Lexie rauscht die Piccadilly entlang, eine
Tasche über dem Arm. Felix segelt in ihrem Kielwasser hinter ihr
her. Mit ihrer großen Sonnenbrille und dem sensationell kurzen
Mantel zieht Lexie die Blicke der Passanten etwas stärker auf sich,
als es ihm vielleicht lieb ist. Am Eingang zum Green Park holt er
sie ein, fasst sie am Arm und hält sie fest. »Und?«, fragt
er.
»Und was?«
»Kommst du jetzt mit nach Paris oder nicht?«
Sie rückt den Kragen ihres Mantels zurecht - es ist
wirklich zu viel des Guten, dieses Teil mit den schwarz-weißen
Schnörkeln, von dem ihm die Augen wehtun; wo findet sie bloß immer
solche Sachen? - und wirft ihre Haare nach hinten. »Ich hab’ mich
noch nicht entschieden«, antwortet sie.
Felix atmet tief durch. Er hat noch nie eine Frau
gekannt, die ihn derartig rasend machen konnte.
»Hast du mir denn überhaupt nicht zugehört?«
»Ich geb dir Bescheid«, sagt sie, und ihre
Sonnenbrille blitzt, als sie den Kopf wegdreht.
Am liebsten würde er sie schütteln, ihr eine
Ohrfeige verpassen. Aber sie würde garantiert zurückschlagen, und
dafür ist sein Gesicht fast schon zu bekannt. Das merkt er an den
verstohlenen Blicken, mit denen ihn die Leute auf der Straße
ansehen. Ein Handgemenge in der Öffentlichkeit kann er sich
wirklich nicht leisten.
»Liebling.« Er will sie an sich ziehen, doch sie
hat sich schon wieder von ihm losgemacht. »Natürlich möchte ich
nicht, dass du in irgendwelche Tumulte verwickelt wirst. Aber wenn
du mit mir hinfährst, kann dir nichts passieren. Und ich könnte
dich ein paar Leuten vorstellen. Den richtigen Leuten. Vielleicht
wird es allmählich Zeit.«
»Zeit? Wofür?«
Felix macht eine ausholende Handbewegung. Er weiß
selbst nicht genau, worauf er hinauswill. »Dass du deinen Horizont
ein bisschen erweiterst. Rein beruflich gesprochen.«
»Ich habe nicht das Bedürfnis, meinen Horizont zu
erweitern«, blafft sie. »Was das auch immer heißen soll.«
Er seufzt. »Ich meine doch bloß, du musst nicht
wegen der Arbeit mitkommen. Du könntest einfach so
mitkommen.«
Sie sieht ihn an, und ihre Sonnenbrille funkelt.
»Was soll das heißen?«
»Dass du mich … begleitest.«
»In welcher Funktion?«
»Als meine …« Ihm ist klar, dass er sich auf dünnem
Eis bewegt, aber irgendetwas zwingt ihn weiter. »Ich kann dich als
meine Sekretärin eintragen, das wäre kein Problem, das machen viele
so und …«
»Deine Sekretärin?« Wieder ernten sie
neugierige Blicke. Wissen diese Menschen, wer er ist? Schwer zu
sagen. »Bildest du dir im Ernst ein, dass ich da mitmache, dass ich
alles stehen und liegen lasse, um …«
»Schon gut, schon gut«, fällt er ihr
beschwichtigend ins Wort, auch wenn Lexie nicht der Typ ist, der
sich beschwichtigen
lässt. »Dann eben nicht als meine Sekretärin. Das war eine
Schnapsidee. Aber vielleicht als meine …«
»Felix«, sagt sie. »Ich komme nicht als deine
Irgendwas mit nach Paris. Wenn ich hinfahre, dann als Journalistin.
Unabhängig von dir.«
»Das heißt, du fährst möglicherweise doch?«
»Möglicherweise.« Sie zuckt mit den Schultern.
»Heute Morgen hat mich jemand aus der Nachrichtenredaktion gefragt,
wie gut mein Französisch ist. Sie wollen Geschichten von hinter der
Front, Interviews mit ganz normalen Parisern. Solchen Kram. Und
natürlich fiel auch zweimal der Ausdruck ›weibliche Note‹.«
»Tatsächlich?« Felix versucht sich nicht anmerken
zu lassen, wie froh er ist - und wie erleichtert. »Dann wirst du
also nicht auf den Barrikaden zu finden sein?«
Sie nimmt die Brille ab und betrachtet ihn aus
zusammengekniffenen Augen. Obwohl sie sich schon seit dem
Mittagessen in den Haaren liegen, überkommt es Felix. Er kann sich
nicht helfen, in seinen Lenden regt sich etwas. »Ich werde da zu
finden sein, wo der Normalpariser ist. Was in einem Ausnahmezustand
wie diesem überall sein kann, also auch auf den Barrikaden.«
Felix überlegt, welche Alternativen er hat. Den
Streit fortsetzen - im Streiten sind Lexie und er schließlich
Experten - oder das Kriegsbeil begraben und sie mit zu sich nach
Hause nehmen. Mit einem raschen Blick auf seine Armbanduhr legt er
ihr die Hand auf den Arm und sieht sie mit einem vielsagenden
Lächeln an. »Wie viel Zeit hast du noch?«
Wie will man Felix erklären? Als Lexie ihn Mitte
der Sechzigerjahre kennengelernt hat, war er Korrespondent bei der
BBC, auf dem Sprung vom Hörfunk ins Fernsehen.
Er hatte das ideale Fernsehgesicht: attraktiv, aber nicht zu
schön, gebräunt, aber nicht zu dunkel, blond, aber nicht zu hell,
elegant, aber nicht übertrieben, mit genau dem richtigen Scheitel
an genau der richtigen Stelle. Sein Spezialgebiet waren
Kriegsschauplätze, Naturkatastrophen, Unglücksfälle und sonstige
Tragödien. Genau die Art von bombastischer Berichterstattung, die
Lexie zuwider war. Eine große, mächtige Nation bombardiert ein
kleines kommunistisches Land? Felix ist unser Mann. Ein Meer erhebt
sich, die Fluten verschlingen ein Dorf? Felix ist unser Mann. Ein
erloschener Vulkan bricht aus, eine Fischereiflotte gilt im
Atlantik als verschollen, der Blitz schlägt in eine
mittelalterliche Kathedrale ein? Felix ist sofort zur Stelle,
meistens mitten im Zentrum des gefährlichen Geschehens, oft in
einer kugelsicheren Weste, für die er ein Faible hatte. Seine
Stimme war fest, ernst, Vertrauen einflößend. Seine Berichte
endeten mit einem Kopfnicken und einem selbstbewusst vorgetragenen
»Felix Roffe, BBC«. Er stellte Lexie mit der gleichen
Entschlossenheit, dem gleichen Charme und der gleichen
Konzentration nach, mit der er sonst Naturkatastrophen, politischen
Tyrannen und einer notleidenden, aber in ihrem Leid fotogenen
Bevölkerung nachjagte. Seit einigen Jahren waren sie - mit
Unterbrechungen - ein Paar. Es war ein ständiges Hin und Her mit
Felix und Lexie; sie trennten sich, versöhnten sich, gingen ihrer
eigenen Wege, kamen wieder zusammen. Sie verließ ihn, er lockte sie
zu sich zurück, sie verließ ihn wieder. Sie rieben sich aneinander
und kamen doch nicht voneinander los, wie zwei elektrisch
aufgeladene Kleidungsstücke.
Kennengelernt hatten sie sich drei Monate vor dem
Streit in der Piccadilly durch ein einziges Wort, einen einzigen
Ruf. Der von Felix kam:
»Signora!«
Lexie sah von einem Balkon im dritten Stock auf ihn
und seinen Begleiter hinunter. Auf der schäumenden, braunen Brühe,
die durch die Straße strudelte, schwammen Stühle, Autos, Fahrräder,
Straßenschilder, Wäscheleinen. Die Geschäfte und Wohnungen im
Erdgeschoss waren überflutet, das Wasser schwappte bis zu den
Ladenschildern - »Farmacia«, »Panificio«, »Ferramenta«.
Es war im November 1966. Innerhalb von nur zwei
Tagen waren so gewaltige Niederschlagsmengen heruntergekommen wie
sonst im gesamten Herbst nicht, der Arno war über die Ufer
getreten, Florenz stand unter Wasser. Der Fluss breitete sich
unaufhaltsam aus. Bis in die Wohnungen, die Geschäfte, den Dom, die
Uffizien. Er riss Möbel, Menschen, Statuen, Pflanzen, Tiere,
Teller, Tassen, Gemälde, Bücher, Landkarten mit sich. Er spülte die
Edelsteine, Halsketten und Ringe aus den Juwelierläden auf dem
Ponte Vecchio, er verschlang sie und zog sie hinunter, in sein
schlickig schlammiges Bett.
»Sì?«, rief sie zurück, die Hände wie einen
Trichter um den Mund gelegt. Sie war gerade dreißig geworden. Es
war vier Jahre her, dass sie das Middlesex Hospital mit einem
Veilchenstrauß in der Hand verlassen hatte, neun Jahre, dass sie
aus Devon nach London geflohen war. Sie war von ihrer Zeitung nach
Florenz geschickt worden, um Berichte über die unermesslichen
Verluste an Kunstschätzen nach London zu kabeln, doch stattdessen
schickte sie seitenlange Berichte über die 15 000 Obdachlosen, die
unzähligen Toten, die Bauern, die alles verloren hatten.
Der blonde Mann ließ die Ruder sinken und stand in
dem schwankenden Boot auf. »Dom«, rief er. »Do-hom!«
Gennaro, der Fotograf, auf dessen Balkon Lexie
stand,
tauchte neben ihr auf und sah ebenfalls auf die Straße hinunter.
»Inglese?«, murmelte er.
Sie nickte.
»Televisione?« Er deutete auf die Kamera des
zweiten Mannes.
Sie zuckte mit den Schultern.
Gennaro gab ein verächtliches Schnauben von sich
und ging zurück in die Wohnung zu seiner Frau, die gerade dabei
war, ihren kleinen Sohn zu überreden, sich in den Hochstuhl zu
setzen.
Der blonde Mann dachte einen Augenblick nach.
»Signora«, begann er noch einmal. »Dom? Dov’ e Dom?«
Lexie drückte ihre Zigarette auf der Balustrade
aus. Sie spielte mit dem Gedanken, ihm den Weg auf Italienisch zu
erklären, befürchtete aber fast, dass ihre eigenen Sprachkenntnisse
dafür nicht ausreichten. »Erstens heißt es duomo«, rief sie
hinunter. »Il duomo. Und zweitens müssen Sie dort entlang.
Hätten Sie mal lieber Ihre Hausaufgaben gemacht, bevor Sie sich
hierhergewagt haben.«
»Mein Gott«, hörte sie ihn zu seinem Kameramann
sagen. »Sie ist Engländerin.«
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In der Piccadilly sieht Felix sie mit seinem
typischen Lächeln an: selbstsicher, vertraulich, lüstern. »Wie viel
Zeit hast du noch?«, will er wissen.
Er liegt ihr schon den ganzen Vormittag mit seiner
Idee in den Ohren - dass sie mit nach Paris kommen soll, dass sie
mit nach Paris kommen muss, dass sie mit ihm im St. Jacques wohnen
könnte, dass sie sich vom Courier nicht in irgendeinem
Rattenloch unterbringen lassen darf, dass er sie in den Club der
Auslandskorrespondenten mitnehmen will,
um sie mit wichtigen Leuten bekannt zu machen. So ging es in einer
Tour, und nicht einmal durch den Verzehr eines Hummers ließ er sich
aufhalten. Nur einmal kam er kurz auf ein anderes Thema zu
sprechen, auf Saigon, von wo er erst vor wenigen Tagen
zurückgekommen ist: die Granaten, die Explosionen, die
Entlaubungsmittel, eine Stadt unter Beschuss, überrollt von
Presseleuten, Prostituierten und Soldaten, das Risiko einer
Infektion mit Malaria, Denguefieber, einer Amöbenruhr oder
Schlimmerem.
Lexie setzt die Sonnenbrille wieder auf, schiebt
den Ärmel hoch und sieht auf ihre Uhr. Sie ärgert sich über sich
selbst, über das leise Gefühl der Erregung, das sie empfindet. »Gar
keine«, gibt sie barsch zurück.
»Sehen wir uns dann wenigstens heute Abend zum
Essen? Meine Maschine geht erst um neun.«
Sie tritt an die Bordsteinkante. »Vielleicht«, sagt
sie. »Ich geb dir Bescheid.« Im Laufschritt überquert sie die
Straße, leicht behindert durch ihre hohen Stiefel. Als sie sich auf
der anderen Seite umdreht, um Felix zu winken, ist er verschwunden.
Die Menge hat ihn verschluckt.
Sie marschiert los. Selbst durch ihre dunkle Brille
sieht die Welt strahlend hell aus. Die Sonne verleiht jedem, der
die Piccadilly entlanggeht, eine feurige Corona, als ob alle
Menschen Engel wären, als ob dieser sonnige Februarnachmittag in
London bereits das Jenseits wäre. In zehn Minuten muss sie in einem
Restaurant in der Charlotte Street einen Theaterregisseur
interviewen. Sie schlägt ein zügigeres Tempo an: über den
Piccadilly Circus, um die Ecke in die Shaftesbury Avenue in
Richtung Cambridge Circus, wo sie nach links in die Charing Cross
Road abbiegen wird.
Um Soho wird sie einen großen Bogen machen. Sie
meidet es bis heute.
Um nicht daran denken zu müssen, denkt sie an die
Idee mit der Reise nach Paris und an Felix. Sie weiß nicht, ob sie
mitfahren soll. Beim Mittagessen hat Felix gemeint, es wäre auch
gut für ihre Karriere. »Die sollen endlich merken, dass du mehr auf
dem Kasten hast als bloß nette Artikelchen über Malerei«, sagte er,
während er sein Weinglas in den Händen drehte.
Sie knallte ihre Gabel auf den Teller. »Nette
Artikelchen über Malerei?«, wiederholte sie aufgebracht. »So siehst
du meine Arbeit?« Und dann ging der Streit los. Im Streiten waren
sie unschlagbar. Im Streiten waren sie ein klasse Team.