2. KAPITEL
003
Was ist das - Loslassen?
Um Ihnen den Einstieg in das weite Land des Loslassens zu erleichtern, gebe ich Ihnen hier eine Liste von bedeutungsgleichen Begriffen, welche eine Ahnung von der unendlichen Größe des Themas in Ihnen wecken soll.
loslassen
fallenlassen
entlassen
vergessen
verzichten
verzeihen
abtöten
abgeben
vergeben
weitergeben
verschenken
abtreten
hinterlassen
aufgeben
kapitulieren
abwerfen
versenken
freigeben
erlösen
lösen
losreißen
verlassen
wegwerfen
austauschen
ersetzen
entbinden
eliminieren
zertrennen
ablösen
zurücktreten
überschreiben
Abstand nehmen
absegnen
abschließen
starten
zusammenbrechen
kündigen
scheiden
austreten
entsagen
ausscheiden
aufbrechen
sterben
mäßigen
hingeben
übergeben
auflösen
zur Verfügung
stellen
vererben
opfern
vollstrecken
ruinieren
gebären
Gewicht verlieren
verstoßen
abspringen
auswandern
erledigen
abheften
stürzen
spendieren
verschenken
erkalten
flüchten
verteilen
begraben
beendigen
verwirklichen
weihen
Die Liste ist schon aus dem einfachen Grunde höchst unvollständig, weil ich alle reflexiven Verben (sich abfinden, sich pensionieren lassen etc.) nicht aufgeführt habe. Würden wir diese Liste in zwei Abteilungen spalten, kämen wir zu der Erkenntnis, dass es ein leichtes und ein schweres Loslassen gibt. Wobei die Freiwilligkeit im Ranking sicher eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich etwas zum Beispiel verschenke oder es zerstöre. Es kommt immer auf die Einstellung an, welche die Aktion begleitet. Wir haben immer die Wahl, ob wir mit Jammern und Zähneknirschen oder mit dem Lächeln der Erkenntnis handeln.
Sicher erwarten Sie, dass ich davon spreche, wie man die Dinge in und mit Liebe entlässt. Davon wird auch die Rede sein, aber in einer anderen Art und Weise, wie es üblich ist und Sie es vielleicht erwarten. Ich kann nur vermitteln, was meinem eigenen Erleben entspricht: das Loslassen in die Gleichgültigkeit. Damit ist absolut nicht das gemeint, was eine oberflächliche Zeit und ein unbewusster Sprachgebrauch aus diesem aussagekräftigen Wort gemacht haben, nämlich Desinteresse, sondern vielmehr jene wahre Gleichgültigkeit, welche die Gleichstellung von allem und jedem sich selbst gegenüber bedeutet, also die vollkommene Erfüllung des Auftrags: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Sie werden es sicher längst am eigenen Leib und am eigenen Seelenkörper erfahren haben: Das Gleichgültige bereut man nie! Und es bereitet keine Schwierigkeiten. Und noch etwas ist es wert, bis zur vollkommenen Meisterschaft geübt zu werden: die verstandesmäßige Gleichgültigkeit.
Hier sind wir an einem Punkt angekommen, der absolut erklärungsbedürftig ist. Diese Gleichgültigkeit zu erreichen ist naturgemäß erst ab der Lebensmitte möglich - es sei denn, Sie haben Ihre Kindheit und Jugend in einem buddhistischen Kloster verbracht.
Bis zum 42. Lebensjahr heißt die Devise normalerweise: aufbauen, sammeln, wachsen, nehmen, ausleben und begehren. Aber spätestens dann beginnt der Herbst des Lebens, in dem sich die Lebenskräfte eigendynamisch in ihren Ursprung zurückinvestieren. Und es ist nicht mehr als logisch, dass sich derjenige, der seine Kräfte vorher mit Verstand und Bewusstsein verwaltet hat, mit der Rückgabe (Unkundige würden sagen: mit dem Abbau) leichter tun wird als jener, der gedankenlos dahingelebt hat.
Das heißt aber auch, dass alles, was in diesem Buch niedergeschrieben ist, für jüngere Leute eher eine eindringliche Empfehlung ist, während es für ältere fast schon eine mahnende Aufforderung darstellt. Die menschliche Seele hat ein tiefes Empfinden für Dinge, die sich altersgemäß anbieten oder eben nicht gehören, und das kollektive Empfinden reagiert sehr sensibel auf mehr oder weniger offensichtliche Verstöße und quittiert einschlägige »Gesetzesübertretungen« mit teilweise offen zur Schau gestellter Häme. Oder mit Neid. Bestes Beispiel: Hugh Hefner, der Playboy-Chef, oder auch gewisse altersresistente Berühmtheiten, deren überstraffe Gesichter und kunstvoll modellierte Körperformen das Gesetz des Rückzugs Lügen strafen wollen. Auch so manche gekrönten wie ungekrönten Familienvorstände, die ihren ruhmreichen Thron absolut nicht weitergeben wollen, leiden augenscheinlich unter einem Defizit an Loslassbereitschaft.
Den Jüngeren unter uns sei noch gesagt: Seid vorsichtig und wachsam, wen oder was ihr in euer Leben holt, denn es könnte an euch kleben bleiben wie Teer.
Doch wie wir wissen, will ein junger Expansionist (das Gegenteil vom abbauenden Pensionisten) solche Weisheiten überhaupt nicht hören, sondern lieber beweisen, dass die Welt ihm gehört und das Buffet unbeschränkt geöffnet ist. Die Sache hat nur einen nicht zu unterschätzenden Haken, nämlich die unsichtbaren Dos and Don’ts, die sehr genau vorschreiben, was geht und wovon die Finger besser zu lassen sind. Uhl und Nachtigall sitzen hier eng beieinander.
Das Trügerische an diesen schwer zu beurteilenden Vorgängen ist, dass die Schicksalsmächte den Früchtekorb der Möglichkeiten im ersten Drittel des Lebens, also bis etwa zum 28. Lebensjahr, fast uneingeschränkt zur Verfügung stellen, aber gern vergessen, den Begleitzettel zu präsentieren, auf dem stehen sollte: »Übernimm dich nicht, denn wenn der Korb leer ist, ist er leer und du musst mit dem auskommen, was du entnommen hast.«
Das Entnehmen von Schicksalsangeboten hat übrigens sehr viel mit Erziehung und Charakter zu tun. So wahllos (verfressen) und unbedacht die einen handeln, so vorsichtig und überlegt (qualitätsbewusst) zeigen sich die anderen. Viele dieser Fehlgriffe werden schon in den ersten zehn Jahren gemacht, meist unter dem Einfluss von Eltern und engen Bezugspersonen, die ihre Träume auf den Nachwuchs projizieren und hoffen, auf diese Weise doch noch die Verwirklichung zu erlangen, die sie selbst nie erreicht haben.
Denken Sie nur an all die Wunderkinder. Wen haben wir nicht alles im Kindesalter auf den Bühnen der Welt tanzen sehen und geigen, singen und Klavier spielen gehört! Und von was für großartigen Prophezeiungen waren diese Darbietungen oft begleitet! Doch wie sagte schon Großmeister Schiller so treffend: »Mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten.«
Aber wie vermeidet man dann Griffe in den Schicksalskorb, die einem das Leben schwer machen oder sogar das Rückgrat brechen? Wie entgeht man einem Windhorst-Crash? (Für alle, die ihn nicht kennen: Lars Windhorst war schon mit 16 Jahren ein Manager-Wunderkind, dessen schwindelerregende Karriere später mit einem Offenbarungseid endete.) Die klügste Antwort auf diese Frage wäre: »Lass die Finger von Dingen, die in diesem Leben nicht für dich vorgesehen sind!«
Auch wenn immer gern das Gegenteil behauptet wird: Das Buffet der unbegrenzten Möglichkeiten steht nicht jedem in gleichem Maße zur Verfügung. Und diese scheinbare Ungerechtigkeit hat bei jedem einen Grund und eine Vorgeschichte. Natürlich müssen Erfahrungen gesammelt werden und selbstverständlich werden und sollen es nicht nur positive sein. Doch wäre es nicht klug, von vorneherein auf vorhersehbar Negatives zu verzichten, also erst gar nicht zuzugreifen, um sich das spätere schmerzliche Loslassen zu ersparen?
Sage einem Hungrigen, der vor einem vollen Teller sitzt, er solle maßvoll essen …
Und doch sei denen, die sich trotz ihrer Jugend das spätere Loslassen erleichtern wollen, gesagt: Es zeigt sich schon in den ersten vierzehn Jahren sehr klar, »was geht« und wo sich automatisch ein Riegel vorschiebt. Vor zehn Jahren habe ich versucht, diese Bedingungen auch über einen numerologischen Symbolplan verständlich zu machen, der sich relativ einfach aus dem Geburtsdatum und dem Namen errechnen lässt. Ich dachte, damit könne man so manchem Suchenden den Lebensweg erleichtern. Ich dachte falsch.
Die menschliche Psyche weist nämlich einige bemerkenswerte Eigenheiten auf, die nur als Schutzmechanismen verstanden werden können: Mensch will nichts Negatives wissen und Mensch will keine Schwierigkeiten haben. Und: Mensch denkt, dass Unheil, Krankheit und Tod nur anderen widerfahren. Diese Denkweise fordert die Gegenbeweise des Schicksals geradezu heraus.
Bevor wir also mit dem Erforschen und Begreifen des Phänomens Verzicht beginnen - denn nichts anderes ist das Loslassen - wäre es gut, wenn Sie innerlich zu akzeptieren bereit wären, dass neben all dem Schönen und Erfreulichen in Ihrem Leben selbstverständlich auch Negatives und Schmerzliches eingeplant ist und dass Sie diesem Fakt lernfreudig gegenübertreten sollten. Und weiterhin: Akzeptieren Sie, dass Sie von Natur aus ängstlich sind und dass diese Eigenschaft sowohl ein Schutz als auch Ihr gutes Recht ist.
Angst ist eine kreative Kraft und eine gute Trainingsmöglichkeit, ähnlich einem dunklen Gewässer. Wenn Sie unerwartet hineinfallen und vor Schreck untergehen, sieht es sehr schlecht für Sie aus. Wenn Sie dagegen Ruhe und Besonnenheit bewahren, können Sie die Tiefe ausloten und werden selbst als Nichtschwimmer wahrscheinlich das Ufer erreichen.
Irgendwann werden Sie es leid sein, dieselbe Situation immer wieder zu erleben, und genug Erfahrung gesammelt haben, um mit dem Element Wasser/Angst umzugehen. Und wenn Sie hartnäckig genug sind und das Element Wasser/ Angst wirklich beherrschen lernen, werden Sie sogar Ihre Widerstandskräfte und Ihre Ausdauer darin trainieren können.
Die Voraussetzung für dieses Überlebenstraining ist, die Kunst der gleichgültigen, also angstlosen Hingabe zu erlernen, das Loslassen also auf eine Weise zu üben, die zu Ihnen und nur zu Ihnen passt. Das ist nicht einfach. Ich weiß …
Wir Menschenkinder haben nämlich einen Instinkt, der uns sagt, dass wir überleben müssen und dafür alles einsetzen können, was sich nur anbietet. Dieser Instinkt gibt - zumindest bis etwa zum 42. Lebensjahr - eine höchst eigenartige Grundinformation an die Psyche: Tod und Alter betreffen nur andere!
Erst ab dem magischen Zeitpunkt Lebensmitte dämmert es dem Bewusstsein, dass jeder Tag ein kleiner Abschied ist und dass die Erdanziehungskräfte niemanden verschonen, denn die täglichen Gegenbeweise sind dann längst unübersehbar. In Unkenntnis der Tatsache, dass jedes Hab und Gut nur eine Leihgabe ist und das letzte Hemd keine Taschen hat, lässt sich mancher noch ein bisschen mehr Zeit oder lernt es nie. Und so verwechseln wir »viel Sicherheit« gern mit »viel Besitz« und benehmen uns wie Eichhörnchen vor einem strengen Winter. Das Denkmuster der im Sommer sorglos tanzenden Grille, die im Winter bettelnd bei der fleißigen Ameise vorstellig werden muss, sitzt tief, wobei es in unseren Breitengraden gar nicht mehr um das Verhungern und Erfrieren im kalten Winter geht, sondern vielmehr um die Erhaltung von Luxus, der gern als »normaler Lebensstandard« bezeichnet wird.
Nur bei vergleichbar wenigen Menschen hat das Schicksal von Geburt an dafür gesorgt, dass ein Verständnis für die Vergänglichkeit praktisch »eingebaut« war und sie daher von Kindheit an ganz selbstverständlich mit dem Thema Verlust und Verzicht umgehen konnten. Vielleicht ging es Ihnen als Kind ähnlich wie mir. Ich habe lange geglaubt, alle Menschen brächten die gleichen Voraussetzungen mit, was ein verhängnisvoller Irrtum ist, und alle seien den gleichen Bedingungen unterworfen, was sich im Lauf der Zeit ebenfalls als eine Fehlinterpretation der Realität herausgestellt hat.
Beide Annahmen sind leicht zu widerlegen. Steckt man hundert Leute nur eine Woche lang in ein und dasselbe Trainingslager und unterwirft sie den absolut gleichen Bedingungen, wird man sehen, dass sich wie von selbst Rangordnungen bilden und dass sich aufgrund von Sympathien und Antipathien eine ganz spezielle Atmosphäre ergibt. Außerdem wird man zugeben müssen, dass die oben aufgestellte Behauptung schon daran scheitert, dass in unserem fiktiven Camp eben nur diese hundert ausgesuchten Leute Platz gefunden haben. Würde man den hundert Probanden nun auch noch die Selbstverwaltung zugestehen, wäre das Endergebnis nach sieben Tagen noch eindeutiger: Kein Mensch ist wie der andere, und so etwas wie ein identisches Schicksal gibt es nicht, auch wenn es auf den ersten Blick oft so aussieht.
Nicht einmal äußerlich sind sich alle Menschen gleich, wie man an ihren verschiedenen Hautfarben und körperlichen Eigenheiten leicht sehen kann. Ist es da nicht seltsam, dass der Spruch von der Gleichheit der Menschen so verbreitet ist, während jeder Erdenbürger gleichzeitig betont Wert darauf legt, unverwechselbar und einmalig zu sein? Worauf bezieht sich dann dieser Gleichheitsanspruch? Auf die Behandlung durch andere oder gar auf die Rechtsprechung?
Wir wollen die Dinge wenigstens auf den Seiten dieses Buches beim Namen nennen, denn sonst wäre ich versucht, Ihnen die üblichen, ganz gewöhnlichen Ratschläge anzubieten, ohne den Spielraum zu berücksichtigen, den Sie als Individuum verdient haben. Sie sind skeptisch? Dann lesen Sie ein paar der beliebten Sprüche, in denen sich das Dilemma sehr deutlich widerspiegelt:
Alle Menschen sind gleich.
Der Mensch ist ein Herdentier.
Der Mensch ist und bleibt allein.
Nur gemeinsam sind wir stark.
Nur einer kann der Sieger sein.
Denkt man wirklich ernsthaft nach, kommt man an einen Punkt, an dem man verzweifeln könnte. Oder man ist dankbar, emotional gebremste Lehrer zu haben, die einem helfen, das Dilemma zu klären. Anthony Kinsella, mein Lieblingslehrer, konnte das perfekt. »Listen, dear …«, begann er immer. »Hör mal, du benutzt einen Körper, der sich über die Tierwelt entwickelt hat, bis er so weit war, dass du, das ursprüngliche Geistwesen, ihn in der Weise verwenden konntest, wie du es heute tust. Du hast also dein eigenes System einem fremden System aufgepfropft und erwartest nun, dass es seine Urerinnerungen, Instinkte und Bedürfnisse ablegt?«
Aha, dachte ich, da sind wir also alle in ein irdisches Fahrwerk eingestiegen, das wir
a. wahrscheinlich total unter- oder überschätzen,
b. jahrtausendelang falsch verwendet haben und
c. momentan im Begriff sind, für immer irreparabel zu ruinieren.
»Change the use!«, würde Anthony sagen. »Ändere dein Verwendungsverhalten.« Vielleicht würde er sogar sagen: »Lass los!« Aber ich weiß, dass er diesen Begriff in seinem Vokabular nicht führt. Er denkt anders, denn er wurde mit dem SV-Gen, dem Gen des selbstverständlichen Verzichtsbewusstseins geboren.
Denken Sie nun bitte nicht, diese genetische Konstellation sei eine Auszeichnung, ein Attribut des Erleuchteten. Nein, es handelt sich einfach um eine Veranlagung, eine geistige Eigenart, welche diese spezielle, jedem Menschen zugängliche Kammer des Bewusstseins öffnet. Wie der Mensch diese Bewusstseinskammer anschließend nutzt, bleibt seinem eigenen Gutdünken überlassen. Auch Sie könnten diesen Raum jederzeit betreten, aber das Resttierchen in Ihnen sagt, dass Sie dann möglicherweise hungern und frieren werden oder dass Ihre Herde, ohne die Sie dem Verderben ausgeliefert sind, ohne Sie weiterzieht und dann keiner da sein wird, der Ihr nächtliches Lager wärmt.
Ihr Höheres Ich wird, je nach Pflege und Beachtung, gegen diese Suggestion antreten und Ihnen zuflüstern, dass Sie mutig und stark sein sollen und dass diese Loslösung Sie in Ihrer Entwicklung einen gewaltigen Schritt weiterbringen wird. Doch die Programmierung Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück wirkt in Ihrem Bewusstsein wie ein Implantat und lässt Ihre Bedenken zu riesigen Dinosauriern anwachsen. »Es gibt ja so viel zu verlieren«, flüstert eine Stimme, »deine Sicherheit, deine Stellung, deinen Ruf, deine Freunde, dein Einkommen.«
Und da Ihnen das bereits Erlebte und in Ihrem Gedächtnis Abgespeicherte näher, also sicherer zu sein scheint als die (noch) unbeweisbaren Bilder der Zukunft, halten Sie lieber an Verbrauchtem fest, als sich an eine Neuschöpfung Ihres Lebensfilms zu wagen.
Hören Sie diese zweifelnde innere Stimme, die Ihnen sagt: »Sei zufrieden mit dem, was du bist und dir ohne Risiko verschaffen kannst, und mit dem, was du weißt, lebst und was dich umgibt!« Es kommt nichts Besseres nach - ist übrigens das Lieblingssprichwort der Chimären der Vergangenheit.
Und stellen Sie sich vor: Diese trügerischen Wesen haben vollkommen recht, und zwar aus ihrer veralteten Sicht, die alles nur nach der Summe der bisherigen Bilder und Erfahrungen beurteilt. Diese »Brems-Bilder« werden übrigens nicht nur von dem bestätigt und koloriert, was in Ihrem eigenen Erlebnisarchiv aufbewahrt ist, sondern auch von den Imaginationen Ihrer Vorfahren.
Leider gibt es keine Garantiescheine und kein Versprechen, dass ein Leben nach einem Änderungsbeschluss »besser« wird. Unter Verbesserung versteht die Allgemeinheit ja gern materielle Expansion, also mehr Geld, mehr Luxus und damit auch mehr Ansehen. Und gern wird unter Verbesserung auch das Erscheinen eines »besseren« Lebenspartners verstanden. Wenn Sie selbst solche Erwartungen hegen und dazu noch glauben, von irgendjemandem für Ihren Mut belohnt zu werden, dann legen Sie dieses Buch jetzt entweder für immer dorthin zurück, wo Sie es gefunden haben, oder aber an einen Platz, wo Sie es bei Voranschreiten Ihres Erkenntnisprozesses jederzeit wieder zur Hand haben.
Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn mein Ton manchmal etwas herb klingt. Aber wissen Sie, die Zeit ist zu knapp für Floskeln oder Sprach-Pirouetten. Nicht weil 2012 der Weltuntergang stattfindet, sondern weil er 2012 eben nicht stattfindet!
Der folgende Satz wird fett gedruckt, damit Ihnen der (Wieder-) Einstieg leichter fällt:
Jedes Loslassen kann nur gelingen, wenn Sie absolut nichts dafür erwarten.
Damit möchte ich nicht sagen, dass sich die Schicksalsgötter bei Ihnen nicht freigiebig verhalten werden, sondern Ihnen nur empfehlen, sich nicht von vornherein mit dem weit ausgebreiteten Schürzchen der Erwartung zu präsentieren. Glauben Sie, dass Augustinus irgendetwas erwartet hat, als er sich entschloss loszulassen? Seine Seele und die Seelen all der Menschen, von denen ich im ersten Kapitel berichtet habe, waren so hungrig nach Veränderung (nicht nach Verbesserung), dass sie gar nicht auf die Idee kamen, Erwartungen zu hegen oder Bedingungen zu stellen. Sie haben die Notwendigkeit akzeptiert, weil die Not zur Qual geworden war, und sie erkannten, dass diese Not gewendet werden musste, und zwar durch eigenes Handeln, konsequentes Einhalten der Regeln und einen kompromisslosen Neubeginn, nach dem es keinen der bisherigen Störfaktoren mehr geben sollte. Bei diesen Störfaktoren handelte es sich entweder um materiellen Reichtum und Ruhm und/oder sexuelle Abhängigkeit.
»Um Gottes willen«, denken Sie jetzt vielleicht, »Frau McLean will, dass wir alle in Armut, Zurückgezogenheit und Entsagung leben!«
Nehmen Sie einmal an, Sie hätten einen geliebten, aber etwas störenden Mitbewohner in Ihrem trauten Heim. Würden Sie diesen auf der Stelle umbringen, nur weil er stört? Oder wären Sie nicht vielmehr bemüht, das Störende Schritt für Schritt auf ein erträgliches Maß zu reduzieren oder die Sache in einem sehr eindeutigen Gespräch zu klären?
004
Merke: Nicht der Verursacher muss entfernt werden, sondern Ihr Umgang mit ihm muss geklärt werden.
Die Klugen und Weisen unter Ihnen werden es längst erfahren haben: Kaum »killt« man einen Störenfried, schon taucht der nächste auf. Oder: Kaum entfernt man einen lästigen Umstand aus dem Leben, schon wird er vom scheinbaren Zufall durch einen noch lästigeren ersetzt. Wie aber verweist man diese verschiedenartigen Unruhestifter auf ihre Plätze? Die Antwort ist: durch Eindeutigkeit. Solange in Ihnen auch nur ein Quäntchen der Bereitschaft nachzugeben vorhanden ist, wird der Quälgeist diese als Grundlage für seine nächsten Attacken benutzen.
»Mein Gott«, werden Sie jetzt wieder denken, »Frau McLean glaubt, ich sei so wie Augustinus & Co!«
»Ja und nein«, würde ich antworten, denn das kompromisslose Entschlusspotenzial schlummert in Ihnen ebenso wie eine latente Bereitschaft zu morden. Verzeihung, aber hatten wir nicht beschlossen, die Dinge beim Namen zu nennen? Stellen Sie sich vor, jemand würde sich mit Tötungsabsicht auf Ihr Kind (Ihre Mutter, Ihren Vater, Ihr Herzblatt usw.) stürzen und Sie wären gerade in der Nähe. Ach, Sie meinen, das sei etwas ganz anderes?
Ich verstehe die Filme nicht, in denen elegant gestylte Damen händeringend, aber tatenlos, aus einer sicheren Ecke heraus die Schlägerei ihres geliebten Mannes mit dem Einbrecher (Rivalen, Außerirdischen, Überfallkommando usw.) beobachten, und ich denke, Ihnen wird es nicht anders gehen. Wie aber würde die Realität in einem solchen Fall aussehen? Würden Sie tatkräftig eingreifen?
Und wie sieht es bei einem Überfall auf Sie selbst aus? Aus eigener Erfahrung kann ich zweierlei berichten. Erstens: Reden hilft nicht immer. Zweitens: Eine gute Selbstverteidigungsausbildung schadet nie. Und wenn Sie jemals selbst in einer Situation waren, in der es um Sein oder Nicht-Sein ging, dann wissen Sie so gut wie ich, dass ein Gegen- oder Abwehrschlag nicht immer genau kalkuliert werden kann und dass oft keine Zeit bleibt, um zu überlegen, was denn »edler im Gemüt« sein könnte.
Warum schneide ich dieses Thema überhaupt an? Ich arbeite, wie immer, mit Bildern und Parabeln. Wenn wir über das Thema »Loslassen« verhandeln, geht es um unser Leben, um Ihr Leben. Es geht um Ihre gesamte Existenz, um Ihre Erlösung, um Ihre Befreiung, um Ihren Entschluss, sich nicht von Ihrem Plan abbringen und Ihre Seele nicht umbringen zu lassen. Das ist nämlich Ihr eigentliches Kapital, mit dem Sie sehr gut haushalten müssen. Entgegen anders lautender, lieblicher Behauptungen möchte ich Sie darüber aufklären, dass Ihr persönliches Seelenpotenzial, in welchem auch Ihre Lebensplanung gespeichert ist, sehr wohl bis zur Unkenntlichkeit heruntergewirtschaftet werden kann. Es kommt ganz darauf an, wie Sie es verwalten. Unsterblich? Ja, der »Stoff«, aus dem sich die Seele formt, ist unsterblich. Aber wir sind die Verwalter dieses kostbaren Fluidums und nicht ihre selbstverständlichen Besitzer.
Im Kosmos muss alles erarbeitet, bezahlt und verwaltet werden, sonst findet eine Korrektur von anderer Seite statt. Sie brauchen sich die irdischen Vorgänge nur genau vor Augen zu führen. Sie sind eine exakte Spiegelung aller mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbaren Vorgänge. Genau so, wie Sie Ihr Seelenpotenzial verdunkeln und unbrauchbar machen können, ist natürlich auch das Gegenteil möglich, nämlich Ihre Seelenkräfte zu erhellen, zu stabilisieren, zu vergrößern und im Zusammenhang mit Ihrem Selbstbewusstsein unsterblich zu machen. Diesen Vorgang bezeichnet man seit Jahrtausenden als »die Erleuchtung«, und die Entwicklung bis hin zu dem Bewusstseinszustand, der die Erleuchtung überhaupt erst möglich macht, ist der berühmte »Weg der Erleuchtung«, auch als »Einweihungsweg« bekannt.
Erinnern Sie sich noch an die Personen, deren Loslassen ich im ersten Kapitel beschrieben habe? Sie werden feststellen, dass bei allen eine bestimmte, lang anhaltende Situation mit sich immer wiederholenden Komponenten durch einen scheinbar urplötzlichen Entschluss in eine andere Lebensform transformiert wurde. Augustinus war 32 Jahre lang ein Playboy gewesen und hatte trotz einer exzellenten Ausbildung und ebensolchen äußeren Umständen das bekommen, was wir heute eine Depression nennen. Wittgenstein hatte 29 Jahre lang alles in sein geniales Hirn hineingepackt, was gut und teuer war - genau wie Augustinus vor einem bestens abgesicherten finanziellen Hintergrund - und hatte dann, abermals wie jener, buchstäblich die Schnauze voll gehabt von einer Welt, der er, seiner inneren Sehnsucht und seinem tiefsten Streben nachempfindend, nicht mehr wie bisher entsprechen wollte. Kurz vor seinem Entschluss, relativ besitzlos zu leben, war Wittgenstein übrigens in Kriegsgefangenschaft geraten, was in diesem sensiblen und wahrnehmungsübersteigerten Menschen sicherlich vieles ausgelöst haben mag, was seine späteren Handlungen erklärt. Wie viele genialen Menschen war der junge Wiener ständig von Depressionen bedroht, gegen die sich zu wehren sicherlich ein lebenslanges Unterfangen war. Unter diesem Leidensdruck wollte er vor allem den Ballast abwerfen, den er als am meisten bedrückend und behindernd erkannt hatte, nämlich Besitztum - genau wie Augustinus. Die Transformation der Energiequelle Sexualität hatte Augustinus ihm allerdings voraus, wie auch das absolute Wissen um ein höheres Wesen, den festen Glauben an einen Schöpfergott.
Und wovon war die gefeierte und hofierte Lisa della Casa getrieben worden? Um es für Sie transparenter zu machen: Wie bei allen, die eine solche, auf die Umwelt zuweilen seltsam und fragwürdig erscheinende Lebensentscheidung von großer Tragweite fällen, muss auch bei ihr ein transformierender Erkenntnisprozess vorangegangen sein. Tatsächlich hatte sich die Sängerin gezwungen gesehen, mehrmals unter quälenden Belastungen aufzutreten, was sie jedes Mal mit makelloser Disziplin hinter sich gebracht hatte. So musste sie beispielsweise während einer lebensgefährlichen Operation ihrer einzigen Tochter und am Abend nach dem Tod ihrer Mutter auftreten, weil kein Ersatz zu finden war. Außerdem war sie üblen Intrigen ausgesetzt, die unter anderem dazu führten, dass sie nie mehr bei den Salzburger Festspielen auftrat. Die Wertigkeiten wurden dadurch sehr deutlich, und Frau della Casa zog die entsprechenden Konsequenzen: keine verschärften Belastungs- und Trauerzustände mehr durch nervenaufreibende und kraftraubende Auftritte, sondern nur mehr Energie für alles, was wirklich für sie zählte: die Familie, ihre Tochter, ihr Mann. Niemand hatte sie gezwungen. Frau della Casa befand einfach, dass sie sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr unter das Niveau ihres innersten Anspruchs begeben wollte.
Und nun schauen Sie sich zunächst bitte alle, Ihnen bekannten Menschen an, die ihr Lebensthema auf ähnliche Weise losgelassen haben. Nicht nur eine Gewohnheit, nein, die gesamte Lebensführung. Sie werden nicht viele finden. Doch die vorangegangenen Beispiele beweisen, dass dies möglich ist.
Natürlich hätten wir auch mit etwas Leichterem anfangen können, zum Beispiel mit dem Verzicht auf Süßigkeiten, Nikotin & Co. Doch diese Themen haben andere schon besser und gründlicher behandelt, als ich es könnte und wollte. Für diejenigen, die sich noch mit solchen Ersatztröstungen herumschlagen und bis jetzt nicht die Willenskraft aufgebracht haben, die Finger von Alkohol, Zigaretten, Zucker, Drogen und ähnlichen Suchtmitteln zu lassen, ist es einfach noch zu früh, sich an das zu wagen, was ich nun gemeinsam mit Ihnen versuchen möchte, nämlich die Wiederaufnahme Ihres ursprünglich geplanten Lebens und die Auflösung aller Hindernisse auf dem Weg zur Selbstfindung.
Glauben Sie bitte nicht, dass ich kein Verständnis oder Mitgefühl für diejenigen habe, die sich mit Süchten quälen. Um die Wahrheit zu sagen: Wir alle quälen uns mit Abhängigkeiten. Doch dieses Buch ist für Menschen geschrieben, die an sich arbeiten wollen, um Mitarbeiter an einer besseren Zukunft zu werden, und für Menschen, welche die Notwendigkeit einer vollkommenen Transformation nicht nur erkannt haben, sondern auch bereit sind, durch eine bewusste Wandlung ihrer Denkgewohnheiten, ihrer emotionalen Verhaltensweisen und ihrer Handlungen an der Veränderung des Bestehenden mitzuarbeiten.
Wer die Welt mit dem Besen der Bewusstseinsklärung reinigen will, muss bereit sein, das eigene Bewusstsein zu durchschauen. Bis heute hat sich nichts am Nutzen jener Aufforderung geändert, die über dem Eingang des Tempels von Delphi zu lesen war: Erkenne dich selbst.
Das bedeutet:
• Schau dir deine Schattenräume an!
• Komm dir selbst auf die Schliche!
• Entferne alles aus deinem geistigen, emotionalen und materiellen Umfeld, was dich in deiner Entwicklung behindern könnte und was dir nicht entspricht!
• Hab den Mut, die Wahrheit auszusprechen, vor dir selbst und vor der Welt!
• Sei niemandes Knecht, aber sei immer bereit zu dienen!
• Wahre deine Würde und übernimm Verantwortung für die, welche ihre Würde verraten haben!
• Überwinde jede Form von Käuflichkeit!
• Lerne, zur rechten Zeit Ja oder Nein zu sagen!
• Lerne zu schweigen!
005
Merke:Wenn du die Erleuchtung willst,
erkenne dich zuerst selbst - und dann lass los!
Leider gibt es keine Zauberformel, die Sie von einem Moment auf den anderen zum »Superverzichter« machen oder dazu beitragen könnte, die Urerinnerung an Ihren ursprünglichen Lebensplan aufzuwecken und in Zusammenhang damit ein automatisches Wiedererkennen Ihrer »D(elphi)-Liste« hervorzurufen. Ihre D-Liste ist die ganz persönliche, vorher bereits erwähnte Verhaltensempfehlung Ihres Höheren Ich, das Ihre Ahnen-Vorgeschichte (wir vermeiden in diesem Buch den Ausdruck Karma) genau kennt und damit Ihrem Seelenkörper (nicht Ihrem Willen) die klügsten Benimmregeln übermitteln könnte - wenn Sie lernen würden, diese Hinweise, die manche als »Bauchgefühl« bezeichnen, mit klarem Bewusstsein wahrzunehmen und zu befolgen.
Ich sage ausdrücklich »könnte«, denn Ihre Mitarbeit ist gefragt und gefordert. Nur wenn Sie selbst aktiv werden, können sich mit der Entwicklung Ihres Bewusstseins jene Kräfte bilden, die man als Schlüssel zu dem Erkenntnisraum in Ihrem Unterbewusstsein bezeichnen könnte, wo sich Ihre Masken der Täuschung und Verführung stapeln. Ob ich diesen Schlüssel habe? Nun ja, wenn, dann ist er wie alles andere, was ich zu besitzen scheine, nur eine Leihgabe, die ich mir durch Beobachtung, Erfahrung und endloses Interesse an den Zusammenhängen des Lebens erbettelt habe. Von wem?
Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten. Denn diese höhere Instanz, die für mich immer eine Selbstverständlichkeit war und ist, wird nicht von jedem als solche erkannt und anerkannt. Aber genau diese Instanz ist es, welche die begehrtesten Schlüssel via Talent, Wille und Bereitschaft verleiht. Bei mir heißt sie der Einfachheit halber Gott. Und dieses Wort schließt für mich eine Vielzahl verständlicher und gängiger Bezeichnungen ein, beispielsweise kosmische Intelligenz, Schöpferkraft und ausgleichende Gerechtigkeit. Diese Macht ist auch die oberste Verwaltungsinstanz der Schicksalskräfte, die in jedem und durch jeden Menschen wirksam sind.
Die eben erwähnten Schlüssel kann übrigens ausnahmslos jeder erwerben, doch sie haben ihren Preis. Wer nach seinem Schlüssel greifen will, muss zuvor etwas anderes loslassen …