salamander

Acht

Es waren wenige Minuten vergangen. In der Bar bereitete Massimo alles für den abendlichen Aperitif vor. Es war Ende Mai, und wie in jedem Jahr weckte die schöne Jahreszeit die zahlreichen Grüppchen von Faulenzern und Taugenichtsen aus ihrer Lethargie, deren Alter zwischen den stolzen zwanzig und den wohl oder übel akzeptierten vierzig variierte und die die Gewohnheit teilten, ein Gläschen zu trinken und ein paar Gratishäppchen dazu zu nehmen, bevor sie sich in jene schönen Sommerabende aus Aperitif-Abendessen-Discothek stürzten, die ihrer nutzlosen Existenz Struktur verliehen.

Massimo maß dieser Gewohnheit schon immer große Bedeutung bei. Erst einmal war es umso besser, je mehr Leute kamen. Und waren die Tabletts mit den Häppchen erst mal vorbereitet, musste man nur noch einschenken und kontrollieren, dass die Leute bezahlten. Alles in allem war das für einen Barista eine zwar chaotische, aber auch angenehme Stunde. Ganz besonders, wenn der Barista ein siebenunddreißigjähriger, geschiedener Mann war, dessen Sozialleben außerhalb der Bar etwa mit dem einer Muschel vergleichbar ist. Darüber hinaus sind die Alten um diese Uhrzeit normalerweise zu Hause, und das kann der Laune nur zuträglich sein. Normalerweise.

An diesem Abend jedoch waren die Alten noch da, am Tisch unter der Ulme, die Hände mit einer unkonzentrierten Partie Canasta beschäftigt, während sie darauf warteten, dass Snijders Kawaguchi ein paar Neuigkeiten des Tages aus der Nase zog. Snijders war in der Zwischenzeit mit allergrößter Ruhe zu Kawaguchis Tisch geschlendert, hatte ein Gespräch angefangen und ihn, man weiß nicht, wie, dazu gebracht, sich an einen runden Tisch bei den Tamarisken zu setzen. Jetzt plauderten die beiden wie alte Freunde. Irgendwann sah Massimo aus dem Augenwinkel, wie Kawaguchi aufstand, Snijders die Hand gab, grüßte und wegging.

Mensch, ich bin wirklich dabei, mich in eine alte Klatschbase zu verwandeln, aber wen stört das schon. Schließlich habe ich die Idee gehabt und den Computer zu Carlo gebracht, da werde ich mir doch wohl ein Minimum an Belohnung verdient haben. Massimo betrachtete die Tabletts, befand sie für perfekt angeordnet, drehte sich um und fragte Tiziana in so normalem Ton wie möglich: »Tiziana, es fehlen noch der Tabouleh und die Crostini mit Thunfisch. Kümmerst du dich darum? Ich geh mal kurz nach draußen.«

»Ja, Chef, Disiana denken an alles. Chef sich keine Sorge machen und in aller Ruhe rausgehen und tratschen.«

Massimo nahm eine Zigarette, ging nach draußen und direkt zu dem Tisch unter der Ulme, wo Snijders sich gerade erst zu den rüstigen Rentnern gesellt hatte. Er nahm sich einen Stuhl, setzte sich und wurde von Ampelio mit einem missgünstigen »He, hattest du nicht noch zu tun?« begrüßt.

»Komm schon, Großvater, mach mal halblang«, antwortete Massimo, während er die Zigarette anzündete. »Wenn der Professor etwas weiß, dann sehe ich nicht, was so schlimm daran sein soll, wenn ich es mir anhöre. Und überhaupt, wenn er’s euch erzählt, weiß es in dreißig Sekunden sowieso das ganze Dorf.«

»Etwas hat er gesagt«, sagte Snijders. »Ach, bitte, ich heiße Anton. Professor ist viel zu aufgepumpt.«

Aufgepumpt? Ach ja, aufgeblasen. Aber da alle viel zu begierig darauf waren, zu erfahren, was Snijders herausbekommen hatte, verlor niemand die Zeit, um ihn zu korrigieren.

»Ich hab ein bisschen mit dem Jungen geredet. Erst ein bisschen über Wissenschaft, nur um etwas warm miteinander zu werden. Er macht übrigens ganz hübsche Sachen. Ein bisschen seltsam, aber interessant.«

Für dich vielleicht, sagten die abfälligen Blicke der Alten. Für uns nicht. Komm zur Sache, hier gibt’s Leute, die müssen zum Abendessen, und wir wissen immer noch nichts.

»Dann haben wir ein bisschen über den Kongress geredet, und am Ende hab ich nach dem Computer gefragt. So eher indirekt. Er hat mir gesagt, dass in den Textdateien nur Haikus waren.«

Schweigen. Dann, nach zwei oder drei Sekunden, fing Aldo an zu lachen.

»Verrätst du’s uns, damit wir auch ein bisschen mitlachen können?«, fragte Pilade.

»Entschuldigt. Aber ich glaube, der Typ nimmt uns auf den Arm. Haikus sind Gedichte.«

»Gedichte?«, fragte Ampelio, während Snijders lächelnd nickte.

»Gedichte«, bestätigte Aldo. »Die Urform japanischer Dichtung. Ich versteh nichts davon, aber ich glaube mich zu erinnern, dass es sehr kurze Kompositionen sind, aus drei Zeilen, inspiriert von einem jahreszeitlichen Thema wie dem Sommer, dem Frühling ...«

»Ja, dem Herbst und dem Winter«, unterbrach ihn Del Tacca. »Damit wären wir jetzt auch die Jahreszeiten einmal durchgegangen. Aber kann es nicht sein, dass dieser Japaner uns ein bisschen verarscht hat?«

»Ich weiß, was das heißt«, sagte Snijders vollauf zufrieden. »Nein, er hat mich nicht verarscht. Das glaube ich wirklich nicht. Er hat auch gesagt, dass, soweit er sich erinnert, Asahara Gedichte geschrieben hat. Ein Hobby wie viele andere.«

»Verstanden. Und jetzt?«

»Also. Wenn in dem Computer nur Gedichte waren, dann bedeutet das, dass nichts Wichtiges darauf war. Und weiter weiß ich nicht.«

»Ich aber«, sagte Massimo.

»Ph, auch er weiß etwas«, sagte Ampelio.

»Mit Sicherheit mehr als du. Als wir die Japaner vernommen haben, hat einer von Asaharas Mitarbeitern gesagt, dass er diesen Computer noch nie gesehen hat, und ausgesagt, dass er normalerweise einen anderen benutzte. Die anderen haben das bestätigt, aber niemand konnte sagen, ob Asahara zwei Computer mitgebracht hatte oder nur einen.«

»Welches Betriebssystem hatte der Computer?«, fragte Snijders. »Wissen Sie das?«

»Ja. Klar. Ich habe die Systemordner gesehen. Das war ganz sicher Linux. Aber welche Distribution, das weiß ich nicht.«

»Nein, ich dachte nicht an die Distribution«, sagte Snijders. »Ich dachte daran, dass ich ja Asaharas Vortrag gehört habe. Die Folien waren definitiv mit PowerPoint erstellt. Eindeutig.«

»Ah. Ich verstehe.«

»Na toll«, sagte Del Tacca. »Wir verstehen aber kein Wort. Kann uns das mal jemand erklären?«

»So kompliziert ist das nicht«, sagte Massimo. »Ein Computer braucht, um zu funktionieren, ein sogenanntes Betriebssystem. Das ist nichts anderes als eine Art Sammlung von mehr oder weniger komplexen Befehlen, die als Dolmetscher fungieren zwischen dem Computer und dem, was der Benutzer damit vorhat. Normalerweise hat ein Computer nur ein Betriebssystem, auch wenn man prinzipiell auch mehr als eins auf demselben Rechner laufen lassen könnte. Die derzeit gebräuchlichsten Betriebssysteme sind im Wesentlichen drei: Windows, Linux und Macintosh. Alles klar?«

Bis hierher kommen wir noch mit, sagten Aldos Augenbrauen.

»Also, Anton sagt, dass Asaharas Vortrag mit PowerPoint erstellt worden war, was eine Art Editor ist, der unter Windows läuft, mit ein paar Anpassungen auch auf dem Mac, aber nicht unter Linux. Linux hat einen sehr ähnlichen Editor, der sich OpenOffice nennt, aber optisch unterscheiden sich die beiden deutlich. Wenn also Asaharas Vortrag mit PowerPoint erstellt worden ist, dann kann das nur eines bedeuten. Dass er auf einem anderen Computer verfertigt wurde.«

»Aha«, sagte Del Tacca. »Und man kann diese Dinger nicht von einem auf den anderen Computer tun, wenn das zwei verschiedene Typen sind?«

»Theoretisch schon, es gibt da eine gewisse Kompatibilität, aber bei Präsentationen mit Grafiken, glaube ich, würde niemand, der einigermaßen klar im Kopf ist, auch nur darüber nachdenken. Man würde einen Haufen Zeit verlieren.«

Zum Teufel mit diesem »klar im Kopf«. Erst hab ich das zu Fusco gesagt und jetzt zu Pilade. Als ob alle, die einigermaßen bei Trost sind, sich so verhalten müssten wie ich.

»Ich verstehe. Ihr wollt also sagen, dass dieser Typ zwei Computer dabeihatte.«

»Könnte sein. Oder er hat den Vortrag woanders vorbereitet und hatte ihn auf einem Datenträger dabei, einem USB-Stick oder so. Was mir am wahrscheinlichsten vorkommt. Ich seh nicht ein, warum man mit zwei Computern unterwegs sein sollte.«

»Da hast du’s noch gut«, sagte Ampelio. »Ich versteh nicht mal, warum man auch nur einen mitschleppen sollte. Du bist in Italien, kommst vom anderen Ende der Welt, und anstatt dich ein bisschen umzuschauen, schleppst du den Computer mit. Heute schleppen alle ihren Computer mit. Erst alle mit dem Handy, jetzt alle mit dem Computer. Wenn das so weitergeht, gehen in drei oder vier Jahren alle nur noch mit der Sackkarre aus dem Haus. Ich bitte dich, also wirklich.«

»Großvater, das ist etwas anderes. Diese Leute arbeiten mit dem Computer.«

»Oh, fleißig diese Leute. Wenn sie beim Kongress sind, arbeiten sie, und wenn der Kongress eine Pause macht, dann klemmen sie sich hinter den Computer und arbeiten weiter. Ein Glück, dass es euch gibt, das muss ich sagen. Erinnert mich an meinen armen Papa.«

»Warum das denn?«, fragte Massimo, während er sich Urgroßvater Remo vorzustellen versuchte, den er nie kennengelernt hatte, wie er sich, die Hacke über der Schulter, über einen Computer beugte, um nach einem langen Tag auf dem Acker im Internet zu surfen.

»Weil mein Papa immer gesagt hat, dass sich, wenn’s ans Sterben geht, noch keiner darüber beklagt hat, zu wenig gearbeitet zu haben.«

Halb acht und die Aperitif-Flut war zurückgewichen. Sie hatte nur noch ein paar verstreute Nachzügler in der Bar zurückgelassen, die an den Tischchen saßen und auf eine Entscheidung warteten, wie der Abend weitergehen sollte. Die Alten waren heimgekehrt, um die Füße zu einem wohlverdienten Abendessen unter den Tisch zu strecken, Tiziana lief rein und raus, um die Gläser und den Rest hereinzubringen, und drinnen waren nur Massimo und Snijders, der die vergangene Stunde im Plausch mit einigen Kongressteilnehmern verbracht hatte, die zufällig in die Bar gekommen waren.

Als sie alleine waren, hatten sie, wie auf Verabredung, wieder angefangen, über den Fall Asahara zu sprechen, und waren darin übereingekommen, dass sie irgendwie herausfinden mussten, ob Asahara wirklich zwei Computer mitgebracht hatte.

»Eines könnte man machen«, sagte Snijders. »Man könnte die Sekretärin des Kongresses anrufen, Miss Ricciardi, und sie fragen, ob sie sich erinnert, ob Asahara seinen eigenen Computer dabeihatte oder nicht.«

»Hm. Warum nicht? Glauben Sie, sie wird sich erinnern?«

»Weiß ich nicht. Ich erklär’s mal genauer: Normalerweise gibt es einen offiziellen Computer vom Kongress, aber wenn einer mit seinem eigenen arbeiten möchte, dann stöpselt er ihn einfach anstelle des offiziellen ein. Asahara könnte den Organisatoren also die Folien zu seinem Vortrag auf einem Stick gegeben oder aber den eigenen Computer benutzt haben. Jemand von der Organisation müsste das wissen. Ich habe versucht, die Kollegen zu fragen, die vorhin hier waren, ich habe ihnen erklärt, warum ich das wissen möchte, aber niemand erinnert sich daran.«

Da haben wir’s. Diskretion geht vor, auch bei dir. Da ist einfach nichts zu machen, immer erwisch ich solche.

»Ich verstehe. Na, man könnte das probieren. Wenn Sie wollen, ich habe die Handynummer von Signora Ricciardi. Sie können sie auch gleich anrufen.«

»Ist es nicht besser, wenn Sie anrufen?«

»Nein, glauben Sie mir. Ich habe mit dieser Frau eine Woche lang jeden Tag am Telefon gestritten. Mir ist nicht danach, sie anzurufen, und sie würde wahrscheinlich sofort auflegen, wenn sie meine Stimme hört.«

»In Ordnung. Wenn Sie mir die Nummer sagen ...«

»Es ist die hier, auf diesem Zettel.«

»Okay. Wo ist das Telefon?«

»Da hinter der Eistheke.«

Snijders ging weg, und Massimo begann seine Gedanken schweifen zu lassen. Dass jemand zwei Computer mit sich herumschleppte, kam ihm seltsam vor. Großvater hatte recht, einer war schon zu viel. Vorsicht, Massimo. Nie von sich auf andere schließen. Ich, zum Beispiel, hätte meiner Frau niemals Hörner aufgesetzt. Mein Gott, nicht, dass ich so rasend viele Gelegenheiten dazu gehabt hätte. Ich hatte sie vorher nicht, und ich bezweifele, dass sich die Lage mit dem Alter bessern wird. Denken wir an das Verbrechen, los, das ist besser. Wenigstens geht mal jemand anderem was schief. Vielleicht war Asahara ein extrem vorsichtiger Mensch. Und angesichts der Tatsache, dass ja schon am ersten Tag des Kongresses ein Laptop gestohlen wurde, hatte er ja nicht mal unrecht damit. Trotzdem überzeugt mich das nicht. Na, hören wir mal, was die Ricciardi gesagt hat. Wenn sie sich an was erinnern kann. Aber das wird schwer.

Stattdessen kehrte Snijders von einem Ohr zum anderen grinsend zurück. Er kam an den Tresen, setzte sich auf seinen Barhocker und fing an zu nicken.

»Ha, ha. Ich hatte recht. Miss Ricciardi erinnert sich, dass Asahara den Vortrag mit seinem Computer gemacht hat. Sie sagt, sie erinnert sich noch gut daran, weil sie eine Reduktion suchen musste. Was ist eine Reduktion?«

»Ein spezieller Adapter, damit der Stecker in unsere Steckdosen passt. Die sind von Land zu Land unterschiedlich.«

»Tja. Wer weiß, warum. Wie auch immer, wir haben es. Asahara hatte einen anderen Computer. Einen Windows-Rechner. Ich wette nicht, aber wenn ich darauf wetten würde, dass man bei den Windows-Rechnern suchen muss, dann würde ich wohl gewinnen.« Snijders nickte weiter. »Und da bin ich nicht der Einzige.«

»In welcher Hinsicht?«

»Miss Ricciardi hat mir gesagt, dass die Polizei im Hotel ist und alle Zimmer durchsucht. Ich sage, die suchen den Computer.«

»Hm. Wahrscheinlich«, gab Massimo zu. »Was bedeutet, wir sitzen in der Patsche.«

»Nein, das kenne ich nicht.«

»Entschuldigen Sie, ich bin so viel mit Siebzigjährigen zusammen, dass ich schon anfange, wie sie zu reden. Ich wollte sagen, dass, wenn da ein anderer Computer war, der bestimmt längst über alle Berge ist. Immer unter der Voraussetzung, dass das Motiv etwas mit dem zu tun hat, was Asahara gesagt hat. Wenn die Schuldigen irgendeine Datei stehlen oder zerstören wollten – ob sie nun die Daten kopieren wollten oder nicht –, dann haben die, wenn sie schlau waren, den Computer wahrscheinlich so schnell wie möglich ins Meer geworfen. Es sind drei Tage vergangen, sie haben reichlich Zeit dazu gehabt. Und ich glaube, dass bei einem Chemie-Kongress eher wenig Dumme unterwegs sind.«

»Das ist nicht gesagt. Aber, indeed, Sie haben recht. Und darum ...«

»Und darum können wir wieder zu unseren Beschäftigungen zurückkehren. Sie arbeiten als Wissenschaftler und ich als Barista. Ohne diesen Computer wird sich nämlich der einzige Ansatz eines Motivs nicht nachweisen lassen, und wir haben überhaupt keinen Hinweis, über den wir nachdenken können.«

Snijders blieb sichtlich enttäuscht auf seinem Barhocker sitzen. Er zog kurz einen Schmollmund, dann stand er auf.

»Gehen Sie essen?«, fragte Massimo, der allmählich gern mal ein bisschen allein gewesen wäre, wo doch noch so einiges zu tun wäre. Bedenken wir, dass die Bar eigentlich mir gehörte und Tiziana sowieso alle zwei Sekunden stehen blieb, um ihr Werk zu bewundern, und daher für heute Abend nicht zählte – wer war da wohl der Einzige, der heute noch arbeitete? Leider sah es nicht danach aus, als hätte Snijders auch nur die geringste Lust dazu, von hier zu verschwinden.

»Nein, wenn ich allein bin, esse ich so, wie’s gerade kommt.« Snijders warf ein Auge hinter den Tresen, auf das Regal in der Speisekammer, in dem die Würste thronten. »Vielleicht ein Sandwich ... Könnte ich ein Sandwich bekommen?«

»Aber sicher. Ich mache es Ihnen sofort. Hirschschinken, Spinat und Nussöl.«

»Was sonst noch?«

»Spinat, Nussöl und Hirschschinken. Es gäbe noch vier weitere Möglichkeiten, aber die erspare ich Ihnen. Vertrauen Sie mir, das schmeckt hervorragend.«

»Na gut.«

»Wollen Sie zu der Focaccia was trinken?«, fragte Massimo in der Hoffnung, dass der Typ keine Milch zum Essen trinken wollte: etwas, zu dem Holländer ohne Weiteres fähig waren, wie er in zahlreichen Jahren als Barista gelernt hatte.

»Ein Bier, danke.«

Gott sei Dank. Massimo ging in die Speisekammer, spannte den Schinken in die Schneidemaschine und fing an zu schneiden. Während er die Focaccia zubereitete, fuhr Snijders fort: »Ist es sehr weit von hier nach San Gimignano?«

»Ja, ziemlich weit. Mit dem Auto braucht man mindestens zwei Stunden.«

»Ah. Ja, das ist weit.«

»Na ja, in einem Tag schafft man es bequem hin und zurück. Abgesehen davon gibt es aber auch hier in der Gegend Verschiedenes zu sehen, ohne dass man nun nach San Gimignano fahren müsste.«

»Ja, sicher«, antwortete Snijders, als dächte er: Ich wollte aber nach San Gimignano. »Ohne den Kongress gibt es hier halt nicht viel zu tun. Und auch der Kongress war nicht besonders ...« Snijders verzog den Mund.

»War er nicht interessant? Vielleicht hatte er nicht viel mit Ihrem Gebiet zu tun.«

»Ja, das auch, aber nicht nur. Es ist eher, dass ich ständig dasselbe höre. Nur selten findet man mal ein bisschen Phantasie, etwas Einfallsreichtum. Besonders die Italiener haben etwas Seltsames an sich. Was die Kompetenz angeht, meine ich.«

Wir haben so viel Seltsames hier, mein Lieber, auf der Ebene der Kompetenz. Du befindest dich in dem Land, in dem die Fernsehassistentinnen über Fußball reden und die Priester über Sex und Familie.

»Und was?«

»Sie sind nicht originell. Fast nie, meine ich. In letzter Zeit sehe ich Leute, die dieselben Sachen machen wie schon vor zwanzig Jahren. Sie verfeinern. Sie präzisieren. Sie machen wunderschöne Sachen, manchmal. Sehr komplex. Aber immer nach demselben Muster. Im Allgemeinen, meine ich. Ausnahmen gibt es. Aber sie sind selten. Und das ist doch keine Wissenschaft. Da braucht es Originalität, neue Ideen. Die Applikationen muss die Industrie machen. Wir müssen forschen.«

Bemerkenswert. Neue Thermalquelle in Pineta entdeckt von Professor Snijders von der Universität Groningen.

»Und ich verstehe nicht, warum«, fuhr Snijders fort, da ihn das Thema offensichtlich umtrieb. »Wissenschaftlich gesehen, sind die Italiener immer solide gewesen. Als Studenten gut ausgebildet. Nicht wie die Russen oder die Inder, aber doch sehr viel besser als der europäische Durchschnitt. Das ist doch seltsam.«

Massimo fühlte sich empfindlich getroffen. Über dieses Thema hatte er sich schon so oft aufgeregt, dass er auch, ohne es zu wollen, darauf anspringen musste, sobald die Rede darauf kam. Es war beinahe so etwas wie ein Pawlow’scher Reflex.

»Nein, das ist nicht komisch«, sagte er, während er Snijders seine Focaccia auf den Teller gleiten ließ. »Wissen Sie, warum? Die Forschung in Italien ist nicht originell, weil sie von Tyrannosauriern bestimmt wird. In Italien sind siebenundvierzig Prozent der ordinierten Professoren Leute über sechzig Jahre. Sechzig. Gioacchino Rossini hat es nicht mehr geschafft, mit sechzig noch originell zu sein, und da erwarten Sie das von solchen Leuten?«

»Aber warum gehen die dann nicht in Pension?«, fragte Snijders mit vollem Mund. »Merken sie denn nicht, dass sie nichts Gutes mehr zustande bringen?«

»Nein. Das merken sie nicht. Weil wir es in diesem Scheißland gewöhnt sind, das Gute auf krankhafte Weise zu tun. Ich gebe Ihnen ein einfaches Beispiel. Ein Großteil der Professoren sagt: ›Ich kann nicht in Pension gehen, auch wenn ich das Recht dazu hätte und keine Lust mehr habe, noch irgendwas zu machen, weil ich erst noch meinen Doktoranden unterbringen muss, oder Assistenten oder welche Rolle der jeweilige Sklave gerade ausübt.‹ Der Gedanke ist folgender: Weil nun dieser Typ Examen, Dissertation und den ganzen Rest mit mir als Tutor gemacht hat, habe ich eine Art moralische Verpflichtung, ihn irgendwo unterzubringen. Versteht sich. Schade nur, dass, wenn du endlich mal abhauen würdest, von dem Geld gleich drei Leute, und ich meine wirklich drei, als Forscher arbeiten könnten. Allerdings käme auf diese Weise vielleicht dein Zögling nicht zum Zuge. Ganz besonders nicht, wenn er ein verdorbenes Arschloch ist, der als einzige Tugend Beharrlichkeit vorzuweisen hat. Denn es ist eine Tatsache, dass man in letzter Zeit in Italien nicht aufgrund von Können an die Universität kommt. Sondern vor allem aufgrund von Erschöpfung. Und das ist das erste Problem.«

»Ach, es gibt auch noch ein zweites Problem?«, fragte Snijders kauend.

»O ja, mein Herr. Das zweite Problem ist, dass wir, als wir jung waren, zu viele waren. Zu viele und darunter zu viele absolut ungeeignete Leute. Ich habe gesehen, wie Leute zu einem Forschungsdoktorat zugelassen wurden, die schon das Examen nur mit Mühe geschafft hatten. Und warum sind die zugelassen worden? Ganz einfach, weil diejenigen, die besser waren, genug Initiative hatten, um ins Ausland zu gehen oder außerhalb der Universität zu arbeiten. Die, die nicht mal in der Lage waren, allein den Finger aus der Nase zu nehmen, sind dafür geblieben und haben sich auf die übliche Prozedur eingelassen. Erst Hilfskraft, dann Doktorat, Stipendium, Lehrauftrag und verschiedene andere Scheiße. Die Professoren sind dabei nicht unschuldig, wohlgemerkt. Anstatt eine Grenze festzulegen, die einigermaßen anständige Leistungen garantiert, haben sie immer weiter eine fixe Anzahl von Leuten eingestellt und zu großen Respekt vor dem gehabt, was sie in Zukunft leisten könnten. So haben sie, zusammen mit den guten Leuten, die es verdient haben, eine Doktorarbeit zu schreiben und als Wissenschaftler zu arbeiten, auch die Toten und Verletzten mitgeschleppt. Die aber, nachdem sie erst mit fünfundzwanzig angefangen haben, nach dem Examen achtundzwanzig sind und nach dem Doktorat dreißig oder zweiunddreißig. Und in dem Alter nimmt sie entweder die pharmazeutische Industrie als Versuchskaninchen, oder man hat sie ewig am Hals, weil einen zweiunddreißigjährigen Studienabgänger, vielleicht noch mit Doktortitel, will die Industrie heutzutage nicht mal geschenkt haben. Ich weiß Bescheid. Ich bin einer von denen.«

»In welchem Sinn?«, fragte Snijders, der in der Zwischenzeit seine Focaccia aufgegessen hatte. In knapp dreißig Sekunden, ungefähr. Schauderhaft.

Massimo schnaubte kurz und lächelte. Wenn du wüsstest.

»Das ist eine längere Geschichte.«

»Es dauert, so lange es dauert«, antwortete Snijders. »Ich muss noch verdauen.«

Das glaube ich wohl. Na gut, wenn das so ist ...

Massimo erzählte nur eher ungern davon, wie er vom Computerbildschirm hinter den Bartresen geraten war. In erster Linie, weil er nicht glaubte, dass sein Leben andere Leute besonders interessieren würde. In zweiter Linie, weil er nicht sicher war, ob er in der Geschichte eine so vorteilhafte Figur machte.

»Ich habe nach vier Jahren mein Examen in Mathematik gemacht. Ganz genau. Im November des vierten Jahres. Und im Januar des folgenden Jahres habe ich das Doktorat angefangen. Mein Thema, na ja, ich weiß nicht, wie sehr Sie das interessiert. Jedenfalls ging es um die Stringtheorie.«

Snijders zog die Augenbrauen hoch. »Davon verstehe ich überhaupt nichts.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, da sind Sie in guter Gesellschaft. Das meine ich ernst. Das Thema, mit dem ich mich beschäftigen sollte, war extrem kompliziert, zu Beginn des Doktorates hatte ich zunehmend das Gefühl, in einem Albtraum zu versinken. Je mehr ich mich damit befasste, desto weniger verstand ich. Manchmal hatte ich das Gefühl, etwas begriffen zu haben, dann fand ich unmittelbar danach einen Artikel, der diese Überzeugung wieder zerstörte. Das Schlimmste an der ganzen Geschichte war, dass ich den Eindruck hatte, auch mein Doktorvater, der seinerseits übrigens Phyisker war, erfasse nicht wirklich viel von dem, was ich da machte. Damit wir uns richtig verstehen, das wäre auch vollkommen verständlich gewesen. Er war schon etwas älter und das Spezialthema war ziemlich neu und wirklich verzwickt. Aber nach einer gewissen Zeit begannen mich Zweifel zu drücken. Also bin ich eines Tages mit einem Packen Aufsätze und einer Seite voller Fragen zu ihm gegangen. Um es kurz zu machen, mir ist klar geworden, dass nicht mal er einen Funken davon verstand. Schlimmer noch, die Zweifel, die mir gekommen waren, hatten ihn nicht einmal ansatzweise gestreift. Ich war der Person, die mich eigentlich anleiten sollte, weit voraus, und gleichzeitig tappte ich völlig im Dunkeln. Als ich dann aus seinem Büro kam, habe ich mich im Spiegel betrachtet. Wissen Sie, was die wichtigste Eigenschaft eines Mathematiker ist?«

»Weiß nicht. Intelligenz vielleicht?«

»Nein. Die ist wichtig, aber nicht allein. Nein, die grundlegende Eigenschaft, die man als Mathematiker haben muss, ist Demut. Demut, um zu erkennen, wann du überhaupt nichts verstanden hast, und um nicht in Versuchung zu geraten, dich selbst zu betrügen. Wenn du etwas nicht verstanden hast oder dir nicht ganz sicher bist, dann kannst du nicht einfach so weitermachen. Das wird dir nur schlecht bekommen. Du musst absolut ehrlich zu dir selbst sein. Gut, was also die Mathematik anging, habe ich immer versucht, ehrlich zu mir zu sein. Und so kam ich zu dem unausweichlichen Schluss: Ich war nicht gut genug. Ich war nicht geeignet für diese Arbeit. Sie überstieg meine Fähigkeiten. Wenn ich weitergemacht hätte, hätte ich Zeit verloren und mir selbst etwas vorgemacht.«

Snijders blickte ihn an und zeigte mit dem Finger auf die Bar. »Und daher ...«

»Ganz genau. Sehen Sie, ich bin ein kleinlicher Mensch. Alles muss so gemacht werden, wie ich es sage, also gut, sonst ärgert es mich. Wenn ich etwas gut mache, bin ich mit mir selbst zufrieden, ganz egal, was es ist. Damals bin ich in den Besitz einer hübschen Summe Geld gekommen. Keine Reichtümer, aber genug, um eine Bar aufzumachen. Also habe ich mir überlegt, dass ich das Leben der Karriere vorziehen wollte, und mich entschlossen, lieber ein sehr guter Barista zu werden als ein frustrierter Mathematiker.«

»Und bereuen Sie das denn nicht? Kommt es Ihnen nicht ein bisschen wie Verschwendung vor, ein Mann wie Sie in einer Bar?«

»Kommt darauf an. Manchmal, wenn ich über die Zeit nachdenke, die ich hinter den Büchern gesessen habe, dann könnte ich mir schon mal an den Kopf fassen. Aber dass ich die Person bin, die ich jetzt bin, verdanke ich all dem, was ich studiert habe. Wenn Verdanken das richtige Wort dafür ist. Aber Verschwendung, nein. Absolut nicht. Ich bin nützlicher für die Welt, wenn ich die Arbeit tue, die mir gefällt, als jene schamlosen Typen, die etwa als Manager arbeiten und nichts können, als irgendwelche Löcher in Bilanzen zu schaufeln, so tief wie der Mariannengraben, und sich dann noch eine Abfindung in Millionenhöhe zusichern, wenn sie ihren Abschied einreichen müssen. Im Übrigen ist es gar nicht so schlecht, in einer Bar zu arbeiten.«

Snijders blickte ihn an. Er schien nicht allzu überzeugt zu sein.

»Wirklich? Ist das nicht ein bisschen langweilig?«

»Doch«, sagte Massimo, während er sich zur Speisekammer umdrehte. »Manchmal schon. Aber das macht mir nichts aus. Manchmal kann eine langweilige Arbeit sogar das Beste aus einem Menschen herausholen.«

Snijders lächelte. »Jetzt nehmen Sie mich auf den Arm.«

Nicht ganz, dachte Massimo. Eine langweilige Arbeit kann das Beste aus einem Menschen herausholen. Du musst nicht über das nachdenken, was du gerade tust, gehst auf Autopilot, und derweil arbeitet dein Gehirn. Als er die Relativitätstheorie entwickelt hat, hat Einstein auf dem Patentamt gearbeitet. Bulgakov war Landarzt, und Pessoa arbeitete im Katasteramt, meine ich. Borges war Bibliothekar, und Kavafis Angestellter beim Amt für Wasserwirtschaft.

Gib einem phantasiebegabten Menschen eine eintönige, immer gleiche Arbeit, die ihn in Kontakt mit anderen Menschen bringt, und du riskierst ernstlich, einen Nobelpreis zu produzieren. Oft gelingt es einem Menschen, der in Ruhe gelassen wird und nicht ständig von der Angst erschüttert wird, etwas hervorbringen zu müssen, seine Gedanken spontan fließen zu lassen, sodass sie sich nach und nach auf dem Grund absetzen und dort kristallisieren, manchmal in Formen von seltener Schönheit. Klar, ich verbringe meine freien Nachmittage auf dem Sofa und spiele Playstation, aber das ist was anderes. Ich bin schließlich kein Dichter.

Zum Glück trat in diesem Augenblick, als Massimos Gedanken eine deprimierende Richtung einzuschlagen begannen, Del Tacca gefolgt von Ampelio ein.

»Guten Abend«, sagte Pilade, während Ampelio sich an einen Tisch setzte. »Was ist das Thema?«

»Dass Massimo ein perfekter Barmann ist«, sagte Snijders und zeigte mit einer gewissen Begeisterung auf ihn.

»Wer, der?«, verzog Ampelio das Gesicht. »Um Himmels willen. Und Sie glauben ihm das?«

»Perfekt nicht«, gestand Massimo ein. »Aber sehr viel besser als der Durchschnitt, das ja. Hey, ich verwende nur frische Zutaten. Ich habe sechs verschiedene Kaffeesorten. Ich habe beinahe vierzig verschiedene Biere. Ich bin die einzige Bar im Umkreis von zwanzig Kilometern, die die Granita mit frisch gepresstem Fruchtsaft macht, gepresst mit meinen eigenen Händen, und nicht mit synthetischem Sirup. Jetzt hab ich noch eine orangefarbene Wand, also bin ich auch ästhetisch gesehen auf der sicheren Seite. Ich hätte sogar drahtloses Internet, wenn nicht ein Schwarm alter Nervensägen ihr Nest ausgerechnet an dem einzigen Tisch gebaut hätte, an dem es funktioniert. Und im Übrigen bleibt die Tatsache, dass ich als Barista arbeite, dass dies meine Bar ist und dass aus meiner Bar von heute an Gespräche über Verbrechen, Todesfälle und vorsätzlich herbeigeführte Dramen verbannt sind. Wollt ihr was bestellen?«