Die Vorgeschichte
An einem Nachmittag vor etwa zwanzig Jahren
schickte mir ein Psychiater einer süddeutschen Klinik eine
praktisch austherapierte Patientin mit der Anmerkung vorbei:
»Vielleicht fällt dir ja dazu etwas ein.«
Die Frau erschien und verhielt sich scheinbar
völlig normal. Wir unterhielten uns bestens über das Wetter,
Hundezucht und Blumensteckarten. Doch zwischendurch beugte sie sich
mitten im Gespräch ganz nah zu mir und flüsterte: »Jetzt ist er
wieder da.« Darauf war ich von ihrem Arzt vorbereitet worden,
fühlte mich also nicht besonders überrumpelt. Ich flüsterte zurück:
»Sagen Sie mir, wenn er wieder verschwunden ist.« Und dann redeten
wir ganz normal weiter. Wenig später seufzte sie erleichtert:
»Jetzt ist er weg, aber ich weiß, er kommt wieder.«
Ich sagte ihr, sie möge bei seinem allfälligen
Wiedererscheinen einfach weiterreden, mir aber einen Wink geben und
dann wiederum auf ein Zeichen von mir einfach aufstehen und
blitzartig meine Wohnung verlassen.
»Und was geschieht dann mit ihm?«, fragte sie
besorgt. Ich versicherte ihr, dass sie sich keinerlei Sorgen machen
müsse, denn ich würde ihn auf der Stelle für immer in meinem
Wohnzimmerschrank in Verwahrung nehmen. Und außerdem solle sie
bitte als künftigen Schutzbegleiter meinen Hausgeist, eine kleine
mexikanische Steinfigur, an sich nehmen, um auch weiterhin gegen
unerwünschte Störenfriede gefeit zu sein.
Gesagt, getan. Das Zeichen kam, sie ergriff die
Figur und entschwand in Windeseile, während ich meinen Schrank laut
öffnete
und schloss. Tage später rief mich der Psychiater an: »Bitte sag
mir, was du getan hast! Sie ist ohne Symptom!« Ich erzählte ihm den
ganzen Ablauf, und er zeigte sich nicht im Mindesten erstaunt. »Wie
bist du auf die Idee gekommen?«, fragte er. Ich gab zu, dass ich
einem Impuls gefolgt war. Wie so oft.
Von diesem Tag an änderte sich meine »Beziehung«
zum Loslassen. Denn jetzt wusste ich etwas Grundsätzliches: Wer das
Bedürfnis in sich spürt, etwas loszulassen, muss zunächst genau
wissen, was er loslassen möchte, dann, warum er es
loslassen will, und schließlich, wogegen er das Losgelassene
einzutauschen wünscht. Denn das ist die Voraussetzung für das
Gelingen eines Ablösungsprozesses. Das Universum kennt die
Ersatzlosigkeit nicht. Warum also sollten ausgerechnet wir sie
praktizieren wollen? Was kann es nützen, mit einem Vakuum
dahinzuvegetieren?
Die anschließenden Erfahrungs- und
Erkenntnisprozesse dauerten bescheidene zwanzig Jahre. Dann riefen
zwei Berliner Herausgeber an und fragten, ob ich nicht einen
Beitrag für eine Anthologie schreiben wolle. Das Thema: Loslassen.
Ich war nicht begeistert. Doch dann erkannte ich die Chance und
schrieb die »Gebrauchsanweisung für den Umgang mit toten Kamelen«.
Diese verendeten Wüstentiere standen symbolisch für all das
Überflüssige, Belastende und Abgelebte, das ein Menschenleben
beschweren kann. Und sie waren die Vorboten für dieses Buch, das in
einer Lebensphase entstehen sollte, in der sich Erfahrung,
Beobachtung und Erkenntnis zu jenem wahrnehmbaren Wissen
zusammenfügen, das sich bei jedem Menschen erst ab einem ganz
bestimmten Lebensabschnitt zeigen kann, nämlich im zehnten
Lebensjahrsiebt, also nach Vollendung des 63. Lebensjahrs.
Ich werde in diesem Jahr meinen 65. Geburtstag
feiern. Also bin ich nun anscheinend alt genug, um loszulassen und
vielleicht auch um darüber zu schreiben.