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»Ihr müsst hier nicht bleiben«, sagt Sam. »Es wird eine Weile dauern.«

Nach und nach treffen Polizisten und Kriminaltechniker ein, die darauf warten, dass das Feuer herunterbrennt, damit sie den Tatort begehen, Fotos machen, Vermessungen anstellen, die Katastrophe katalogisieren können – eine Chronik des nachgebildeten Holocaust.

Sam, Daniel und Ben wurden wegen leichter Verbrennungen behandelt. Die Leichen von Joel und Travis hat man aus dem Gebäude geborgen, zusammen mit drei weiteren, bislang nicht identifizierten Leichen, die das Feuer nur zum Teil verzehrt hat.

»Sam«, schreit jemand.

Alle drehen sich um und sehen Stan Winston, der im Anzug aus dem Hi-Rail-Pick-up steigt und auf sie zukommt.

»Alles okay?«, fragt er, als er sie packt und umarmt.

Sie erwidert seine Umarmung nicht, tätschelt ihn nur ein bisschen.

»Gut, Sir«, sagt sie. »Danke.«

»Klasse Arbeit«, sagt er. »Mordsjob. Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist. Keine Kleinigkeit, was du da gemacht hast. Jetzt wirst du wahrscheinlich Special Agent.«

»Ohne Daniel hätte ich das nicht geschafft«, sagt sie. »Im Grunde hat er alles herausgefunden und Ben das Leben gerettet.«

»Wir haben wohl alle dazu beigetragen«, sagt Todd Whitman, der jetzt seinen Kopf hinter Stan hervorreckt.

Doch Stan reagiert nicht auf ihn, sondern dreht sich zu Daniel um und hält ihm die Hand hin.

»Wir alle wissen Ihre Unterstützung sehr zu schätzen. Sehr gut, dass Sie wieder dabei sind.«

»Danke.«

»Ich bringe die beiden zum Pick-up«, sagt Sam. »Bin gleich wieder da.«

Als sie unter dem Turm hindurchgehen, wirkt die Zufahrt im Licht der an riesigen Schienen befestigten Halogenlampen wie ein gespenstisches Abbild von Auschwitz.

»Dankst du ihm dafür, dass er dir das Leben gerettet hat?«, fragt Sam.

Ben nickt.

Als sie den Hi-Rail-Pick-up erreichen, steigt Ben ein, während Daniel noch einen Moment bei Sam stehenbleibt.

»Ich rufe dich später an«, sagt Sam.

»Okay.«

»Oder ich komme vorbei, wenn ich hier fertig bin.«

»Noch besser.«

Sie küssen sich, dann geht sie zu den anderen zurück.

Bevor Daniel in das Gefährt steigt, hält er kurz inne, dreht sich um und wirft einen letzten Blick auf Scheol, das Totenreich.

Irgendetwas stört ihn.

»Das Foto war nicht alt«, sagt er.

»Was?«, fragt Ben und lehnt sich aus dem Truck.

»Gibt es hier draußen Handyempfang?«

»Wie wär’s, wenn du auf deinem Handy nachsiehst«, sagt Ben. »Warum? Was ist denn?«

Daniel schaut auf sein Display.

»Tatsächlich. Ich habe Empfang«

»Das Bild, das Brian mir vorhin aufs Handy geschickt hat.«

»Das was?«

»Es war nicht alt«, sagt er. »Es war aus jüngerer Zeit. Ich dachte, er hat es aus einem Buch, aber er war hier. Er ist es. Er ist der Mörder. Er hat es Joel angehängt. Und ihn wie all die anderen getötet. Diese ganze Scheiße, dass Joel ein Selbsthassjude ist … Er war es, der die Anrufe wegen der Vermissten abgeblockt hat. Er war uns immer einen Schritt voraus. Ich wusste, dass mit diesem Schrankkoffer in der ansonsten makellosen Wohnung etwas nicht stimmt. Ich wette, die Handschrift in den Tagebüchern ist seine, nicht die von Joel. Er hatte einen Schlüssel zu Joels Wohnung. Er hat dich von hinten niedergeschlagen, damit du ihn nicht siehst, weil er es Joel anhängen wollte. Deswegen hat sich Joel auch nicht bewegt, sondern stand einfach in seinen Priestergewändern da und verbrannte. Brian hat ihm wie allen anderen dieses Zeug injiziert, das die Muskeln lähmt.«

»Oh mein Gott«, sagt Ben. »Bist du sicher?«

»Ich hätte es früher erkennen müssen, das mit der gefakten Entführung war von ihm raffiniert eingefädelt – im Grund hätte ich es da schon kapieren müssen. Das Video, das dich zeigt, war aus der freien Hand aufgenommen, die Kamera schwenkte, sodass man alles sehen konnte. Das von ihm im Garden of Eden aufgenommene war mit Stativ gemacht, von einem professionellen Kameramann eingerichtet. Und nachdem wir dich gefunden hatten, hat mich der Mörder direkt angerufen, aber als wir ihn in der Toilette entdeckt hatten, musste er eine Weile warten, weil er nämlich mit uns im Auto saß.« Daniel schüttelt den Kopf. »Er ist mit uns nach Hause gefahren. Er wusste alles. Nicht zu fassen, dass ich ihm so viel über mich erzählt habe – über alles, was ich durchgemacht habe. War garantiert amüsant für ihn.«

»Das tut mir leid«, sagt Ben. »Wenn ich das alles gewusst hätte, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, ihn dir als Therapeuten zu empfehlen.«

Daniel nimmt sein Handy und ruft die Nummer an, von der aus Brian das Bild geschickt hat.

»Hallo.«

»Brian«, hier ist Daniel. »Habe ich dich geweckt?«

»Schon okay«, sagt er. »Ich habe darauf gewartet, dass ich was von Ben höre, und muss eingedöst sein.«

»Wo bist du?«

»Wie geht es Ben?«, fragt Brian. »Habt ihr ihn gefunden?«

»Haben wir«, sagt Daniel. »Er will dich sehen. Wo bist du?«

»Ich bin noch im Büro«, sagt er.

»Dann rufe ich dich jetzt mal unter der Büronummer an«, sagt Daniel.

Brian sagt nichts dazu.

»Könnte es sein, dass ich dich aus einem bestimmten Grund nicht unter der Büronummer erreichen kann?«

»Du weißt es, stimmt’s?«

»Was weiß ich?«

»Du willst mich aufs Glatteis führen«, sagt Brian, und seine Stimme kling anders, kalt, nervös.

»Wo bist du wirklich?«, fragt Daniel.

»Weit, weit weg«, sagt er.

»So weit kann das nicht sein.«

»Du würdest dich wundern. Ich habe von langer Hand geplant. Das ganze Projekt ist ausgereift bis zur Per­fek­tion. Findest du nicht?«

»Bis auf Ben.«

»Das gehörte zum Plan«, sagt er. »Wer sonst könnte den Film machen?«

Dazu fällt Daniel nichts ein.

»Tut mir leid, das mit all dem Feuer«, sagt Brian. »Ich weiß, das muss unangenehme Erinnerungen bei dir her­auf­be­schwo­ren haben. Vielleicht können wir irgendwann darüber reden.«

Daniel schweigt noch immer.

»Ich fand, du hast deine Rolle ganz gut gespielt«, sagt ­Brian. »Ein bisschen langsam, aber … Und ich weiß, jetzt müssen diese jämmerlichen Tests gemacht werden, aber wenn ich etwas hinterlassen habe, dann mit Absicht.«

»Ich werde dich finden«, sagt Daniel.

Brian lacht, und dann ist die Leitung tot.