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»Preacher ist ein mitfühlender Mensch«, sagt Frances Rainy.

Sam nickt.

»Seine Philosophie ist es, den Menschen möglichst zu helfen, statt sie zu bestrafen«, erklärt sie dann. »Hier gibt es viel zu viele Leute, die problematische Menschen einfach auf Nimmerwiedersehen wegschließen wollen. So ist er nicht. Und Sie sind auch nicht so. Das weiß ich.«

»Wahrscheinlich ein bisschen mehr als Preacher.«

»Aber Sie haben es sicher auch mit einer anderen Sorte Verbrecher zu tun.«

»Das stimmt.«

»Kennen Sie das Samaritergesetz, das Ersthelfer vor Klagen schützt?«, fragt Frances. So was sollte es für Polizisten auch geben. Man versucht, jemandem zu helfen, aber wenn es nicht funktioniert, wird man dafür nicht verantwortlich gemacht.«

»Wem hat Preacher denn zu helfen versucht?«, fragt Sam.

»Einem Jungen namens River Scott. Wir beide wollten ihm helfen. Im Grunde habe ich ihn wohl dazu überredet.«

»Wer ist River Scott?«

»Tun Sie Ihr Bestes, damit dieser gute, liebe Mensch dadurch keinen Schaden nimmt, oder sein Ruf?«

»Ich tue, was ich kann. Das verspreche ich Ihnen.«

»River ist ein schwieriger junger Mann, der zu Hause missbraucht wurde, und man hat ihn mehr als einmal dabei erwischt, wie er Feuer legte.«

»Oh mein Gott«, sagt Sam. »Wo ist er jetzt?«

»Das wissen wir nicht.«

Kein Wunder, dass Preacher die Ermittlung so schnell abgegeben hat. Normalerweise ziehen die örtlichen Strafverfolgungsbehörden das FDLE nur hinzu, wenn es unbedingt sein muss, wenn sie in einem Fall nicht mehr weiterkommen, aber Preacher hat es sofort gemacht. Er hat diesen Jungen von Anfang an verdächtigt.

»Erzählen Sie mir über ihn, was Sie können.«

Frances berichtet.

»Und zum ersten Mal hat er einen Termin an dem Tag verpasst, als wir die erste Leiche gefunden haben?«

»Er hatte schon vorher Termine verpasst«, sagt sie. »Der Unterschied ist nur, dass er sonst immer wiedergekommen ist.«

»Und er ist ein Läufer-As?«

»Ist er, ja.«

»Erzählen Sie mir von dem Missbrauch.«

»Ich kann nicht«, sagt sie. »Das unterliegt –«

»Darüber sind wir längst hinaus«, sagt Sam. »Sie bitten um meine Unterstützung. Und ich brauche jetzt Ihre. Sie haben das Gesetz schon gebrochen und praktisch alle ethischen Normen verletzt. Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um –«

»Schon gut«, sagt sie. »Wir waren gerade erst dabei, eine Reihe von Einzelheiten anzusprechen, aber es gab den charakteristischen verbalen und physischen Missbrauch.«

»Was ist mit sexuellem?«

»Ich glaube nicht, dass es dazu gekommen ist«, sagt sie. »Nicht im üblichen Sinn. Wenn überhaupt, dann eher das Gegenteil. Seine Eltern folgten einer seltsamen, strengen Religion.«

Das könnte es sein. Er könnte es tatsächlich sein.

»Er hat eine Menge Probleme, die mit Sex zu tun haben«, sagt sie. »Viel Schuld und Scham. Wenn seine Eltern ihn beim Masturbieren erwischt haben, wurde er immer streng bestraft.«

»Wie?«

»Mit Feuer«, sagt sie. »Sie haben ihm Brandwunden zugefügt.«

»Da draußen in diesem Wald geht jede Menge Scheiße vor sich«, sagt Nathan Crace, Dr. Haddons Doktorand. »Ich komme von hier, hatte aber keine Ahnung.«

»Sie sind aus Bayshore?«, fragt Daniel.

»Nein, ich meinte Nordflorida«, sagt er. »Bin in Wewahitchka aufgewachsen.«

Er hat lange, glatte, schmutzig blonde Haare, die ihm ins Gesicht fallen, worauf er den Kopf zurückwerfen oder sie mit den Händen wegstreichen muss – und beides tut er oft.

»Nur draußen im Wald?«, fragt Daniel.

Sie sitzen am Fenster der kleinen Bäckerei einen Block hinter der Main Street, trinken Kaffee und essen glasierte Donuts.

»Eigentlich hab ich von der ganzen Gegend gesprochen, Mann«, sagt er. »Sie wissen schon, finsterste Provinz.«

Er ist groß und so dünn, dass er regelrecht ausgezehrt wirkt, und sein langes, blasses Gesicht ist mit winzigen roten Unebenheiten gesprenkelt. Er ist jung und sieht noch jünger aus, was den Widerspruch zwischen der tiefen Stimme und seiner Statur umso größer macht.

»Verstehe«, sagt Daniel. »Hat Dr. Haddon Ihnen erzählt, wonach ich suche?«

»Ja«, sagt er und leckt sich Glasur von den Fingerspitzen.

»Kommen Religionsgemeinschaften aus der Gegend infrage?«

»Zwei. Eine sitzt hier in der Stadt und versucht, sich anzupassen, durchschnittlich zu wirken. Die andere ist wesentlich randständiger und radikaler, hat ein Gelände in der Nähe der Louisiana Lodge. Wissen Sie, wo das ist?«

»Ja«, sagt Daniel lächelnd. »Ich habe davon gehört.«

»Ich komme ganz gut voran mit den Witnesses of Yahweh, dieser Gemeinschaft in der Stadt – aber mit der Jehovah Nation geht es nicht weiter. Ich weiß, dass es anderswo bei der Nation ein paar Leute gibt, die wirklich religiös sind, aber ihre Inkarnation hier in der Gegend ist eher so was wie eine Motorradgang oder eine gesetzlose Miliz.«

»Erzählen Sie mir von den Witnesses of Yahweh.«

»Der Rassismus dort ist ziemlich subtil, aber es gibt ihn«, sagt er. »Die glauben an die Überlegenheit der Weißen, ohne allerdings militant zu sein. Sie halten sich für die wahren Hebräer, einen verlorenen Stamm Israels. Das meiste von ihrer Doktrin und Lehre stammt aus der Hebräischen Bibel, nicht aus dem Neuen Testament. Frauen dürfen keine Führungsaufgaben übernehmen oder irgendwelche Autorität besitzen. Und bald wird sich Gottes feuriger Zorn über all die Gottlosen ergießen – zum Beispiel über Mischlinge, Homosexuelle und andere Perverse, und generell über alle außer ihnen.«

»Wo findet man die?«

»In einem Ladengeschäft ein paar Blocks von hier«, sagt er. »Die Gemeinde ist sehr klein.«

»Und wer ist ihr Anführer?«, fragt Daniel. »Meinen Sie, er würde mit mir reden?«

»Nennt sich selbst Hohepriester Aaron Ben Aaron, obwohl ich bezweifle, dass seine Mutter ihm diesen Namen gegeben hat. Und er redet ausgesprochen gern.«