Genf, den 18. Mai 17..

Mein lieber Viktor! Mit der größten Freude erfüllte mich Deines Vaters Brief aus Paris; denn nun weiß ich, daß Du nicht mehr allzuweit entfernt bist und in weniger als vierzehn Tagen bei mir sein wirst. Mein Geliebter, was mußt Du gelitten haben! Jedenfalls siehst Du noch viel elender aus als damals, da Du Genf verließest. Ich habe einen schlechten Winter hinter mir; denn Du kannst Dir denken, daß ich in der schrecklichsten Sorge um Dich war. Aber ich hoffe wenigstens, daß jetzt Friede und Ruhe in Deinem Herzen Einkehr gehalten haben.

Allerdings befürchte ich, daß die Gefühle, die Dich schon vor einem Jahre so niederdrückten, immer noch vorhanden sind, vielleicht noch vergrößert. Ich möchte Dich nicht aufregen, da so viel Unheil auf Dir lastet. Aber eine Unterredung, die ich kurz vor Deiner Abreise mit Deinem Vater hatte, zwingt mich, Dich um eine Erklärung zu bitten, ehe wir uns wieder in die Augen sehen.

Erklärung, wirst Du sagen; was kann Elisabeth für eine Erklärung meinen? Nun, wenn Du so sagst, ist meine Frage ohnehin schon beantwortet, und meine Zweifel sind gelöst. Aber trotzdem muß auch ich Dir eine Erklärung geben, die sich nicht länger mehr hinausschieben läßt. Nur hatte ich bisher nicht den Mut dazu.

Du weißt, geliebter Viktor, daß unsere Verbindung eine Lieblingsidee Deiner Eltern war, schon als wir noch in den Kinderschuhen steckten. Wir wußten es von Anfang nicht anders und lernten es als etwas Selbstverständliches betrachten. Wir waren treue Spielkameraden und gute Freunde, als wir älter wurden, wie oft Bruder und Schwester sich innig lieb haben, ohne je an eine Vereinigung zu denken, könnte dies nicht auch zwischen uns der Fall sein? Sage mir, lieber Viktor, antworte mir, ich beschwöre Dich bei unserem Glück, offen und ehrlich – liebst Du nicht eine andere?

Du bist weit in der Welt herumgekommen, Du bist mehrere Jahre in Ingolstadt gewesen, und ich gestehe Dir, mein Freund,als ich Dich im letzten Herbst so unglücklich, so menschenscheu sah, da drängte sich mir der Gedanke auf, Du könntest unsere Verbindung doch nicht als etwas Wünschenswertes betrachten und fügtest Dich gegen Deine Meinung nur dem Willen Deines Vater. Aber ich weiß, es ist anders. Ich habe Dich ja so lieb und in meinen Träumen bist stets Du der Mittelpunkt gewesen, mein ständiger Begleiter. Da ich aber um Dein Glück ebenso besorgt bin wie um mein eigenes, erkläre ich Dir unumwunden, daß unsere Ehe mich auf ewig unglücklich machen müßte, wenn ich nicht der Überzeugung sein könnte, daß der Entschluß dazu Deinem freien Willen entsprang. Ich muß weinen, wenn ich daran denke, daß Du, nur um einer Pflicht zu genügen, aller Hoffnung auf Liebe und Glück entsagst, die Dir so bitter not tun. Ich, die ich Dich doch so uneigennützig liebe, würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn ich mir sagen müßte, daß ich Deinen Plänen im Wege stand. Sei überzeugt, Viktor, daß Deine Freundin und Spielgenossin eine zu tiefe Liebe zu Dir im Herzen trägt, als daß sie nicht bei dieser Vorstellung leiden müßte. Sei glücklich, mein Geliebter; und wenn ich weiß, daß Du es bist, dann soll nichts auf Erden meine Ruhe mehr stören.

Dieser Brief soll Dir keine unangenehmen Verpflichtungen auferlegen. Antworte nicht, weder morgen noch in den nächsten Tagen, sondern erst, wenn Du hier bist. Über Dein Befinden hält mich Dein Vater auf dem Laufenden. Und wenn ich nur ein schwaches Lächeln um Deinen Mund sehe, wenn wir uns wieder gegenübertreten, will ich zufrieden sein,

Deine Elisabeth Lavenza.