Elina schreckt aus dem Schlaf. Sie begreift
nicht, warum es dunkel ist, warum ihr das Herz in der Brust
flattert. Sie scheint zu stehen, an einer erstaunlich weichen Wand
zu lehnen. Es kommt ihr so vor, als seien ihre Füße sehr weit unter
ihr. Ihr Mund ist trocken, die Zunge klebt ihr am Gaumen. Sie hat
keinerlei Erinnerung daran, warum sie hier im Dunkeln steht, dösend
an eine Wand gelehnt. Ihr Kopf ist so leer wie ein weißer Bogen
Papier. Sie dreht den Kopf, und mit einem jähen Ruck kippt alles um
die eigene Achse. Auf einmal sieht sie das Fenster und neben sich
Ted, und sie sieht, dass sie überhaupt nicht steht. Sie liegt. Auf
dem Rücken, die Hände auf der Brust verschränkt, eine Frau aus
Stein auf einem Sarkophag.
Das Zimmer ist von Atemgeräuschen erfüllt. Irgendwo
im Haus ächzt eine Wasserleitung. Auf den Dachpfannen über ihr
kratzt es leise wie von Vogelkrallen.
Es muss das Kind in ihr gewesen sein, das sie mit
einer Bewegung geweckt hat, mit einem Recken und Strecken, mit
einem Tritt oder einem Schlag von innen gegen den Bauch. Das kommt
in letzter Zeit häufig vor.
Elina dreht den Kopf hin und her und blickt sich in
dem dunklen Zimmer um. Die Möbel, die sich schwarz in die Ecken
ducken, das Rollo vor dem Fenster, das im selben schmutzigen Orange
leuchtet wie die Laternen auf der Straßen.
Neben ihr Ted, unter der Bettdecke zusammengerollt. Auf seinem
Nachttisch türmen sich Bücher, sein Handy leuchtet grün im
Dämmerlicht. Auf ihrem Nachttisch ein Stapel, der wie ein Haufen
überdimensionaler Taschentücher aussieht.
Und da ist noch ein Geräusch, irgendwo neben ihrem
Kopf, ein scharfes, jähes Häch-häch wie ein Räuspern.
Als sie sich zu Ted umdrehen will, durchzuckt sie
ein sengender Schmerz, als ob ihr Bauch aufreißt, als ob jemand
einen Schneidbrenner dagegenhält. Sie schnappt nach Luft und will
sich zur Beruhigung an den prallen Babybauch fassen. Aber ihre
Hände finden nichts. Sie greifen ins Leere. Kein Babybauch mehr.
Kein Baby. Nur schlaffe, lose Haut.
Elina rappelt sich zum Sitzen hoch - wieder der
brennende Schmerz -, sie stößt einen seltsam heiseren Schrei aus
und packt Ted bei der Schulter. »Ted«, sagt sie.
Stöhnend vergräbt er das Gesicht im
Kopfkissen.
Sie rüttelt ihn. »Ted. Ted, das Kind ist weg - es
ist nicht mehr da.«
Er springt aus dem Bett. Mitten im Zimmer bleibt er
stehen, nackt bis auf die Boxershorts, die Haare zerstrubbelt, das
Gesicht panisch vor Angst. Dann lässt er die Schultern sinken. »Was
redest du denn?«, sagt er. »Da ist er doch.«
»Wo?«
Er zeigt nach unten. »Da. Sieh selbst.«
Und tatsächlich. Neben Elina steht etwas auf dem
Fußboden. Ein ovaler Korb, der im Halbdunkel wie ein Hundebettchen
aussieht. Nur dass er Henkel hat und etwas darin liegt, das in
weiße Tücher gewickelt ist.
»Ach«, sagt sie. Sie streckt die Hand nach dem
Schalter aus, und sofort ergießt sich gedämpftes Licht in den
Raum. »Ach.« Sie sieht an sich hinunter und von ihrem leeren Bauch
zu dem Baby. Sie dreht sich zu Ted um, der sich wieder ins Bett
gelegt hat und leise vor sich hin grummelt, dass sie ihn zu Tode
erschreckt habe.
»Dann hab ich das Kind bekommen?«, fragt sie.
Ted, der gerade sein Kopfkissen aufschütteln will,
hält inne und sieht sie an. Seine Miene ist unsicher, ängstlich.
Hab keine Angst, will sie sagen, es ist alles gut. Doch sie sagt:
»Ich hab’s bekommen?«, um es sich bestätigen zu lassen. Sie muss
die Frage stellen, muss sie laut aussprechen, muss sie hören.
»Elina … Das soll wohl ein Witz sein, ja?« Er lacht
nervös auf. »Aber das ist nicht lustig. Vielleicht … Vielleicht
hast du geträumt? Du hast bestimmt geträumt. Möchtest du nicht
lieber …« Ted bricht ab. Er legt ihr die Hand auf die Schulter und
scheint nicht zu wissen, was er sagen soll. Er starrt sie an, sie
starrt zurück. Sie lässt den Gedanken zu: Es ist ein Kind bei uns
im Zimmer. Es ist da. Sie will sich noch einmal davon überzeugen,
aber Ted hält sie an der Schulter fest. Er räuspert sich. »Du hast
das Kind bekommen«, sagt er langsam. »Es war … im Krankenhaus.
Erinnerst du dich?«
»Wann?«, fragt sie. »Wann hab ich es
bekommen?«
»Mein Gott, El, bist du …« Er unterbricht sich,
wischt sich mit der Hand übers Gesicht und fährt mit beherrschterer
Stimme fort: »Vor vier Tagen. Du lagst drei Tage in den Wehen und
dann … dann ist er gekommen. Gestern Abend bist du aus dem
Krankenhaus entlassen worden. Auf eigene Verantwortung.«
Eine Pause. Elina denkt über das nach, was Ted
gesagt hat. Sie legt sich die Fakten, die er ihr gegeben hat, im
Kopf zurecht. Krankenhaus, Kind, entlassen, drei Tage in den Wehen.
Sie versucht, drei Tage begrifflich zu fassen, und denkt
an die Schmerzen in ihrem Bauch, aber sie beschließt, erst einmal
nichts davon zu sagen.
»Elina?«
»Ja?«
Forschend blickt er in ihr Gesicht. Er streicht ihr
die Haare aus der Stirn, legt ihr die Hände auf die Schultern.
»Bestimmt bist du nur … Du musst doch furchtbar müde sein und …
Schlaf weiter, ja?«
Sie antwortet nicht. Sie windet sich unter seinen
Händen weg und rutscht aus dem Bett. Dabei hält sie sich den Leib,
beißt sich auf die Lippe. Es ist ein Gefühl da unten, als ob gleich
etwas aus ihr herausquillt, wenn sie es nicht festhält. Sie kauert
über dem Kind, betrachtet es genau. Er, hat Ted gesagt. Ein Junge
also. Er ist wach, die Augen groß und klug. Mit verwunderter, f
ragender Miene sieht er aus seinem Weidenkorb zu ihr hoch. Er ist
wie ein Geschenk verpackt, in eine weiße Decke gehüllt, die
Händchen stecken in weißen Fäustlingen. Elina beugt sich hinunter
und zieht sie ihm aus - winzig kleine Dinger, leicht wie
Zirruswolken. Seine Hände bewegen sich, greifen die Luft.
»Ah«, macht er. Ein seltsam erwachsenes Geräusch.
Sehr bestimmt, sehr überlegt.
Elina legt ihm die Hand auf die feuchtwarme Stirn,
auf die sich hebende und senkende Spatzenbrust, das runde Bäckchen,
das schörkelige Ohr. Er blinzelt, als sie die Finger vor seinen
Augen vorbeiführt, er öffnet und schließt die Lippen wie jemand,
dem die Worte fehlen.
Vorsichtig schiebt sie die Hände unter ihn und hebt
ihn hoch. Schließlich gehört er ihr; sie darf das. Sie legt seinen
Kopf an ihre Schulter, seine Füßchen in ihre Armbeuge. Und
tatsächlich, es ist ein fast vertrautes Gefühl, ihn zu halten. Er
wendet den Kopf zu ihr hin und wieder weg, hin
und wieder weg. Dann starrt er wie gebannt auf den Träger ihres
T-Shirts.
»Du kannst dich doch dran erinnern, oder?«, fragt
Ted aus dem Bett.
Elina ringt sich ein Lächeln ab. »Aber natürlich«,
sagt sie.
Als sie sich endlich wieder hinlegt - sie hat das
Kind inzwischen eingehend betrachtet, ihm die Mütze abgenommen,
seine Haare bestaunt und das überraschend dunkle Blau seiner Augen,
ihm einen Finger in die Hand gelegt, bis er sie darum schloss -
schläft Ted, den Kopf auf seinen Arm gebettet. Sie weiß genau, dass
sie nicht wieder einschlafen kann. Wie denn auch, wo ihr doch so
kalt ist und alles wehtut, wo sie doch anscheinend ein Kind
bekommen hat? Vorsichtig schiebt sie sich ganz nah an Ted heran und
lässt sich von seiner Wärme umströmen. Elina steckt den Kopf unter
die Bettdecke, ins Dunkle und Warme. Sie wird nicht wieder
einschlafen.
Aber offenbar muss es dann doch passiert sein, denn
als sie, nur Minuten später, wie es ihr scheint, wieder zu sich
kommt, ist es im Schlafzimmer so gleißend hell, dass sie sich die
Hand vors Gesicht halten muss, und Ted ist angezogen und sagt, dass
er losmüsse, und er gibt ihr einen Abschiedskuss.
»Wo gehst du hin?«, f ragt sie und richtet sich
mühsam auf dem Ellenbogen auf.
Seine Miene verdüstert sich. »Arbeiten«, sagt er.
»Es ging nicht anders«, sagt er. »Tut mir leid«, sagt er. »Der
Film«, sagt er. »Wir sind in Verzug«, sagt er. »Ich nehme mir frei,
wenn wir mit dem Dreh fertig sind«, sagt er. »Wenn’s klappt«, sagt
er.
Anschließend geraten sie kurz aneinander, weil Ted
seine
Mutter anrufen will, damit sie helfen kommt. Elina sagt nein,
schüttelt den Kopf. Er sagt, sie dürfe nicht allein sein. Sie solle
ihn wenigstens ihre Freundin Suki anrufen lassen. Aber ihr graut
davor, jemanden im Haus zu haben. Elina hat keine Ahnung, wie sie
mit diesen Leuten reden, was sie sagen sollte. »Nein«, sagt sie,
nein und noch mal nein.
Offenbar geht sie als Siegerin aus dem Streit
hervor, denn Ted kratzt sich am Kopf, nestelt an seiner Tasche und
gibt ihr einen Abschiedskuss. Er poltert die Treppe hinunter, die
Haustür knallt zu, und es wird still im Haus.
Alles in ihr sehnt sich danach, wieder im Schlaf
des Vergessens zu versinken, sich ins Kopfkissen zu schmiegen, ihre
Augenlider zufallen zu lassen. Sie kann den Schlaf schon fühlen, so
nah ist er ihr. Aber neben ihr schnauft und rumort es, ein leises
Hecheln wie von einem Tier.
Sie lugt über die Bettkante, und es ist immer noch
da. Das Kind. »Hei«, sagt Elina, zu ihrer eigenen
Überraschung auf Finnisch.
Der Kleine antwortet nicht. Er ist ganz mit seinem
Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner beschäftigt: Er fuchtelt mit
den Ärmchen, gibt kurze, unwirsche Knurrlaute von sich. Und dann
stößt er auf einmal einen Schrei aus, so plötzlich, als ob jemand
einen Hebel umgelegt hätte. Einen langen, lauten, gequälten
Schrei.
Wie von einer Ohrfeige getroffen, zuckt Elina
zurück. Aber sie weiß, dass sie aufstehen muss. Sie muss sich mit
dem Problem befassen. Sie und niemand sonst. Das ist ihre Aufgabe.
Das Kind holt tief Luft und brüllt wieder los. Sie bückt sich,
gekrümmt vor Schmerzen, und hebt ihn aus dem Körbchen. Sie drückt
den vor Zorn starren kleinen Körper an sich. Was er wohl hat? Sie
versucht sich an die Tipps aus den Elternratgebern zu erinnern,
doch ihr fällt keiner ein.
Sie trägt ihn zum Fenster und wieder zurück. »Na, na«, sagt sie.
»Ist ja gut.«
Aber er schreit weiter, macht einen Katzenbuckel,
sein Gesicht nichts als Mund, seine Haut bläulich rosa.
»Ist ja gut«, sagt sie noch einmal, und dann sieht
sie, dass er den Kopf verdreht und den Mund weit aufreißt, wie ein
Kraulschwimmer, der das Gesicht zum Atmen aus dem Wasser schiebt.
Hunger. Das bedeutet, dass er Hunger hat - natürlich. Wieso ist sie
nicht selbst darauf gekommen?
Sie schafft es gerade noch bis zum Sessel, so
zittrig ist es ihr auf einmal in den Beinen. Nachdem sie ihr
T-Shirt hochgezogen hat, muss sie kurz innehalten, um sich erst mal
an die rätselhaften Zeichnungen über das Stillen zu erinnern. Das
Anlegen. Der richtige Griff. Die häufigsten Stillprobleme. Doch sie
hätte sich keine Sorgen machen müssen. Der Kleine scheint genau zu
wissen, wie es geht. Er macht sich über ihre Brust her wie ein Hund
über einen Knochen und fängt an zu trinken, gierig erst, dann etwas
gemächlicher, dann wieder gierig. Elina starrt auf ihn hinunter,
sprachlos vor Staunen über seine Ruhe, sein Geschick. Es kommt ihr
so vor, als ob sie unerklärlich lange so dasitzen. Ist das normal?
Eine halbe Stunde, eine Dreiviertelstunde, über eine Stunde?
Draußen verstreicht der Vormittag: Leute gehen die Straße hinauf
zum Park, Leute gehen die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Die
Sonnensprenkel kriechen über den Teppich auf Elinas Füße zu, und
das Kind trinkt immer noch.
Elina muss wohl im Sessel eingeschlafen sein, denn
auf einmal sitzt sie mit dem ganzen Körper in der Sonne. Das Kind
liegt auf ihrem Schoß, wie eine Katze, und diesmal starrt es ihre
Armbanduhr an.
Sie versucht sich zu erinnern, durchforstet ihr
Gedächtnis.
Ist ihr im Schlaf irgendetwas wieder eingefallen? Die Geburt, die
Geburt, die Geburt, sagt sie sich vor, du musst dich erinnern, du
musst. Aber es geht nicht. Sie kann sich an die Schwangerschaft
erinnern. Sie kann das Kind sehen, das auf ihrem Schoß liegt. Aber
wie es dort hingekommen ist, bleibt ein Rätsel.
Sie rubbelt sich mit beiden Händen das Gesicht, um
wach zu werden. »So«, sagt sie in die Stille hinein, und ihre
Stimme zittert leicht. Warum ist das Haus so leise, wie jemand, der
auf eine Antwort wartet? »Das wäre geschafft.« Sie merkt, dass sie
wieder Finnisch spricht. »Und was wollen wir jetzt machen?«, fragt
sie, als ob das Kind ein Gast wäre, den sie kaum kennt.
Sie steht auf, langsam, ganz langsam, das Kind fest
im Arm, und schleppt sich Schritt für Schritt die Treppe hinunter,
den Blick unverwandt auf den Kleinen geheftet. Ihren Sohn. Den sie
geboren hat. Das weiß sie, weil Ted es gesagt hat, und weil das
Kind einen bestimmten Zug um die Stirn hat, einen Haarwirbel, der
sie an ihren Vater erinnert. Auf dem Weg nach unten kommt sie an
der offen stehenden Badezimmertür vorbei. Auf dem Fußboden liegt
eine Wickelunterlage mit roten Streifen, und sie erinnert sich
daran, sie erinnert sich tatsächlich, dass sie die Unterlage
gekauft hat. Ihr fällt wieder ein, wie hässlich sie die Muster der
Babysachen fand - neckische Teddybären, vermenschlichte Fische mit
anzüglichem Grinsen, Enten mit langen Wimpern und schwarz
umrandeten Augen. Rings um die Unterlage liegen Windeln, eine
Packung Feuchttücher, ein Oktopus aus Stoff, ein Töpfchen Salbe.
Wer hat die Sachen hierhergelegt? War sie das? Und wann?
Am Fuß der Treppe steht ein Kinderwagen, und auch
an den erinnert sie sich. Sie haben ihn von ihrem Freund Simmy
geschenkt bekommen. Eines Abends stand er damit vor der Tür. Das
war vorher. Als sie noch schwanger war. Es ist ein seltsames
Gefährt, mit silbernen Rädern, einem marineblauen Klappverdeck,
einer schicken, glänzenden Bremse. Darin Laken und eine Decke.
Unschlüssig bleibt sie davor stehen. Dann bettet sie den Kleinen
hinein, um zu sehen, was passiert. Er liegt so selbstverständlich
da, als ob er es nicht anders kennt. Er strampelt. Blickt zum
Verdeck hoch, blickt an ihr vorbei, blickt auf die Niete, mit der
das Verdeck am Wagen befestigt ist. Er schließt die Augen und
schläft ein. Elina bleibt noch eine Weile bei ihm und sieht ihm
beim Schlafen zu. Dann geht sie in die Küche.
Irgendwie steht sie auf einmal vor der Tür, die in
den Garten führt. Eine Doppeltür, zwei große Scheiben aus
Verbundglas. Damit man nicht so leicht einbrechen kann, hat Ted
gesagt, als sie wissen wollte, warum das Glas so dick, so stabil
ist. Sie hält einen Becher in der Hand, eine zusammengefaltete
Zeitung. Als sie sich bückt, um die Sachen auf dem Fußboden zu
deponieren, durchfährt sie ein Schmerz, der ihr den Atem
verschlägt, und sie lässt den Becher und die Zeitung fallen. Sie
hält sich am Türrahmen fest, lehnt die Stirn an das Glas, presst
eine Hand auf ihren Unterleib. Sie flucht in den
unterschiedlichsten Sprachen und kann gar nicht mehr aufhören
damit.
Als sie die Augen wieder aufmacht, ist alles wie
vorher. Hinter ihr die Küche. Vor ihr der Garten. Es ist ganz
einfach, sagt sie sich. Du warst schwanger, und jetzt hast du ein
Kind. Aber wieso kann sie sich an die Geburt nicht erinnern?
Am Ende des Gartens steht ein Holzhäuschen, mit nur
einem Zimmer. Elinas Atelier, das Ted ihr gebaut hat.
Beziehungsweise das er von zwei Polen für sie hat bauen lassen.
Es besteht aus Eschenholz, Teerpappe, Glaswolle, Edelstahl - sie
hat die Männer nach den Baumaterialien gefragt, und sie mussten die
Begriffe erst in einem polnisch-englischen Wörterbuch nachschlagen,
bevor Elina im Kopf nach den finnischen Ausdrücken suchen konnte.
Darüber hatten sie alle lachen müssen. Einer von ihnen wollte von
ihr wissen, ob sie Finnland vermisse, und sie hatte nein gesagt und
dann, doch, manchmal schon. Aber sie lebe schon lange nicht mehr
dort. Ob sie Polen vermissten, hat Elina zurückgefragt. Sie nickten
stumm. Wir gehen wieder zurück, sagte einer von ihnen, in zwei
Jahren.
Demnach müssten sie inzwischen wieder zu Hause
sein. Elina blickt durch den Garten auf das Studio, auf die
Verkleidung aus Eschenholz, das Dach mit der Teerpappe. In ihrem
Pass, in ihrer Steuererklärung, auf Formularen, die sie ausfüllen
muss, steht, dass sie Künstlerin ist. Aber das gilt längst nicht
mehr. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt in ihrem
Atelier war, sie weiß nicht mehr, was es heißt, Künstlerin zu sein,
was man als Künstlerin tut, wie man seine Zeit herumbringt. Ihr
Leben in dem kleinen Holzhaus, die vielen Stunden, die sie dort
verbracht hat, kommen ihr so weit weg vor wie ihre
Kindergartenzeit.
Sie könnte - möglich wäre es - heute hingehen. Sie
müsste nur den Schlüssel vom Haken neben dem Kühlschrank nehmen,
das Kind in dem quietschenden Wagen durch das nasse Gras schieben,
die Tür aufmachen und hineingehen. Sie könnte sich die Entwürfe
ansehen, die sie an die Wand gepinnt hat, die Leinwände, die an den
Schränken lehnen, um wieder da anzuknüpfen, wo auch immer sie
aufgehört hat. Ihr ist klar, dass sie noch nicht wieder arbeiten
darf. Aber sie könnte sich wenigstens in ihr Atelier setzen und
lesen oder einfach nur zusehen, wie das Licht durch
das Dachfenster hereinfällt. Sie hat dort einen Sessel, neben dem
Fenster, den sie selbst mit grünem Wollstoff neu bezogen hat. Das
wäre ein guter Platz, um in ihrem Gedächtnis zu kramen.
Während sie noch hin und her überlegt und
unschlüssig auf ihren Lippen kaut, fällt ihr ein Geruch auf, den
sie schon den ganzen Morgen in der Nase hat. Ein süßlicher
Moschusgeruch. Wie ungelüftete Kleider. Wie nasses Papier. Wie
Milch.
Elina dreht sich um. Sie schnuppert. Nichts, nur
ein leichter Hauch von Waschpulver. Sie schnuppert an ihrer
Schlafanzugjacke, an ihrem Handgelenk, in ihrer Armbeuge, an ihrem
schwieligen Handballen.
Was da so riecht, ist sie. Kaum zu glauben. Ein
neuer Geruch. Sie riecht nicht mehr wie früher, wie sie ihr Leben
lang gerochen hat. Was da so riecht, ist sie.
![002](/epubstore/F/M-O-Farrell/Die-hand-die-damals-meine-hielt-roman/OEBPS/Images/ofar_9783641058814_oeb_002_r1.jpg)
Ted zerrt seinen Schreibtischstuhl unter dem Tisch
hervor und lässt sich darauf niedersacken. Seine Tasche wirft er
hinter sich auf das Sofa. Er schaltet die Bildschirme ein und
rollt, während sie aufflammen, mit dem Stuhl quer durch den
Schneideraum zur Ablage für Posteingänge. Telefonnachrichten, ein
paar Briefe, eine Bitte um ein Empfehlungsschreiben, die gekrakelte
Anfrage eines Produzenten nach der Schneidekopie eines Films, die
Ted vor Kurzem fertiggestellt hat. Als er zum Telefonhörer greifen
will, hält er inne.
Er lässt einen Füllhalter zwischen Daumen und
Zeigefinger schnippen, schraubt ihn auf, schraubt ihn wieder zu. Er
legt beide Hände auf die geschwungene Schreibtischkante. Wirft
einen Blick auf die Monitore. Der eine zeigt eine Fehlermeldung an,
irgendetwas über eine fehlende Datei.
Ted sieht auf seine Schuhe - ein Schnürsenkel hat sich gelockert
-, auf das Telefon, an dem ein rotes Lämpchen blinkt, auf die
unergründlich schwarzen Fronten der Lautsprecher, auf den Berg von
Sachen, der sich auf dem Sofa türmt. Obstkörbe, in Zellophan
gewickelte Blumensträuße, ein mit einem Seidenband
zusammengeschnürtes Babydeckchen, einen monströsen, dümmlich
grinsenden Stoffhund. Auf dem Schreibtisch, direkt neben seinem
Ellenbogen, steht eine goldene Einkaufstüte, durch die oben eine
blaue Schnur gefädelt ist, eine von der steifen, soliden Sorte, wie
man sie nur in den besten Geschäften bekommt. Sie ist von der
Empfangssekretärin. »Herzlichen Glückwunsch«, hat sie gesagt. »Ein
Junge!« Dabei hat sie Ted so herzlich umarmt, dass sich der
Reißverschluss ihrer Hose in seine Hüfte drückte und ihre Armreifen
kalt in seinem Nacken klimperten.
Er hat sich für die Tüte bedankt und all den Leuten
zugenickt, sie sich um ihn versammelt hatten - der Frau vorne am
Empfang, dem Kaffeeholer, einer ihm vage bekannten Schauspielerin,
ein paar anderen Cuttern. »Wie nett von Ihnen. Wie ausgesprochen …«
Und dann konnte er nicht mehr weiterreden, weil er sonst in Tränen
ausgebrochen wäre. Seit er ein Kind war, hat er nicht mehr geweint,
noch nicht einmal, als er sich mit siebzehn bei einem
Motorrollerunfall in Griechenland das Bein gebrochen hat. Aber
jetzt stiegen Tränen in ihm auf. Er war entsetzt. Was um alles in
der Welt war bloß los mit ihm?
Ted greift erneut zum Hörer, doch auch diesmal
zieht er die Hand wieder weg. Er massiert sich die Stirn. Was macht
er eigentlich hier? Ist er denn verrückt geworden? Er müsste zu
Hause sein, bei Elina und dem Kind, statt an dem neuen Projekt
herumzubasteln, das ihm herzlich egal ist. Gibt es
auf der Welt nicht schon genug Gangsterfilme über stümperhafte
Bankräuber? Warum ist er überhaupt hergekommen?
Kaum zu glauben, dass sein Schreibtisch wie immer
aussieht. Die Reihe mit den DVDs auf dem Regal, die aufgefächerten
Stifte in ihrem Halter, die nebeneinander stehenden Monitore, die
Computermaus mit ihrer Strippe, die gepolsterte Handauflage (die
gegen seine Sehnenscheidenentzündung auch nicht hilft) und an der
Wand die Ansichtskarte von Elinas Gemälde.
Eine rote Linie halbiert ein blaues Dreieck, das
eine in der Ecke kauernde schwarze Form überragt. Er hat gesehen,
wie das Bild auf der Leinwand entstanden ist. Eigentlich hätte er
es nicht gedurft - sie mag es gar nicht, wenn jemand ein unfertiges
Werk von ihr sieht -, aber er hat sie heimlich durchs Studiofenster
beobachtet. So wusste er immer, was in ihrem Kopf vor sich ging. Er
hat gesehen, wie es an der Wand der Galerie hing, wie es auf der
Vernissage einen roten Punkt bekam, wie Elina vor Freude gestrahlt
hat. Inzwischen hängt es im Haus eines Musikproduzenten, und Ted
fragt sich oft, ob dieser Mann es auch genug liebt, ob er es oft
genug betrachtet, ob es richtig gehängt ist, im richtigen
Licht.
Vor vier Tagen wäre sie fast gestorben.
Der Gedanke trifft ihn wie ein Schlag. Ihm ist
übel, als wäre er seekrank oder als sähe er von einem Hochhaus in
die Tiefe. Er muss den Kopf in die Hände stützen und ein paarmal
langsam ein- und ausatmen, von Tränen fast erstickt.
Vor ihrer aller Augen wäre sie fast gestorben. Der
Tod war mit im Raum, wie eine Wolke hing er oben unter der Decke,
seltsam vertraut, als ob Ted ihn halb erwartet hätte, als ob er von
Anfang an geahnt hätte, dass es vielleicht so
enden würde. Nicht hinsehen, hat die Schwester gesagt,
nicht hinsehen. Und ihn am Ärmel gezogen. Aber wie konnte
er? Wie konnte er sich wegdrehen, wo doch Elina dort lag, wo es
doch seine Schuld war, dass sie überhaupt schwanger geworden ist,
weil er es war, der damals in dem Hotel in Madrid geflüstert hat,
»sollen wir es nicht dieses eine Mal ohne machen?« Dann hat die
Schwester seinen Arm genommen. Und Kommen Sie schon gesagt,
bestimmter jetzt. Sie dürfen da nicht hinsehen.
Aber er musste. Er hat sich am Gitter einer
OP-Liege festgehalten und die Schwester abgeschüttelt. Leute liefen
hin und her, die sich aufgeregt etwas zuriefen, und mitten im Raum
lag Elina, die obere Hälfte ein Bild des Friedens. Weiß und reglos,
das Gesicht unbeweglich, die Augen halb geschlossen, die Hände auf
der Brust gefaltet, eine mittelalterliche Heilige. Ihre untere
Hälfte - so etwas hat Ted noch nie gesehen. Und im nächsten Moment
sah er es auch nicht mehr. Er sah gar nichts mehr. Nur einen
Horizont, der vielleicht das Meer war, eine auf und ab wogende
bleigraue See, eine Wasserwüste, so endlos, dass ihm graute, vor
der leeren Weite, in der sich der wolkige Himmel spiegelte. Wo
ist sie, hörte er eine Stimme sagen. Wo ist sie?
Ted stößt sich mit solcher Wucht vom Schreibtisch
ab, dass er mit dem Stuhl die Glasplatte des Couchtischs rammt. Er
steht auf, geht zum Bullauge in der Tür und wieder zurück. Setzt
sich. Steht wieder auf. Er läuft zum Fenster und lässt mit einem
Ruck die Jalousie herunter. Er schiebt die Maus einmal hin, einmal
her. Dann greift er zum Hörer und ruft am Empfang an, man solle den
Gangsterfilmregisseur direkt zu ihm hochschicken.
![003](/epubstore/F/M-O-Farrell/Die-hand-die-damals-meine-hielt-roman/OEBPS/Images/ofar_9783641058814_oeb_003_r1.jpg)
Elina hat seltsame Aussetzer, die sie Zeitsprünge
nennt. Sie muss Ted davon erzählen. Wie die Nadel am Plattenspieler
ihrer Eltern früher. Sie und ihr Bruder haben sich eine alte
Beatles-LP der Eltern aufgelegt und abwechselnd mit den Füßen
gestampft, um die Nadel von einem Song zum nächsten hüpfen zu
lassen. Die Unberechenbarkeit war gerade der besondere Spaß!
Während man noch bei Lucy und ihrem Diamantenhimmel war, legte
urplötzlich John mit einer Show auf dem Trampolin los.
Aber es muss wohl eine karmische Strafe für das
Beschädigen von Schallplatten geben, denn genau das Gleiche scheint
jetzt in Elinas Leben zu passieren. Vielleicht ist »Zeitsprünge«
nicht das richtige Wort dafür. Vielleicht hat ihr Leben viertausend
Löcher bekommen. Eben noch war es früher Morgen, und sie hat den
neuen Geruch entdeckt, und jetzt liegt sie plötzlich im Wohnzimmer
auf dem Fußboden, und das Telefon klingelt.
Elina steht vorsichtig auf. Das Kind liegt neben
ihr auf dem Teppich und rudert wie ein Verkehrspolizist mit den
Armen. Sie merkt, dass ihr auf der einen Kopfseite die Haare ein
bisschen hochstehen, so ähnlich wie bei der Punkerf risur, mit der
sie sich als Teenager so viel Mühe gegeben hat. Mit
zusammengekniffenen Augen starrt sie einen Augenblick auf das
Telefon, bevor sie rangeht. Sie ist so müde, dass der Boden unter
ihr wegkippt, wenn sie sich zu schnell bewegt. Als sie sich mit der
Hand auf der Armlehne des Sofas abstützt, wird ihr klar, dass sie
das Gleiche erst kürzlich schon einmal getan hat, dass sie sich
abstützen musste, bevor sie ans Telefon gehen konnte, und sie hat
das deutliche Gefühl, dass sie irgendwann im Laufe des Tages mit
ihrer Mutter gesprochen hat, doch sie kann sich nicht erinnern,
worüber. Vielleicht ruft sie noch einmal zurück.
»Hallo?«, sagt sie.
»Hi.« Teds Stimme. Bei ihm ist es laut. Geschrei,
Schritte, Papiergeraschel, ein Knall. Nicht die gedämpfte,
ehrfürchtige Stille des Schneideraums. Er muss auf dem Set sein.
»Wie geht es dir?« Seine Stimme dringt aus dem Lärm an ihr Ohr.
»Alles in Ordnung? Wie läuft es denn so?«
Elina hat keine Ahnung, wie es ihr geht, wie es
läuft. Aber sie sagt: »Bestens.«
»Was hast du heute gemacht?«
»Hm.« Elinas Blick fällt auf den Wäschekorb, in dem
nasse Sachen liegen. »Ich hab eine Maschine gewaschen. Und mit
meiner Mutter telefoniert.«
»Aha. Und sonst?«
»Nichts.«
»Ach.«
Eine Pause. Sie überlegt, ob sie ihm von den
Zeitsprüngen erzählen soll, von den Löchern. Aber wo soll sie
anfangen? Bei der Geschichte mit dem Plattenspieler? Oder soll sie
einfach sagen: »Ted, ich habe Momente, da verschwindet das Leben in
einem Loch, und hinterher weiß ich nicht, was passiert ist. Ich
kann mich an nichts mehr erinnern, nicht einmal daran, dass ich ein
Kind bekommen habe.«
»Ich … äh …«, beginnt sie, aber Ted fällt ihr ins
Wort.
»Hast du etwas gegessen?«
Sie überlegt. Hat sie? »Ich weiß nicht«, sagt
sie.
»Du weißt es nicht?« In Teds Stimme schwingt
Entsetzen mit. Ganz in seiner Nähe schimpft jemand lautstark über
den Catering-Wagen. Während Elina versucht, sich die Haare mit den
Fingern flachzukämmen, fällt ihr Blick auf eine gelbe Broschüre,
die neben dem Telefon liegt, mit der Überschrift Blutverlust
bewältigen. Sie nimmt sie in die Hand und starrt auf die
gedruckten Wörter.
»Elina?« Sie fährt zusammen.
»Ja?« Die Broschüre entgleitet ihr und schwebt
unter einen Sessel. Sie kann sie später aufheben.
»Du musst etwas essen. Das sagt auch die Hebamme.
Hast du etwas gegessen? Kannst du dich nicht erinnern, ob du etwas
gegessen hast?«
»Doch«, sagt sie schnell und lacht leise. »Doch,
doch, ich hab etwas gegessen. Ich weiß bloß nicht mehr, was ich mir
zum Mittagessen machen wollte.«
Aber auch das war nicht die richtige Antwort. »Zum
Mittagessen?«, fragt Ted. »El, es ist halb vier.«
Sie ist ehrlich überrascht. »Tatsächlich?«
»Hast du geschlafen?«
Sie blickt sich im Zimmer um, sieht zu dem Teppich,
auf dem sie gelegen hat. Im dichten Flor zeichnet sich der Umriss
eines Körpers ab, wie am Schauplatz eines Mordes. »Kann sein. Ja.
Ich muss wohl geschlafen haben.«
»Hast du deine Schmerzmittel genommen?«
»Hm.« Wieder lässt sie den Blick schweifen. Was
wäre wohl hier die richtige Antwort? »Ja«, sagt sie.
»Hör zu, ich muss jetzt Schluss machen.« Er hält
inne. »Vielleicht rufe ich lieber doch meine Mutter an.«
»Nein«, widerspricht Elina prompt. »Ich komme
zurecht. Mir geht es gut, wirklich.«
»Ganz sicher?«
»Ja.«
»Du hast doch ihre Nummer, ja? Nur für den Notfall.
Ich müsste so gegen sechs wieder zu Hause sein. Wir sind hier fast
fertig.« Sein Ton ist jetzt beschwichtigend, behutsam. »Dann koche
ich uns was Schönes. Aber vorher isst du noch eine Happen,
okay?«
»Okay.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Sie sitzt in der Küche und sieht wieder zu ihrem
Studio hinaus, als es an der Haustür läutet. Elina erstarrt, eine
Hand an die Scheibe gepresst. Sie wartet. Teds Mutter? Ob er sie
doch noch angerufen hat? Am besten rührt sie sich nicht vom Fleck.
Dann denkt der Besucher, dass niemand zu Hause ist und geht wieder.
Sie schaut wieder in den Garten. Die Türglocke schrillt ein zweites
Mal, länger als zuvor. Elina ignoriert es. Es klingelt noch einmal,
noch länger.
Elina malt sich aus, wie Teds Mutter ihren Sohn
anruft, um ihm zu sagen, dass Elina die Tür nicht aufmacht. Er
bekommt es mit der Angst, dass etwas passiert ist, und hetzt von
der Arbeit nach Hause. Elina stemmt sich vom Stuhl hoch,
vorsichtig, ganz vorsichtig, und geht, sich an der Wand abstützend,
in die Diele. Das Kind liegt wieder im Wagen und schläft.
Doch es ist nicht Teds Mutter, sondern eine Frau
mit strähnigen gelbblonden Haaren, den schweren Körper in eine
blaue Stretchhose gequetscht. Sie wartet nicht einmal ab, dass sie
hereingebeten wird. Ohne dass Elina auch nur ein Wort hervorbringen
kann, drängt sie sich, über den Regen schimpfend, an ihr vorbei ins
Haus und marschiert durch die Diele direkt ins Wohnzimmer. Sie
lässt sich auf Elinas Sofa nieder, macht sich sogleich mit Papieren
und Aktenordnern zu schaffen und schraubt einen Füllhalter
auf.
Elina, die ihr gefolgt ist, bleibt erstaunt vor ihr
stehen. Sie will f ragen, wer sind Sie, was machen Sie hier, wer
hat Sie geschickt, aber die Ordner und Papiere haben ihr die
Sprache verschlagen. Sie fasst sich erst einmal in Geduld.
»So«, seufzt die Frau und rutscht mit ihrem blauen
Gesäß auf dem Ledersofa herum. »Dann sind Sie also Natalie.«
Es ist eine Feststellung, über die Elina einen
Augenblick nachdenken muss. Ist sie Natalie? Sie glaubt es nicht.
»Nein«, sagt sie.
Die Frau runzelt die Stirn. Sie kratzt sich mit dem
Ende des Füllers im Haar. »Sie sind nicht Natalie?«
Elina schüttelt bestimmt den Kopf.
Die Frau dreht ein Blatt Papier um, kneift die
Augen zusammen und sagt: »Ach.« Darin liegt so viel müde
Enttäuschung, dass Elina sich am liebsten dafür entschuldigen
würde, nicht Natalie zu sein. Dass sie ihr sagen möchte, vielleicht
könne sie Natalie sein.
»Sie sind Elina.« Die Frau seufzt noch
einmal.
»Ja.«
»Und wie geht es uns heute, Elina?«
Elina findet diesen englischen Gebrauch des Plurals
verwirrend. Sie ist ein Mensch, nur einer. Wie kann sie ein »Wir«
sein? »Gut«, antwortet sie. Hoffentlich geht die Frau bald
wieder.
Doch die hat eine ganze Fragenliste mitgebracht.
Sie will wissen, was und wie oft Elina isst. Sie will wissen, ob
Elina an die frische Luft geht, wie viel Schlaf sie bekommt, ob sie
in eine Müttergruppe geht, ob sie in eine Müttergruppe gehen will,
ob sie ihre Medikamente nimmt, ob ihr jemand hilft.
»Ob mir jemand hilft?«, wiederholt Elina.
Unter ihrem gelben Pony hervor mustert die Frau sie
scharf. Sie sieht sich im Zimmer um. Sie sieht Elinas Schlafanzug
an. »Leben Sie allein?«, fragt sie.
»Nein. Mit meinem Freund, aber …«
»Aber was?«
»Er musste arbeiten. Er wollte nicht. Ich meine, er
wollte sich frei nehmen. Aber sie sind mit den Dreharbeiten im
Verzug und, na ja, wie es nun mal so ist.«
Worauf die Frau eifrig etwas in ihren Aktenordner
kritzelt. Sie macht Elina müde mit ihren Ordnern und Fragen. Wenn
sie nicht da wäre, könnte sie sich auf dem Teppich ausstrecken, den
Kopf auf ihren Arm legen und einschlafen.
»Und was macht der Heilungsprozess?« fragt die
Frau, während sie in ihre Akte schaut.
»Der Heilungsprozess?«
»Wie verheilt die Narbe?«
»Was für eine Narbe?«
Wieder mustert die Frau sie scharf. »Vom
Kaiserschnitt.« Ein zweifelnder Ausdruck huscht über ihr Gesicht.
»Sie hatten doch einen Kaiserschnitt?«
»Einen Kaiserschnitt?« Elina tastet sich vorsichtig
an das Wort heran. Sie kennt es, ja. Kaiser und Schnitt. Sie hält
sich den Unterleib und denkt an den sengenden
Schneidbrennerschmerz. »Einen Kaiserschnitt«, murmelt sie.
Die Frau wirft erneut einen Blick in ihre
Unterlagen und blättert eine Seite halb um. »Hier steht …
verlängerte Wehentätigkeit, Komplikationen und - ja -
Notkaiserschnitt, Blutverlust.«
Elina starrt sie an. Sie muss sich beherrschen,
dass sie nicht die Tasche der Frau bei den Henkeln packt und mit
Karacho durch das Fenster schmeißt. Sie stellt sich vor, wie die
Scheibe klirrend birst, wie etwas so Vollkommenes, so Klares in
tausend Stücke zersplittert, wie die Tasche mit einem satten
Klatschen auf dem Bürgersteig landet.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen, den Mund leicht
geöffnet, starrt die Frau zurück.
»Ich möchte, dass Sie gehen«, sagt Elina, ganz
langsam, ganz deutlich. »Bitte. Ich habe keine Zeit. Ich muss … Ich
muss … gleich weg. Nichts für ungut. Vielleicht können wir das ein
andermal besprechen.« Sie bemüht sich, höflich zu bleiben. Sie hat
zwar keine Ahnung, wer diese Frau ist, aber das ist noch lange kein
Grund, unf reundlich zu werden. Sie begleitet sie hinaus. »Vielen
Dank«, sagt sie, während sie die Tür hinter ihr schließt. »Auf
Wiedersehen.«