und der Erleuchtung mit den grundlegenden Regeln des jährlichen Konklaven der Gilde der Diebe von Thendara in Einklang gebracht. Doch keiner der Comyn vermutete, daß ihr geheiligter Versammlungsort einen solchen Ursprung hatte, als sie ein Jahr später zum ersten Mal in die ehrerbietige Stille der Kristallkammer eintraten, um im Herzen des Regenbogens über den Frieden zu beratschlagen …

JANET RHODES

Reifung

Die ungewöhnliche Anwendung von Laran ist ein Thema, das mich bei der Herausgabe einer Anthologie stets interessiert. In Marion Zimmer Bradley’s Fantasy Magazine habe ich einmal eine Erzählung von Jacqueline Lichtenberg über eine Zauberin abgedruckt, deren Gabe unter anderem darin bestand, Brotteig aufgehen zu lassen. Die folgende Erzählung greift diese Form des Laran erneut auf.

Janet Rhodes fing vor rund dreieinhalb Jahren mit dem Schreiben an, und einmal auf den Geschmack gekommen, blieb sie dabei. So ergeht es doch uns allen. Ein Beitrag von ihr erschien in der Anthologie Freie Amazonen von Darkover. Sie arbeitet seit nunmehr 17 Jahren für das Washington State Department of Ecology. Janet schreibt: »Nachdem ich die erste Geschichte verfaßt hatte, fragte ich mich, wie Kirsten ihre Fähigkeit, die Gärungsmittel zu beeinflussen, entdeckte.«

Sie arbeitet derzeit auch an einem Roman und meint hierzu, »der Übergang zur normalen Romanlänge ist schwierig und wird mich noch einige Zeit kosten. Die Geschichte drängt beständig vorwärts, und ich arbeite laufend daran, mache mich mit den Charakteren besser vertraut. Es dürfte kaum überraschen, daß mir die Hauptfiguren mittlerweile ans Herz gewachsen sind. Es macht Spaß, immer mehr über sie zu erfahren.«

Das beschreibt meines Erachtens auch recht gut die Entstehung aller Darkover-Bücher.

Kirstens sonst so helle Haut glühte feuerrot. Ihre Reaktion auf das Geflüster stand ihr deutlich im Gesicht geschrieben. Während sie ihren Schritt beschleunigte und die langen Korridore des Herrenhauses zu den Küchen entlangeilte, vernahm Kirsten, wie das Gekicher von den Stein- und Holzwänden widerhallte.

Schwestern! dachte sie. Wenn sie doch bloß Ruhe geben wollten, bevor sie das ganze Haus aufwecken. Doch die ungebetenen Kommentare schwollen an und verfolgten sie: »Wohin schleichst du dich denn in aller Herrgottsfrühe?« hatte Millea geflüstert, als Kirsten auf möglichst leisen Sohlen an ihrer Tür vorbeiglitt, um nur ja keine der noch Schlafenden zu dieser frühen Stunde aufzuwecken; es würde noch geraume Zeit dauern, bis sich das glutrote Auge der Sonne Darkovers öffnete. Kichernd hatte Anilda hinzugefügt:

»Verwandelst du wieder Brot in Klumpen? Ich bin sicher, das wird ihn gehörig beeindrucken, deinen …« Und dabei hatte sie einen Ausdruck benutzt, der weitaus angemessener für Stallburschen war, er bedeutete Bräutigam, deutete aber doch mehr an, weitaus mehr jedenfalls, als Kirsten sich … gerade heute – vorstellen mochte!

Kirsten war sich bewußt, daß sie ihrem Bräutigam nie eine wahre Comyn-Gattin sein würde; ihr Mangel an Laran hieß, daß die beiden niemals in einer Einheit des Geistes und Körpers miteinander verschmelzen würden, die mit Laran Begabte erfahren durften.

Während sie weitereilte, fragte Kirsten sich, was er wohl davon hielt, mit einer Kopfblinden verheiratet zu werden, mit jemandem, der keine der übersinnlichen Fähigkeiten besaß, die das Geburtsrecht der adligen Familien ausmachten, die die Domänen beherrschten.

Kurze Zeit später, die Glut der Empörung verglomm gerade zu kleinen Rötungen auf ihren Wangen, erreichte Kirsten den Eingang zur Haupthalle. Dann hielt sie abrupt inne, so daß ihr Pantoffel dabei ein wenig verrutschte.

In der großen Halle stand – ER!

Sie hatte Dom Lennart schon zuvor gesehen, doch nie mit dem Comyn-Lord gesprochen, den ihr der Vater zur Heirat bestimmt hatte. Ihre Familien lebten mehrere Tagesritte voneinander entfernt und wohnten folglich nur selten den selben Versammlungen bei.

Außerdem wäre es in den letzten vier Jahren, da Kirsten zur Frau geworden war, für sie unschicklich gewesen, mit einem Mann zu sprechen, der nicht ihr Verwandter war.

Als sie ihn sah, stieg Kirsten von neuem das Blut ins Gesicht, und wiederum fragte sie sich, was er von dieser Heirat mit ihr halten mochte, da doch die Leronis des Turms festgestellt hatten, daß es ihr an Laran mangele. Auch wenn er kein Erstgeborener war, sollte er doch eine bessere Partie machen können …

Während der Puls ihr im Ohr hämmerte, vernahm Kirsten, wie Dom Lennart seinen Gruß an sie richtete. Verwirrt stotterte sie, rang nach Worten und verstummte dann ganz; ein riesiger Kloß formte sich in ihrer Kehle.

»Damisela«, sprach Dom Lennart unbeirrt mit ruhiger Stimme. »Es tut mir leid, Sie erschreckt zu haben.« Lennart nahm seinen Hut ab und hielt ihn in beiden Händen vor sich. »Ich wollte ausreiten«, erklärte er mit einer Handbewegung in Richtung der Ställe, »aber es ist noch zu dunkel.« Er lächelte. »Ich fühlte mich irgendwie … ich bin aufgewacht und …« Lennart zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, daß Sie auch nicht schlafen konnten?«

Kirsten fand ihre Stimme wieder und sprach nun schüchtern, wobei sie unentwegt auf den Boden vor seinen Stiefeln starrte.

»Nein, Dom, ich bin schon auf, um das Brot für unser Mahl zu bereiten.«

Die zwei standen verlegen beisammen. Selbst an einem solch unverfänglichen Ort kam ihr Zusammentreffen ungelegen; es schickte sich nicht, daß die beiden allein zusammen waren. Doch irgendeine Kraft hielt sie dort wie angewurzelt fest. Ein Gedanke nahm in Kirsten Gestalt an: Ihre Basen, Judyth und Kassandra, hatten gesagt, es gäbe Gerüchte, daß Dom Lennart selber nur über wenig Laran verfüge. Falls dem so wäre, könnte er vielleicht doch mit ihr als Frau glücklich werden, auch wenn sie kopfblind war.

Und Kirstens Vater hatte ihr erzählt, daß man Dom Lennart einen kleinen Gutsbesitz in den Bergen versprochen habe. Rockraven war ihres Wissens kein besonders reiches oder fruchtbares Gut, aber es wäre ihr Zuhause, in dem sie ihr gemeinsames Leben gestalten könnten.

Schüchtern wandte Kirsten nun den Kopf ihrem zukünftigen Mann zu, dessen Augen ihren Blick magisch anzogen. Mit einem Male schien der Raum sich um sie herum zu drehen, und Kirsten war gezwungen, die Hand auszustrecken und nach Halt zu suchen.

»Alles in Ordnung?« fragte Lennart, als seine Hand die ihre fest umfing.

»Ja, ja«, sagte sie zögerlich, denn der Boden unter ihren Füßen schien noch immer zu schwanken und zu beben. Was geschieht mit mir? Und warum ausgerechnet heute? Abrupt entzog Kirsten ihre Hand Lennarts Griff und brachte mit eigener Willensanstrengung die Welt um sie herum zum Stillstand. »Ich muß jetzt gehen … in die Küchen«, stammelte sie. Dann drehte sie sich um und ging langsam durch die Halle, mit ausgebreiteten Armen noch immer um ihr Gleichgewicht bemüht. Lennart blickte ihr stirnrunzelnd nach, bis sie in einem Seitengang verschwunden war.

Die zufällige Begegnung mit Dom Lennart hatte Kirstens Befürchtungen nur verstärkt. Warum? Warum heute? jammerte sie vor sich hin, als sie sich den Küchen näherte. Warum muß ausgerechnet ich es sein, die das Brot zubereitet. Ich sollte mich doch viel eher in meinen Gemächern auf die Hochzeitsfeierlichkeiten vorbereiten.

Statt dessen mühe ich mich hier bei dem Versuch ab, anständige Brotlaibe anstelle von steinharten Klumpen zu fabrizieren. Aber Kirsten kannte den Grund. ihre Mutter, Domna Helene, war der festen Überzeugung, daß eine zukünftige Hausherrin in der Lage sein müsse, alle Hausarbeiten ebenso gut wie jede ihrer Dienerinnen zu erledigen. Und solange der Brotteig unter Kirstens Händen ein Eigenleben zu führen schien, sich je nach Gutdünken einmal schlicht weigerte aufzugehen und in all seiner Schwere auf den Brettern kleben blieb, ein anderes mal hingegen übergroß anwuchs und voller Luftlöcher war, solange bestand Domna Helene nun mal auf ihren Backlektionen. Und trotz all ihrer Bemühungen blieb Kirstens Brot auch weiterhin der Willkür der Gärungsmittel unterworfen und reifte nur selten zu einem genießbaren Laib. Kirsten hatte lediglich eines gelernt: Sobald ihre Hände den Teig berührten, konnte sie mit Bestimmtheit voraussagen, ob das Treibmittel diesmal mitspielen würde oder nicht.

Als sie schweren Herzens die Küche betrat, zog sich Kirsten einen Kittel über, um ihre Kleidung bei der Arbeit zu schützen. Sie löffelte zwei Handvoll des Blasen werfenden Treibmittels in den irdenen Topf – und mit einem Male wurde ihr leicht ums Herz. Als sie erkannte, daß das Treibmittel heute keine Steinleiber reifen lassen würde, spürte Kirsten, wie sie eine freudige Erregung durchfuhr.

Mit aufkeimender Hoffnung bedeckte sie den Topf und stellte ihn zurück auf das Regal. Ich habe vielleicht kein Laran, aber ich kann Brot backen und mich um einen Haushalt kümmern, dachte sie.

Dem Sauerteig in der großen Schüssel fügte Kirsten Mehl, gemahlene Nüsse, Süßholzsirup und Gewürze bei und begann, die ganze Masse durchzukneten. Der Teig fühlte sich zunächst noch kühl und matschig an, erlangte aber schon bald eine Konsistenz. Als nächstes stürzte sie ihn auf die große Steinplatte, auf der sich leichter arbeiten ließ; mit vertrauten und entspannten Knetbewegungen walkte sie den Teig, bis sie so eine glatte Pilzform mit winzigen Bläschen an der Oberfläche geformt hatte. Während sie den Teig auf dem Tisch ruhen ließ, reinigte und trocknete Kirsten die Schale, um den Teig dann mit der gerundeten Seite nach oben hineinzulegen. Ehe sie die Küche der Dienerschaft überließ, die mittlerweile eintraf, um das morgendliche Mahl anzurichten, stellte Kirsten die Schüssel sorgsam in eine warme Ecke nahe der Feuerstelle.

Nachdem sie das Frühstück gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern eingenommen hatte, kehrte Kirsten in die Küche zurück. Die Köche und Serviermädchen waren bereits damit beschäftigt, die Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen.

Kirsten versuchte, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, als sie den Raum betrat und zur Feuerstelle hinüberging. Insbesondere wollte sie den scharfen Augen Mariselas entgehen, die das Küchenregiment führte. Kirsten hatte sich mitunter gar gefragt, ob nicht am Ende Marisela ihren Brotteig an jenen Tagen, da er sich unter ihren Händen zu Stein verwandelte, mit einem bösen Blick verhext hatte.

Kirsten verstand einfach nicht, was ihre Brotlaibe wieder und wieder mißlingen ließ. Auch wenn Marisela oder Domna Helene ihr das nicht abnahmen. »Wenn Sie nur etwas mehr bei der Sache wären, Damisela«, hatte Marisela mehr als einmal gesagt. »Wie wollen Sie in Dom Lennarts Haushalt nach dem Rechten sehen, wenn Sie sich noch nicht einmal auf eine derart einfach Aufgabe wie das Brotbacken konzentrieren können?«

Doch Kirsten verspürte auch, wie sich Hoffnung in ihr regte, und besann sich. Sie nahm die Schüssel mit dem Brotteig herunter, stellte sie auf einen Beistelltisch und lüftete das Tuch. Der herrlich warme Geruch von gärendem Sauerteig umfing ihre Nase, und ihre innere Verkrampfung löste sich allmählich.

Sorgfältig überprüfte Kirsten den Teig. Jawohl, er war zu Genüge aufgegangen, vielleicht sogar etwas mehr, als es in den wenigen Stunden zu erwarten gewesen war! Mit gestärktem Selbstvertrauen stellte sie Mehl bereit. Dann preßte sie ihre Faust in die weiche Rundung, die die Schale ausfüllte, und hörte zu ihrer Genugtuung, wie dem Teig daraufhin ein schmatzendes Seufzen entfuhr. Kirsten begann nun erneut zu kneten und fügte immer wieder kleinere Mengen Mehl hinzu. Der Teig, der in der Schüssel wunderbar aufgegangen war, duftete verführerisch, und Kirsten fühlte sich bestärkt. Einen Augenblick lang wagte sie es, sich ein Abendessen mit wohlgeformten Laibern warmen Brots auf den Tabletts vorzustellen. Und wie stolz würde Domna Helene …

Plötzlich wurde Kirsten aus ihren Träumereien gerissen. Mit äußerstem Entsetzen gewahrte sie etwas Lebendiges in ihren Händen. Dies etwas wogte hin und her, dehnte sich aus, quoll über den Rand der irdenen Schale und ergoß sich über den ganzen Tisch.

Kirsten wußte nicht, wie ihr geschah. Sie stürzte gegen die Regalreihen hinter ihr. Die klebrigen Hände verkrampfen sich vor ihrer Brust, während die anschwellende Masse auf den Boden hinabtroff und sich weiter ausbreitete. Grundgütiger Avarra, nein, das darf nicht wahr sein! durchfuhr es sie. Was werden Mutter und Marisela

Doch für solche Gedanken blieb Kirsten keine Zeit mehr. Der Raum begann ihr vor den Augen zu verschwimmen, zunächst langsam, dann schneller und immer schneller, bis sie schließlich gänzlich in Finsternis versank.

Domna Helene, von einer der Aufwartefrauen herbeigerufen, stürmte in die Küche, wo sie Kirsten in sich zusammengesunken und mit Mehl und klebrigem Teig bedeckt auf dem Boden liegen sah. »Was ist hier vorgefallen?« Dann ergriff sie Kirstens Schulter und rüttelte sie sacht. »Kirsten, was ist passiert? Woran hast du in Avarras Namen nur wieder gedacht?« Als Domna Helene keine Antwort erhielt, schnürte die Angst ihr die Kehle zu und erstickte ihre Stimme. »Kirsten, mein Kind, so hör mich doch! Steh auf! Bitte!

Nun mach schon! Kirsten, kannst du mich hören? Was ist mir dir?«

Sie strich Kirsten eine verklebte Haarsträhne aus der Stirn, dann richtete sie sich auf und rieb sich verzweifelt die Augen. Spannung erfüllte den Raum. Helene versuchte diese abzuschütteln und sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren: wie war die Leronis Shoshanna aufzufinden, die ins Dorf hinabgegangen war, um einem kranken Kind beizustehen?

Kirsten hörte ihre Mutter nicht, da sie einsam auf einer weiten, konturlosen Ebene in einer grauen Welt umherwanderte. Sie war verwirrt, und es gab nichts, an dem sie sich orientieren konnte.

Wohin muß ich gehen, fragte sie sich, um nach Hause zu gelangen? Wo bin ich? … Ach! Kirsten schrie auf, während ihr Körper erstarrte; dann sackte sie zusammen.

In der Küche sah Domna Helene, wie Kirstens Körper sich in gewaltigem Kampf aufbäumte und danach erschlaffte. »Avarra steh uns bei!« rief sie aus und griff nach ihr, um das Fieber zu kontrollieren, von dem sie fürchtete, es müsse ihre Tochter verzehren. Kaum hatte Helene ihre Hand auf Kirstens Stirn gelegt, da ließ ein Tumult an der Tür sie auffahren und sich umwenden; Marisela war fest entschlossen, jemanden am Eintritt zu hindern.

»Mestra, was geht hier vor? Ich habe den Schrei gehört! Wie kann ich behilflich sein?«

» Vai Dom. « Helene stürzte zur Tür und stand hinter Marisela. »Ihr kommt leider ungelegen. Wir, wir – «

Die Luft erzitterte um sie herum. Lennart konnte gerade noch rechtzeitig seine Barrieren aufreißen, um die volle Wucht des erwachenden und außer Kontrolle geratenen Larans abzuwehren. Er sah, wie Domna Helene zusammenzuckte und mit schreckensgeweiteten Augen zum anderen Ende des Zimmers herumfuhr. Es war schwer auszumachen, aber Lennart glaubte, die Quelle der übersinnlichen Energie befände sich hinter einem Tisch an eben jenem anderen Ende des Zimmers. Er drängte die beiden Frauen beiseite, der Schreckensschrei, der ihn herbeigerufen hatte, klang noch immer in seinen Gedanken nach. Hinter sich hörte Lennart, wie Domna Helene einen Diener damit beauftragte, eine Leronis herbeizuschaffen. »Und auch etwas Kirian!« rief er über die Schulter nach hinten.

»Ich bin schon unterwegs«, gab Helene zurück.

Ein Seufzen war alles, was Lennart zur Antwort gab, als er neben jenem bleichen Gemenge aus Mehl und Teig stand. Doch dann fuhr er entsetzt zurück, als er erkannte, daß unter all dem Teig Kirsten begraben lag! An ihrer Seite kniend, hielt Lennart wenige Augenblicke später seine Hände zwei Finger breit über ihren Körper und untersuchte sie so vom Scheitel bis zu den Zehen. Er schüttelte den Kopf, blickte dann auf. »Domna, wo bleibt der Kirian?« rief er.

Und flüsterte in Gedanken: Sie ist in einem kritischen Zustand.

Gerechte Götter, laßt das nicht zu!

In der Überwelt trieb Kirsten wie in einem Traum dahin. Es war ungeheuerlich kalt. Sie fühlte sich benommen, und die Farben des Sommers umkreisten, umtosten, umfingen sie. Dann schwand der Sommer, wandelte sich, und Stangen und Steine erwuchsen in einem Feld weißer Blumen. Weiße Blumen? Oder war es Schleim?

Nein, kein Schleim, sondern klebriger Teig! Und auch Kirsten wuchs mit ihm. Mit ihnen? Jawohl, Stäbe und Steine wuchsen im Teig, und wenn sie einen berührte, wuchs er schneller oder langsamer oder verschwand gänzlich. Sie verwandelte es in ein Spiel: berührte sie einen Steinhaufen und befahl ihm »Erstirb!« – so schrumpfte er zusammen; berührte sie daraufhin einen Stab und befahl ihm

»Wachse!« – so sah sie, wie aus ihm ein anderer entstand, und die zwei vier hervorbrachten, und die vier acht. Immer mehr Stäbe und Steine wucherten, bis es ihrer so viele gab, daß sie glaubte, von ihnen erschlagen zu werden …

Unterdessen verbannte Lennart in der Küche des Herrenhauses seine Sorgen in einen entlegenen Winkel seiner Gedanken; sie würden Kirsten nur Schaden zufügen. Er bemerkte ihr Fieber und ihre erzitternden Glieder. Er suchte seine Gedanken zu beruhigen und sie mit seinem Laran zu erreichen, um ihrem Körper etwas Frieden zu schenken. Aber ihre Gedankenwelt, gepeinigt von ihrem erwachenden Laran, war außerhalb seiner Reichweite, und ihr Körper zitterte vor Schmerz.

Als Domna Helene den Kirian brachte, erwies sich dieses als minderwertig. »Er ist ziemlich alt«, sagte Helene mit bedauernder Miene. »Nur Darin hat ihn gebraucht. Außer ihm schien ja keiner die … die Schwellenkrankheit zu haben.« Lennart blickte sie besorgt an und preßte die Lippen zusammen. Sorgsam flößte er Kirsten eine kleine Menge der Arznei ein und sah zu, wie sie diese hinunterschluckte.

Kirsten spürte ein Brennen in ihrer Kehle, ein verzehrendes Feuer.

Eine Heerschar Skorpionameisen durchtoste ihren Leib. Mit zusammengepreßten Lippen versuchte Kirsten, sie abzuwehren.

Aber ein Angriff folgte dem anderen, es schien kein Ende zu nehmen. Sie stachen hunderte, tausende Mal zu, doch Kirsten starb nicht, auch wenn sie es sich bei all den Schmerzen wünschte.

Lennart war beunruhigt. Der Kirian hatte offenbar die Muskelkrämpfe gelindert und das Knistern und Fauchen im Raum beendet. Kirstens Körper lag nunmehr schlaff und ermattet da; ihr Geist war weit entfernt. So viel Lennart wußte, war sie in der Überwelt verloren. Er hatte bereits davon gehört, daß es geschehen konnte, daß jemand dort auf ewig herumirrt, während der Körper als leere Hülle weiterlebt, bis er schließlich langsam aus Mangel an Wasser und Nahrung verging.

»Ich möchte nur eines wissen: Könnt ihr mich überwachen?«

fragte Lennart.

Marisela war inzwischen zurückgekehrt und berichtete, daß Shoshanna nirgends aufzufinden war. Man hatte ihr gesagt, die Leronis sei in einen entlegenen Randbezirk des Gutes geeilt, um ein krankes Kind zu heilen. »Daraufhin habe ich auch bei den anwesenden Hochzeitsgästen nachgefragt«, berichtete Marisela weiter, »aber zu allem Überfluß gab es drüben in den Hellers noch einen massiven Höhleneinsturz, und alle Leroni aus der Umgebung wurden herbeigerufen, um nach Überlebenden zu suchen und die Verletzen zu heilen.« Die Frau runzelte die Stirne und fügte dann hinzu. »Ich habe alles versucht. Ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich noch suchen soll.«

Lennart wiederholte seine Frage: »Könnt ihr mich überwachen?«

Helene schluckte. »Vielleicht. Wenn Hebertt und ich uns zusammentun.« Sie errötete. »Keiner von uns beiden verfügt über besonders starkes Laran. Deshalb waren wir ja auch nicht sonderlich überrascht, als Kirsten …«

Lennart erkannte sofort, daß das Netz der Laran-Energien, das sie drei miteinander verband, äußerst schwach war. Somit konnte er bestenfalls darauf hoffen, daß Hebertt oder Helene spüren und ihn zurückholen würden, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Denkt daran, übermittelte er ihnen, meinen Sternenstein zu berühren, falls sonst nichts hilft. Das sollte mich zurückbringen. Und falls nicht, ist es um mich geschehen, durchzuckte ihn ein Gedanke, der aber verborgen blieb.

Die Überwelt erschien öde; kein Anhaltspunkt wies ihm die Richtung. In weiter Entfernung konnte Lennart leuchtende Spinnengewebe ausmachen, die mehrere der Kreise markierten, in denen Leroni ihre übersinnlichen Kräfte spielen ließen.

Doch ihm blieb keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er mußte Kirsten finden! Immer stärker weitete Lennart sein Gedankenfeld –und konnte doch nichts erspüren. So weit er feststellen konnte, war er der einzige in dieser Region der Überwelt. Versunken in der Schwellenkrankheit, mußte Kirsten bereits eine große Wegstrecke zurückgelegt haben.

Lennart durchsuchte konzentriert das monotone Grau, rief immer wieder Kirstens Namen, lauschte auf Antwort. Er wußte nicht, wie lange er schon seinen Körper verlassen hatte und die astralen Ebenen durchstreifte, aber es erschien ihm wie Stunden. Lennart spürte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg; schon bald würde er nicht mehr die Kraft besitzen, die Suche fortzusetzen. Und noch immer blieb Kirsten verschwunden! Verzweifelt und geängstigt rief Lennart immer wieder ihren Namen mit heiserer Stimme: »Kirsten!

Kiiir-steeen!«

Die bleierne Schwere der grauen Welt bedrückte sie von allen Seiten. Doch Kirsten lief noch immer, so wie sie es scheinbar schon seit Tagen tat, seitdem das Feuer in ihrer Kehle erstorben war.

Immer noch keine Anhaltspunkte, kein Anzeichen, das ihr verriet, wo sie zuvor schon gewesen war oder wohin sie ging. Kirsten befürchtete, sich im Kreise zu bewegen, wie jener Besucher aus Thendara, der sich verirrte, als er während eines Gewitters im Wald Schutz suchte. Tagelang war er im Kreis umhergeirrt, kaum einen halben Tagesritt vom Herrenhaus entfernt, ehe Kirstens Vater ihn fand. Der Städter hatte es nicht einmal bemerkt, denn die Bäume und Sträucher sahen für sein ungeübtes Auge alle gleich aus.

Kirsten und ihre Brüder hatten darüber gelacht, wie töricht er schien. Jedes Kind wußte doch, wie man unter den Bäumen die Richtung ablesen konnte; es gab so viele Hinweise: die Strömung in Flüssen und Bächen, die zur windabgewandten Südseite hinweisenden Äste und Zweige, die Position von Sonne, Mond und Sternen. Zu Hause war alles so einfach!

Aber hier, an diesem unvertrauten Ort, hatte Kirsten Jegliche Orientierung verloren; sie konnte kaum sagen, wo oben und unten war. Es war alles so verwirrend und entmutigend! Sie wollte nur noch nach Hause »Mutter!« rief sie, »Vater! Bitte, holt mich heim!«

Kirsten wankte weiter. Vom vielen Rufen blieb ihr die Stimme weg und ihre Kehle schmerzte fast so schlimm wie zuvor, als sie die Skorpionameisen hinuntergewürgt hatte. Ihre Beine verkrampften vor lauter Mattigkeit. Schließlich setzte sie sich, Und zum erstenmal ließ Kirsten den Gedanken zu, sie sei dort in der Küche womöglich gestorben, dort, wo sie Brot buk. Irgend etwas war schief gegangen, und urplötzlich hatte eine klebrige Masse sie bedeckt und erstickt.

Kirsten richtete sich ruckartig auf und befahl ihren widerstrebenden Beinen aufzustehen. Jemand hatte ihre Namen gerufen! Kirsten war sich dessen sicher. Durch den sie umhüllenden Nebel konnte sie ihn schwach hören, aber sie vermochte nicht die Richtung, aus der das Geräusch kam, auszumachen. Kirsten wandte sich hierhin, neigte den Kopf, dann dorthin. Zu guter Letzt glaubte sie, die genaue Richtung zu kennen, aber als sie sich gerade aufmachte, verstummte das Geräusch. Verwirrt sank sie auf den grauen Boden; ihre Beine verweigerten den Dienst. Es hat keinen Zweck, dachte sie, jetzt bilde ich mir schon Sachen ein. Ich kann nicht mehr!

Lennart wußte, daß seine Kräfte rasch versiegten und daß er in seinen Körper in Domna Helenes Küche zurückkehren mußte.

Seinem Herzen folgend wollte Lennart die Suche fortsetzen, aber sein Verstand verlangte, daß er zurückkehrte. Mit der wenigen ihm verbliebenen Kraft befahl Lennart der Macht seiner Gedanken, die Substanz der Überwelt in ein Leuchtfeuer zu formen – ein gleißendes Licht, das die ihm versprochene Braut erreichen und heimleiten sollte. Dann sackte er in seinen Körper zurück.

Frostige Kälte war das erste, was er bewußt wahrnahm. Lennart mußte sich zwingen, die getrockneten Früchte, die ihm jemand in den Mund steckte, zu kauen. Einzig der Gedanke, daß die Früchte seine verausgabte Energiequelle wieder auffüllen würde, ermöglichte es ihm, die Nahrung aufzunehmen und bei sich zu behalten.

In der Überwelt schüttelte Kirsten die Benommenheit von sich ab, die ihr wie eine lähmende Kälte in die Glieder gekrochen war. Einen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, als ob man ihr eine Fackel vors Gesicht hielt, deren Widerschein die geschlossenen Augenlider rot färbten. Doch dann verschwand auch dies, und Kirsten mußte sich dazu zwingen, aufzustehen und ihre betäubten Beine zu bewegen. Sie war fest entschlossen, dem Licht zu folgen und einen Ausweg aus dieser frostigen Einöde zu finden. Sobald sie sich aufgerappelt hatte, ließ sie ihre weit aufgerissenen Augen über den Horizont wandern, wo Himmel und Erde grau in grau verschmolzen.

Zunächst konnte sie in der monotonen Landschaft keinerlei Veränderung erkennen, und fast nahm ihr das den letzten Mut.

Dann aber entdeckte sie ein ganz schwach aufblinkendes Licht. Es verlangte Kirsten alle Kraft ab, derer sie noch fähig war, sich dem Licht einen Schritt zu nähern. Dann noch einen Schritt, und noch einen. Allmählich wurde das Leuchtfeuer heller, und sein Licht munterte sie auf. Sie war also nicht allein in dieser Einöde! Irgend jemand war hier, der ihr den Heimweg weisen würde.

Sie brauchte scheinbar Stunden, bis sie zu dem Licht gelangte.

Zunächst noch Schritt um Schritt, dann nur noch auf Händen und Knien kroch sie ihrem Ziel entgegen. Als sie es erreichte, mußte Kirsten erkennen, daß das Leuchtfeuer verlassen dastand. Niemand wartete in seinem Widerschein, um ihr den Heimweg zu zeigen.

Niemand.

Kirsten kauerte sich neben dem Leuchtfeuer zusammen und weinte. Es war so ungerecht, daß am Tag ihrer Vermählung mit Dom Lennart alles derart mißlang! Sie hatte sich solche Mühe gegeben, den Heimweg zu finden. Und was würden ihre Eltern sagen? Hoffentlich waren sie nicht allzu aufgebracht. Aber worüber aufgebracht, fragte sie sich; was hatte sie denn schon getan? Mit einem Mal fiel ihr das völlig verunglückte Brot wieder ein, das sie zubereitet hatte. Aber noch ein anderer Gedanke nahm in ihrem angeschlagenen Geist Gestalt an: es war nicht ihre, nicht Kirstens Schuld gewesen; das Gärungsmittel war schuld! Die kleinen Klumpen lebten!

So erschöpft er auch war, weigerte sich Lennart doch, von Kirstens Seite zu weichen. Marisela brachte ihm Süßigkeiten und getrocknete Früchte, die Lennart begierig verschlang, um seine Energievorräte, die er bei dem vergeblichen Vorstoß in die Überwelt aufgebraucht hatte, wiederherzustellen. Dabei ließ er Kirstens bewußtlosen Körper nicht aus den Augen.

Domna Helene, die sich nochmals nach Shoshannas Verbleib erkundigt hatte, kehrte in die Küche zurück und rückte einen Stuhl herbei. Sie saß da und rieb sich nervös die Hände. »Gibt es denn nichts, was wir sonst tun können?« Ihre Stimme verlor sich im Ungewissen.

Und während er noch über eine Antwort nachdachte, spürte Lennart plötzlich, wie seine übersinnliche Verbindung mit dem Leuchtfeuer in der Überwelt vibrierte. »Sie ist da!« rief er den verdutzt Dreinblickenden zu. »Sie hat das Leuchtfeuer gefunden!«

Noch ehe jemand antworten konnte, raffte Lennart sein letztes bißchen Energie zusammen und stürzte sich erneut in die Überwelt, an jenen Ort, wo sein Leuchtfeuer das triste Grau erhellte. Dort, am Fuße des Leuchtfeuers fand er Kirsten, bleich und kaum mehr bei Bewußtsein.

Der Wiedereintritt in die Überwelt hatte Lennarts erschöpften Energievorräte stark beansprucht, und nur unter äußerster Konzentration gelang es

ihm, sich näher an Kirsten

heranzukämpfen und sie beim Namen zu rufen.

Unterdessen lag Kirsten traumverloren da; das blinkende Licht des Leuchtfeuers nahm sie kaum mehr wahr. Plötzlich aber bebte der Boden unter ihr, und sie spürte: da war jemand! Wer immer es auch sein mochte, sie war zu erschöpft, ihn zu beachten, sich zu regen, zu sprechen, überhaupt irgend etwas zu tun. Doch als er ihren Namen rief, fand Kirsten neue Kraft, die zu besitzen sie längst nicht mehr vermutet hatte.

Die Gestalt, die aus dem Nebel hervortrat, erschien ihr vertraut.

Während Kirsten noch nach einem verschwommenen Erinnerungsfetzen suchte, rappelte sie sich auf, immer noch Halt an dem Leuchtfeuer suchend. Der abgehärmte Gesichtsausdruck des Mannes besänftigte sich, als er sah, wie sie sich aufrichtete. Jetzt konnte sie seine Züge klar erkennen, und Kirsten wußte, daß Lennart gekommen war, sie zu holen.

Einen Augenblick lang hielt Lennart inne, als ob er Atem schöpfen wolle. Dann strauchelte er und verlor den Halt in der grauen Materie. »Kirsten«, schrie er und reckte ihr die Arme entgegen.

»Lennart!« Kirsten löste sich aus dem sicheren Halt des Leuchtfeuers, trat schwankend vor und taumelte Lennart entgegen.

Sie hatte etwa die Hälfte der Distanz zwischen ihnen zurückgelegt, als er heftig zu zittern begann. Lennart stürzte zu Boden, der ihn zu verschlingen schien. »Ich kann nicht länger bleiben«, rief er, »zurück

… muß zurück … folge mir …«

»Nein!« Kirsten versuchte zu schreien, doch Furcht und Fassungslosigkeit schnürten ihr die Kehle zu; ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern. »Nein!« flehte sie noch einmal, entschlossener diesmal, und wie wild stürzte sie an jene Stelle, an der Lennarts rechter Arm im nebligen Untergrund der Überwelt verschwand.

»Ausgerechnet Laran!« rief Kirsten ungläubig aus, und ihre Stimme überschlug sich.

»So weit ich es beurteilen kann«, sagte Lennart, »hingen deine Schwierigkeiten beim Brotbacken unmittelbar mit deinem erwachenden Laran zusammen.«

»Und ich hatte keine Ahnung!« Zum erstenmal seit Tagen lachte Kirsten, was Lennart aus seinen Gedanken aufschreckte. Er lächelte verlegen, und mit einer Hand umfing er die ihre. Ein Gewinde aus übersinnlicher Energie umrankte ihre Hände und Arme.

Verstehst du, Geliebter? übermittelte sie ihm mittels ihrer telepathischen Verbindung. Jetzt können wir doch Mann und Frau im Sinne der Comyn werden! Der Gedanke rührte Lennart zart und schüchtern an, und löste sich dann wie die Morgennebel in der Mittagssonne auf.

DIANA GILL

Auf den Schwingen der Freundschaft

Orain, vor dem diese Geschichte handelt, ist einer meiner Lieblingsfiguren aus Herrin der Falken, auch wenn ich nie dazu kam, seine Jugendjahre aufzuzeichnen. Um so glücklicher bin ich, daß dies hier durch eine jener jungen Leserinnen geschieht, für die Herrin der Falken ursprünglich geschrieben wurde. Ich selbst war damals von einer Schar rothaariger Mädchen umzingelt: meine Tochter Moira war in jenem Jahr aus Lust und Laune zum Rotschopf mutiert, während meine Nichte Fiona und meine Pflegetochter Jaida von Geburt an so ausgestattet sind. Sie alle liebten Pferdegeschichten. Die Widmung erschien damals aus irgendeinem Grund nicht im Buch, soll aber hiermit verspätet nachgeholt werden – zumal Herrin der Falken damals einen Jugendbuchpreis erhielt!

Diana Gill, Jahrgang 1975 und somit 16, während ich diese Zeilen schreibe, besucht die Oberstufe einer High School in einem Vorort Philadelphias. Sie möchte einmal Meeresbiologin werden; ein ehrgeiziges Ziel, das sie mit einer meiner Pflegetöchter teilt, die einmal unter 2000

Bewerbern ein äußerst angesehenes Stipendium gewann, nur um es nach einem Jahr mit der Bemerkung aufzugeben: »Ich wollte mit den Delphinen sprechen und sie nicht sezieren.« Dem können wir, meine ich, alle n ur zustimmen.

»Oder aber Schriftstellerin«, fügt Diana hinzu, »vielleicht auch beides.«

Nun, zumindest eines ihrer Ziele hat sie bereits erreicht – und alles weitere liegt bei ihr …

Es war ein klarer, fast schon warmer Tag – selbst auf den Ebenen von Armida ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Aber Orain von Castamir achtete nicht darauf. Was ging ihn das Wetter an?

Mit leerem Blick starrte er über das Tal, das sich vor ihm erstreckte. Er sah das satte Grün der Hügel und die Nebelwogen des Sees, die das Fundament des leuchtend weißen Turms umzüngelten, ohne sie wiederzuerkennen. Hali! Der geheiligte Ort der Götter, der rhu fead, der all das symbolisierte, was ihm immer verwehrt bleiben würde.

In seinem Schmerz spielte Orain die morgendliche Szene wieder und wieder in seinen Gedanken nach, wie ein Straßenmusikant, der nur ein einziges Lied kennt, oder wie den scheinbar ewig wiederkehrenden Refrain einer alten Ballade. Als ob die ständige Wiederholung es ungeschehen machen und ihn aus seinem Alptraum aufwecken könnte! Stattdessen stürzte sich die Vision erneut wie ein Kyorebni auf ihn herab und hielt ihn in ihren gräßlichen Klauen gefangen …

Er hatte sich am Morgen jenes Tages in der Halle aufgehalten, um noch etwas Brot einzustecken, bevor er zu den Ställen wollte. Als er sich in dem Raum umsah, bemerkte er, daß die Kinder des Palastes dort versammelt waren, allesamt Comyn, egal ob nun von königlicher oder niederer Geburt. Schließlich entdeckte Orain auch Ranald Ridenow, grinste und winkte ihm zu, während er weiterhin versuchte, herauszufinden, was vor sich ging. Weiter hinten saß seine Schwester Jandria bei Ranalds Schwester Maura und tuschelte aufgeregt mit ihr. Er konnte auch seinen Vater sehen, der leise mit einem Fremden sprach, der gestern eingetroffen war.

Bekleidet mit dem scharlachroten Gewand eines Tenerezu oder Bewahrers, beeindruckte der großgewachsene Mann durch die Anmut seiner fließenden Bewegungen, die keinerlei Ungelenkigkeit verrieten. An seinen Fingern funkelten Ringe, und der Juwel an seinem Hals erstrahlte in blauem Feuer. Orain hatte sein gold-silbriges Haar, seine scheinbar farblosen, aber doch tiefen Augen und die zartgliedrigen, anmutigen Hände sofort bemerkt und bewundert. Vielleicht floß Chieri-Blut in seinen Adern. Aber warum war er hier?

Da erinnerte sich Orain, was Carolin beim Abendessen am Tag zuvor geflüstert hatte: »Siehst du den Mann dort drüben? Er ist ein Laranzu, der vom Turm zu Hali entsandt wurde, um uns auf unser Laran zu prüfen!« hatte sein Freund ihm eifrig erklärt, und seine Augen waren ihm vor Erregung übergegangen.

Orain hielt nach Carolins hellem Rotschopf Ausschau, doch dann fiel ihm ein, daß die Prinzen noch mit ihren Lektionen beschäftigt waren. Man würde sie erst später, nach den anderen, prüfen. Dabei war in Carolins Fall eine Prüfung gar nicht nötig; ein Mitglied der Comyn mit solch feurigen Haaren, die wie die untergehende Sonne Darkovers strahlten, konnte unmöglich kopfblind sein.

Orain schaute sich nochmals zu seinem Vater und dem Laranzu um und bedauerte Carolins Abwesenheit. Sie waren Freunde und Patenbrüder, obwohl Carolin direkt mit König Felix verwandt war und Orain lediglich aus einer der ärmeren Comyn-Familie entstammte. Dann nickte sein Vater dem Fremden zu und gab Lyondri ein Zeichen, der daraufhin selbstbewußt strahlend den Raum verließ. Orain legte nervös seine Hand um den Knauf seines trostspendenden Dolches und wartete in einer Fensternische.

Etwa ein halbe Kerzenstunde später kam Lyondri zurück, und es hätte des kleinen blauen Juwels, den er fest in Händen hielt, gar nicht bedurft, um zu verkünden, daß er in die Reihen der Telepathen aufgenommen worden war – sein Lächeln verriet es. Als nächster ging Rakhal; auch er kehrte mit jenem verstohlenen, glücklichen Grinsen zurück.

Danach wurde Maura aufgerufen; sie wirkte bleich und nervös.

Am Sonnenstand konnte Orain ablesen, daß sie nahezu eine ganze Kerzenstunde verschwunden war. Als sie wieder eintrat, ging sie gleich zu Jandria, und ihre Augen strahlten vor Glück.

Dann war er an der Reihe.

Orain trat einen Schritt auf das kleine Prüfungszimmer zu; vor Furcht war er wie gelähmt. Mit einem Male wurde ihm bewußt, daß dieser Test seine Zukunft auf vielfältige Weise beeinflussen würde.

Kopfblind zu sein bedeutete, unter den eigenen Verwandten ausgestoßen zu sein, verbannt in die eigene Gedankenwelt.

Entschlossen klammerte er sich in Gedanken an Carolin und näherte sich langsam dem Zimmer.

Als er eintrat, schaute der Mann auf. Vielleicht spürte er Orains Anspannung, denn er lächelte ihm aufmunternd zu, während er einige Tropfen einer goldfarbenen Flüssigkeit in einen Kelch fallen ließ. Orain nahm das Gefäß und schnupperte an dem fahlen Inhalt.

»Es nennt sich Kirian, und es wird dir helfen, deine Gedankenbarrieren zu senken.«

Orain schluckte den Likör hinunter. Es entstand eine Pause, in der der Tenerezu den Jungen aufmerksam betrachtete; dabei hantierte er mit dem blauen Juwel, den er um den Hals trug – wie hatte Carolin ihn noch gleich genannt?

»Wie fühlst du dich? Irgend ein Gefühl der Übelkeit?«

Orain war nur leicht benommen, nichts weiter. Besorgt teilte er dies dem Tenerezu mit. Ohne eire Miene zu verziehen, reichte der Mann ihm einen Edelstein, wie er ihn trug, nur etwas kleiner. Als Orain ihn in Händen hielt, erinnerte er sich an den Namen: es war eine Matrix.

»Schau in die Matrix. Kannst du irgend etwas sehen oder spüren?

Konzentriere dich darauf, sie zum Glühen zu bringen.«

Orain fühlte sich etwas benommen, aber so sehr er sich auch mühte, es wollten keine Bilder erscheinen – der Juwel blieb dunkel.

Rafael, der Bewahrer, nahm ihm die Matrix sanft aus den Händen.

Er blickte den Jungen vor sich, der kaum zwölf Jahre alt war, voller Mitgefühl an, und konnte es kaum ertragen, das Unvermeidbare sagen zu müssen.

»Du besitzt Laran, aber nur in geringem Umfang. Potential ist vorhanden, aber es entzieht sich dem Zugriff. Immerhin wirst du es deinen Söhnen vererben können.«

Der Knabe blickte ihn nur verbittert an, und Rafael erkannte, daß der Junge, wie er selber auch, ein Ombredin war. »Es tut mir leid«, sagte er, und trotz der Kürze lag echtes Mitgefühl in seiner Antwort.

Orain glaubte, in Zandrus neunte Hölle hinabgestoßen zu werden.

Er wollte aufschreien, wollte seinen Zorn und sein Leid den Göttern entgegenschleudern. Doch es kam nicht dazu; die langen Jahre der Erziehung zügelten ihn. Er verneigte sich formell und murmelte

» Z’par servu, vai dom.« Erst als sich die Tür hinter ihm schloß, stürmte er davon, rannte … und rannte … nach draußen, um sich im Freien zu verbergen.

Orain ballte die Fäuste. Was sollte er nur tun? Was konnte er noch tun? Ein Kopfblinder war kaum mehr als ein Kralmak, war kaum ein Mensch! Und Carolin! Carolin! Es schnürte Orain die Kehle zu.

Carolin war sein ein und alles, und er lebte nur für den Tag, da er Carolins Friedsmann werden sollte. Doch nun …

Bis zum heutigen Tag, bis zu jener verheerenden Enthüllung, hatte es lediglich Rangunterschiede zwischen ihnen gegeben, zwischen Carolin, dem Prinzen, und Orain, dem niedrigen Adligen – doch das war bedeutungslos gewesen, eine kleine Kluft, die leicht zu überbrücken war. Jene Enthüllung aber, kaum eine Stunde alt, hatte nicht nur eine riesige Kluft zwischen ihnen aufgerissen, sie hatte auch tausend weitere Gräben und Brüche hervorgebracht. Selbst Hasturs Erbe konnte das nicht überbrücken.

Was sollte er denn tun? So konnte er doch nicht zurückkehren! Bei Aldones, nein! Wenn er doch nur ein Vogel wäre, um davonzufliegen!

Ein Schnauben riß Orain aus seinen Gedanken, und als er sich umdrehte, sah er, wie sein Pferd Stormchaser friedlich auf der kärglichen Weide graste. Davonfliegen konnte er nicht, aber er konnte davonlaufen! In den Satteltaschen hatte er noch Vorräte, die er zuvor gepackt hatte, um mit Carolin zur Jagd auszureiten. Und bei all der Aufregung würde ihn niemand vermissen.

Wer würde sich schon um ihn Sorgen machen?

In seinem Elend bestieg Orain den stämmigen Wallach und ritt davon. In die Berge! Nur weg von Hali!

Wenige Stunden später schlug das Wetter um. Unheilvoll dunkle Wolken jagten über den Himmel; Kälte und Nässe lag in der Luft.

Dicke, weiche Schneeflocken schwebten träge herab und streiften seine Wangen. Orain wußte, daß er so schnell wie möglich einen geeigneten Rastplatz finden mußte.

Glücklicherweise stieß er ganz in der Nähe auf einen Höhleneingang. Er untersuchte zunächst sorgfältig das Äußere der Höhle und leuchtete mit einer Fackel den Eingang aus. Trotz all seines Kummers war er nicht darauf versessen, von einem hungrigen Raubtier verschlungen zu werden!

Als er sich davon überzeugt hatte, daß es sicher war, trat er ein.

Die Höhle bot genügend Platz für ihn und sein Pferd. Er führte Stormchaser tiefer hinein und begann, ihn zu striegeln; die ermüdende Arbeit lenkte ihn von seinen Seelenqualen ab. Nach einer kleinen Mahlzeit, bestehend aus Brot und kaltem Rabbithorn-Fleisch, starrte Orain trübsinnig in das Feuer; Schmerz und Verzweiflung regten sich aufs neue.

Was sollte er tun? Wohin würde es ihn verschlagen? Seine Gedanken trugen ihn nach Hali zurück. Dort wäre mittlerweile das Abendessen aufgetragen und jedermann zu Tische versammelt, vielleicht sogar König Felix, falls er sich entsprechend wohl fühlte.

Orain stellte sich die Tafel vor, an der seine Verwandten Platz genommen hatten und fröhlich miteinander schwatzten. Einen Augenblick lang wollte er umkehren, wollte nach Hause. Da aber erschien vor seinem inneren Auge Lyondris gehässig grinsende Fratze. Lyondri, der Laran besaß, der stolze Lyondri, unwiderleglich jeder Zoll ein Comyn. Orain verbannte das hämisch sich brüstende Gesicht aus seinem Geist. Er drehte sich zur Seite, kuschelte sich so gut es ging am Feuer zusammen und versuchte, im Schlaf Vergessen zu finden.

Statt dessen aber verfolgten ihn einige von Zandrus schlimmsten Alpträumen in seiner Nachtruhe. Er träumte, wie seine Familie ihn verstieß, wie er die Domänen durchstreifte, von keinem willkommen geheißen, von allen verachtet. Und wie auch Carolin ihn verspottete. Carolin verwandelte sich zu einem entsetzlichen Schlangenungetüm, das sich vor ihm auftürmte. Mit einem Schrei erwachte er.

Sein Traum war derart realistisch gewesen, daß es ihm so vorkam, als ob Carolin tatsächlich an seiner Seite aufgetaucht sei – und seine grauen Augen blitzten vor Verzweiflung wie blanker Stahl. Aber ja doch – das war Carolin! Wie war das möglich?

Carolin deutete auf etwas, wobei er seine Bewegung auf ein Minimum beschränkte. Orain blickte sich um – und erstarrte vor Schrecken. Eine Flut schwarzer, chitingestählter Körper quoll aus einer Felsspalte hervor, die er zwar zuvor bemerkt hatte, der er aber dummerweise keine Beachtung geschenkt hatte. Skorpionameisen!

Eine der giftigsten Spezies von Darkover!

Orain suchte nach seinen Dolchen, mußte jedoch feststellen, daß diese nur eine Handbreit von der heranrollenden schwarzen Armada entfernt waren. Zwecklos, auf sie zu hoffen. Er blickte Carolin an, der wiederum auf das Feuer starrte, wo zwei Scheite noch immer glommen und nicht verlöschen wollten.

Wie von einem gemeinsamen Willen getrieben, ergriffen sie die behelfsmäßigen Fackeln und schleuderten sie in das Nest des Gewürms. Die Skorpionameisen wichen zurück, als sie um die Hälfte dezimiert waren. Aber Carolin und Orain setzten ihren Angriff fort, denn sie durften keine einzige entkommen lassen, um später wiederzukehren.

Erst als das letzte der tödlichen Insekten vertilgt war, fand Orain die Zeit, sich über Carolins Erscheinen zu wundern. Und indem er dies tat, verspürte er zugleich die alte Verzweiflung. Carolin besaß Laran, wie konnte er da seine Lage verstehen? Er war auf Carolin zornig, der ihm seinen Mangel so sehr vor Augen führte, haßte ihn um des blauen Etwas, das durch seine Kleidung hindurchschimmerte – und plötzlich brach es aus Orain heraus, er ließ seinen Gefühlen freien Lauf.

»Wie bist du hierher gekommen? Und warum? Bist wohl gekommen, um mit deine Stellung und dein Laran unter die Nase zu reiben! Um dich über den armseligen, kopfblinden Narren lustig zu machen, der glaubte, sich als Comyn ausgeben zu können!«

»Keineswegs«, erwiderte Carolin schlicht, »sondern um bei dem törichten Narren zu sein, der vor seinen Freunden davonläuft und die zurückläßt, die wirklich etwas für ihn übrig haben. Ich wollte bei dir sein!«

Und während er noch Orain fixierte, überschlug sich seine Stimme in der aufkommenden Gefühlswallung: »Orain, du verdammter Dummkopf! Es schert mich nicht, ob du Laran hast oder nicht, oder ob du … ob du … meinetwegen rosarot mit grünen Punkten bist!

Verdammt noch mal, du bist mein Freund – und ich brauche dich!

Sei doch kein Dummkopf!«

Orain, der das alles nur zu gern glauben wollte, aber es doch so schwer zu fassen fand, fauchte unsicher: »Du hast leicht reden!

Schließlich bist es nicht du, der kopfblind ist!«

Carolin seufzte. Dann zog er seinen Dolch und hielt ihn, mit dem Knauf nach vorne, Orain entgegen. »Das ist nicht wahr! Du bist mein Freund, und ein Comyn! Hörst du, Bredu?« Das letzte Wort wurde scheu, fast zögerlich ausgesprochen.

Orain blickte in Carolins Augen – und stimmte zu. Alle seine Zweifel waren wie weggeblasen! Er ergriff Carolins Dolch und streckte den seinigen mit zitternder Hand Carolin entgegen.

»Bredu?«

Carolin ergriff nun seinerseits Orains Dolch. Und dann trafen sich die beiden in einer ungestümen Umarmung. Erstaunt stellte Orain fest, wie seine Arme Carolin umschlangen, wie er den Freund in Armen hielt. Und als er so dastand, erkannte er endlich, was Carolin schon immer gewußt hatte, was wohl auch Lyondri gewußt hatte und ihn deshalb haßte. Er liebte Carolin, hatte ihn immer geliebt.

Von der Erkenntnis übermannt, riß er sich los.

Carolin schaute zu ihm auf und lächelte ihn schüchtern an. »Es ist gut so. Und ich möchte auch dir ein Geschenk machen.« Mit einer Hand drückte er seine Matrix zärtlich an sich.

Orains Horizont weitete sich mit einem Donnerschlag. Urplötzlich flog er, flog hoch in den Lüften über die regenbogenfarbenen Nebelschwaden dahin. Und Carolin war bei ihm, war mit ihm so tief und innig verbunden, daß er vor Freude hätte laut aufschreien mögen. Nervös suchte er seine Gedanken in Worte zu fassen, nur um festzustellen, daß Worte in dieser Geistes-und

Lebensgemeinschaft überflüssig, wenn nicht gar störend waren.

»Das also bedeutet es, Laran zu besitzen?«

»Ja«, gab Carolin in Gedanken schlicht zurück. Im Triumph des gemeinsamen Teilens und in ihrer neu gefundenen Freiheit war es nur natürlich, daß ihre Körper zusammenkamen, Arme und Beine sich ineinander verschlangen, sich ihre Lippen trafen. Und während jeder den Körper des anderen entdeckte, tauchten Carolin und Orain Hand in Hand in den Nebelschwaden unter …

Stormchaser stampfte auf und rüttelte Orain damit aus seiner Träumerei wach. Er schaute Carolin an, der vor ihm ritt. Carolin blickte über die Schulter und lächelte ihn an – ein Lächeln, das Orain wie eine körperliche Liebkosung berührte.

Auch wenn der Blick des intensiven Rapports verklungen war, so würde er doch die Erinnerung daran stets in seinem Herzen bewahren. Und auch wenn der körperliche Kontakt gleichfalls schwinden würde, so würde Orain doch stets mit Carolin verbunden bleiben, als Friedsmann und als Freund. Dessen war sich Orain sicher.

Lachend spornte er Stormchaser an, überholte Carolin, und im wilden Galopp ging es durch den Wald nach Hause. Nach Hali.

DEBORAH J. MAYS

Rebellen

Die folgende Erzählung handelt von weiteren Abenteuern einer weniger bekannten Figur aus der Geschichte Darkovers: Varzil Ridenow, dem man später den Beinamen »der Gute« verlieh, taucht kurz in Der verbotene Turm und ausführlicher in Die Zeit der Hundert Königreiche auf.

Deborah J. Mays lebt in Tucson, Arizona, aber sie gibt in ihrer Biographie an, daß sie und ihr Mann »wahre Zigeunernaturen« sind, da sie in den letzten neun Jahren an dreizehn verschiedenen Orten gewohnt haben – von den Bayous Louisianas bis hinauf nach Nome in Alaska. Sie meint dazu, »Alaska hat wohl meine Vorliebe für Darkover geweckt. Nome durfte genauso kalt sein wie Zandrus siebte Hölle!«

Ihre Stieftochter, Lori, ist inzwischen ausgezogen, ihr Stiefsohn verstarb an Leukämie. Sie teilt ihr Haus mit drei Hunden und »vier ziemlich verwöhnten Papageien«.

Über Varzil schreibt sie: »Ich habe mich immer gefragt, wie ein Adliger in einer Zeit, da Machtkämpfe zwischen den Königreichen an der Tagesordnung standen, zugleich solch ein Rebell und doch auch ein Pazifist werden konnte.« Genau diese Mutmaßungen tragen natürlich zum Gelingen einer Anthologie wie dieser bei.

Die blutbeschmierte Gestalt, die widerwillig vor ihm kniete, trieb Varzil zur Verzweiflung. Einen Augenblick lang dachte er daran, den Mann durch die beiden Wächter, die beständig auf ihn einschlugen, töten zu lassen. Es war offenkundig, daß der Anführer der Aufständischen nicht bei Varzils Plan mitspielen würde, sich selbst während der ersten Tage ihres Gewaltmarsches zur Festung seines Vaters als Mitgefangenen auszugeben. Und es war ebenso offenkundig, daß Varzil ohne diese Zustimmung nichts erreichen würde.

Der Prinz drehte sich unvermittelt um und gab den Wächtern ein Zeichen aufzuhören. Der Rebell schaute fragend zu ihm auf, ohne jedoch ein Anzeichen der Hoffnung zu verraten.

»Da deine eigenen Schmerzen dir offensichtlich nichts ausmachen, werden vielleicht die Schmerzen deiner Männer dich eines besseren belehren«, erklärte Varzil und verzog dabei keine Miene. Er wußte, daß er den richtigen Nerv getroffen hatte, als er das unmißverständliche Nein! in den Gedanken des Mannes auffing, noch ehe dieser seine Barrieren dichter schließen konnte. Das war kein zufälliger Kontakt: Der Mann besaß Laran, durchfuhr es Varzil.

Aber warum kämpfte ein Mann, der die telepathische Gabe der Adligen teilte, bei den Aufständischen?

Der Prinz erkannte, daß allein schon diese Entdeckung die Mühe wert war, die er wegen seines Vorhabens bereits auf sich genommen hatte. Möglicherweise handelte es sich hier um den Mann, der den Rebellen telepathisch jenen Selbstmordmechanismus eingegeben hatte, der bisher jede Befragung von Gefangenen unmöglich machte.

Als Varzil sich umdrehte, um den Befehl zu erteilen, einen anderen Gefangenen hereinzubringen, kam der Angriff völlig unerwartet. Er wurde durch die Luft geschleudert und krachte unsanft gegen eine scharfkantige Steinwand. Als er kurz darauf wieder zu sich kam, dröhnte es wie wild in seinem Kopf, und sein eigener Dolch wurde ihm an die Kehle gepreßt.

Der Gefangene redete ungestüm auf ihn ein, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ritzte er ihm mit der Klinge eine dünne, blutende Wunde.

»Versteht mich recht, Lord Varzil. Ich war auch ohne diesen Angriff auf Euch längst ein toter Mann. Ich habe absolut nichts zu verlieren. Befehlt Euren Leuten zu verschwinden oder seid darauf gefaßt, mich, in die Hölle zu begleiten!«

Der Druck des Messers ließ leicht nach, als sich die Tür hinter der letzten Wache schloß. »Nun gut, ich fordere zwei Dinge von Euch, mein Lord, als Gegenleistung für Euer Leben.« Der Gefangene hielt kurz inne. »Zum ersten Euer Ehrenwort, daß Ihr keinen meiner Männer gegen mich verwendet werdet, oder überhaupt jemals wieder einen Menschen foltern werdet, um einem anderen Gehorsam abzuzwingen.«

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig als zuzustimmen, da du mir keine Wahl läßt«, antwortete Varzil gepreßt unter dem anwachsenden Druck auf seine Kehle.

»Zum zweiten möchte ich folgendes wissen«, fuhr der Gefangene fort. »Warum in aller Götter Namen seid Ihr hier draußen? Habt Ihr wirklich den ganzen Weg zurückgelegt, nur um uns auszuspionieren? Wir müssen Eurem Vater weitaus mehr Sorgen bereiten als ich annehmen durfte!« Bei der letzten Äußerung lachte der Mann verbittert.

»Lord Serrais hat mich nicht ausgesandt, und ich bin kein Spion!«

Varzil versuchte, seiner Antwort so viel Würde wie möglich zu verleihen, was nicht gerade einfach war, wenn man am Boden lag und einem der Feind auf der Brust saß. »Wie ich dir bereits gesagt habe, bin ich hergekommen, um herauszufinden, warum ihr Rebellen einen Kampf weiterführt, von dem ihr selbst wissen müßt, daß er auf verlorenem Posten steht.«

»Also nicht, um herauszufinden, wie viele wir sind, wo sich unser Hauptquartier befindet, wie wir bewaffnet sind …?« erkundigte sich der Rebell sarkastisch.

»Nein.«

»Und das soll ich Euch glauben?«

»Ich sage die Wahrheit«, entgegnete Varzil matt, »aber du weißt genau, daß ich das unmöglich beweisen kann.«

Plötzlich konnte Varzil wieder unbeschwert atmen; der andere ließ von ihm ab und reichte ihm wortlos seinen Dolch.

Davon völlig überrascht, steckte Varzil ohne nachzudenken die Klinge in die Scheide – obwohl er normalerweise jeden, der es wagte, in seiner Gegenwart eine Waffe zu zücken, ohne Zögern niedergestreckt hätte. »Warum?« platzte er ungläubig heraus,

»warum solltest du mich am Leben lassen?«

»Ich wollte nur Euren Eid; die zweite Frage war reine Neugier«, gab der Rebell mit einem kurzen, bitteren Lachen zur Antwort »Sie lassen mich hoffen, mein Lord. Ich hätte nie gedacht, daß ich den Tag erleben würde, an dem ein Angehöriger der herrschenden Familie sich je darum kümmerte, ja sich genug darum scheren würde, auch nur einmal zu fragen, warum wir kämpfen. Euch umzubringen hätte der Rebellion kein bißchen genutzt. Aber glaubt mir, ich hätte keine Sekunde gezögert, wenn ich vom Gegenteil überzeugt gewesen wäre.«

»Dann hilf mir bei meinem Plan«, sagte Varzil ruhig. »Du wirst sicherlich nichts zu befürchten haben, wenn ich mit deinen Männern rede.«

Der Rebell hatte dafür nur ein verächtliches Schnauben übrig. »Ihr wollt wissen, warum wir kämpfen, mein Lord?« erwiderte er sarkastisch. »Dazu bedarf es dieser Maskerade nicht – ich werde es Euch sagen. Es ist ganz einfach – wir sind verzweifelt. Wir würden sonstwo Zuflucht suchen, aber wo denn? Wohin können wir gehen, ohne daß unsere Dörfer verwüstet werden, unsere Kinder an unbekannten Krankheiten sterben, unser Land und unser Wasser vergiftet wird und Haftfeuer vom Himmel regnet? Wir kämpfen, weil uns kein anderer Platz auf dieser Welt geblieben ist!«

Als Varzil seine Wache zurückrief, ergriff er den Arm des anderen.

»Ich treffe dich morgen. Ich werde mir die Haare färben und gewöhnliche Kleider tragen. Ich bitte dich noch einmal, es dir anders zu überlegen …«

»Fahr zur Hölle!« knurrte der Rebell ihn an und schüttelte seine Hand ab.

Es bedurfte direkter Befehle und mehrerer Drohungen, ehe seine Leute schließlich einwilligten, ihn als »Gefangenen« dem Garnisonskommandanten auszuliefern; und schon wenige Stunden später hatte der junge Prinz allen Anlaß, seinen »Sieg« voller Zorn und Angst bitter zu bereuen.

Schließlich warf man ihn grob aus der Stube des Kommandanten, verfluchte ihn und prügelte auf ihn ein, bis er sich wieder aufrappeln und zum Gefangenenhof schleppen konnte. Dort angekommen, sank er von Schmerzen gepeinigt auf die Knie.

»Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich dein kleines Spiel nicht mitspielen würde.« Der Rebellenführer kauerte plötzlich neben ihm und sprach in hartem, wenn auch gedämpftem Tonfall. »Du hättest dir einige Schmerzen ersparen können, chiyu. Meine Männer werden alle über deine wahre Identität unterrichtet werden, egal was du mit mir anstellst. Ich kann dir nur dringend raten, hier und jetzt zu verschwinden. Das wird kein Sonntagsausritt im Jagdrevier deines Vaters! Du würdest es keine drei Tage überstehen!«

»Ich würde ja verschwinden, aber ich glaube kaum, daß ich das jetzt noch kann«, antwortete Varzil kläglich. »Alle meine Leute sind bereits auf dem Weg nach Caer Donn. Mir war klar, daß du mich nicht akzeptieren würdest, solange ich mir irgendein Schlupfloch offen halten würde. Deshalb weiß niemand hier, nicht einmal der Kommandant, wer ich bin …« Er beendete den Satz entmutigt, da er erkannte, wie kindisch dies jetzt klang.

»Caer Donn«, wiederholte der Rebell ungläubig und schüttelte den Kopf. »Du kannst doch nicht wirklich so naiv sein!«

Auf Varzils erschrockenen Blick hin erklärte er kalt: »Bei all ihren verdammten Sternensteinen und Wachvögeln können meine Männer sich keine zwei Tagesritte annähern – Caer Donn ist ein bloßes Gerücht, das sie ausgestreut haben, um von der richtigen Fährte abzubringen. Wir werden jedenfalls auch nicht entfernt in die Nähe von Caer Donn marschieren, soviel steht fest!«

»Aber wohin geht es dann?« fragte Varzil, der mit einem Male einen großen Kloß im Hals verspürte.

»Wie soll ich das wissen?!« gab der Rebell ungeduldig zurück.

»Schau, mein kleiner Lord, du hast dich da reingeritten; jetzt mußt du dich selbst aus dem Schlamassel rausziehen – wenn du es kannst.

Und, ehrlich gesagt, mit ist es völlig egal. Ich mache dir ein Zugeständnis, und dabei bleibt’s: Ich werde meinen Männern vorerst nicht sagen, wer du bist. Und das auch nur aus dem einen Grund, weil es unter ihnen einige gibt, denen es ein nicht unbeträchtliches Vergnügen bereiten würde, dir im Schlaf deinen hübschen Schädel einzuschlagen. Sollte ich aber mitbekommen, daß du auch nur eine militärische Frage stellst, chiyu – ich verspreche dir schon jetzt, daß du den nächsten Tag nicht mehr erleben wirst!«

Die Lage verschlimmerte sich in den folgenden Tagen zusehends für Varzil. Im Gefolge ihres Anführers ließen die anderen Gefangenen ihn völlig unbeachtet. Er befand sich fast ständig am Ende der Marschkolonne und bekam folglich die Peitsche des öfteren zu spüren. Man hatte ihn wegen »Widerrede« gegenüber einem Wächter gründlich durchgeprügelt, und gegen Mitte des dritten Tages fühlte er sich so zerschunden und erschöpft, daß er sich kaum weiterschleppen konnte.

Während er sich einen Geröllabhang hinabkämpfte, verlor sein Fuß an einem losen Felsblock auf dem Pfad plötzlich den Halt; Varzil stöhnte auf, als sich sein Knöchel schmerzhaft dehnte. Er blieb an der Stelle, an der er gestürzt war, liegen und fühlte sich zu schwach, um auch nur zu versuchen wieder aufzustehen.

Wie durch ein Wunder erschien der Rebellenführer an seiner Seite und streckte ihm die Hand entgegen. »Steht auf«, befahl er ihm schroff.

»Ich kann nicht«, entgegnete Varzil kopfschüttelnd, während er die Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung zurückzuhalten suchte.

»Verdammt nochmal, steh auf, oder sie werden uns beide auspeitschen«, wiederholte der Rebell scharf.

Der Rebell packte ihn unsanft an der Schulter und schüttelte ihn kräftig durch.

»Ganz im Gegensatz zu uns anderen bist du aus freien Stücken hier! Du wolltest dieses Spiel spielen. Du wolltest lernen, Verzweiflung zu sehen. Nun, chiyu, du stehst gerade mal am Anfang deiner Lektion. Und jetzt steh, verdammt noch mal, auf!«

Varzil wich dem feurigen Blick des Rebellen aus und versuchte noch einmal aufzustehen. Es gelang ihm mit Hilfe des anderen, der ihn auch bei seinen ersten unsicheren Schritten weiter stützte.

»Schon besser«, meinte der Rebell jetzt schon sanfter. »Heute abend wird es etwas zu essen geben. Bei dem Gedanken wirst du es wohl noch ein paar Stunden durchhalten.«

Als Varzil sich zur Antwort umdrehte, war der Mann bereits ohne ein weiteres Wort weitergegangen.

An diesem Abend bekamen sie im Lager tatsächlich eine kleine Schale mit gekochtem Getreide und Brot als Marschverpflegung.

Varzil stürzte sich sofort gierig darauf und riß wie ein Wolf mit seinen Zähnen große Stücke aus dem Brotlaib. Plötzlich hielt er inne und schaute sich verwundert um – die anderen Männer teilten das Brot sorgfältig und verstauten es in ihren Kleidern. Mit einigem Bedauern folgte er ihrem Beispiel. Der Anführer der Rebellen setzte sich neben ihn und lachte rauh.

»Sieh an, du bist anscheinend doch noch lernfähig, chiyu. Vielleicht stehst du es ja doch durch.«

»Könntest du bitte aufhören, mich chiyu zu nennen«, gab Varzil verärgert zurück. »Mein Name …«

»… bleibt hier besser unerwähnt!« unterbrach ihn der Rebell rasch.

Varzil schluckte kräftig, als er daran erinnert wurde; andererseits verlangte es ihn nach den langen Tagen, in denen ihm keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt worden war, so sehr nach einem Gespräch, daß er schnell weiterredete.

»Woher hast du überhaupt gewußt, daß wir heute abend etwas zu essen bekommen?« Und als ihm bewußt wurde, daß er den Namen des Mannes noch immer nicht kannte, fügte er zögernd »… Lord General« hinzu, wobei er versuchte, für die Stellung des Rebellen unter seinen Männern eine angemessene Rangbezeichnung zu finden.

»Lord General!« prustete der Mann los, der gerade einen Schluck Wasser aus seinem Krug trinken wollte. »Wo, in Zandrus Hölle, hast du das bloß her? Rebellen halten nicht viel von Titeln, falls dir das noch nicht aufgegangen sein sollte! Du kannst mich Mikhail nennen, und für mich bist du vorerst besser, na sagen wir mal, Val – das kann eine Kurzform für alles mögliche sein«, fügte er mit gesenkter Stimme an.

»Und was das Essen heute abend betrifft?« fuhr er zynisch fort.

»Proklamation 416, Dienstvorschrift zur Behandlung Gefangener bei der Überführung, legt fest, daß wir alle drei Tage etwas zum Essen bekommen müssen, ob wir es nun nötig haben oder nicht. Gäb’s mehr, könnten wir womöglich stark genug sein zu fliehen; gäb’s weniger, könnten wir wahrscheinlich gar nicht mehr marschieren.«

»Willst du damit etwa behaupten, daß mein Va …« Varzil brach abrupt ab. »Daß Lord Serrais von dieser Art Mißhandlung weiß?«

»Was ich damit sagen will, ist, daß er es befohlen hat.«

Varzil weigerte sich, das zu glauben. »Er mag wohl sehr streng und manchmal auch etwas vorschnell in seinem Urteil sein, aber ich habe nie erlebt, daß er vorsätzlich grausam ist.«

»Das macht es für mich nur umso schlimmer.« Tiefe Verbitterung klang aus Mikhails Worten. »Für ihn ist so etwas noch nicht einmal grausam – denn er glaubt tatsächlich, daß wir weniger Schmerz und Hunger spüren, nur weil wir nicht von adliger Geburt sind. Nun, mein Lord, wir spüren den Schmerz gerade so wie ihr, und wir lieben das Leben, und wir haben ein Recht zu leben, genau wie ihr!«

»Das weiß ich. Vergiß nicht, daß ich hierher gekommen bin, um dem Töten Einhalt zu gebieten!« erwiderte Varzil hochmütig.

Der Rebell reagierte darauf nur verächtlich. »Du bist hierher gekommen, um ein Spiel zu spielen! Spar dir deine selbstgerechten Lügen für Zandru und deine adligen Freunde – ich weiß es besser!

Du siehst in uns genausowenig Menschen wie Lord Serrais – für dich sind wir lediglich Figuren in deinem Spiel.«

»Das ist nicht wahr!« widersprach Varzil vehement.

»Val, willst du abstreiten, daß du daran gedacht hast, mich umbringen zu lassen, als ich mich anfangs deinem Plan widersetzte?« fragte Mikhail zornig. »Daß du ohne auch nur mit der Wimper zu zucken daran dachtest, weil ich für dich nicht wirklich ein Mensch war? Verflucht noch mal! Ich wurde auf deinen Befehl hin geschlagen! Du standst nur da und hast es geschehen lassen, immer weiter, immer mehr. Du hast den Schmerz ja nicht einmal wahrgenommen. Kannst du leugnen, daß es so war? Kannst du es vor dir selbst leugnen?«

»Nein«, brachte Varzil mit erstickter Stimme als Antwort hervor.

Bei dem Bild, das in seiner Erinnerung aufstieg, schloß er fest die Augen. »Verzeih mir«, fügte er leise hinzu.

»Du solltest jetzt versuchen, etwas zu schlafen«, wies ihn Mikhail plötzlich scharf an, aber musterte den Prinzen dabei verwundert von oben bis unten.

Die nächsten Tage brachten für die Gefangenen weitere und noch größere Entbehrungen mit sich. Die Marschkolonne bog aus dem langen Tal mit seinen vielen Windungen, dem sie bislang gefolgt waren, um in die Hellers zum ersten Bergpaß hinaufzusteigen. Jedes neue Nachtlager befand sich in größerer Höhe und war folglich kälter; und jeder neue Tag brachte steilere und noch immer steilere Pfade. Am letzten Tag des Anstiegs zur ersten Paßhöhe erwachten die Männer bei düsterem, wolkenverhangenen Himmel und eisig schneidendem Wind. Gegen Mittag kämpften sie sich bereits durch knöcheltiefen Schnee.

Varzil unterbrach sein stumpfsinniges Vorwärtstrotten kurz, um, ohne groß darüber nachzudenken, einem der Jüngeren am Fuß eines vereisten Abhangs zu helfen. Der Junge klammerte sich an ihn, und zusammen taumelten und schlidderten sie weiter und stemmten sich gegen den Sturm.

Ein ums andere Mal half Varzil dem unbekannten Rebellen wieder auf die Beine, bis der Junge schließlich seine Hand, um Halt zu finden, unter Varzils Tragegurt steckte und sein Gesicht gegen den beißenden Wind schützend vergrub; er überließ es Varzil, im blendenden Schnee Sichtkontakt mit ihren Kameraden beizubehalten.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis die Soldaten endlich an der Baumgrenze Halt befahlen. Sie errichteten rasch ein Zelt, in das sie hineindrängten, und überließen die Gefangenen sich selbst – der Sturm war ihr einziger Wächter.

Mikhail eilte zwischen seinen Männern hin und her, da er wußte, sie würden, ließe er sie allein, an Ort und Stelle zusammenbrechen.

Er gab ihnen Befehl, sich in den Schutz der Bäume zurückzuziehen, im Windschatten von Büschen und Felsen zu lagern und dabei Decken und ihre Körperwärme zu teilen.

Indem er die Linien abschritt und jeden einzelnen Mann überprüfte, kam er auch zu Varzil, der sich allein eingeigelt hatte.

»Hast du meine Befehle nicht gehört, Val?« rief er ungeduldig. Aber dann legte er unvermittelt und überraschend sanft seine Hand auf die Schulter des Prinzen. »Mach dir nichts draus, ich komme gleich zurück, um mit dir zu lagern, sobald ich bei den Männern alles erledigt habe.«

»Das wird nicht nötig sein; ich komme hier schon zurecht.« Varzils Antwort klang fast schon schrill, so sehr hatten die Berührung des anderen Mannes und dessen Mitleid ihn schockiert.

»Das soll wohl heißen, daß du lieber erfrierst als dich dazu herabzulassen, deine Decken mit einem Rebellen zu teilen«, erwiderte Mikhail frostig. »Wie du willst.«

Varzil wollte beteuern, daß er es keineswegs so gemeint hatte, aber der Rebell war bereits wieder verschwunden. »Soll er doch verflucht sein«, dachte Varzil bei sich. Was immer er auch sagte, der Mann drehte ihm die Worte doch stets im Munde herum!

Einige Stunden später erkannte der Prinz, daß er einen schweren, wenn nicht gar tödlichen Fehler begangen hatte. Der Wind hatte zwar etwas nachgelassen, aber die Temperatur sank von Minute zu Minute. Er zitterte unkontrolliert und wünschte sich verzweifelt, er könne zu Mikhail gehen und sich entschuldigen, aber er wußte nicht, unter welchem der schneeverwehten Deckenstapel sich der Anführer der Rebellen befand. Außerdem fürchtete er sich noch immer vor den anderen Männern. Auch vor Mikhail hatte er Angst, wie Varzil kläglich feststellen mußte. Wahrscheinlich hatte er aus diesem Grund das Angebot so schroff abgelehnt.

Plötzlich glaubte Varzil, er könnte die Hand des Rebellen auf seinem Arm spüren und fragte sich kurz, ob er wohl nun, da es dem Ende zuging, Wahnvorstellungen habe. Aber die Hand schob sich weiter nach oben und nahm ihm die Decke vom Gesicht.

»Verdammt, Varzil, ich hab’s versucht, aber ich konnte nicht einfach daliegen und dich erfrieren lassen«, knurrte Mikhail barsch.

»Willst du jetzt meine Hilfe annehmen oder nicht?«

Varzil war fest entschlossen, den Rebell diesmal keines seiner Worte mißverstehen zu lassen. »Ja! Ich flehe dich an, bitte hilf mir, Mikhail!« stieß er zwischen klappernden Zähnen hervor.

Der Prinz rechnete schon fast damit, daß der Rebell ihn wieder mit irgend einer sarkastischen Bemerkung zurücklassen würde; statt dessen machte sich Mikhail daran, in einer Schneewehe eine kleine Höhle auszuheben. Wortlos trug oder vielmehr schleppte er Varzil hinein, dann zog er ihnen beiden die Hemden aus und wickelte die Decken um sich herum.

Als sein Zittern so weit abgeklungen war, daß er wieder sprechen konnte, fragte Varzil scheu: »Warum bist du zurückgekommen?«

»Ich weiß es auch nicht so genau«, seufzte Mikhail. »Vielleicht kann ich einfach dieses sinnlose Sterben nicht länger ertragen.«

Einen Moment lang schwieg er. »Oder vielleicht, weil ich beobachtet habe, wie du heute einem anderen geholfen hast. Mir scheint, du bist nicht mehr der selbe Mann, den ich zuerst in jener Gefängniszelle traf.«

»Das wirst du mir wohl nie verzeihen?« fragte der junge Prinz mit leiser Stimme.

»Es gibt nichts zu verzeihen, Val. Jener Varzil ist tot.« Der Rebell lachte plötzlich laut auf. »Oder glaubst du im Ernst, ich würde mit dem meine Decken teilen?« Dann fügte er wieder ernsthafter hinzu:

»Wenn wir an unseren Bestimmungsort gelangen, dann tu für meine Männer alles, was dir möglich ist. Mehr verlange ich nicht.«

Als der Morgen anbrach, war der Himmel wolkenlos, aber noch immer war es eisig kalt. Dutzende Männer litten unter Frostbeulen an Zehen, Fingern und im Gesicht, aber unter den unerbittlichen Peitschenhieben ihrer Bewacher rafften sie sich auf und marschierten weiter.

Gegen Mittag holte Varzil Mikhail ein, als dieser an der Seite eines gestürzten Kameraden kniete. Der Prinz warf einen kurzen Blick auf das Gesicht des Verletzten – er hatte sich die Lippe durchgebissen; das Blut, das ihm am Kinn herablief, gefror zu kleinen Tropfen. Der Mann gab keinen Laut von sich, aber Varzil konnte an der Art, wie er Augen und Zähne immer wieder zusammenpreßte, erkennen, daß er offensichtlich Todesqualen litt. Schließlich ergriff der Mann flehentlich Mikhails Hand.

»Es hat keinen Zweck, Mikhail«, flehte er sanft. »Selbst wenn ich den heutigen Tag überstehen sollte, was mehr als fraglich ist, was soll dann morgen oder übermorgen geschehen? Die schwarze Fäule ist mir sicher – so möchte ich nicht sterben!«

Es verging einige Zeit, bevor Mikhail seine Hand der des anderen entzog und zu einem großen Stein am Wegrand herüberging. Er hob ihn in wild-verzweifelter Entschlossenheit auf und trug ihn zurück; dann kniete er wieder an der Seite des Verwundeten.

Der Mann erblickte den Stein und ein jähes Entsetzen packte ihn; er wandte den Kopf ab, und seine Augenlider zuckten.

»Du weißt, daß sie mir kein Messer geben würden«, sagte Mikhail ruhig. »Ich glaube aber, ich könnte es schnell hinter uns bringen, wenn du es noch immer wünschst.«

Der Mann nickte stumm, und Mikhail legte seine Hand auf dessen. Wange. »Dann wende den Kopf ab und schließ die Augen, mein alter Freund. Val, nimm seine Hand«, fügte er sanft hinzu.

Der Mann streckte blind seine Hand Varzil entgegen, und als er sie ergriff, hörte der Prinz ein kurzes »Ich danke dir, Mik«, ehe der Stein die Schläfen des Mannes zertrümmerte.

Als der Kommandant die Leiche einige Minuten später entdeckte, ließ er die Männer unter zornigen Peitschenhieben Aufstellung nehmen.

»Wer von euch ist hierfür verantwortlich?« schrie er und deutete auf den Leichnam; die Blutlache neben dem Kopf war bereits gefroren.

»Ich, Sir«, antwortete Mikhail gefaßt. »Er konnte nicht weitermarschieren – beide Füße sind letzte Nacht erfroren. Er war einer meiner Männer und er hat mich um den Gnadenstoß gebeten.«

»Das war keiner deiner Männer!« brüllte der Kommandant aufgebracht. »Er gehörte, wie ihr alle, Lord Serrais! Wir werden solch eine Entschuldigung nicht anerkennen! Und du«, dabei deutete er auf Mikhail, »wirst heute abend für deine Schandtat strengstens bestraft. Ihr tätet alle besser daran, euch darüber im Klaren zu sein, daß ihr nicht als Soldaten mit den Rechten gewöhnlicher Kriegsgefangener geltet, sondern als Eidesbrecher und Verschwörer gegen euren rechtmäßigen König. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Spät am Abend wurde Mikhail zu den Gefangenen zurückgebracht, aus deren Mitte man ihn zuvor hinter das Hauptzelt gezerrt hatte.

Varzil mußte unweigerlich nach Luft schnappen, als er sah, wie übel Mikhails Gesicht zugerichtet war, aber der Rebell ging nur wortlos an ihm vorbei und legte sich mit einem Seufzen auf die Decken, die Varzil ausgebreitet hatte. »Laß es gut sein«, brachte er müde hervor.

»Mikhail, du bist auch nur ein Mann. Du mußt dich zurückhalten.« bat Varzil vorsichtig, als er zögernd eine Hand auf Mikhails Arm legte, die dieser aber heftig abschüttelte.

»Laß mich in Ruhe, du Hund! Hast du denn noch immer nichts begriffen? Der Tag, an dem ich auch nur einen meiner Männer im Stich lasse, ist der Tag, an dem sie gewonnen haben! An dem Tag haben sie mich kleingekriegt! Alles andere, was sie mir antun können, zählt nicht.«

»Verdammt noch mal, Mikhail!« Nun war es an Varzil, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. »Kannst du nicht einmal zuhören? Ich begreife weit mehr als du meinst! Ich kenne dich zu gut, um vorzuschlagen, du solltest deine Männer im Stich lassen. Aber wenn sich vierzig oder mehr Leute auf dich verlassen, dann ist es vielleicht an der Zeit, daß auch du lernst, dich ein wenig auf jemand anderen zu verlassen!«

»Glaubst du denn, du könntest das aushalten?« fragte Mikhail barsch.

»Warum stellst du mich nicht auf die Probe?« erwiderte Varzil.

Unvermittelt warf sich der Rebellenführer in die Arme eines äußerst erstaunten Prinzen. Auch ohne große Worte konnte Varzil die vielen tiefen, herzerweichenden Schluchzer spüren, die Mikhails Körper durchliefen, als sich der aufgestaute Kummer des Tages endlich Bahn brach. »Ich habe ihn mein Leben lang gekannt!« stieß Mikhail hervor. »Und ich habe ihn getötet. Ich habe ihn getötet!«

Plötzlich teilte Varzil in vollem Umfang den ganzen Schmerz des Rebellen, als Mikhails Barrieren sich auflösten und sie im Rapport verschmolzen. Da er als Ridenow die volle empathische Gabe seiner Familie besaß, war Varzil dagegen völlig wehrlos; ihm blieb nur, den anderen in ihrem gemeinsamen Austausch fest zu halten.

Als er sich Sekunden später wieder in der Gewalt hatte, entschuldigte sich Mikhail rasch: »Es tut mir leid, Val, das wollte ich wirklich nicht.«

»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich darum gebeten«, entgegnete Varzil ruhig. Und endlich erwiderte Mikhail seinen Blick. »Erinnere mich daran, dich nicht länger chiyu zu nennen, mein Freund.«

Beide waren gerade im Begriff, endlich einzuschlafen, als plötzliches Waffengeklirr sie wieder aufschreckte. Die Gefangenen versammelten sich rasch, um ihren Befreiern, so weit es ihnen möglich war, beizustehen. Sie erkannten aber schnell, daß ihre Hilfe gar nicht nötig war, da ihre Bewacher von dem Angriff völlig überrascht worden waren.

Varzil ertappte einige der neu hinzugekommenen Männer dabei, wie sie ihn neugierig musterten, während sie ihren Pflichten im Lager nachgingen. Schließlich kam einer von ihnen mit einer Portion heißen Eintopfs auf ihn zu. Er reichte sie Varzil wortlos, und als er die Peitschenstriemen auf seinem Rücken bemerkte, schickte er ihn zum Sanitätszelt. Da auch Mikhail dorthin verschwunden war, folgte Varzil ihm bereitwillig.

Er war kaum in den überfüllten Unterstand eingetreten, als ein Sanitäter ihm einen Platz zuwies und sich daran machte, ihm die Überreste seines Hemdes vom Rücken zu schälen und eine schmerzlindernde Salbe aufzutragen. Varzil schloß einen Augenblick lang erleichtert die Augen. Noch nie hatte ihm etwas derart gut getan! Aber als er die Augen wieder öffnete, bemerkte er, wie der Anführer des Befreiungskommandos ihn mit unverhohlener Verwunderung anstarrte.

Der Mann nickte höflich in Richtung Tür, und Varzil ging gehorsam hinaus. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, daß Mikhail ihm gefolgt war.

Sobald sie allein waren, wandte sich der neue Rebell verärgert an Mikhail. »Du weißt doch, wer er ist, oder etwa nicht?« warf er ihm anklagend entgegen.

»Ein Freund«, erwiderte Mikhail.

»Verdammt noch mal, Mikhail. Wir haben gerade dreizehn unserer Männer im Kampf gegen seinesgleichen verloren, und du stehst seelenruhig da und nennst ihn einen Freund?«

»Das reicht!« Mikhails Augen sprühten vor Zorn. Bevor er weiterredete, atmete er tief durch. »Schau ihn dir an, bredu«, erklärte er seinem alten Freund mit großem Nachdruck. »Er ist mit uns marschiert, hat unser Lager geteilt, hat mit uns gelitten und ist mit uns jeden Tag ein Stück weit gestorben. Du wirst hier nicht einen finden, der sich auch nur einen Dreck um seine Herkunft schert.«

Der Mann vermied es, Varzil anzusehen, starrte vielmehr zu Boden und seufzte schließlich. »Ich habe deinem Urteil stets vertraut, mein Bruder, wenn ich auch nicht behaupten kann, daß ich deiner Logik immer folgen konnte.« Dann begegnete er Mikhails Blick und lächelte angesichts ihrer gemeinsamen Erinnerungen. »Na ja, deshalb bist ja wohl auch du der Anführer geworden. Und wenn du mir sagst, daß er die Bezeichnung Freund verdient hat, dann sei es so.«

Und damit wandte er sich unvermittelt Varzil zu. »Wirst du also bei uns bleiben oder nach Serrais weiterreiten?«

»Mir war nicht bewußt, daß mir in dieser Frage eine Wahl bleibt«, gab Varzil zur Antwort, die er mit einem fragenden Blick an Mikhail verband.

»Val, meine Männer folgen mir aus freien Stücken. Du weißt, daß du willkommen wärst, aber die Entscheidung liegt bei dir. Überlege sie dir gut, mein Prinz. Falls Lord Serrais dein Verhalten als Verrat betrachtet, könnte deine Rückkehr durchaus deinen Tod bedeuten.

Ich habe deinen Vater mein ganzes Leben lang beobachtet und ich weiß, was er dir antun wird. Er hat andere Söhne, Val. Söhne, die keine Fragen stellen.«

Als Varzil dieser Andeutung widersprach, redete Mikhail eindringlich und fast schon flehentlich auf ihn ein. Der andere Mann entfernte sich unauffällig, während die beiden die Sache erörterten, kehrte aber später mit einer Satteltasche und einem Reittier zurück.

Für den jungen Prinzen war es ein düsteres Vorzeichen, daß man ihn bei seiner Ankunft auf Burg Serrais sofort und ohne weiteres Zeremoniell in das Audienzzimmer des Königs führte, und es ihm noch nicht einmal gestattet wurde, sich zuvor zu waschen oder die Kleider zu wechseln.

»Mein Sohn.« Die Stimme seines Vaters klang zu Beginn nahezu sanft. Bei dieser Anrede atmete Varzil erleichtert auf – vielleicht war ja alles doch nicht so schlimm wie er befürchtet hatte. Aber die Erleichterung schlug schnell in Entsetzen um, als er hörte, wie sein Vater beiläufig verlangte, er solle seine Barrieren gegenüber der versammelten Schar von Laranzu, die schweigend in einer Ecke der großen Halle warteten, herablassen. Und plötzlich sprach sein Vater mit der ganzen Autorität königlicher Befehlsgewalt.

»Es gibt Kreise, die deine Treue mir und Serrais gegenüber in Zweifel ziehen. Schreckst du etwa vor dem einzigen Mittel zurück, sie zum Schweigen zu bringen?« Er gab dem obersten Laranzu ein Zeichen hervorzutreten, während er mit seinen Befehlen fortfuhr.

»Im Verlauf der Prüfung durch den Laranzu bist du angewiesen, dich auf die Erinnerung an die Rebellen zu konzentrieren. Selbst kleinste Details, die dir unwichtig erscheinen, können möglicherweise einen Hinweis zu ihrer Eliminierung liefern.«

»Nein, mein Lord! Ich flehe euch an!« Varzil sank bittend auf die Knie. »Ich gebe euch mein Wort, daß ich nichts von militärischer Bedeutung weiß und daß ich aus Loyalität gegenüber Serrais zurückgekehrt bin!«

»Wirst du es mir leicht oder schwer machen?« entgegnete der König unbewegt.

»Wenn es denn sein muß – schwer«, gab Varzil verbissen zurück und richtete sich herausfordernd auf.

Vier Wächter traten hinzu und hielten ihn fest, während der Laranzu mit prüfender Hand um seinen Körper auf und ab strich, ohne ihn jedoch dabei zu berühren.

»Er trägt eine Matrix, die entfernt werden muß«, stellte der Mann sachlich fest und wandte sich, um Erlaubnis bittend, an den König.

Der Prinz mußte kräftig schlucken. Die Matrix, die seine telepathische Gabe verstärkte, war seit dem zehnten Lebensjahr auf seinen Körper und sein Gehirn eingestimmt worden. Er wußte, daß es tödlich für ihn enden konnte, falls sie von jemandem ohne entsprechende Ausbildung entfernt würde. Und er wußte auch, daß der kaltherzige Hexenmeister seines Vaters diese Ausbildung nicht besaß – und daß ihn dies nicht im geringsten kümmerte!

Der Laranzu schlitzte mit seinem Dolch Varzils Gürteltasche auf, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sich vorher auf die Matrix einzustimmen. Völlig teilnahmslos ließ er den Stein in seine bloße Hand fallen und preßte ihn dann fest in der geballten Faust, denn er wußte, daß dies seinem Opfer das Gefühl gab, bei lebendigem

Leibe

zerquetscht

zu

werden.

Als

die

Schmerzensschreie des Prinzen nachließen, ging der Laranzu zu einer Feuerstelle und hielt seine Hand mit dem Stein über die offene Flamme, wobei er seinen eigenen Schmerz mittels der Matrix vorsätzlich auf den empfindlichen Empathen übertrug.

Varzil stieß immer wieder unzusammenhängende Schreie aus, ehe er zuckend zu Boden sank. Ein Raunen ging durch die Reihen am Hofe, als der Laranzu lässig zu einem telepathischen Dämpfer schritt und den Stein in dessen Feld legte. Dann näherte er sich wieder dem Thron und warf dabei kaum einen Blick auf den zusammengebrochenen Prinzen.

»Nach einigen Tagen ohne Matrix dürfte er für ein Verhör bereit sein«, stellte er ohne Gefühlsregung fest.

Lord Serrais blickte alle im Raum herausfordernd an, worauf sofort Ruhe eintrat. »Werft ihn in den Kerker«, befahl er den Wachen knapp.

Während Varzil noch in Ketten gelegt wurde, platzte ein Mann laut rufend ins Zimmer.

»Lord Serrais, wir werden angegriffen! Die Burg ist völlig umstellt!«

»Von wem? Rede, Mann! Wie viele sind es?«

»Wir wissen es nicht genau, mein Lord. Sie tragen keine uns bekannten Standarten. Aber ein Bote wartet am Tor.«

»Bringt den Mann sofort zu mir«, befahl der König streng.

»Jawohl, mein Lord!« Der Wächter salutierte kurz und verschwand.

Der König kniete an Varzils Seite und schlug ihm unerbittlich ins Gesicht, um ihn wieder zu Bewußtsein zu bringen. Als der Prinz stöhnend die Augen öffnete, forderte sein Vater herrisch Antwort.

»Deine Rebellen sind anscheinend hier. Hast du gewußt, daß sie nach Serrais marschieren?«

Varzil, der dies nur für einen anderen Trick hielt, blieb stumm und wischte sich mit der Hand langsam das Blut aus dem Mundwinkel.

Als er aber den Kopf hob und die Halle hinabblickte, war er wie vom Donner gerührt.

»Mikhail.« Völlig fassungslos formten seine Lippen lautlos den Namen.

Mikhail kniete nicht nieder, als er sich näherte; statt dessen nickte er Varzil kurz zu.

»Sprich, Rebell! Wie lautet deine Botschaft?« Mit erhobener Hand befahl der König den anderen zurückzuweichen.

»Wie ihr wünscht«, entgegnete Mikhail. »Unsere Bedingungen sind klar und einfach. Liefert Prinz Varzil an uns aus, oder wir greifen an. Wir haben euch völlig umzingelt und abgeschnitten.

Trotz euer überlegenen Waffen würden wir schließlich die Oberhand gewinnen.«

»Das muß sich erst noch zeigen«, meinte der König. »Was aber wollt ihr von Varzil?«

»Er wird hier gefoltert; das wollen wir beenden.«

»Und weiter nichts?«

»Nichts weiter.«

Lord Serrais zeigte dafür nur offene Verachtung. »Ich soll also allen Ernstes glauben, du würdest das Leben all deiner Männer da draußen für meinen Sohn aufs Spiel setzen?«

»Mir ist es eigentlich egal, was ihr glaubt. Tatsache ist, daß wir vor euren Toren stehen. Wie lautet eure Antwort, Lord Serrais?«

»Sag mir noch eins«, erkundigte sich der König sarkastisch.

»Gesetzt den Fall, die Krone ließe sich auf einen Tausch ein«, einen Moment lang schien er wirklich zu überlegen. »Angenommen, Varzil gegen dich, der Prinz im Austausch gegen den Anführer der Rebellion. Würdest du darauf eingehen?«

»Ja«, antwortete Mikhail ohne zu zögern.

»Einfach so? Ohne Versprechungen, ohne Garantien?« Der König mußte lachen.

»Einfach so«, erwiderte Mikhail gefaßt.

Lord Serrais hatte genug gehört; er sprang jäh auf, das Lachen war aus seinem Gesicht gewichen. Mit einer Handbewegung wies er die Wachen an, den Rebellen gefangenzusetzen.

Aber ehe er noch weitere Befehle erteilen konnte, krampfte sich seine Brust zusammen, und seine vor Schrecken weit aufgerissenen Augen starrten auf die Stelle, zu der Varzil gekrochen war, um seine Matrix wiederzuerlangen.

Keiner wagte sich einzumischen, als die elektrisch aufgeladene Luft zu knistern begann und der alte Mann leblos zu Boden sackte.

Varzil raffte sich mühsam auf und blickte kurz im Raum umher –die anwesenden Männer gehörten zur Leibwache des Königs.

Nachdem er tief durchgeatmet hatte, wandte er sich ihnen zu.

»Ihr habt meinem Vater treu gedient. Darf ich die gleiche Loyalität erwarten?«

Jetzt erst wurde ihnen allmählich klar, daß sie ihrem neuen König gegenüberstanden, und ausnahmslos knieten alle nieder und murmelten ihre Beteuerungen. Schließlich waren sie an solch rasche Machtwechsel durchaus gewöhnt.

Varzil lächelte zufrieden. »Ich danke euch und betrachte euer Verhalten als Eidesleistung. Ihr dürft euch erheben.«

Den Wachen gab er ein Zeichen sich zu entfernen; dann wandte er sich schnell Mikhail zu.

»Ihr hättet doch inzwischen schon seit Tagen in den Hellers sein sollen …« Es klang halb wie ein Vorwurf, halb wie eine Frage.

Der Rebell antwortete ihm ruhig. »Du erinnerst dich an jene Nacht, in der du aus lauter Sturheit beinahe erfroren wärst, und ich es einfach nicht fertig brachte zuzuschaun? Nun ja …« Mikhail zuckte nur leicht mit den Schultern.

»Aber das war doch kein vorbereiteter Angriff? Ihr seid mir einfach gefolgt?«

»Laß dir jedenfalls von niemandem einreden, du würdest einen brauchbaren Kundschafter abgeben, Varzil. Wir waren die ganze Zeit höchstens zwei Stunden hinter dir.«

Als Varzil auf ihn zuging, wollte Mikhail vor ihm niederknien.

»Was fällt dir ein!« rief Varzil ungehalten. »Wie du ja nur gar zu gern bemerkst, neige ich dazu, mich selbst in alle möglichen Schwierigkeiten zu bringen; aber das hier, Mikhail, das hast du mir eingebrockt! Also wirst du mir auch, verdammt noch mal, dabei helfen!«

»Wie ihr wünscht, mein Lord«, erwiderte Mikhail gehorsam, aber es klang kalt und teilnahmslos.

Der neue König erschrak über den veränderten Tonfall. Ihm war klar, daß er bei Mikhail schon wieder ins Fettnäpfchen getreten war.

Aus der Halle drang ein erregtes und anschwellendes Stimmengewirr, als Varzil sich dem Rebellenführer bis auf Armeslänge näherte und einen mit Edelsteinen besetzten Dolch aus seinem Gürtel zog. Wortlos hielt er ihn, Knauf voran, dem anderen entgegen, und in seinen Augen stand die Bitte, er möge ihn annehmen.

»Ich erinnere mich an das letzte Mal, als wir ein Messer austauschten«, sagte Mikhail leise und erwiderte Varzils Blick.

»Ich auch, und ich frage mich noch immer, ob du mir wirklich schon verziehen hast.«

Mikhail brach den Blickkontakt ab, als er die Klinge in die Scheide steckte. Das war Antwort genug, denn die Annahme eines Messers galt als Zeichen der Brüderschaft, ob nun unter Königen oder unter Bürgerlichen. Der Rebell wunderte sich selbst, warum in Zandrus Namen er dies eigentlich tat.

»Ich danke dir, bredu«, flüsterte Varzil. Dann fügte er hinzu: »Ich brauche deine Hilfe, Mikhail. Wirst du bei mir bleiben? Bitte?«

Da es sich diesmal um eine Bitte des neuen Königs und keine Anordnung handelte, erklärte Mikhail nur lakonisch: »Nun ja, du scheinst am Ende doch noch lernfähig zu sein.«

»Ich hatte ja auch einen unnachgiebigen Lehrer«, gab Varzil zurück.

Auf diese Antwort hin konnte Mikhail ein Lächeln nicht länger unterdrücken, und Varzil warf sich vorbehaltlos in die Arme des Rebellen.

»Eins zu null für dich, bredu«, flüsterte Mikhail leise, als er die Umarmung erwiderte. Beide schenkten den schockierten Blicken am Hofe keine Beachtung – sollten es doch alle sehen: ihr neuer König war ein Rebell!

DIANA PERRY & VERA NAZARIAN

Die Tänzerin von Darkover

Vera Nazarian und Diana Perry gingen zusammen auf das Pomona College in Claremont in Kalifornien. Diana kommt ursprünglich aus Oakland, Kalifornien, und Vera stammt meines Wissens nach aus Südkalifornien. Beide sind 24 Jahre alt. Diana belegte »Internationale Beziehungen«, während Vera Psychologie und Englisch studierte und laut eigener Aussage »mit Computern spielte«. Für Diana ist dies die erste Veröffentlichung, aber Vera hat schon seit Sword & Sorceress II Beiträge für meine Anthologien geliefert. Sie meint, diese Geschichte sei im wesentlichen Dianas Schöpfung. Da ich Vera kenne, bin ich aber sicher, daß sie ihren Anteil daran etwas zu bescheiden einschätzt.

Ich habe schon öfters zugegeben, daß ich keine Ahnung habe, warum ich dem Tanz auf Darkover eine solche Bedeutung beigemessen habe; ich selber kann überhaupt nicht tanzen und hege in dieser Hinsicht auch keinerlei Ambitionen. In meiner Schule verlangte man von Jungen und Mädchen regelmäßig, Samstagsnachmittags in der Turnhalle zu tanzen. Diese Art des Tanzes hat mich nie interessiert. Meine Tochter ist übrigens eine begabte Tänzerin und hat bereits mit neun Jahren damit angefangen. In den achtziger Jahren habe ich dann auch einige Ballettstunden genommen.

(Da war ich bereits jenseits der fünfzig! Es fällt mir noch immer schwer zu begreifen, daß ich schon so alt bin; so wie ich mich fühle, sollte ich eigentlich eher siebzehn sein!). Ich fragte damals Moira: »Würde es dich überraschen zu hören, daß ich mich dabei für eine Frau meines Alters ziemlich gut halte?«

»überhaupt nicht«, lautete die Antwort. »Von irgendjemand muß ich es ja mitbekommen haben.«

In den Hellers herrschte eine Hitzewelle. Die Luft lastete brütend heiß und unerträglich auf den vereisten Bergketten; große Brocken des schneebedeckten Urgesteins erzitterten unter ihrem Angriff, und Sturzbäche aus Schmelzwasser tosten die Hänge hinab. Sie hinterließen eine Spur der Verwüstung, rissen Erde und Geröll mit sich und entwurzelten die Nadelbäume, die seit Jahrhunderten unbeweglich am Fuße der Hellers gestanden hatten …

Am tief violetten Himmel schwebte das Dreigestirn der Juwelmonde: Kyrrdis, Idriel und Mormallor. Aber was war mit Liriel geschehen? Wo war der Mond mit dem Glanz eines Pfauenauges?

Sie legte sich wie purpurroter Samt über das Land, und noch immer drückte die Hitze alles erbarmungslos nieder – diese Hitze …

Alessandra schreckte aus dem Schlaf hoch und spürte, wie ihr der Schweiß am Hals herablief. Die Temperatur in ihrer Schiffskabine und das leise Surren des Klimasystems deuteten darauf hin, daß sie im Schlaf den Temperaturregler auf »heiß« gestellt haben mußte –das erklärte auch ihren Alptraum.

Als Alessandra die Luftzufuhr auf »kühl« zurückdrehte, nahm der unglaubliche Anblick, der sich ihr durch das Bullauge bot, sie sofort gefangen. Er ließ sie alles andere vergessen, und ihr Herz zog sich zusammen, als wolle es ihr förmlich aus dem Leibe springen. Alte Erinnerungen tauchten wieder auf, und ihre Gefühle wirbelten wilder durcheinander, als sie es jemals – selbst nicht bei ihren wildesten akrobatischen Tanzvorführungen – gekannt hatte.

Unter ihr erstrahlte ein dunkelvioletter Planet, der jetzt den Blick aus dem Fenster fast vollständig einnahm. Während ihr die Erinnerungen noch durch den Kopf schossen, senkte sich das Raumschiff auf dieses urzeitliche Violett hinab, bis die Schwärze des Alls aus dem Bullauge völlig verschwunden war und die Farbe des Planeten alles in ihr Licht tauchte.

Über die Bordanlage hörte Alessandra die Ankündigung, die ihr wie aus großer Entfernung zu kommen schien: Cottman IV. Eintritt ins Orbit in zehn Sekunden. Fünf Sekunden. Eintritt ins Orbit um Cottman IV vollzogen.

Die Bezeichnung »Cottman IV« bedeutete ihr so wenig. Sie kannte einen viel besseren Namen dafür, einen schöneren und ausdrucksstärkeren Namen für den eisigen, violetten Ort mit seinen zum Himmel aufragenden Bergen und seinem ungemein stolzen Volk. Ihrem Volk. Und ihrer Heimat.

Der Name lautete Darkover.

Das dunkelhaarige Haupt halb zur Seite gewandt, beobachtete Ruyven Di Asturien das große, silberne Raumschiff beim Andocken.

Sein tief gebräuntes Gesicht schien völlig ausdruckslos; nur in seinen kühlen Augen blitzte es stählern und unkontrolliert auf. Dan Lawton glaubte genau zu wissen, was dem stellvertretenden Kommandanten der Stadtgarde durch den Kopf ging; er wußte nur zu gut, daß einzig Comyn-Loyalität und die anerzogene Höflichkeit ihn und seine Anordnung hier hielten, um die »Erbin« Aillard standesgemäß zur Comyn-Burg zu geleiten.

Der Comyn-Rat hatte Alessandra Kyrielle Aillard nur widerwillig dazu aufgefordert, nach Darkover zurückzukehren, um sich auf die Übernahme ihrer Pflichten als designierte Erbin der Aillard-Domäne vorzubereiten. Alessandra war die dritte Tochter der verstorbenen Aliciane Aillard; das Glück hatte es mit den Frauen in ihrer Familie nicht gut gemeint. Die älteste, Daniella, war zwar verheiratet, aber kinderlos und hatte schon vor langem die zweite Schwester, Briona, als Erbin eingesetzt. Doch nun war Briona tot. Und Alessandra spürte, wie die unvorstellbare Last auf sie einstürzte, die die unerwartete Verantwortung und Pflicht mit sich brachten. Diese Pflicht war Teil ihrer Abstammung und konnte nicht mißachtet werden.

Lawton konnte mit ihr fühlen; nicht so der strenge Di Asturien, der seine Jugend hinter einer Maske aus Selbstbeherrschung, Loyalität und Tradition verbarg und damit viel älter wirkte, als es seinen 28 Jahren entsprochen hätte. Ohne diese Anspannung, ohne diese Comyn-Strenge um seine Mundwinkel wäre er sicherlich ein gutaussehender Mann gewesen. Aber wie all die anderen Comyn auch würde Ruyven diese Frau, die im Begriff war, nach siebenjähriger Abwesenheit ihren Fuß wieder auf ihren Heimatplaneten zu setzen, nie völlig akzeptieren können. Mit fünfzehn Jahren, fast noch ein Kind, hatte sie an der Seite ihres

»frivolen« Vaters Darkover verlassen – aber war er wirklich frivol gewesen oder hat er nur versucht, so mit dem frühen Tod seiner Frau fertig zu werden? fragte sich Dan Lawton – jedenfalls war Alessandra in weit entlegenen Welten des fremden Imperiums gereist und hatte an exotisch schillernden Orten eine glänzende Karriere als Tänzerin für sich aufgebaut. Tatsächlich war Alessandra Aillard eine intergalaktische Berühmtheit – eine Tatsache, die kein Comyn jemals billigen würde: Keine Comyn-Frau, die etwas auf sich hielt, würde eine derartige öffentliche Zurschaustellung dulden oder sich einer solch skandalösen Aufgabe verschreiben.

Vom Standpunkt der Darkovaner aus konnte Lawton verstehen, daß Alessandra in ihren Augen die uralten, einheimischen Tanztraditionen Darkovers entweihte und »pervertierte«, wenn sie Elemente des männlichen Stolzes aus den wilden Bergtänzen herausnahm und in ihre eigenen weiblichen, modernen Choreographien einbaute. Wenn er sie aber als Terraner betrachtete, dann bewunderte Lawton die feurige, brillante Tänzerin, die in den höchsten intergalaktischen Kreisen der darstellenden Künste gefeiert wurde und als führendes Mitglied der Tänzergilde des Imperiums größte Anerkennung genoß. Er hatte Holo-Videos ihrer Auftritte gesehen, noch ehe er erfahren hatte, daß Regis Hastur die Anwesenheit dieser unglaublichen Frau auf Darkover verlangte. Er hatte sie tanzen gesehen!

Jetzt aber spürte Dan Lawton, wie Alessandra in die Fänge der Politik geriet. Hastur ging immer äußerst raffiniert vor, und Lawton begriff

diesen

Schritt

als

Teil

des

langwierigen

Veränderungsprozesses, auf den Regis intuitiv hinarbeitete.

Sicherlich war es ein geschickter Schachzug, das Haus Aillard einer Terra-freundlichen Erbin anzuvertrauen. Andererseits – wer war diese Alessandra wirklich? Wie stark hatte das Imperium sie geprägt, und in wieweit war sie eine echte Darkovanerin geblieben, die in der Lage war, über eine Domäne zu herrschen?

Es war die Zeit der Veränderungen, und nur die Zukunft konnte Gewißheit bringen. Inzwischen blieb Lawton nichts anderes übrig als zu beobachten.

Und genau das tat er, als sich ihnen nun, nur von einem Diener begleitet, eine zierliche Frau in einem körperbetonten terranischen Silberanzug näherte. Ihr Haar, das sie offen trug und das ihr bis zu den Hüften reichte, leuchtete wie eine Fackel, und in Verbindung mit der terranischen Kleidung schien sie ein hell strahlendes Licht zu verbreiten. Einen Augenblick lang mußte Lawton einen alten Aberglauben abschütteln: zu sehr glich sie der Feuerdämonin des Schmiedevolks.

Selbst der junge Di Asturien neben ihm konnte nicht anders, als sie anzustarren. Dann preßte er die Lippen um so fester zusammen.

Die junge Frau mußte wohl ihre Gedanken gelesen haben, denn sie drehte sich um und beeilte sich, einen für Darkover passenden Mantel, den man ihr reichte, umzulegen. Das Silber blitzte nun nur noch ab und zu durch die Falten, wenn sie sich bewegte.

Noch bevor einer der Männer das Wort ergreifen konnte, stand sie forsch und doch elegant vor ihnen, und ihre grünen Augen musterten sie entschlossen. Auch ihre Stimme verriet die echte Comynara, die es gewohnt war, Befehle zu erteilen und sich durchzusetzen.

»Dan Lawton, wie ich annehme?« sagte sie. »Ich bin Alessandra Aillard.«

»Es ist mir eine Ehre, Ms. Aillard. Oder sollte ich besser Damisela sagen, Comynara?« Lawtons Manieren ließ nichts zu wünschen übrig.

Der andere nickte nur kurz, betrachtete sie aber eingehend und verbarg dabei kaum seine Verachtung. »Ruyven Di Asturien, z’par servu. Wir sollen sie zur Comyn-Burg eskortieren, Damisela.«

»Lasse Sie doch bitte die Förmlichkeiten. ›Alessa‹ reicht voll und ganz. Ich habe mir daraus noch nie viel gemacht. Aber ich nehme an, daß sich das jetzt ändern wird. Jetzt, da ich hier bin …«

Die letzten Worte hatte sie halblaut mehr zu sich selbst gesprochen. Dann aber brach sie in ein überschwengliches, fast schon kindliches Lachen aus und übersah die finstere Miene des jungen Mannes. »Ja, jetzt da ich hier bin … Aber natürlich, gehen Sie voran, Mr. Lawton, Sir! Und Sie auch, Dom! Eskortieren Sie mich nur! Plötzlich ist es mir völlig egal, warum ich hier bin; nur daß ich hier bin zählt. Zu Hause!«

Im Verlauf des Tages hatte Regis Hastur eine weitere zähe Ratssitzung über sich ergehen lassen müssen, deren Monotonie aber immerhin etwas aufgelockert wurde. Man debattierte noch immer, und die ewig Gestrigen klammerten sich an diese letzte Gelegenheit, das Unvermeidliche abzuwenden: eine Frau, die von der Abstammung einmal abgesehen durch und durch Terranerin war, und die als designierte Erbin der Aillard-Domäne vereidigt werden sollte!

In der Halle herrschte Unruhe. Regis neigte seinen Kopf mit den schönen, traurigen Augen und dem schlohweißen Haar leicht ermüdet zur Seite. Zum wohl hundertsten Mal hörte er zu, wie irgend ein niedriger Comyn-Adliger seine Meinung kundtat und von Tradition faselte.

»Das brauchen wir uns nicht gefallen lassen!« ereiferte sich der Alte. »Was ist aus den Comyn geworden? Wer sind wir denn?

Welchen Sinn hat es noch, daß wir uns Comyn nennen, wenn wir nicht einmal mehr genug Stolz besitzen …«

Regis Hasturs Gedanken schweiften ab, als er die versammelten Comyn betrachtete. Er bemerkte auch die vielen leeren Bänke im Saal, der noch vor wenigen Jahren kaum genügend Sitzplätze für all die tatkräftigen Männer geboten hätte. Veränderung – wie eigenartig und wie schmerzlich ist die Veränderung. Und doch habe ich mich ihr ganz und gar verschrieben!

Der Redner fuhr voller Empörung fort und verlor dabei immer wieder den Kontakt mit der Realität.

»… und dann diese unglaubliche Schamlosigkeit, mit der sie unsere heiligsten Traditionen entweiht! Seht ihr denn nicht, wie sehr sie alles verhöhnt? Viele von uns haben diese gefangenen Bilder –wie heißt nochmal das verdammte terranische Wort dafür? – richtig, diese Videos ihrer Aufführungen gesehen. Wie sie sich dreht und windet! Nicht wie eine normale Frau, sondern wie ein Teufel aus Zandrus Siebter Hölle höchstpersönlich! Und das schlimmste dabei ist, daß man plötzlich merkt: Das habe ich doch schon einmal gesehen! Natürlich, das ist eine der kunstvollen Schrittfolgen aus dem Alton-Bergtanz! Oder aber …«

Regis blinzelte. Er erinnerte sich an die Videobilder eines atemberaubend geschmeidigen Körpers, makellos und lebhaft wie Quecksilber, als er an die Frau dachte, die er nach Darkover beordert hatte. Ihr Tanzstil war hypermodern und spektakulär, voller komplizierter, akrobatischer Bewegungen, bei denen sie einer lebenden Fackel glich. In der Erinnerung konnte er noch den tosenden Applaus in dem fremden, gigantischen Theaterrund hören. Und doch lag in jedem ihrer Schritte, in jeder Drehung ihres Kopfes, in jeder fließenden Bewegung, die Hand, Arme und Torso vollführten, ein Teil von Darkover. Es hatte ihn tief in seiner schwermütigen Bergseele berührt; ebenso tief in ihrem Wesen verborgen schien sich der violette Himmel wiederzuspiegeln, und ihr Haar, diese lodernde Fackel, verbreitete das gleiche blutrote Licht wie die Sonne Darkovers …

Es war wirklich an der Zeit, diese Frau endlich persönlich zu treffen, die für Regis inzwischen das symbolisierte, was Darkover sein könnte – die perfekte Verbindung des Alten mit dem Neuen, sobald die Veränderung, die er vor Augen hatte, vollendet war.

Die bekannt dreiste Stimme des Ridenows ließ Regis wieder aufhorchen, und er mußte unwillkürlich lächeln. Lerrys war an das Rednerpult getreten.

»Ihr Herren, genug davon«, bat Lerrys schnodderig. »Wir alle haben dies doch als unvermeidlich auf uns zukommen sehen. Und deshalb heiße ich die Domna Alessandra willkommen! Mehr noch, ich bewundere sie, denn sie zeigt dem Rest des Imperiums das Beste

– jawohl, das Beste, – was Darkover zu bieten hat. Und das dürfte ja wohl mehr sein, als die ganzen alten Chervines hier je erreichen werden!«

Lerrys warf einen Blick zur Aillard-Loge, in der Daniella stoisch und müde neben ihrem Bruder Endreas saß. Für ihn, den schönen Rotschopf Endreas, hatte sich Lerrys eigentlich so ins Zeug gelegt.

Endreas war Alessandras Zwillingsbruder. Seine Schwester, um die sich alles drehte, war bislang nirgends zu sehen.

Lerrys überließ das Rednerpult bald weiteren traditionsbewußten Comyn, die sich alle mehr oder weniger wiederholten. Eine bemerkenswerte Ausnahme, so schien es Regis, bildete Ruyven, der zweite Sohn aus dem Haus Di Asturien, der bereits von vielen trotz seiner Jugend hoch angesehen wurde. Im Gegensatz zu den pathetischen Alten stand er ruhig und gefaßt wie ein Fels in der Brandung. Er sprach mit leiser Ironie, die Regis aus irgendeinem Grund zu Herzen ging. »Was, werte Lords, sagen wir einer, die sich uns entfremdet hat? Einer, die sich davongestohlen hat und nun zurückkehrt, aber keine von uns mehr ist? Die Antwort erscheint mir einfach. Wäre es mein Kind, das zurückkehrt, würde ich fragen:

›Wer bist du? Wenn du mir noch immer sagen kannst, wer du bist, und das in einer Sprache, die ich verstehen kann, die aus meinem Blut zu mir spricht, dann werde ich dich wieder aufnehmen. Sonst aber scher dich fort, Wechselbalg, du bist nicht mein Fleisch und Blut!‹ Das gleiche muß man auch dieser Frau Alessandra sagen, die sich danach sehnt, den Namen Aillard zu tragen: ›Wer bist du, einstige Tochter der Comyn? Sprich jetzt zu uns, so daß wir es verstehen können. Ansonsten hast du keinerlei Anspruch. Mach dich dem Comyn-Blut, das in unseren Adern fließt, verständlich.‹

Nicht mehr, nicht weniger sei ihr gestattet.«

»Es reicht, Lord Regis! Ich verlange ein Ende dieser Debatte.«

Plötzlich war es still. Alle Augen waren auf Daniella gerichtet, die bislang geschwiegen hatte, jetzt aber mit sanfter Stimme unterbrach und sich dann erhob, um ans Rednerpult zu treten. Sich respektvoll verneigend machte Ruyven ihr Platz und schluckte seinen Zorn hinunter.

Daniella, die Herrin von Aillard, eine erschöpfte und dennoch stolze Comynara, trat vor ihresgleichen. »Lord Regis. Meine Lords.

Ich habe euch allen zugehört, und es erschien mir wie eine Ewigkeit.

Aber bei all euren wohlgesetzten Worten scheint ihr doch eine Sache ganz zu vergessen. Ich bin die Herrin von Aillard. Meine Schwester ist eine Aillard. Und in dieser Angelegenheit habe einzig und allein ich das letzte Wort. Bei allem gebührenden Respekt, Lord Regis, selbst Hastur kann mich jetzt nicht mehr davon abbringen. Meine Blutsschwester Alessandra erfüllt mich mit Stolz, und ich werde immer zu ihr stehen. Und was Euch betrifft, meine Lords, so tätet ihr gut daran zu erkenne, daß Alessandra mehr als alle anderen Ehre für uns erlangt hat.«

Und dann, nach einer kurzen Pause, verkündete sie: »Ich benenne jetzt meine designierte Erbin.«

In der Kammer erhob sich erhebliche Unruhe; aber Gabriel Lanart-Alton brachte sie alle wieder zum Schweigen. Dann trat, wie auf ein Stichwort, Alessandra ein.

Die makellose weibliche Gestalt zog all Blicke auf sich. Ihre Kleidung war für eine Adlige von hoher Geburt standesgemäß. Und doch erkannte Regis jetzt, da er sie zum ersten Mal vor sich sah, wie zierlich und zerbrechlich sie war. Höflich und alle Anstandsformen wahrend bahnte sie sich einen Weg, um ihren Platz an der Seite ihrer Schwester einzunehmen. Mit klarer und unerwartet kräftiger Stimme wiederholte Alessandra die Eidesformel; und ohne auch nur einmal zusammenzuzucken, trotzte sie allen Blicken. Sie stand hochmütig da, und bei der ihr angeborenen Anmut schien es einen Augenblick lang so, als ob sie bereits die Verantwortung übernommen habe und Herrin von Aillard sei, auch wenn ihre ältere Schwester neben ihr stand.

Was ihr jetzt durch den Kopf geht … fragte sich Regis. Nachdem die Eidesformel gesprochen war und Gabriel die Zeremonie beendet hatte, erkannte Regis Hastur die neue Erbin von Aillard formell an.

Danach tauschte er einige Höflichkeiten mit ihr aus, aber in Gedanken eilte er bereits voraus und überlegte, was er ihr wirklich sagen wollte, was er ihr in absehbarer Zukunft in informellen Gesprächen mitzuteilen hatte. Sie war für ihn jetzt das Symbol, das ein neues Darkover verkörperte.

Trotz all der Veränderungen blieb doch eines auf Darkover, wie es immer gewesen war: die Festnacht. Aus der Ferne betrachtet strahlten die Lichter in den vielen Fenstern der Comyn-Burg wie Hunderte von Glühwürmchen.

Der Ausdruck in Ruyven Di Asturiens stählernen Augen veränderte sich nur kurz, als Endreas Aillard müde und abgespannt in einem Flur der Burg an ihm vorbeiging. Beim Anblick des Zwillingsbruders jener Frau, die die Sterne bereist hatte und die er inzwischen haßte, fuhr er noch immer zusammen. Wie sehr sie sich ähnelten! Er würde in Endreas jedesmal nur sie wiedererkennen.

Wie gewohnt wahrte Ruyven zwar beiden gegenüber die Höflichkeit, aber innerlich schäumte er vor Zorn. Und wie gewohnt stellte sich der Gedanke ein: Schließlich hat sie doch noch alle für sich gewonnen. Jetzt sind sie alle ein Teil dieser verdammten Veränderung, die Hastur herbeiwünscht. Sie stürzen sich blindlings in eine Zukunft ohne Vergangenheit, ohne wahres Darkover.

»Frohe Festnacht, Dom«, wünschte Endreas im Vorübergehen.

Seine Augen wirkten heute stumpf und leer (ganz anders als die seiner Schwester, die stets strahlten – schon wieder drängte sich ihm dieser Gedanke auf).

»Das selbe für Euch«, erwiderte Ruyven mit jenem stets gleichgültigen Gesichtsausdruck, den er auch der Schwester gegenüber gezeigt hatte. »Ich freue mich schon darauf, Euch heute abend tanzen zu sehen. Der Schwerttanz ist wirklich eine große Ehre.«

Mit diesen Worten trennten sie sich. Welch eine Ironie, dachte Ruyven. Beide sollen heute abend tanzen. Bruder und Schwester. Und doch kann ich nur an sie denken. Und daran, wie sie wieder alle verhexen wird. Diese Narren!

Regis Hastur hatte persönlich darum gebeten, daß Alessandra Aillard die diesjährige Festnacht mit ihrem Tanz eröffnet. Es sollte ihr erster öffentlicher Auftritt auf Darkover werden, und jeder wußte, daß dies für sie eine einzigartige Gelegenheit bedeutete: sie konnte nicht nur sich selbst vollständig rehabilitieren, sondern sich auch bei denen wirklich beliebt machen, auf die es am meisten ankam – bei den Comyn. Diese Festnacht sollte Alessandras Nacht werden. Das alles ahnte Ruyven; aber er wußte nicht, daß mit Sondergenehmigung und gegen alle Tradition diesmal sogar Korrespondenten aus Terra der Festnacht beiwohnen und Alessandras Vorführung aufzeichnen sollten. Hastur wollte in der Tat klare Verhältnisse schaffen.

Im großen Ballsaal drängten sich die Menschen dicht an dicht.

Überall tauchten bekannte Gesichter auf. Regis stand mit einem Glas Wein in der Hand abseits und beobachtete sie auf seine typisch melancholische Art.

Auch der alte Nicholas, der Vater von Daniella und Alessandra, war mit dem Raumtransporter nach Darkover zurückgekehrt.

Einige hielten ihn für einen alten Narren, aber Regis sah in ihm eher ein großes, gutmütiges Kind, das sich nun, in Ehren ergraut, mit einem Comyn-Bekannten aus längst vergangenen Tagen unterhielt.

Lerrys rauhes Lachen war meilenweit zu hören. Nur wenige Schritte von den Ridenows entfernt befanden sich einige Frauen aus dem Clan Di Asturien. Domna Mariel pflanzte ihre schwergewichtige Gestalt in einen Sessel und nippte an einem Fruchtpunsch. Ihre Kinder und Enkel scharten sich um sie: da war die hübsche Lorinda, die mit ihren dreizehn Jahren gerade erst erblühte; die ältere Graciela war so stämmig gebaut wie ihre Mutter und hatte ihren eigenen Nachwuchs mitgebracht – immerhin auch schon drei. Dom Evan-Domenic stand in einiger Entfernung bei seinem zweiten Sohn Ruyven. Der älteste, Geremy, war nicht anwesend, und der jüngste, der fünfzehnjährige Keenan, leistete gerade seinen Kadettendienst.

Wie die Zeit vergeht, dachte Regis. Vor seinen Augen vermischte sich die Realität mit Bildern, die aus seiner Erinnerung aufstiegen; in letzter Zeit neigte er mehr und mehr dazu. Anstelle von Evan-Domenic sah er den alten Domenic Di Asturien, so wie er ihn aus ihrer Kadettenzeit im Gedächtnis behalten hatte – der Inbegriff von Tradition.

Sein Herz schlug schneller, als er glaubte, seinen guten Danilo in der Menge zu erblicken, den jungen, unschuldigen Danilo, der er einst gewesen war, und nicht den treuen, aber müden Friedsmann, den Regis jetzt kannte. Aber das konnte nicht sein, Danilo war nicht hier.

Und blickten ihn da nicht jene unvergeßlichen, stechenden Adleraugen an? Der dunkle Teint, die edlen Gesichtszüge, umrahmt von dichten schwarzen Locken, die herausfordernd geschwungenen Lippen? Nein! Warum mußte er ausgerechnet jetzt an Dyan Ardais denken? Es war doch nur der junge, stets finster dreinblickende Ruyven Di Asturien. Und nicht Dyan, lange schon tot …

Andere Schattengestalten aus der Vergangenheit stellten sich ein.

Regis fühlte sich leicht benommen und stellte sein Glas ab.

In der großen Halle ließ man die Lichter verlöschen, als der erste Tanz begann. Überall flüsterte man erwartungsvoll; eine ungeheure Spannung lag in der Luft, so als ob etwas halb Verbotenes geschehen sollte. Endlich würden sie alle die Frau tanzen sehen!

Ein Scheinwerfer beleuchtete eine weiße Gestalt. Alles hielt den Atem an – sie würde den Jungferntanz aufführen, den kompliziertesten aller alten Frauentänze, der in Tradition und Überlieferung so weit zurückreichte, daß sich seit Jahren niemand mehr daran versucht hatte.

Das Orchester spielte im Verborgenen die ersten Takte.

Alessandra lag in einem zartweißen Gewand ausgestreckt auf dem Boden. Das Haar floß ihr lose um die Schultern. Sie atmete kaum.

Als die Musik langsam und zart wie eine sich öffnende Knospe anschwoll, erhob sie sich. Der weiße Stoff warf viele schimmernde Falten, bedeckte ihren. Leib, verbarg aber kaum ihre Beine unter den filigranen Streifen. In ihren Bewegungen verbanden sich Kraft und unglaubliche Zartheit, als sie die alte Schrittfolge aufnahm und das Tempo forcierte. Immer schneller zuckten ihre Glieder, ohne daß sie dabei auch nur einmal jene Anmut verlor oder die geringste Geste ausließ.

Den Rhythmus steigerte sich, und klagende Dudelsacktöne mischten sich darunter, als die Jungfrau sich vor ihnen hin und her wiegte, wie eine Feder in der Mitte der Halle dahinschwebte und mit ihrem gesamten Körper – ohne einen einzigen Ton – Aldones anrief, der für sie der einzig wahre Herr des Lichts war und von dem sie doch ewig unerhört blieb.

Wie seltsam, dachte Regis, daß solch tief empfundenen Qualen allein durch Gesten und Bewegungen und ohne das geringste Mienenspiel dargestellt werden können.

In der Schlußszene des Tanzes offenbarte Alessandra, die weiße Blüte, ihren feuerglühenden Kern: Ihre Gestalt schien sich aufzulösen, als sie im wilden Crescendo herumwirbelte, und nur ihr flammendes Haar zeigte den ungläubigen Zuschauern, wo sie sich inmitten der flirrend-rasenden Bewegung tatsächlich befand.

Als sie geendet hatte, kniete Alessandra sich nieder und neigte den Kopf nach vorne; ihr Gesicht verschwand hinter dem Schleier ihrer roten Haare. Den losdonnernden Applaus hörte sie nicht. Sie war noch immer die Jungfrau, ganz und gar mit ihrer Rolle verschmolzen. Nur die größten Künstler vermochten dies …

Ruyven stand schweigend da. Er hatte sich dem Beifall der anderen nicht angeschlossen. Sein Herz war zu Eis erstarrt, und doch zitterte er erregt, denn er wußte, daß auch er im nächsten Augenblick nachgeben würde. Das aber hieße, dem tödlichen Zauber zu erliegen und das Ende von Darkover, das sie verkörperte, hinzunehmen. Und das durfte nie geschehen … .

»Bravo!« rief Lerrys Ridenow. »Das war das Beste, was ich je an darkovanischem Tanz gesehen habe!« Und diesmal stimmten ihm zahlreiche andere vorbehaltlos zu.

Alessandra hatte sich inzwischen erhoben und war zu Hastur ans Büfett hinübergegangen. Sie war vom Tanz noch immer außer Atem und erregt.

»Sie haben meine Erwartungen alle übertroffen, Damisela«, lächelte Regis. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich habe Videos Ihrer Aufführungen gesehen, aber das hier – « Er suchte hilflos nach passenden Worten, gab aber schnell lachend auf. »Ich hätte nie gedacht, daß der menschliche Körper dazu fähig wäre!«

Alessa stimmte in sein Lachen ein. »Sie übertreiben, mein Lord!

Schließlich bin ich nicht die erste, die diesen Tanz aufführt, wie Sie sich sicherlich erinnern können.«

»ja und nein. In gewissem Sinne sind Sie die erste. So hat noch keine vor Ihnen getanzt. Dieser Tanz gehört ganz allein Ihnen.«

Hinter ihnen erklang die schneidende Stimme von Ruyven Di Asturiens, und als sie sich umdrehten, trat der junge Mann näher.

»Verzeihung, Lord Hastur, wenn ich stören muß.« Seine eindringlichen grauen Augen richteten sich auf Regis, der freundlich zurücklächelte. Ihm gefiel die Aufrichtigkeit dieses Mannes, auch wenn er »zum anderen Lager« gehörte.

»Von Ihnen fasse ich es als Kompliment auf«, erklärte Alessa und erwiderte unerschrocken Ruyvens Blick. Er nahm an ihr erneut diese Andersartigkeit wahr, diesen terranischen Schliff, der ihre ansonsten

untadeligen

darkovanischen

Umgangsformen

überlagerte. Unwillkürlich verfinsterte sich seine Miene wieder, was Alessas Aufmerksamkeit nicht entging. Für ihn war es eine reine Unverschämtheit, wie sie ihn fortwährend musterte – sie, einerseits höflich, fast zerbrechlich, andererseits so energiegeladen. Von Anfang an hatte diese Spannung zwischen ihnen geherrscht. Wenn sie sich begegneten, war es wie ein Tanz auf Messers Schneide.

Beide spürten es, beide wußten es. Schließlich besaßen beide genügend Laran.

Trotz seiner höflichen Komplimente würde er mich am liebsten mit ihnen steinigen. Aber warum? Warum haßt er mich so? Weil ich so bin wie ich bin? Welch ein Narr!

Selbst Regis konnte mit seinem schwächer entwickelten telepathischen Gespür den spannungsgeladenen Konflikt wahrnehmen. Zum Glück aber schlossen sich ihnen in diesem Augenblick Lerrys und ein weiterer junger Comyn an. Der Junge kam frisch von den Kadetten; er starrte Alessa an, als sei sie die heilige Cassilda höchstpersönlich,

und stammelte einige

unbeholfene Komplimente. Lerrys plauderte munter drauf los, was Regis erleichtert aufatmen ließ. Wenn Di Asturien nur endlich damit aufhören wollte, sie so finster anzublicken …

Aus der Menge tauchte Alessas Zwillingsbruder auf und steuerte auf sie zu. Ruyven verglich zum wiederholten Male Bruder und Schwester: nahezu gleich groß, die gleichen flammend roten Haare, der gleiche feingliedrige Körperbau.

»… Wie haben Sie bloß all unsere Tänze einstudieren können?«

wollte Lerrys wissen. »Das begreife ich wirklich nicht. Wie alt waren Sie, als Sie Darkover verließen? Und wer hat Ihnen das alles beigebracht?«

Alessa war solch typischen Fragen gewohnt. »Glauben Sie mir, Lerrys, die Terraner sind mit den Sitten und Gebräuchen auf Darkover besser vertraut als Sie meinen. An der Akademie der Darstellenden Künste gab es zum Beispiel ausreichend Archivmaterial, das ich studieren konnte. Außerdem war einer meiner Lehrer selbst Darkovaner, der mit den hiesigen Tänzen bestens vertraut war. Und dann …«

»Alessa, ich muß dich sprechen. Verzeiht, Lord Hastur.« Endreas war kreidebleich. Er hatte zunächst noch schweigend vor sich hingestarrt, bevor er sie ansprach. Als Alessa sich zu ihm umdrehte, erkannte sie an seinem Gesichtsausdruck, wie dringend es war.

»Entschuldigt mich, Lord Regis.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte sie sich.

Die Geschwister unterhielten sich möglichst leise. Irgendwas schien Alessa zu erschrecken. Dann kehrte sie zur Gruppe um Regis zurück.

»Alles in Ordnung, Damisela?« erkundigte er sich besorgt, als er ihren veränderten Gesichtsausdruck wahrnahm. Auch Ruyven blickte sie eindringlich an.