59

»Er beobachtet uns in diesem Moment«, sagt Daniel.

»Was?«, fragt Ben, beugt sich auf dem Sitz vor, sieht sich um.

Sie sitzen im Führerhaus des Hi-Rails und fahren auf dem Gleis in Richtung Bayshore.

»Der Mörder?«, fragt der Fahrer. »Ich dachte, der ist tot.«

Am Steuer sitzt ein dünner, junger Schwarzer Anfang zwanzig.

»Und jetzt?«, fragt er und tritt in beginnender Panik auf die Bremse.

»Nicht anhalten«, sagt Daniel. »Fahren Sie einfach weiter.«

Daraufhin beschleunigt er.

»Fahren Sie ganz normal – eher ein bisschen langsamer.«

»Glaubst du das im Ernst?«, fragt Ben.

»Erinnerst du dich noch, was er in der Nacht gemacht hat, als er im Eisenbahndepot sein erstes Opfer verbrannte?«, fragt Daniel. »Er ist in den Hochstand geklettert und hat zugesehen.«

»Ja? Aber warum?«

»Um sich wie Gott zu fühlen – zu dem der Rauch des Brandopfers aufsteigt. Und jetzt macht er genau dasselbe.«

»Wo ist er?«

»Auf dem Feuerwachturm«, sagt er. »So muss es sein. Ruf Sam an, und erzähl es ihr«, sagt er. »Erzähl ihr alles. Sie muss wissen, dass er zusieht. Sag ihr, sie soll ein paar Männer schicken, die sich aber im Hintergrund halten.«

»Was hast du vor?«

»Ich gehe rauf«, sagt er. »Sehe nach, ob er noch da ist. Mein Anruf hat ihn vielleicht vertrieben.«

Er beugt sich über Ben und bittet den Fahrer um ein Feuerzeug.

»Ich hab nur eine Schachtel Streichhölzer«, sagt er.

»Auch gut. Wenn Sie dahinten in der Kurve sind, wo das Gleis auf das andere trifft, fahren Sie so langsam, dass ich abspringen kann, aber halten Sie bloß nicht an.«

Dann schaltet er das Deckenlicht in die »Aus«-Position, damit es nicht aufleuchtet, wenn man die Tür öffnet.

»Was ist in dich gefahren?«, fragt Ben.

»Es ist eher etwas hinausgefahren«, sagt Daniel, öffnet die Tür ein Stück und springt ab.

Als Daniel möglichst geräuschlos die rostige Metalltreppe des Feuerwachturms hinaufklettert, die ganz nach oben zur Kabine führt, sucht er nach Hinweisen darauf, dass Brian den Turm auf denselben Stufen früher am Abend bestiegen hat.

Im schwachen Mondlicht sieht er hier und da, was er erwartet hat: mit Sand und Erde vermischte Rückstände, die bestätigen, dass an Brians Schuhen derselbe Brandbeschleuniger klebt wie an seinen.

Bis nach oben sind es siebzig Meter, der Weg dorthin wird ein paar Minuten in Anspruch nehmen – Zeit, um zu überlegen, was er da tut.

Dass sein Herz so rast, liegt teils am Adrenalin und teils an seiner Angst, sein Körper zittert mit jedem Schritt mehr, und er spürt die bedrohliche Nähe der Panik.

Ich bleibe nicht stehen. Egal, was passiert. Ich werde auf keinen Fall länger in Angst leben und mich vom Terror beherrschen lassen.

Er begreift, dass er unbedingt tun muss, was vor ihm liegt, dass es der nächste Schritt zu seiner Genesung, seinem Wiedererwachen ist – vor höllisch vielen weiteren.

Lieber bei dieser Sache sterben, als ein Leben lang Angst haben.

Als er weiter hinaufsteigt, erblickt er die grauenhafte Szenerie in der Aufbereitungsanlage in ihrem ganzen Ausmaß. Für den Mörder ist der Turm der perfekte Platz, um die Opferungen zu beobachten, sein verheerendes Meisterwerk zu überblicken. Als er fast oben ist, sieht er, dass das Feuer noch immer brennt und der Rauch der Brandopfer aufsteigt in die Nacht, über die Baumwipfel, vor unheimlichem Mondlicht zum Himmel.

Ein Stockwerk unterhalb der Kabine bleibt Daniel stehen und zieht die kleine Streichholzschachtel aus der Tasche.

Die Zugangsluke im Boden des Ausgucks ist offen, aber es ist dunkel darin, nichts rührt sich, kein Laut.

Als er von der kleinen Plattform auf die erste Stufe der letzten Treppe steigt, stürzt Brian aus der dunklen Ecke hinter ihm hervor und jagt ihm eine Nadel in die Halsbeuge.

Daniel wirft sich nach hinten, reißt Brian um und streift dabei den Stahlträger in der Ecke, sodass sich die kleine Spritze löst und vom Turm nach unten zu Boden fällt.

Auf der Suche nach der heruntergefallenen Streichholzschachtel macht Daniel zwei Schritte auf die letzte Treppe zu, wo er zusammenbricht.

Durch die Teildosis Succinylcholin ist Daniel wehrlos, aber nicht vollständig gelähmt, und während Brian ihn die Treppe hinauf in den Ausguck schleppt, gelingt es ihm, die winzige Streichholzschachtel mit den unbeholfenen Spitzen seiner kaum funktionsfähigen Finger zu greifen.

Daniel liegt neben der offenen Luke auf dem Boden der kleinen Kabine und kann außer den Enden seiner Gliedmaßen nichts bewegen.

»Fast wie eine Panikattacke, stimmt’s?«, sagt Brian. »Ich frage mich, wie viel du abbekommen hast. Nicht zu fassen, dass du meine letzte Spritze kaputt gemacht hast. Schon allein deswegen sollte ich dich töten, aber ich finde es poetischer, wenn du stirbst, wie du gelebt hast, gelähmt, voller Angst, nicht wahr?«

Daniel versucht zu nicken, doch sein Kopf zuckt nur ein wenig.

Nicht weit weg liegt ein verkohlter Klumpen Fleisch auf dem Boden der Kabine, schwarz und blutig. Der Anteil des Priesters.

Brian wendet den Blick von Daniel ab und betrachtet durch das Fenster die noch immer brennende Anlage unter ihnen.

»Hast du jemals so etwas Großartiges gesehen?«, fragt er. »Ich meine, das Ganze. Es ist perfekt.«

Daniel will etwas sagen, aber es geht nicht, er stößt nur unverständliche Grunzlaute aus.

»Was?«

Er will dem Monster sagen, dass es ihm nicht gelungen ist, Ben zu töten, doch seine Zunge ist wie Blei.

»Ben.«

»Was?«, fragt Brian, und ein Lächeln zuckt um seine Lippen. »Was hast du gesagt?«

»Ben.«

»Ich behebe das«, sagt er. »Keine Sorge.«

Daniel will noch etwas sagen, doch er kann einfach nicht.

»Wie fühlt sich das an?«, fragt Brian. »Du hast dich so lange davor gefürchtet, und nun ist es da. Wie ist das?«

»Was?«, bringt Daniel mühsam heraus.

»Zu wissen, dass du jetzt stirbst.«

Daniel will ihm sagen, dass alles in Ordnung ist, damit Brian weiß, dass er keine Macht über ihn hat, doch es reicht nur für ein Wort.

»Frieden.«

Brian wendet sich vom Fenster ab.

»Wirklich? Es macht dir nichts aus zu sterben? Wie ist das, wenn du weißt, dass ich Sam und Ben verbrennen werde? Wie ist das, wenn du weißt, dass ich Sam vorher ficken werde, dass ich ihr wehtun werde? Ist das auch Frieden für dich?«

Daniel schweigt.

»Du verdienst keinen Frieden. Du verdienst es, zu brennen.«

»Warum? Warum ich? Warum die anderen?«

»Wandten sich gegen die eigenen Leute – oder wurden geboren, weil ihre Eltern oder Großeltern das taten. Ergeben sich einfach dem, was ignorant ist, hasserfüllt, rückwärtsgewandt. Sie hassen sich selbst und ihresgleichen und verraten deshalb äußerst verletzliche Menschen, die sie schützen sollten. Es liegt an dem kranken, fehlgeleiteten Sündenpfuhl, der hier als Kultur durchgeht. Aber das sehen die Menschen nicht. Tja, ich zwinge sie dazu. Ich halte sie vor das Kupferbecken, damit sie ihre Gräueltaten sehen. Die Menschen verraten sich selbst und ihre eigenen Leute. Meine Leute haben für die gottverdammten Nazis gearbeitet. Das ist unvorstellbar. Undenkbar. Das ertrage ich nicht – ein Verrat, der so tief geht. Das Feuer kommt herab. Und richtet alle.«

»Wie habe ich –«

»Du bist der Schlimmste von allen.«

»Ich?«

»Ja, zum Teufel, du. Du weißt es besser. Du bist besser. Und was machst du? Du versteckst dich vor der Welt. Stehst du für irgendwas? Tust du was, um zu helfen, zu lehren, etwas zu ändern? Du hast so viele Bücher gelesen und häufst Wissen und Informationen in dir an, und dann machst du nichts damit. Ich habe dir eine Chance gegeben, etwas damit zu machen, aber es ist zu wenig, zu spät. Du wirst brennen wie alle anderen auch.«

»Aber ich –«

»Weißt du, wie die Nazis sechs Millionen von uns so effizient umbringen konnten? Durch IBM. Die haben die Lochkartengeräte zur Verfügung gestellt, durch die man die Morde an sechs Millionen Menschen mit Präzision verwalten konnte. Die haben ihre Geräte nicht verkauft, die haben sie vermietet. Die haben sie gewartet. Die wussten, wofür die Geräte benutzt wurden, und haben trotzdem Profit damit gemacht. Die werden behaupten, dass sie für sechs Millionen Tote nicht verantwortlich sind, aber sind sie das nicht doch? Und was ist mit dir? Wie viele gute Menschen sind deinetwegen tot oder leben in der Hölle? Wie Burke schon sagte – für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun. Du hast nichts getan. Die Welt um dich herum gerät ins Wanken, aber du machst dir nicht mal die Mühe, einen Finger zu rühren, deinen winzig kleinen Teil im Kampf gegen die ganze Scheiße zu tun. Und weißt du was? Wenn du nichts tust, gehörst du nicht mehr zu den Guten. Und du wirst brennen.«

Brian wendet sich wieder ab und betrachtet weiter die Szenerie unter ihnen, während Daniel mühsam versucht, die Streichholzschachtel mit den Fingern der Hand zu öffnen, in der er sie hält. Das wäre schon mit einer funktionsfähigen Hand nicht einfach, doch in seinem augenblicklichen Zustand ist es unmöglich, und die Schachtel fällt hin.

Er tastet nach ihr, findet sie schließlich und merkt, dass sie sich leichter öffnen lässt, wenn sie auf dem Boden liegt.

Wenn er die Schachtel oben mit dem Daumen festhält und mit dem Zeigefinger gegen das Ende drückt, geht sie auf.

Es dauert eine Weile, aber schließlich zieht er ein einzelnes Streichholz heraus.

Er hält es mit Daumen und Zeigefinger fest und drückt mit den anderen drei Fingern auf die Schachtel.

Brian blickt auf ihn herab und lacht los.

»An dir klebt viel mehr Brandbeschleuniger als an mir«, sagt er.

Es gelingt Daniel, mit der Spitze des Streichholzes über die Schachtel zu streichen, die Reibung schlägt einen Funken – ein winziges Flämmchen, eine kleine Chance.

Als Brian begreift, was da gerade geschieht, stürzt er sich auf Daniel.

Daniel wartet, bis das Monster fast bei ihm ist und macht dann eine Bewegung aus dem Handgelenk, die gerade ausreicht, um das Streichholz nach Brian zu werfen.

Sobald es mit seiner brennstoffgetränkten Kleidung in Berührung kommt, laufen Flammen über Brians Körper, breiten sich aus, lodern, verzehren, verschlingen.

Die alte Kabine brennt wie Zunder, und bald steht der ganze Ausguck in Flammen. Das Feuer erreicht Daniel, verschlingt sein Hemd, leckt an seinem Fleisch. Die Haut an seiner Brust beginnt zu schmelzen. Der Schmerz ist unerträglich.

Er schreit.

Und schreit.

Mit aller verfügbaren Kraft beginnt er, sich vor und zurück zu wiegen, worauf ein Bruchteil der Muskelkontrolle wiederkehrt. Sobald er genügend Schwung gesammelt hat, rollt er sich in die Öffnung, fällt die Treppe hinunter und schlägt hart auf dem kleinen Absatz auf.

Gleich darauf ist Sam zur Stelle, dreht ihn um, trampelt die Flammen aus. Schreit nach Sanitätern.

Schwach weist Daniel mit dem Kinn auf die Klappe.

»Sperr ihn ein.«

Sam springt auf, klettert die Treppe hinauf, zieht die Klappe herunter, verriegelt sie und schließt das Monster in seinem flammenden Schicksal ein.

Als sie wieder bei Daniel ist, beruhigt sie ihn und schreit weiter nach Hilfe.

Noch bevor die Sanitäter kommen hören sie das Bersten von Glas und Schreie, und als sie sich umdrehen, sehen sie, dass Brian Katz im Bogen wie eine Leuchtrakete siebzig Meter in den Tod stürzt, und dass sein Körper noch immer brennt, als er auf die Erde aufschlägt.