Eines Abends saß Lexie noch allein in der elsewhere-Redaktion. Innes sah sich irgendwo in einem Atelier ein Triptychon an, Laurence war ins Mandrake gegangen. Lexie war fest entschlossen, erst dann Feierabend zu machen, wenn sie einen weitschweifigen Artikel über George Barker um mindestens eine weitere halbe Seite gekürzt hatte. Sie klemmte sich den Korrekturstift zwischen die Zähne und beugte sich über das Manuskript.
»Der quintessenzielle Kern, das Ureigentliche und Wesenhafte dessen, was Barkers Kadenzen ausmacht …«, las sie. Brauchte es den Kern und das Ureigentliche? Und das Wesenhafte auch noch? Bedeutete »quintessenzieller Kern« nicht das Gleiche wie »das Wesenhafte«? Grimmig biss Lexie auf den Stift. Er schmeckte nach Graphit und Holz. Sie hatte den Text schon so oft gelesen, dass er allmählich jeden Sinn verlor. Unschlüssig ließ sie den Stift zwischen »quintessenzieller Kern« und »Wesenhaft« ein paarmal hin und her wandern, bis ihm zuletzt das Wesenhafte zum Opfer fiel - und zwar aus dem Grund, dass es ein hässliches Wort war, weil es …
Quietschend ging die Tür auf, und Daphne kam herein. Sie schüttelte sich den Regen von der Jacke. »Mein Gott«, rief sie. »Was für ein Sauwetter.« Sie sah sich um. »Wo sind denn alle? Was ist passiert? Bist du ganz allein?«
»Ja«, antwortete Lexie. Die beiden Frauen sahen sich über den Schreibtisch hinweg an. Lexie legte den Korrekturstift weg, nahm ihn wieder in die Hand. »Ich wollte das hier noch fertig machen.«
Daphne kam um den Tisch herum und sah ihr über die Schulter. »Ist das eine Buchkritik von Venables? Seine Artikel sind immer unter aller Kanone. Ich weiß wirklich nicht, warum Innes ihm überhaupt noch Aufträge gibt. Klar, er ist billig, aber das ist auch das Einzige, was für ihn spricht.« Daphnes Zeigefinger mit dem abgekauten Nagel landete im zweiten Absatz. »Ein komplett verunglückter Nebensatz. Und da«, sie deutete auf eine andere Stelle. »Das Wort ›Strophe‹ zweimal im selben Satz. Der faule Hund. Ob er seine Texte überhaupt durchliest, bevor er sie abgibt?«
Daphne hockte sich auf die Schreibtischkante. Mit brennenden Wangen machte Lexie sich daran, den verunglückten Nebensatz zu retten.
»Ich kann nur sagen, alle Achtung, dass er dir so eine Aufgabe anvertraut«, bemerkte Daphne.
Lexie hob langsam den Kopf. Ihr Blick fiel zuerst auf den grünen Ring, den Daphne am Daumen trug, und dann auf ihre geschminkten Lippen, die sie nachdenklich gekräuselt hatte. »Findest du?«
Daphne betrachtete prüfend einen Fingernagel und knabberte ein bisschen daran. »Mm«, sagte sie. »Wenn er dir Venables’ Schrott zum Aufmöbeln überlässt, muss er große Stücke auf dich halten.«
Lexie gähnte. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft sie war. »Ich wüsste nicht, wieso. Ich komme mir wie der letzte Stümper vor.«
Daphne nahm ihr den Stift aus den Fingern. »Komm«, sagte sie. »Genug für heute. Gehen wir was trinken.«
»Aber ich bin noch nicht fertig«, protestierte Lexie, auch deshalb, weil sie noch nie allein mit Daphne ausgegangen war und sich ein wenig davor fürchtete. »Ich muss noch eine Viertelseite rauskürzen. Ich habe Innes versprochen, dass ich …«
»Scher dich nicht um Innes. Was meinst du denn, was er gerade bei Colquhoun treibt? Wahrscheinlich haben die beiden längst eine Flasche Whisky niedergemacht. Los, wir verschwinden.«
Vor dem French Pub - Daphnes Stammlokal - standen die Gäste Schlange. »Bis wir hier was zu trinken kriegen, sind wir verdurstet«, knurrte sie, während sie sich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig berieten. Ins Mandrake wollten sie nicht. Im Colony Room kamen sie gerade einmal durch die Tür, bevor sie von Muriel Belcher zurückgepfiffen wurden. »Leider nur für Mitglieder«, krächzte sie.
Daphne nahm ihre Zigarette aus dem Mund. »Ach, kommen Sie schon, Muriel. Können Sie nicht eine Ausnahme machen?«
»Wenn ich mich nicht irre, haben uns die Damen noch nicht mit ihrer Mitgliedschaft beehrt.«
»Bitte«, sagte Lexie. »Es ist schon spät. Überall sonst ist es brechend voll. Wir bleiben nicht lange. Und wir fallen auch nicht aus der Rolle, versprochen. Wir spendieren Ihnen eine Runde.«
»Wo steckt denn unsere Miss Kent heute Abend?«
»Zieht mit Colquhoun um die Häuser«, antwortete Daphne.
Muriel zog eine Augenbraue hoch und musterte Lexie. »Verstehe. Sie wechselt doch nicht etwa ans andere Ufer?«
»Äh, tja«, stammelte Lexie verlegen. Sie begriff nicht ganz, worauf Muriel mit ihren Andeutungen hinauswollte.
Daphne sprang ihr bei. »Wohl kaum. Da wird schon eher die Erde zur Scheibe.«
»Na, ihr zwei beide müsst es ja wissen«, gackerte Muriel.
»Also, lassen Sie uns jetzt rein?«, fragte Daphne. »Bitte, bitte?« Sie schob Lexie vor sich her, bis die fast auf dem Schoß der Wirtin landete. »Sie ist mit einem Mitglied verbandelt.« Lexie trat ihr mit voller Wucht auf die Zehen. »Könnte man das nicht gelten lassen?«
Muriel musterte sie von oben bis unten. »Okay, ausnahmsweise. Aber nächstes Mal bringt ihr eure Zuckerpuppe wieder mit.«
»Zuckerpuppe?«, flüsterte Lexie, während sie sich ihren Weg zur Theke bahnten.
»Sie meint Innes«, flüsterte Daphne zurück.
In Verbindung mit Innes kam Lexie dieser Ausdruck besonders komisch vor, und sie fing an zu kichern. »Wieso sagt sie das? Und wieso nennt sie ihn ›sie‹?«
»Pst«, sagte Daphne warnend. »Sonst denkt sie noch, du machst dich über sie lustig. Und dann schmeißt sie uns raus.«
Lexie konnte sich nicht mehr einkriegen vor Lachen. »Ach, wirklich?«
»O Gott«, ächzte Daphne. »Dabei hast du noch keinen Tropfen getrunken. Sie nennt alle Männer ›sie‹. Ist dir das noch nie aufgefallen?«
»Aber warum?«
»Darum«, entgegnete Daphne abschließend. »So«, sagte sie, als sie endlich an der Theke standen. »Was nehmen wir? Einen Gin? Ich hab überhaupt kein Geld - du vielleicht?«
Sie fanden zwei Plätze an einem Tisch in der Nähe der Bar, eingezwängt zwischen einem Mann in einer speckigen Schaffelljacke, zwei jungen Kerlen, von denen einer eine wunderschöne Lacklederhandtasche über dem Arm trug, und der alten Frau, die Lexie schon einmal hier gesehen hatte.
Lexie stellte Daphne ein Glas Gin hin, rührte mit dem Cocktailstäbchen klirrend in ihrem eigenen Glas, sagte: »Auf ex!« und leerte es in einem Zug. »Uff«, sagte sie prustend. »Ah. Noch einen?«
Daphne trank ein kleines Schlückchen. »Bei dir gibt es wohl keine halben Sachen, was, Lexie Sinclair?«
Lexie fischte einen Eiswürfel aus ihrem Glas und steckte ihn in den Mund. »Was meinst du damit?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Du gehst immer voll aufs Ganze.«
»Wer? Ich?«
»Ja.« Daphne lutschte nachdenklich an ihrem Cocktailstäbchen. »Kein Wunder, dass ihr so ein tolles Gespann seid, Innes und du. Er ist ganz genauso.«
Lexie biss auf den Eiswürfel. Während sie ihn zu immer kleineren Stückchen zermalmte, betrachtete sie Daphne mit ihrem grünen Daumenring, der glatten Stirn, dem breiten Mund. Und plötzlich hatte sie eine Sekunde lang ein Bild von Innes und Daphne im Bett vor Augen. Sie sah, wie er sich über sie beugte, wie er mit den Händen und dem Mund diese Haut, dieses Haar berührte, wie sich ihre Lippen trafen. Lexie schluckte die Eissplitter herunter und atmete tief durch. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Wenn die Freundschaft zwischen Daphne und ihr eine Zukunft haben sollte, durfte sie nicht länger schweigen.
»Es tut mir leid«, begann sie. »Ich wollte dir nicht die Tour vermasseln. Mit Innes, meine ich. Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Es war nie meine Absicht …«
»Ich bitte dich«, sagte Daphne mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Er und ich, wir waren eher so was wie eine Zweckgemeinschaft. Aber das zwischen euch, das ist was richtig Ernstes. Das kann jeder sehen.« Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, schien ihr zu gefallen, denn sie lächelte. »Seit er dich kennt, ist er ein anderer Mann.«
»Ich auch. Bloß, dass ich natürlich eine andere Frau bin«, sagte Lexie. Sie bekam wieder einen Kicheranfall. Es war aber auch zu lustig: sie, das Mädchen vom Lande, hier im Colony Room, neben sich einen Mann mit Handtasche und eine alte Frau, die dem Mann in der Schaffelljacke mit ihrer Tabaksdose unter der Nase herumklapperte. Dazu die Fische, die in dem trüben Aquarium im Kreis schwammen, Muriel, die einen Gast zusammenstauchte, er solle jetzt endlich seine »Moneten rausrücken«, einen Künstler, der den Arm um die Schultern einer Frau in einem hautengen violetten Kleid gelegt hatte. Das alles hatte so wenig mit der Welt zu tun, in die sie ihrer Herkunft nach gehört hätte, dass sie nur noch lachen konnte.
Daphne verdrehte die Augen. »Was gibt es denn jetzt schon wieder zu gackern?«
»Ich weiß auch nicht«, brachte Lexie hervor. »Ich weiß es nicht. Manchmal kann ich es kaum glauben, dass ich früher in Devon gelebt habe.«
»Wie bitte?« Daphne starrte sie verdutzt an. »Was hat denn jetzt Devon damit zu tun?«
»Gar nichts!« Lexie beugte sich über den Tisch. »Das ist es ja eben!«
Daphne steckte sich eine Zigarette an und schüttelte das Streichholz aus. »Du bist ein merkwürdiges Wesen, Lexie.« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Darauf müssen wir noch einen heben. Deakin«, sagte sie zu dem Mann in der Schaffelljacke, der ihnen gegenüber saß. »Leih uns ein paar Kröten, sei so lieb. Ich weiß, du kannst es verschmerzen.«
Deakin verzog verächtlich den Mund. »Du kannst mich mal«, schnarrte er. »Versauft euer eigenes Geld.«
017
Die elsewhere-Redaktion ist heute ein Café. Beziehungsweise eine Bar. Schwer zu sagen. Über der Tür steht »The Lagoon Café Bar«, man hat also die Wahl. Innes hätte sich über die fehlenden Satzzeichen geärgert. Es müsse »Café/ Bar« heißen, hätte er gesagt, oder »Café, Bar« oder wenigstens »Café-Bar«, wenn man es als zusammengesetztes Hauptwort betrachten wolle.
Wie auch immer. Jedenfalls ist es ein Lokal mit abgeschliffenem Holzfußboden, gedämpftem Licht, dunkelblauen Wänden, Kerzen auf den Tischen, komfortablen Sofas im hinteren Teil, sowie mit einer großzügigen Auswahl an Büchern und Zeitschriften - darunter ironischerweise auch die London Lights, wie das elsewhere-Magazin heutzutage heißt. Eine schreckliche Namensänderung. Aber die Leute, die elsewhere Anfang der Sechzigerjahre kauften, fanden den ursprünglichen Namen zu »kopflastig«. Natürlich hat die Zeitschrift keinerlei Ähnlichkeiten mit ihrer Vorgängerin. Vier Mal so dick wie zu Innes’ Zeiten, gespickt mit Werbung, Kleinanzeigen und den Interviewenthüllungen von Fernsehstars, die Feld-Wald-und-Wiesen-Geheimnisse preisgeben. Den wenigen Rezensionen, die es überhaupt noch gibt, wird kaum Platz eingeräumt. Erst kürzlich wurde die neue Medea-Inszenierung am National Theatre in einer halben Spalte abgefertigt.
Ein Tisch in der Lagoon Café Bar (beziehungsweise Café/Bar oder Café-Bar) steht ungefähr an derselben Stelle, wo sich früher Lexies Schreibtisch befand - ein umfunktionierter alter Küchentisch, übersät mit Messernarben und Tintenklecksen. Die Tür ist eine andere, aber auch sie klemmt bei nassem Wetter. Der Kamin, den Innes, weil er die eisige Zugluft im Winter nicht vertragen konnte, mit Brettern vernagelt hat, wurde freigelegt, poliert, restauriert. Wie sich die Zeiten ändern. Er wird nicht als Feuerstelle genutzt, sondern eher als eine Art Hausaltar, in dem unzählige Kerzen brennen. Wem oder was dort gehuldigt wird, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Dass einige elsewhere-Regale überlebt haben, grenzt an ein Wunder, wurden sie doch 1960 von Laurence und Lexie alles andere als fachmännisch montiert. In einigen stehen die Bücher, die die Café/Bar ihren Gästen zur Verfügung stellt, in anderen tropfen die Gläser ab, nachdem sie aus der Spülmaschine gekommen sind. Innes’ Hinterzimmer mit den Bildern, dem Sofa und dem diversen Gerümpel ist heute eine Küche. Dort werden Panini überbacken, Kichererbsenmus angerührt und Oliven in kleine Schälchen gefüllt - die Speisekarte der Lagoon hat einen leicht mediterranen Touch; die Bedienungen sind bosnisch, polnisch und australisch. Innes wäre begeistert gewesen.
Von dem Tisch, der an der Stelle steht, wo Lexies Schreibtisch war, kann man auf die Bayton Street hinaussehen. Es ist ungewöhnlich kalt für Juli, der Regen, der schräg und grau auf den Asphalt prasselt, spritzt gegen die Scheiben. Die Tische auf dem Bürgersteig sind verlassen, eine vergessene Kaffeetasse tropft langsam voll. Die australische Kellnerin beziehungsweise »Barista«, wie sie laut ihrem Namensschild bezeichnet wird, hat eine alte Edith-Piaf-Platte aufgelegt. Es ist früher Nachmittag, kurz nach dem Mittagsansturm. Und an dem Tisch, wo früher Lexies Schreibtisch stand, sitzt Ted.
Er kommt ziemlich oft hierher, denn er arbeitet gleich um die Ecke, in der Wardour Street. Er hat sich ein Panino mit Ziegenkäse und roter Paprika bestellt. Leise tupft er mit den Fingern einen Begleitrhythmus für Edith, und obwohl er den Tisch kaum berührt, sind die Vibrationen durch das Holz hindurch zu spüren. Er scheint auf die Stelle zu starren, wo früher Lexies Pinnwand hing - ein Sammelsurium aus Notizen, Fahnen, Listen, Ansichtskarten und Dias, mit dem sich außer ihr niemand auskannte. Aber natürlich sieht er nur in den Regen hinaus.
Der Kleine habe die letzte Nacht kaum geschlafen, hat er gerade erzählt. Was zumindest eine Erklärung dafür ist, dass er so aussieht, als ob er ein wenig neben sich stünde. Er trägt ein Hemd mit verdrehtem Kragen, einen Pullover mit ausgefranstem Ärmel.
»Es wird höchste Zeit, dass ihr dem Kind endlich einen Namen gebt«, sagt Simmy, der mit ihm am Tisch sitzt. »Sonst nennt ihr ihn immer noch ›der Kleine‹, wenn er schon zur Uni geht.«
Ted schmunzelt. Er zuckt mit den Schultern, und sein verdrehter Kragen hebt und senkt sich. »Vielleicht geht er ja gar nicht zur Uni.« Er beißt herzhaft in sein Panino.
Simmy knurrt. »Du weißt ganz genau, worauf ich hinauswill. Was denkt ihr euch eigentlich …«
»Nur damit du’s weißt«, nuschelt Ted mit vollem Mund. »Wir haben uns gestern Abend für einen Namen entschieden.«
»Tatsächlich?« Simmy ist so überrascht, dass ihm fast das Glas aus der Hand fällt. »Und für welchen?«
Ted deutet mit einer kreisenden Bewegung an, dass er erst zu Ende kauen muss.
»Einen unaussprechlichen finnischen?«, hakt Simmy nach. »Mit sieben Vokalen? Oder einen richtig langen wie James James Morrison Morrison Wetherby George Digsbums? Oder Ted? Ted, der Zweite?«
»Jonah«, sagt Ted.
»Nach dem mit dem Wal?«
»Genau.«
»Aber euch ist schon klar, dass er das jetzt bis an sein Lebensende zu hören bekommt?«
»Was? Das mit dem Wal?«
»Ja.«
»Daran wird er sich schon gewöhnen. Alle Namen rufen irgendwelche Assoziationen hervor. Auf jeden Fall sieht er aus wie ein Jonah. Und mir gefällt der Name.«
»Logisch«, wirft Simmy ein. »Sonst hättest du ihn ja auch nicht ausgesucht.«
»Und«, fährt Ted fort, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, »der Name funktioniert auf Englisch und auf Finnisch. Bei uns sagt man Jonah, und auf Finnisch spricht man ihn ›Jurnah‹ aus. Oder ›Juor-nah‹. Oder so ähnlich.«
»›Juor-nah‹?«
»Ich glaube.«
»Und dann behauptest du, dass der Name auf Englisch und auf Finnisch funktioniert?«
»Sim«, sagt Ted freundlich. »Es hat dich keiner nach deiner Meinung gefragt.«
Schweigend konzentrieren sie sich ein paar Minuten lang auf das Mittagessen. Ted fängt wieder an, mit den Fingern auf den Tisch zu klopfen, bis die Gläser, Messer und Tassen leise vibrieren.
»Der Name ist gut«, murmelt Simmy, der an einem Grissino knabbert. »Er gefällt mir.«
»Danke.«
»Und wie geht es Elina?«
Ted hört auf zu trommeln, greift nach seiner Serviette, faltet sie ein paarmal auseinander und wieder zusammen. »Nicht schlecht.« Er runzelt die Stirn. »Sie ist … Na ja, sie ist müde.«
Simmy nickt. »Ja. Das kann ich mir vorstellen.«
»Wenn ich doch bloß mit diesem verdammten Film fertig wäre, dann könnte ich Urlaub nehmen.«
»Kannst du den Rest nicht von jemand anderem schneiden lassen?«
Ted kratzt sich am Kopf und gähnt. »Ich hab’ einen Vertrag unterschrieben. Und es ist ein wichtiger Kunde. Er würde es bestimmt nicht gern sehen, wenn ich ihn abgebe. Ich muss den Film zu Ende bringen. Das ist alles nur, weil das Kind zu früh gekommen ist. Ich sag ihr immer, sie soll sich mit ihrer Gruppe in Verbindung setzen.«
»Ihrer Gruppe?«
»Ja, die Geburtsvorbereitungsgruppe, oder wie sich das nennt. Der Gebärkurs. Aus dem Krankenhaus. Ich glaube, sie treffen sich einmal die Woche. Aber sie will da nicht hin.«
»Warum nicht?«
»Keine Ahnung.« Ted wirft die Serviette auf seinen Teller. »Weil sie mit Gruppen angeblich nichts anfangen kann.«
»So was gibt’s doch. Irgendwie kommt mir Elina auch nicht wie ein Gruppenmensch vor.«
»Und sie hat Angst, Jonah würde da die ganze Zeit schreien. Sie glaubt, er hat Koliken, und sie sagt, sie kann ihn nur zu Hause stillen, weil er so schreit und strampelt und zappelt, dass ihre … na ja, dass ihre Brust raushängt, bis er sich wieder beruhigt hat, und das kann bis zu einer Stunde dauern.« Ted atmet tief durch.
»Alles klar.« Simmy nickt. »Vielleicht komme ich am Wochenende mal vorbei.«
Ted sieht ihn von der Seite an. »Die meisten Leute würden vorher fragen.«
»Wozu soll ich dich um Erlaubnis bitten? Ich komme schließlich nicht deinetwegen. Ich komme wegen Elina. Und wegen des frisch getauften Jonah. Du kannst mir den Buckel runterrutschen.«
Ted grinst. »Super.« sagt er. Er wirft einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss los. Entschuldige, Sim.« Er steht auf, wirft ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Also dann, bis die Tage.«
Ted schreitet zügig aus, wie immer, mit federnden, elastischen Schritten. Unterwegs holt er sein Handy heraus und ruft Elina an.
»Hallo … Ja … Wie geht es dir? Wie geht es Jonah? Hat er getrunken? … Ach. Wirklich? O nein. Das tut mir leid. Na, vielleicht-…Verstehe. Okay… Ich war gerade mit Simmy essen. Ja. Ich hab ihm das mit dem Namen erzählt, und er meinte-…Ach. Okay. Dann bis später.« Er klappt das Handy zu, betritt das Gebäude der Produktionsfirma. Im Lift starrt er die nacheinander aufleuchtenden Zahlen an. Als er in seinem Büro angekommen ist, lässt er sich auf den Stuhl fallen. Er ordnet ein paar Papiere auf dem Schreibtisch, steckt sich einen Stift hinters Ohr, legt ihn wieder hin, trinkt einen Schluck Wasser aus einer Plastikflasche, stellt den Stuhl anders ein, schüttelt sein rechtes Handgelenk aus und fängt an zu arbeiten.
Er hat zwei Bildschirme vor sich: Beide zeigen das Standbild eines taumelnden Mannes am Rand eines Daches, der im nächsten Augenblick in den Abgrund stürzen wird.
Ted schiebt die Maus über den Tisch, drückt die Tasten - schnelle Viertel- und Achtelnoten -, und der Film bewegt sich langsam weiter, Einzelbild um Einzelbild, im Zeitlupentempo. Die Füße des Mannes lösen sich von der Kante, er kippt mit dem ganzen Körper nach vorn, den zerbrechlichen Schädel voraus, er rudert mit den Armen, seine Kleidung flattert im Wind. Wir können sein Gesicht nicht sehen, als er an der Kamera vorbei in die Tiefe fällt, aber wir können es uns vorstellen, starr vor Schreck, den Mund weit aufgerissen. Und wir folgen ihm, tiefer und tiefer, ein furchtbarer Sturz, und dieser Mann hat keinen Fallschirm, er kann an keiner Leine reißen, kein seidener Stoff bläht sich auf, um ihn zu retten. Mit dem Kopf zuerst und mit um sich dreschenden Gliedern stürzt er der Erde entgegen.
Dann schubst Ted die Maus ein winziges Stück weiter. Er klickt - drei markante Achtelnoten -, und der Mann wird im Sturzflug angehalten, eine Handbreit, bevor er auf der Straße aufschlägt. Jetzt, aus dieser Kameraperspektive, sieht man sein Gesicht: eine verbissene, grimmige Miene, gebleckte Zähne, zusammengekniffene Augen. Ted hat ihn gerettet. Er klickt noch einmal, und der Film läuft zurück, der Mann schnellt durch die Luft zurück nach oben, höher und immer höher hinauf, weiter und immer weiter weg von der Erde, und dann steht er wieder oben auf dem Dach; er redet jetzt mit dem Mann, dem breitschultrigen Kerl, der ihn hinuntergestoßen hat. Wenn er klug ist, lässt er sich nie wieder auf einem Hochhausdach mit einem Kraftprotz auf ein Streitgespräch ein.
Ted lässt den Film vorwärts- und rückwärtslaufen. Wir sehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wie der Mann vor- und zurücktaumelt. Vorwärts: auf die Kante zu. Rückwärts: auf den stämmigen Mann zu. Vorwärts, rückwärts. Wird er stürzen, oder kann er sich auf dem Dach halten? Wird er sterben oder nicht? Wird er heute sterben oder morgen? Die Entscheidung liegt bei Ted.
Aber vorläufig scheint er sich noch nicht entscheiden zu wollen. Er gähnt, reibt sich mit den Handballen die Augen, lehnt sich nach hinten. Wieder ein Mausklick, und die Szene läuft rückwärts. Während er sich auf die Bilder konzentriert, massiert Ted seinen linken Arm. Er gähnt wieder und wirft einen Blick auf die Wanduhr - bald kommt der Regisseur, der sich die Szene ansehen will. Plötzlich runzelt er die Stirn und beugt sich vor. Am oberen Rand des Bildschirms hat etwas geflackert, ganz kurz nur, keine tausendstel Sekunde lang. Er bewegt die Maus, und die Bilder rollen im Schneckentempo vorwärts und zurück. Vorwärts und zurück.
Da! Jetzt hat er’s! Er wusste es! Blitzschnell flimmert etwas schwarz an der Kamera vorbei. Ein Ausrüstungsgegenstand, ein loser Draht, eine Fingerkuppe, wer weiß? Aber er hat es gefunden und mit ein paar flinken Mausklicks entfernt.
Ted lehnt sich zufrieden wieder zurück. Er hasst Filmfehler, findet es schrecklich, wenn sie ihm durchrutschen. Er muss noch einmal gähnen. Er tätschelt sich dreimal die Wange. Er muss hellwach sein, wenn der Regisseur kommt, er braucht einen Kaffee, er muss seinen Vater zurückrufen, später vielleicht, er muss …
Und plötzlich sieht er, wie sein Vater ihn als Kind eine Straße entlangzieht. Er, Ted, trödelt und schlurft mit den Füßen und schreit: Nein, nein, nein. Und sein Vater? Sein Vater sagt, jetzt komm, und du musst, und stell dich nicht so an. Was Väter so sagen. Anscheinend will er ihn irgendwohin bringen, ohne seine Mutter, denn auf einmal erinnert sich Ted an das Gefühl - vage zwar, aber doch eindeutig -, an den unbändigen Drang, das überwältigende Bedürfnis, sie zu sehen, zu ihr zu laufen, sich an den Eisenzaun zu klammern und so lange festzuhalten, bis sie ihn rufen hört, bis sie ihn holen kommt.
Ted sieht auf den Bildschirm, auf den Mann, der wie ein dunkler Engel in der Luft schwebt. Auf die Karte mit Elinas Gemälde. Er schüttelt seinen Arm aus, der ganz steif geworden ist und kribbelt - vielleicht sollte er doch mal wieder zum Osteopathen gehen -, und er steht auf. Er sieht auf seine Hände, auf den Daumen mit der Narbe, auf den Block mit den Telefonnummern. Er greift zum Hörer, hält ihn unschlüssig in der Hand. Er müsste seinen Vater zurückrufen. Oder lieber Elina? Und sie fragen, ob es ihr gut geht. Aber Ted wählt weder die eine noch die andere Nummer. Er setzt sich an den Schreibtisch, hält den Hörer ans Ohr und lauscht dem Schallimpuls des Wähltons, der in seiner Monotonie so beruhigend ist wie der Wind in den Bäumen, wie die Wellen an einem Kieselstrand.
018
Es klingelt an der Haustür, ein ums andere Mal. Elina ist im Gästezimmer und legt die Wäsche zusammen - Hemdchen, Strampelanzüge, winzige Söckchen. »Ted?«, ruft sie. »Ted!«
Keine Antwort. Es klingelt weiter. Sie legt das Hemdchen weg, das sie gerade in der Hand hält, und geht nach unten.
Als sie die Tür aufmacht, steht Simmy vor ihr auf dem Gartenweg.
»Kleine My«, sagt er. »Ich wollte dich entführen.«
Elina lacht. Sie kann sich nicht beherrschen. Simmy trägt einen Strohhut und ein Zelt von einem Hemd mit einem Muster aus bunten Liegestühlen. »Wie siehst du denn aus«, sagt sie. »Als ob du in einem Musical auftreten wolltest.«
Er breitet theatralisch die Arme aus. »Mein ganzes Leben ist ein Musical. Los, komm. Auf geht’s.«
»Und wohin?«
»Nichts wie weg. Tempo, Tempo.« Er klimpert mit den Autoschlüsseln. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Aber wohin soll es denn gehen?«
»Weg, das sag ich doch. Wo steckt deine bessere Hälfte? Ist er zu Hause?«
»Er ist mit dem Kleinen im Garten.«
»Du meinst, mit Jonah«, verbessert Simmy sie streng. Er kommt in die Diele und fängt an, den Kleiderständer zu durchforsten. »Das musst du dir schleunigst abgewöhnen, dass du ›der Kleine‹ zu ihm sagst. Ich nenne dich schließlich auch nicht ›die Große‹, oder?« Er drückt ihr eine Jacke und einen Sonnenhut in die Hand.
Elina setzt sich mit den Sachen auf die unterste Treppenstufe. »Was machst du da, Sim?«
»Hast du keine Tasche?«, will er wissen, während er kurz ein kleines, grünes Ledertäschchen mit zahlosen Reißverschlüssen hochhält und wieder weghängt. »Eine richtige Tasche in Koffergröße. Mit Zeugs drin.«
»Was denn für Zeugs?«, fragt sie. Simmy macht sich erneut am Kleiderständer zu schaffen.
»Babyzeugs. Windeln und so. Du weißt schon. Diese wattierten Riesendinger, die man als Eltern durch die Gegend schleppt.«
Elina deutet auf die Leinentasche neben der Tür.
»Die da?« Simmy stupst sie mit dem Zeh an. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Die sieht ja aus wie der Sack, in dem meine Mutter das Pferdefutter aufbewahrt.« Er macht die Tasche auf. »Hm. Wollen wir mal sehen. Windeln, abgehakt. Watte, abgehakt. Feuchttücher, abgehakt. Unidentifizierbare kleine weiße Dinger, abgehakt. Was brauchen wir sonst noch?«
»Sim, ich kann doch nicht einfach …«
»Fläschchen. Brauchen wir keine Fläschchen?
»Nein.« Sie zeigt auf ihre Brust. »Ich …«
»Oh.« Er zieht die Nase kraus. »Natürlich. Selbst ist die Frau. Okay, die Verpflegung überlass ich dir. Wo ist Ted? Ted!«, ruft Simmy. »Los, komm. Auf geht’s.«
Auf geht’s, denkt Elina, als sie in Simmys Auto durch die Stadt brausen, durch Straßen voller Menschen, Kindern auf Fahrrädern, Teenagern in Grüppchen, blühenden Bäumen. Es ist einer ihrer Lieblingsausdrücke. Auf geht’s. Er kommt ihr vor wie ein Echo aus ihrem früheren Leben, als sie ständig auf dem Absprung war. Jetzt fühlt sie sich festgewachsen wie eine Muschelschale, wie angeschmiedet an das Haus und die wenigen Straßen in der näheren Umgebung. Auf geht’s.
Sie hält Jonahs halb geschlossene kleine Hand. Er sitzt hellwach in seinem Kindersitz, die Augen weit aufgerissen. Er scheint über diesen unverhofften Ausflug genauso überrascht zu sein wie sie selbst. Die Männer kabbeln sich, welche CD sie spielen sollen. Ted trägt Simmys Strohhut, weit aus der Stirn nach hinten geschoben. Simmy hat eine Hand am Lenkrad und die andere über dem Schlitz des CD-Spielers, damit Ted die Scheibe, die er in der Hand hält, nicht einlegen kann. Die Männer lachen, alle Fenster sind offen, warme Luft strömt in den Wagen.
Sie fahren zur National Portrait Gallery. Simmy lässt es sich nicht nehmen, Jonah im Tragetuch zu tragen, und Ted schleppt die Wickeltasche aus Leinen, so dass Elina die Arme frei hat und sie schwingen lassen kann. Ted möchte gleich das Café im obersten Stock ansteuern, worauf Simmy ihn als Banausen tituliert. Sie seien schließlich hier, um sich die John-Deakin-Ausstellung anzusehen, und nicht, um überteuerten Cappuccino zu trinken.
»Wer ist dieser John Deakin überhaupt?«, grummelt Ted.
»Kleine My?« Simmy wendet sich Elina zu.
»Hm.« Sie muss kurz überlegen. »Ein Fotograf. Glaube ich zumindest. War er nicht ein Zeitgenosse von Francis Bacon?«
»Die Kandidatin hat hundert Punkte«, sagt Simmy. Er nimmt Ted und Elina bei der Hand. »Kinder«, verkündet er mit so lauter Stimme, dass sich mehrere Leute nach ihnen umdrehen. »Wir werden gleich in die zwielichtige Künstlerwelt Nachkriegslondons eintauchen. Bist du bereit?« Die Frage gilt Ted.
»Nein, ich möchte einen Cap…«
»Bist du bereit?« Diesmal ist Elina gemeint.
»Ja.« Sie muss sich ein Lachen verbeißen.
»Bist du bereit?« Er sieht Jonah an. »Nein, du bist anscheinend eingeschlafen. Macht nichts. Auf geht’s.« Und er zieht sie hinter sich her durch den Eingang.
Elina hat Simmy eines Morgens in Teds Wohnzimmer kennengelernt, ungefähr einen Monat nachdem sie in die Mansarde gezogen war. Weil sie eine lange Fahrt hatte bis nach Ostlondon, wo sie unterrichtete, war sie schon sehr früh aufgestanden. Als sie nach unten kam, fand sie auf dem Sofa einen großen, übergewichtigen Mann mit rötlichen Haaren vor, der in ein unglaubliches Ensemble schmuddeliger Klamotten gekleidet war und schlief. Sie ging auf Zehenspitzen in die Küche und setzte so leise wie möglich das Wasser auf.
»Sag bloß, du kochst Tee?«, dröhnte eine Stimme hinter ihr her.
Sie drehte sich um. Der Mann beobachtete sie über die Sofalehne hinweg. »Nein, Kaffee.«
»Noch besser. Du ausgewachsener Engel, du. Könntest du unter Umständen ein Tässchen für mich erübrigen?«
Elina konnte. Sie brachte es ihm ans Sofa und hockte sich mit ihrer Tasse auf den Teppich.
»Himmel«, japste der Mann nach dem ersten Schluck. »Der verätzt einem ja die Kehle.«
»Zu stark?«, fragte Elina.
»Stark ist gar kein Ausdruck.« Er massierte sich den Hals. »Vielleicht kriege ich nie wieder ein Wort heraus. Also nutzen wir lieber die Zeit, die mir noch bleibt.« Lächelnd setzte er sich hin und wickelte die Decke um sich. »Dann lass mal hören, was du zu erzählen hast, Teds Untermieterin.«
Als sie Ted am Abend sah - er kochte zusammen mit seiner Freundin Yvette -, erkundigte sie sich nach dem Mann auf dem Sofa.
»Simmy?«, sagte Ted, ohne den Blick vom Wok zu nehmen. »James Simpkin, um genau zu sein. Er übernachtet manchmal bei mir - er hat seinen eigenen Schlüssel. Weil er wusste, dass ich die Mansarde vermietet habe, hat er wohl einfach auf dem Sofa gepennt. Ein Glück, dass er es nicht vergessen hatte, sonst wäre er womöglich mitten in der Nacht bei dir reingeplatzt.«
»Hat er furchtbar laut und völlig wirres Zeug geredet?«, fragte Yvette und steckte sich eine Olive in den Mund. »Und hatte er zwei verschiedene Schuhe an?«
»Nein, aber statt mit einem Gürtel hatte er seine Hose mit einem Bindfaden geschnürt.«
»Lass dich nicht von seinem Äußeren täuschen«, sagte Yvette. »Seiner Familie gehört halb Dorset.«
»Wirklich?«
Ted kramte ein Messer aus der Schublade. »Das ist in diesem Land ein Privileg der Superreichen, dass sie wie die Penner herumlaufen können. Frag mich nicht, warum.«
In der Ausstellung starrt Elina in die verschatteten, dunklen Augen eines berühmten italienischen Bildhauers, in die großen, schwarz umränderten Augen einer Schauspielerin aus den Fünfzigerjahren, die später wegen ihrer Drogenprobleme zu einer traurigen Berühmtheit gelangt war. Da das eingefallene Gesicht von Oliver Bernard. Und Francis Bacon, so nah, als ob er die Kamera küssen möchte. Da drei Männer mit ernsten Gesichtern, die an einer Mauer lehnen, ihre Haut ein silbriger Bromidschimmer. Ted steht vor einem Porträt von einem Mann und einer Frau. Der Mann legt locker den Arm um die Frau, in der anderen Hand hält er eine Zigarette. Die Frau ist in Schwarz gekleidet, das Haar mit einem Tuch nach hinten gebunden, dessen Enden ihr über die Schulter hängen. Der Mann schaut sie von der Seite an, aber sie sieht aus dem Bild heraus, sieht mit einem offenen, taxierenden Blick den Betrachter an. Auf dem Schild an der Wand hinter ihnen steht »elsewher«; das Ende des Wortes wird vom Kopf des Mannes verdeckt.
Elina legt kurz die Wange an Teds Schulter, dann geht sie weiter zu einem Bild, auf dem ein Mann im weißen Hemd abgebildet ist. Er überquert eine Straße in Soho, mit einem Rinderviertel über der Schulter. Noch mehr Aufnahmen von Bacon: in seinem Atelier, auf dem Bürgersteig, neben dem Mann von dem Foto mit dem Schild und der Frau.
Simmy taucht neben ihr auf. »Man würde nicht glauben, dass er ein unverbesserlicher Säufer war, oder?«, sagt er in dem Kasernenhofton, den er für ein Flüstern hält.
»Ich weiß nicht«, antwortet Elina nachdenklich und sieht sich noch einmal das Foto von dem Mann an, der das Rinderviertel über die Straße schleppt. »Sie haben alle etwas sehr Direktes, findest du nicht? Etwas Melancholisches.«
Simmy schnaubt verächtlich. »Das ist bloß, weil sie der Vergangenheit angehören. Fotos von früher kommen einem immer melancholisch und schwermütig vor, und zwar genau deshalb, weil sie etwas einfangen, was vergangen ist.«
Elina rückt Jonahs Mütze zurecht.
»Fummel nicht immer an ihm rum. Lass das Kind in Ruhe«, sagt Simmy. »Und wo ist eigentlich Ted abgeblieben? Jetzt kann er seinen Kaffee haben.«
019
Ted sitzt mit Simmy und Elina im Café, aber nicht in dem Café, in das er gehen wollte, im obersten Stock des Museums mit Blick auf den Trafalgar Square, sondern unten, im Tiefparterre. Während er sich bei einer Tasse Kaffee mit seinem Freund und seiner Freundin unterhält, kommt ganz plötzlich ohne jede Vorwarnung etwas über ihn. Es ist eine Erinnerung an sich selbst als Kind auf dem Schoß einer Frau. Sie trägt ein rotes Kleid aus einem glatten Stoff. Er hat sich bei ihr untergehakt, damit er nicht abrutscht, worüber die Frau laut lachen muss. Der Schall setzt sich durch ihren Oberkörper fort, durch den Stoff ihres Kleides, so dass er ihr Lachen spüren kann.
Seit Jonahs Geburt passiert ihm das immer öfter. Schlaglichter auf einen anderen Ort, eine andere Zeit, die wie atmosphärische Störungen oder Interferenzen auftreten, eingeblendet wie die Stimmen eines weit entfernten Auslandssenders. Er kann sie kaum hören, doch sie sind da. Eine Wahrnehmung, ein Eindruck, ein verschwommenes Bild, wie ein Plakat, an dem man mit einem Zug vorüberrast.
Wahrscheinlich durchlebt man die eigene Kindheit neu, wenn man selbst ein Kind bekommt, lautete Teds Erklärung dafür. Dinge, an die man vorher nie gedacht hat, tauchen aus der Versenkung auf. Wie zum Beispiel das Gefühl, auf dem Schoß dieser Frau zu sitzen. Er hat keine Ahnung, wer sie war - eine Freundin seiner Mutter vielleicht, eine Verwandte, die zu Besuch war, eine glamouröse Kollegin seines Vaters -, aber er erinnert sich plötzlich ganz deutlich daran, wie es war, als er von ihrem Schoß rutschte.
Jemand rempelt von hinten an seinen Stuhl, so dass er nach vorne gegen die Tischkante prallt. Als er sich umdreht, sieht er, dass es ein Mann mit Rucksack war, der von dem Zwischenfall gar nichts mitbekommen hat. Ted rückt ein Stück zur Seite, weiter weg von dem Durchgang, näher hin zu Elina. Er nippt an seinem Cappuccino. Das Bild der Frau im roten Kleid ist verschwunden. Übertragung beendet. Simmy schaufelt Walnusskuchen in sich hinein und redet dabei in einer Tour. Elina, die Jonah auf dem Schoß hat, beugt sich zu ihm und hört ihm zu. Mit hin und her wackelndem Köpfchen starrt Jonah wie gebannt auf den Tisch; mit beiden Händen umklammert er Elinas Daumen, als ob er sie nie wieder loslassen will. Und auf einmal weiß Ted ganz genau, was sein Sohn fühlt, wie sehr er Elina braucht. Denn in ihm rührt sich genau das gleiche Gefühl, und er streckt die Hand aus und legt sie ihr ganz leicht aufs Bein. Aber am liebsten würde er sie an sich ziehen, ihre Schulter unter seinen Arm, ihren Kopf an seine Brust, damit sie ihm so nah wie nur irgend möglich ist, und dann möchte er zu ihr sagen, verlass mich nicht, verlass mich nie.
Elina steht auf. Während Simmy noch immer auf sie einredet, reicht sie Jonah an Ted weiter. Sie muss ihm ihren Daumen regelrecht entreißen.
»Wo gehst du hin?«, fragt Ted.
»Zur Toilette.« Sie wendet sich wieder Simmy zu. »Ja, ich verstehe, was du meinst.« Damit schlüpft sie hinter Teds Stuhl vorbei.
Er greift nach ihrer Hand. Ihm wird schwindelig, und ihn überfällt wieder einmal die Ahnung von einem weiten, unendlichen Meer. Einen Augenblick lang sieht er eine Frau, die sich zum ihm herunterbeugt, so dass ihm ihre langen Haare ins Gesicht fallen. Sie drückt ihm einen Plastikbecher in die Hand. Er sieht sich selbst auf einem Treppenabsatz sitzen, die wollenen Fransen eines grünen Teppichs zwischen den Fingern, der Stimme seines Vaters lauschend, die beschwörend und zerknirscht von unten heraufdringt. Erst als er den Kopf schüttelt, kann er sich von den Bildern befreien. Jonah scheint etwas zu spüren, denn er verzieht das Gesicht und fängt an zu weinen. Ted weiß nicht, was er sagen soll. »Und wo ist die Toilette?«, fragt er schließlich.
Sie sieht hinunter auf seine Hand, die sie festhält. »Da hinten«, murmelt sie und mustert ihn verwundert. »Ich bin ja gleich wieder da.« Und dann dreht sie sich weg, macht sich behutsam von ihm frei und geht. Und während sie sich von ihm entfernt, versucht er, nicht an den Kreißsaal zu denken, nicht an das Bild, wie sie dort liegt in dem reinigenden Licht, in dem endlosen, weißen Meer.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Simmy von der anderen Seite des Tisches.
»Ja.« Ted kann ihm nicht in die Augen sehen.
»Du bist ein bisschen grün um die Nase.«
»Ich hab’nichts.« Ted steht auf und nimmt Jonah an seine Schulter. »Ich geh’ in den Museumsladen.« Ihm ist plötzlich eingefallen, dass er noch eine Postkarte aus der Ausstellung kaufen wollte.