salamander

Anfang

Die Szene hätte an einen religiösen Ritus denken lassen können. Was seltsam war, weil sie sich im Freien zwischen den Tischen einer Bar abspielte. Der Offiziant war ein Typ in den Dreißigern, groß, mit einer ausgeprägten Hakennase und einem leicht arabisch aussehenden Gesicht. Mit feierlicher Ruhe bewegte er sich systematisch und gemessenen Schrittes zwischen Tamarisken und Tischchen hindurch. Im Arm trug er wie ein Kind einen kleinen Laptop, dessen Bildschirm er nicht aus den Augen ließ. Dabei hellte sich sein Gesichtsausdruck abwechselnd auf und verfinsterte sich, während er den Irrgarten aus Stühlen und Sonnenschirmen durchkämmte. Er musste mit dem Ort vertraut sein, denn er bewegte sich, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen den verschiedenen Einrichtungsgegenständen hindurch. Manchmal, an Stellen, die in der Liturgie möglicherweise von besonderer Bedeutung waren, vollzog er mit dem Computer seltsame, fast kreuzförmige Bewegungen, während seine Lippen sich im leisen Gebet bewegten. Von Weitem drangen nur wenige, unzusammenhängende Fragmente seiner Rede ans Ohr, so was wie: »Ach, verdammter Mist, ist denn das die Möglichkeit, bis vor einer Sekunde war hier doch noch Empfang.«

Anstelle der Beginen, die üblicherweise die Kultstätten bevölkerten, war eine rothaarige Schönheit bei ihm, die ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift Il BarLume trug. Den Rest der Kleidung nahm man nicht wirklich wahr, aber das T-Shirt blieb in Erinnerung. Na gut, eigentlich nicht das  T-Shirt. Die junge Frau beobachtete den mutmaßlichen Priester skeptisch und mit großer Besorgnis und machte dabei Kreuzchen auf ein Blatt Papier, auf dem der Außenbereich der Bar schematisch aufgezeichnet war.

Unweit des Offizianten verfolgten vier seltsame Messdiener mit ruhigen und gelassenen Mienen dessen Bemühungen. Seltsam aufgrund ihres Alters, weil Messdiener ja normalerweise zwischen zehn und vierzehn Jahren alt sind, während die fraglichen Herrschaften alle so um die siebzig gewesen sein dürften. Und seltsam aufgrund der Sprache: Auch wenn es normal ist, dass Messdiener während der Messe tuscheln, so hätte doch das Vokabular des alten Herrn mit der Baskenmütze und dem Pullover sie auf Lebenszeit vom Messdienst ausgeschlossen. Manchmal drehte sich der Priester zu ihnen um und bedachte sie mit einem bitterbösen Blick, doch ganz wie echte Messdiener beachteten sie ihn nicht einmal und redeten ungerührt weiter.

»Was hat er gesagt, wie sich dieser neumodische Scheiß nennt?«

»Uaierless.«

»Wie?«

»Uaierless. Das ist Englisch, Ampelio. Es heißt ›drahtlos‹. Das ist eine Art, sich mit dem telematischen Netz zu verbinden.«

Der da gesprochen hatte, war Aldo, ein gut aussehender Witwer in den Siebzigern. Aldo war der einzige Angehörige des Quartetts aus gereiften Jünglingen, der noch nicht den Annehmlichkeiten der Pension erlegen war: Seit einigen Jahren besaß und führte er ein kleines Lokal, das sich Boccaccio nannte. Das Boccaccio verfügte über einen flotten, aber höflichen Service, einen endlosen Weinkeller, der von Frankreich bis nach Neuseeland reichte, und einen außergewöhnlichen Koch, Otello Brondi, aufgrund der Ausmaße seiner Hände liebevoll Tavolone, großer Tisch, genannt.

Als Liebhaber barocker Musik, klassischer Literatur und Frauen aus Fleisch und Blut war Aldo einer der drei oder vier lebenden Menschen auf der Welt, die noch in der Lage waren, sich in einem grammatikalisch korrekten und außerordentlich gewählten Italienisch auszudrücken, das frei von jeglichen Anglizismen war.

Eine Kunst, derer sein direkter Gesprächspartner nicht mächtig war, und das mit Stolz. Er nannte sich Ampelio, war dreiundachtzig Jahre alt und Großvater des Barista. Er hatte eine glückliche Vergangenheit als Bahnhofsvorsteher, Gewerkschafter und Amateurradsportler hinter sich und verbrachte jetzt eine heitere Gegenwart aus Nachmittagen und Abenden in Gesellschaft seiner bejahrten Freunde in der Bar seines Enkels. Der derjenige war, welcher mit dem Computer im Arm zwischen den Tischen umherstreifte.

»Aha, und was soll das sein, so was wie Internet?«

»Das ist Internet. Aber ohne Kabel. Wenn du einen tragbaren Rechner hast, kommst du in die Bar und verbindest dich direkt, ohne dass du irgendwelche Kabel brauchst.«

»Ist ja gut, ich hab’s verstanden. Du kommst in die Bar, und statt mit Ugo und Gino zu reden, verbindest du dich mit dem Internet und guckst, was in Australien so los ist. Und während du dir Australien anguckst, reden zwei Meter von dir entfernt Ugo und Gino darüber, wie gut deine Freundin im Bett ist. Ich bitte dich ...«

»Ampelio, fang jetzt nicht so an. Das Internet ist ein Medium. Es kommt darauf an, wie du es nutzt. Du hast Zugang zu Milliarden von Informationen. Du erfährst alles über alle, Wahres und Falsches. Und all das in einem Höllentempo und ohne auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.«

»Aldo hat recht«, mischte sich Del Tacca ein. »Du erfährst alles, kaum dass es passiert ist, und auch, wenn überhaupt nix passiert, erfährst du’s. Und das, ohne dass du einen Fuß vor die Tür setzt. Das ist wie deine Frau, Ampelio, nur dass du es ausschalten kannst.«

Der dritte Mann, der jetzt gesprochen hatte, war unter den Einwohnern Pinetas einfach als »der Del Tacca von der Gemeinde« bekannt; und zwar, um ihn zu unterscheiden vom »Del Tacca aus Foce Nòva«, der in der Nähe des ehemals neuen Viertels an der Flussmündung wohnte, vom »Del Tacca von der Straßenbahn«, der als Schaffner gearbeitet hatte, und vom »Del Tacca von der Agip am Viale«, dessen berufliche Aktivitäten man lieber nicht genauer benennt, sagen wir einfach nur, dass er nicht als Tankstellenpächter arbeitete. Der Del Tacca von der Gemeinde war ein dicker kleiner Mann, beinahe breiter als hoch, der auf den ersten Blick etwas anmaßend erscheinen mochte, von Nahem betrachtet aber einfach nur unsympathisch war wie breit getretene Hundekacke. Eine Wirkung, die er, zusammen mit dem hohen Anteil an Fettgewebe, in langen Jahren sogenannter Arbeit in der Gemeindeverwaltung von Pineta entwickelt hatte: Jahre voller ausgedehnter Frühstückspausen, verloren gegangener Akten und semiklandestiner Kartenspiele, während sich vor dem Schalter und dem Schild »Bin gleich zurück« lange Schlangen gebildet hatten.

In der Zwischenzeit hatte der Priester des Kultes den Laptop zusammengeklappt und sich an den Tisch zu der aufreizenden Schönheit gesetzt. Sie hieß Tiziana und arbeitete seit zwei oder drei Jahren als Mädchen für alles in der BarLume. Diese BarLume wiederum gehörte Massimo, der in Personalunion den Priester des Kultes und Ampelios Enkel in sich vereinte. Also, der Typ, der sich gerade hingesetzt hatte, hieß Massimo und war der Barista.

Massimo zündete sich eine Zigarette an, schaute auf das Blatt, das Tiziana ihm hinhielt, und runzelte die Stirn.

»Das ist alles.« Es war keine Frage, sondern eine Aussage. Wenn auch ein bisschen verzweifelt.

»Ja. Alles«, antwortete Tiziana, ohne etwas hinzuzufügen. Sie hätte wohl Lust gehabt, noch etwas zu sagen, weil sie eine fröhliche junge Frau mit einem sonnigen Gemüt war, aber andererseits war sie auch ein kluger Mensch. Daher hatte sie rasch gemerkt, dass ihr Brötchengeber unnütze Fragen ganz besonders verabscheute, und verkniff sich diese, wenn auch mit einer gewissen Anstrengung.

»Also, fassen wir zusammen. Die vier Tische an den Tamarisken haben keinen Empfang.«

»Ja. Das heißt nein, sie haben keinen.«

»Die drei an der Säule, schwaches Signal.

»Genau.«

»Und an dem Tisch unter der Ulme, volles Signal.«

»Genau. Also ...«

Also ein Schlag ins Wasser, dachte Massimo. Das kann doch nicht sein, verdammt. Das ist eine Verschwörung. Da geh ich hin und will Internet über Satellit in der Bar, ich geb ein halbes Vermögen dafür aus, ich verlier bei der Installation die letzten drei oder vier noch kommunizierenden Neuronen, die mir geblieben sind, und was passiert? Es geht nicht. Schlimmer noch, es geht nur sprunghaft. Das Signal ist einfach scheiße. Es schwankt, es stockt, es spuckt. An einer einzigen Stelle, verdammt noch mal, gibt es Empfang. Stark, präzise und unerschütterlich. An nur einem einzigen Tisch. Dem Tisch unter der Ulme. Dem Tisch, an dem mein Großvater und diese anderen Gerovital-Anhänger jeden Tag den ganzen Nachmittag verbringen, von April bis Oktober, seit ich hier aufgemacht habe. Es tut mir leid, aber das ist jetzt deren Problem. Ich brauche diesen Tisch.

Es war Nachmittag, und die Bar wie auch der größte Teil des Dorfes, gönnte sich jenen ausgedehnten Nachmittagsschlaf, der der Stunde des Aperitifs vorausging. Draußen an den Tischen saßen nur zwei junge Mädchen mit einem Laptop und zwei caffè shakerato bei den Tamarisken sowie die vier Bannerträger des dritten Lebensalters, die stolz auf den Stühlen am Tisch unter der Ulme thronten. Tiziana kam in die Bar zurück, nachdem sie die Bestellungen der Genannten aufgenommen hatte.

»Massimo?«

»Anwesend.«

»Also, zwei Espresso, einen normalen für den Großvater und einen corretto al sassolino, also mit einem Schuss Anislikör, für Aldo. Einen Averna mit Eis für Pilade und einen Chinotto für Rimediotti.«

»Gut. Machst du mir bitte die Espresso, Tiziana? Um den Rest kümmere ich mich.«

Massimo nahm ein Holztablett und stellte es auf den Tresen, beugte sich unter die Theke und zog ein Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit hervor. Einen Augenblick lang betrachtete er sie liebevoll, dann nahm er sie und schüttelte sie etwa zehn Sekunden kräftig.

Sanft stellte er sie auf dem Tablett ab und legte den Flaschenöffner daneben, dann gab er einen Schluck Averna in ein Glas und fügte zur Abrundung noch einen Schuss Balsamicoessig dazu; danach angelte er mit den Fingern einen Eiswürfel aus dem Behälter und ließ ihn mit professioneller Miene ins Glas fallen. Schließlich musterte er nachdenklich die beiden Espresso, die Tiziana zubereitet und auf das Tablett gestellt hatte. Er trank von beiden einen Schluck, füllte sie mit gewichtiger Miene mit Mineralwasser direkt aus dem Kühlschrank auf und gab noch einen Spritzer Zitronensaft für Aldo hinzu, der seinen Espresso ja sowieso corretto wollte.

»Fertig. Bring’s nur raus ...«

»Massimo, komm schon ...«

»Was?«

»Komm, stell dich nicht dümmer, als du bist.«

»Man beleidigt seinen Vorgesetzten nicht. Das ist ungezogen und zeugt von mangelnder Schlauheit. Sonst entlass ich dich noch, weißt du?«

»Ich hab nicht gesagt, dass du dumm bist, ich habe gesagt, dass du dich dumm anstellst. Die armen Opis, ich bitte dich.«

»Von wegen, die armen Opis! Hab ich sie gefragt oder nicht, ob sie mir den Gefallen tun, sich an einen anderen Tisch zu setzen?«

»Ja, Massimo, aber auch du musst doch verstehen, dass ...«

»Nichts ›auch du‹. Nur ›du‹. Massimo muss verstehen. Massimo muss verstehen, dass die Opis, die Ärmsten, ihre Gewohnheiten haben. Massimo muss verstehen, dass es unter der Ulme schön kühl ist. Abgesehen davon sehe ich nicht ein, warum Massimo so ein Theater deswegen macht. Schließlich gehört ihm die Bar im Grunde ja gar nicht. Die Opis haben ihn enteignet. Damit sollte er sich allmählich abfinden.«

»Jedenfalls bringe ich ihnen dieses Zeug nicht.«

»Macht nichts. Rimediotti kommt sowieso gerade.«

In der Tat hatte gerade ein alter Mann die Bar betreten, der ein wenig schlechter gekleidet war als die anderen. Hochgewachsen und ausgezehrt, trug er ein hellblaues, quergestreiftes Poloshirt und seniorenfarbene Hosen. Das Ensemble verlieh ihm eine Ausstrahlung, die irgendwo zwischen einem Langzeitkranken und einem entlaufenen Häftling lag.

Massimo kannte ihn lange nur unter dem Namen »der Rimediotti«, und fand erst nach vielen Jahren heraus, dass er vor langer Zeit einmal auf den Namen Gino getauft worden war. Er zählte eher zu den ruhigen Vertretern seiner Altersgruppe, mit leicht sehnsüchtigen Erinnerungen an Mussolinis Zeiten, und er war ein beachtlicher Billardspieler.

»Hast du alles fertig, Massimo? Kann ich das mitnehmen?«

»Bitte, Rimediotti, nimm nur.«

Rimediotti nahm das Tablett und ging hinaus. Massimo bemerkte, dass im Radio »Y. M. C. A.« von Village People lief, drehte die Lautstärke auf und fing an, im Rhythmus des Songs Gläser abzuwaschen. Als er den Kopf hob, sah er durch die Scheibe zum Tisch der Pensionäre, die heftig gestikulierten, als wollten sie einen unwahrscheinlichen Tanz der sympathischen Kalifornier vom anderen Ufer aufführen, deren Lied das Innere der Bar erfüllte. Doch anstatt die Arme zum »Waiii-emm-ssi-ey« hochzureißen, wie es Massimo in seiner Phantasie erwartet hätte, steuerten sie unter Ampelios Führung direkt auf die Bar zu.

Als sie hereinkamen, redeten, besser gesagt lärmten sie alle durcheinander. Nach geduldiger Entschlüsselung des akustischen Signals – erforderlich, um die Stimmen der in Ehren Ergrauten vom fröhlichen Gejohle zu trennen, das aus dem Radio drang – stellte sich heraus, dass Rimediotti Massimo beschuldigte, ihm die Kleidung ruiniert, Aldo ihn beschuldigte, ihm Magenbeschwerden verursacht, und Ampelio ihn beschuldigte, eine Hure zur Mutter zu haben. Nur Del Tacca war still und bedachte Massimo mit bösen Blicken. Massimo fühlte sich verpflichtet, ihn zu fragen: »Und Sie, Pilade, Sie haben nichts, worüber Sie sich beschweren möchten?«

»Glaubst du etwa, ich hätte den Amaro getrunken?«, gab Del Tacca zurück und sah ihn weiter böse an.

»Du bist ja nicht normal! Du –«, brüllte Rimediotti unter dem durch die Explosion des Fläschchens mit Chinotto pomadisierten, über die Glatze gekämmten Haar hervor, was ihm ein noch verwahrlosteres Aussehen verlieh, »du bist doch kriminell! Du bist doch schwachsinnig, du! Genau, das bist du! Ein Idiot, das bist du! Ist das denn die Möglichkeit?«

»Es tut mir leid, Rimediotti«, antwortete Massimo, während er weiter seelenruhig Gläser spülte. »Das passiert manchmal, das wissen auch Sie. Die Kronkorken springen einfach von den Flaschen. Das liegt am Druck des Kohlendioxids im Inneren, glaube ich. Oder besser, am Druckunterschied zwischen innen und außen. Übrigens habe ich neulich irgendwo gelesen, dass dieser Druckunterschied unter Ulmen besonders deutlich zutage tritt. Meiner Einschätzung nach wäre bei den Tamarisken überhaupt nichts passiert«, erklärte Massimo und fragte dann im beflissenen Ton des Barmannes: »Kann ich euch etwas anderes anbieten?«

Finsteres Schweigen seitens der Alten folgte auf Massimos Vorschlag.

Wenn zwei starke Willenskräfte auf einen Punkt treffen und keiner von beiden vorhat, von seiner Position zurückzuweichen, dann ist ein Zusammenstoß unvermeidlich. Wie zwei Zylinderblöcke steuern die Rivalen aufeinander zu, ohne die Folgen zu berücksichtigen und ohne jegliche Möglichkeit, es sich noch mal zu überlegen. Wer am härtesten ist, gewinnt.

Die Geschichte ist voll von derartigen Geschichten. Man denke nur an Caesar und Antonius. An Churchill und Stalin. An Zidane und Materazzi.

Auch hier ist der Moment gekommen. Wir stehen unmittelbar vor dem direkten Aufeinandertreffen. Die Luft scheint zu Glas zu erstarren, wie beim Duell, wenn die Duellanten sich misstrauisch beäugen. Bedauernswerterweise besteht die musikalische Untermalung der Szene nicht in Musik von Morricone, die jetzt so gut gepasst hätte, sondern im unpassend fröhlichen Gebrüll der Village People, die gemeinsam verkünden, dass man einfach nicht unglücklich sein kann, wenn man nur an einer schönen Schwulenparty teilnimmt.

Ungeachtet der unbeschwert-heiteren Untermalung musterten sich die Kontrahenten mit drohenden Mienen.

Und langsam, aber unvermeidlich, senkte sich die Lautstärke der Musik.

Das Lied ging zu Ende.

Gleich würde der Moment gekommen sein.

»Entschuldigen Sie ...«

Es war eine ängstliche Stimme, höflich, kaum zu hören. Aber mehr als ausreichend, um den Bann zu brechen.

Die Stimme gehörte einem der beiden Mädchen, die draußen saßen, an dem Tisch neben den Tamarisken. Sie war hereingekommen und blickte die Gruppe aus einem Paar riesengroßer blauer Augen an, so wie die aus den japanischen Zeichentrickfilmen. Hinter ihr folgte ihre Freundin. Ihr Gesichtsausdruck war der eines unschuldigen kleinen Mädchens, ihr Dekolleté dagegen wirkte eindeutig sehr mütterlich. Massimo sah das erste Mädchen fragend-höflich an, während die Alten sich hemmunglos an ihrer Freundin weideten.

»Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten. Ich müsste mal ins Internet, aber an unserem Tisch funktioniert es nicht besonders gut. Ähm ... und weil ich gesehen habe, dass das Signal am Nebentisch sehr stark ist, wollte ich fragen, ob es möglich wäre, dass wir die Tische tauschen.«

Es folgte ein Augenblick greifbarer Beschämung.

»Das darfst du mich nicht fragen. Frag nur diese Herren hier, es ist ihr Tisch«, sagte Massimo mit einem Hauch Perfidie und zeigte dabei mit einem Kopfnicken in Richtung der Pensionäre.

Das Mädchen, das mit mysteriöser weiblicher Weisheit in Ampelio den Anführer ausgemacht hatte, wendete sich diesem zu und lächelte ihn an.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir tauschen?«

Das Ganze untermalte sie mit einem überzeugenden Augenklimpern. Ampelio stammelte beschämt etwas vor sich hin, während Rimediotti ganz galant antwortete: »Ach du lieber Gott, Signorina, da brauchen Sie doch nicht mal fragen. Bitte, das fehlte ja gerade noch.«

»Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht ...«

»Ach, woher denn«, sprang ihm Aldo bei, »das ist doch kein Problem.«

»Wirklich nicht? Na dann, vielen Dank.«

Das Mädchen bedankte sich erneut mit einem breiten Lächeln und ging mit der Freundin hinaus.

Stille folgte auf diese kleine Szene. Absolute Stille, denn Tiziana hatte auch das Radio ausgeschaltet. Die Alten, die eben noch wie ein Rudel weitsichtiger Wölfe über Massimo hergefallen waren, blickten nun jeder in eine andere Richtung und erinnerten ein wenig an eine Gruppe einander Unbekannter, die auf den 31er Bus warteten.

Massimo hingegen nahm ein Tablett und fing geschwind an, es zu füllen. Er beugte sich unter die Theke, um einen Chinotto herauszuholen, und sagte dabei: »Tiziana, einen normalen Espresso und einen corretto al sassolino. Und danach erinnere mich daran, dass ich zum Optiker muss.«

»In Ordnung. Hast du Probleme?«

»Nein, nein. Ich will nur hin, um mir ein paar blaue Kontaktlinsen zu kaufen. Gut möglich, dass mir dann beim nächsten Mal jemand zuhört, wenn ich um etwas bitte und dabei mit den Augen klimpere.«

»Vielleicht leihst du dir auch gleich ein schönes Paar Titten«, sagte Ampelio mürrisch. »Du fängst eh schon an, so bescheuert zu argumentieren wie die Frauen.«

»Und Sie, was möchten Sie, Pilade? Einen Amaro?«, fragte Massimo ungerührt von unter der Theke her.

»Sieh mal, Massimo«, fuhr Ampelio unbeirrbar fort, »das Problem ist doch Folgendes: Auch mit Kontaktlinsen, falschen Titten und wer weiß, was sonst noch, bist du hässlich wie die Nacht und bleibst du hässlich wie die Nacht.«

»Ich weiß«, sagte Massimo, während er hinter der Theke wieder auftauchte. »Letztlich liegt’s in der Familie. Alle hässlich wie die Nacht, seit Generationen schon. Mit ein, zwei Lichtblicken wie Tante Enza.«

Massimo und sein Großvater sahen sich an und fingen beide an zu kichern.

Als Enza Viviani nei Barontini, Ampelios Schwester und Tante von Massimos Mutter, auf die Welt gekommen war, hatte Signora Ofelia Viviani geborene Medori (Urgroßmutter von Massimo und Mama von Ampelio, in der ganzen Familie bekannt als »Ofelia von Windsor« wegen des Goldschmucks und der vielen Ringe, die sie zu festlichen Gelegenheiten trug) von der ganzen Verwandtschaft und verschiedenen Bekannten Besuch erhalten, darunter auch Romualdo Griffa, Vater von Aldo und langjähriger Freund der Familie. Romualdo, nachdem er sich über die Wiege gebeugt und dem Säugling einen Finger so dick wie ein Baguette hingehalten hatte, hatte sich aufgerichtet und mit dröhnender Stimme verkündet: »Verdammt, Ofelia, Kompliment. Das ist wirklich ein hübscher Junge.«

»Hör mal, Romualdo, es ist ein Mädchen.«

»Ehrlich?« Ungläubig hatte sich Romualdo daraufhin noch einmal über die Wiege gebeugt. »Verdammt, das arme Mädchen.«

Um in die Gegenwart zurückzukehren: Auch die anderen Stammgäste kicherten, da sie die Geschichte kannten, weil Ampelio sie ihnen wahrscheinlich schon etwa fünfzigmal pro Kopf erzählt hatte. Tiziana, die die Geschichte nicht kannte, lächelte hingegen, weil sie bemerkt hatte, dass der Sturm vorüber war. Mit immer noch demselben Lächeln trat sie zu Rimediotti, der nichtsdestotrotz weiter vor sich hin murrte, während der Chinotto ihm unerbittlich aus dem wilden Haarschopf tröpfelte. Sie besänftigte ihn mit demselben Lächeln, drückte ihm den Kopf ganz leicht nach unten und trocknete ihm das Haar. Der ehrwürdige Greis, der sich dank seiner Kopfhaltung unvermittelt direkt Tizianas Busen gegenübersah, bedankte sich und lief rot an.

Jetzt hatte der Gewittersturm endgültig heiterem Wetter Platz gemacht: Das Klima war kameradschaftlich-brüderlich, und dank Massimos Erinnerung fühlte sich Ampelio auch dazu aufgelegt, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen und jene unzähligen Geschichten zu erzählen aus den Zeiten, als er und die anderen Rentenbezieher noch jung gewesen waren, und lange davor. Da es schon eines Nato-Einsatzes bedurft hätte, um Ampelio zu stoppen, wenn er einmal beschlossen hatte, etwas aus den Zeiten seiner lange zurückliegenden Jugend zu erzählen, und angesichts der Tatsache, dass unser reifer Held ein Erzähler von unzweifelhaftem Talent war, wenn auch mit beschränktem Repertoire, richteten sich die übrigen Anwesenden willig darauf ein, zuzuhören.

Del Tacca, mit einem Glas reinem Amaro vor sich, lauschte Ampelio, ohne ihn anzusehen, und kicherte dabei in sich hinein. Rimediotti und Aldo lauschten stehend und nickten wissend, wenn Ampelio eine Persönlichkeit aus der Vergangenheit einführte, um zu zeigen, dass sie sich daran erinnerten und dass das schon so einer war. Tiziana lauschte amüsiert den unwahrscheinlichen Geschichten des alten Halunken, dessen Gedächtnis den Auswirkungen der Zeit und der Arterienverkalkung in skandalöser Weise widerstanden hatte. Ab und zu warf Massimo ihm einen bösen Blick zu, der weiter den Barmann gab und schnitt, einschenkte und abspülte, nur um dem Großvater nicht die Genugtuung zu gönnen, obwohl er in Wirklichkeit natürlich auch zuhörte.

An einem gewissen Punkt fing Ampelio an zu erzählen, wie er und Aldo in Pisa gearbeitet hatten und zum Spaß die Touristenmenüs, die draußen an den Restaurants in der Nähe der Piazza dei Miracoli angeschlagen waren, durch andere, selbst erfundene Speisenkarten ersetzt hatten, in denen unmögliche Dinge vorgekommen waren, wie zum Beispiel Carpaccio vom Kamelhintern oder Haarsuppe. Massimo, der die Geschichte schon x-mal gehört hatte, nahm ein Tablett und ging nach draußen, um die Gläser der beiden Mädchen abzuräumen, die den Tisch unter der Ulme erobert hatten.

Er fand sie in heller Aufregung.

Das Mädchen mit den großen Augen und ihre Freundin klickten wild mit der Maus herum und öffneten alle Dateien auf dem Desktop auf der Suche nach etwas. Dem Mädchen mit den großen Augen stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, und sie war kurz vor einem hysterischen Anfall. Ihre Freundin saß zusammengekauert da und hatte ein mitleidiges Gesicht aufgesetzt, das sehr nach unschuldigem Hündchen aussah. Ängstlich fragte sie die Freundin: »Aber ist sie wirklich nicht mehr da?«

»Oh, ich finde sie nicht. Also wirklich ... wie, verd. . . wie ist das nur möglich ... eben war sie doch noch da! Sie war hier! Ach, du lieber Gott ...«

»Entschuldigung«, sagte Massimo, nahm dem Mädchen den Laptop aus den Händen und stellte ihn schnell auf einen der Tische neben den Tamarisken. Dann kehrte er zu den Mädchen zurück, die ihn verblüfft anstarrten.

»Ganz ruhig, da gibt es keinen Empfang. Ich konnte nicht anders, als auf den Bildschirm zu gucken. Dir hat’s ein paar Dateien zerschossen. Hattest du einen Browser offen?«

»J. . . ja«, antwortete die üppige Freundin, weil das Mädchen mit den großen Augen immer noch Massimo anstarrte, als wäre der ein sprechender Hase. »Ich hab ein Fenster aufgemacht, weil ich ihr einen Platz in Barcelona zeigen wollte, und da ... ich weiß nicht, aber irgendwann ...«

»Irgendwann hat das Fenster die Farbe gewechselt und ist abgestürzt.«

»Genau! So war’s. Das Fenster ist grün geworden ...«

»Hm. Das ist ein Virus, der in den letzten zwei, drei Tagen ziemlich umgeht. Er funktioniert nur, wenn der Computer im Netz ist, deshalb besteht kein Grund zur Sorge. Hattest du irgendwelche wichtigen Dokumente offen?«

Das Mädchen mit den großen Augen befand sich immer noch in einem semikatatonischen Zustand und nickte nur.

»Meine Präsentation.«

»Wie?«

»Die Präsentation für mein Seminar. Die Folien, mit denen ich das Seminar halten muss.«

»Mit denen du das Seminar hättest halten müssen«, präzisierte Massimo etwas kleinlich.

»Ja, mit denen ich das Seminar hätte halten müssen«, fauchte das Mädchen wütend zurück. »Mit denen ich übermorgen das Seminar hätte halten müssen! Und jetzt? Was mach ich ...«

»Entschuldige, wenn ich dir überflüssige Fragen stelle, aber bist du sicher, dass du das Seminar nicht noch irgendwo anders gesichert hattest?«

»Nein, warum hätte ich das tun sollen?«

»Da gäbe es viele gute Gründe. Einer ist gerade eingetreten, zum Beispiel.«

Das Mädchen starrte ihn hasserfüllt an.

»Ich habe immer an diesem Rechner gearbeitet. Woher soll ich denn wissen, dass es, wenn man ins Internet geht, da so Hurensöhne gibt, die solche Spielchen mit einem spielen?«

Massimo hätte entgegnen können, dass solche Viren schon seit einigen Jahren kursierten und dass es von einer vorsintflutlichen Einstellung sprach, ihre Existenz zu ignorieren, wenn man einen Computer besaß. Aber da Massimo nicht erst seit gestern auf der Welt war, wusste er nur zu gut, dass logisches Argumentieren angesichts eines leichtsinnigen Fehlers einer hysterischen Frau bei derselben Frau zu keinem Ergebnis führte. Daher wählte er den Weg der Entschlossenheit.

»Ich kenne mich ziemlich gut mit dem Betriebssystem aus, das du benutzt. Ich denke, ich könnte eine frühere Version der Datei finden. Wann hast du sie erstellt?«

»Aber ... vor einer Woche, mehr oder weniger.«

»Wann hast du sie zum letzten Mal geöffnet?«

»Sie war geöffnet, als dieser ganze Mist passiert ist. Vor einer halben Stunde, würde ich sagen. Aber hör mal ...«

Zu spät. Massimo hatte sich schon vor den Laptop gesetzt, und jetzt tanzten seine Finger in einem seltsamen, ziemlich sinnlosen Rhythmus wie kleine rosafarbene Hämmerchen über die Tastatur. Das Mädchen versuchte noch etwas zu sagen, aber Massimo brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen, während er mit der anderen Hand weiter Befehle auf der Tastatur eingab. Jetzt sah auch Tiziana zu, die vor Kurzem herausgekommen war und die Szene als neutrale Beobachterin verfolgte.

»Aber ... mein Computer ...«

»Mach dir keine Sorgen. Massimo ist gigantisch mit diesen Dingern.«

»Ja, aber ...«

»Er hat studiert, unter anderem Mathematik. Und wenn ich dir was sagen darf, ich kenne Massimo schon ein paar Jahre. Er mag seine Fehler haben, aber er redet keinen Unsinn. Wenn er es gesagt hat, dann kriegt er es auch hin.«

»Ja, aber ...«

»Tiziana«, sagte Massimo, während seine Finger weiter auf die Tasten hämmerten, »zu meinen zahlreichen Fehlern gehört auch, dass es mir schwerfällt, etwas zu machen, während man mir auf die Finger schaut. Geht doch bitte rein, ja?«

»Aber ...«, sagte das Mädchen mit den großen Augen, dann schaute sie Massimo an und sah, dass er die Datei mit ihrer Präsentation gefunden hatte. Sie wollte schon lächeln, aber Massimo unterbrach sie.

»Ich bin noch nicht fertig. Ich brauche Zeit. Geht bitte rein, ja.«

Gehorsam folgten die Mädchen Tiziana in die Bar.

Eine halbe Stunde später hatte sich das Mädchen mit den großen Augen beruhigt. Ihre Freundin hatte das besorgte Welpengesicht abgelegt und zeigte jetzt einen Ausdruck stiller Freude, der ihr wesentlich besser stand. Die Alten waren derweil hinausgegangen und hatten sich mit vorgetäuschter Unschuld wieder an den Tisch unter der Ulme gesetzt, um Karten zu spielen. Die Mädchen waren in der Bar geblieben und plauderten mit Tiziana über Gott und die Welt, als Massimo mit einem zufriedenen Lächeln wieder hereinkam. Er reichte dem Mädchen den Laptop.

»Ich glaube, ich habe alles wiederhergestellt. Schau noch mal nach.«

Das Mädchen nahm den Laptop und stellte ihn direkt auf den Tresen. Mit der Maus ließ sie die Präsentation von Anfang bis Ende durchlaufen. Es waren seltsame quadratische Moleküle zu sehen und überaus verworrene Diagramme von Synthesen und Spektren der Asorption ultravioletter Strahlung. Das Ganze bemerkenswert gestaltet.

»Wahnsinn! Es ist alles da!«

»Bist du sicher? Hast du genau nachgesehen?«

»Ja, ja. Sicher. Du hast mir das Leben gerettet.«

»Na, das Leben ja nun nicht gerade. Ich habe dir deine unmittelbare Zukunft etwas ruhiger gestaltet.«

»Wirklich, ich ... weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«

Die Freundin ergriff das Wort.

»Ich weiß, wie.«

Einen Augenblick lang stellte sich Massimo das Mädchen mit den großen Augen und ihre Freundin nur mit Schlagsahne bekleidet vor, wie sie ihn vom großen Bett in seiner Wohnung aus zu sich riefen. Doch ihrem Tonfall nach zu urteilen, hatten sie und Massimo nicht dasselbe gedacht. Die Freundin sah sich in der Bar um und fuhr fort: »Ist doch ganz nett hier. Besonders draußen. Wir könnten hier eine kleine Party organisieren, nach dem geselligen Abendessen am Donnerstag. Irgendwas ganz Eindeutiges«, sagte die Freundin augenzwinkernd, »sodass jeder, der Lust hat, auch kommen kann, obwohl eigentlich klar ist, dass in so eine Bar und noch dazu nach dem Essen nur jüngere Leute gehen. Also kommen wir hierher, knüpfen Kontakte, wie es dem Boss gefällt, und gleichzeitig werden wir die ganzen verkalkten Alten los. Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber mich nerven diese alten Knacker, die den ganzen Tag am Tisch sitzen und dumm daherreden, schon seit einer Weile.«

Da sind wir schon zu zweit, dachte Massimo mit einem Blick nach draußen auf seine unfreiwillig angelegte Sammlung lebender Antiquitäten.

»So ähnlich ...«, sagte das Mädchen mit den großen Augen.

»Sieh mal, wir machen das so: Wir erzählen’s dem Boss heute Abend, beim Get-together«, sagte die andere entschlossen, »und dann kommen wir morgen direkt hierher, um dir Bescheid zu sagen«, setzte sie an Massimo gewandt hinzu.

»In Ordnung«, antwortete Massimo. »Wenn ihr das früher entscheidet, könnt ihr es mir auch heute Abend sagen. Ich bin ja sowieso bei euch.«

»Wie meinst du das?«

»Eben hast du gesagt, dass heute Abend das Get-together stattfindet, und deine Freundin meinte, dass sie übermorgen eine Präsentation halten muss. Also bedeutet das, dass ihr von einem Kongress redet. Soweit ich weiß, ist der einzige Kongress in der näheren Umgebung der«, er griff zu einer Broschüre hinter dem Tresen, »›XII. International Workshop on Macromolecular and Biomacromolecular Chemistry‹ – meine Güte, was für eine Verschwendung von Großbuchstaben –, der vom 21. bis 26. Mai in Pineta im Hotel Santa Bona stattfinden wird.«

»Ja, klar. Aber wie kommt es, dass du diese Broschüre hast?«

»Weil auch Kongressteilnehmer essen müssen und man in solchen Fällen auf einen Catering-Service zurückgreift. Und in in diesem konkreten Fall mache ich das Catering.«

»Du und Aldo«, ergänzte Tiziana.

»Ja, schon gut. Ich und Aldo, das ist der Herr da draußen mit den weißen Haaren, der gerade den Herrn mit der Baskenmütze beleidigt, wir beide sind verantwortlich für das Catering. Weshalb ich, wenn nichts dazwischenkommt, heute Abend ebenfalls beim Kongress sein müsste.«