Im Felsenbruch

Hingerissen von der begeisternden Gewalt der herrlichen Dichtung hatte Wanda vorgelesen. Jetzt schlug sie das Buch zu und blickte hinüber zur Mutter, um zu erforschen, welchen Eindruck die Vorlesung auf dieselbe gemacht habe.

Auf den kalten, starren, empfindungslosen Zügen der Frau von Chlowicki lag eine leise, kaum bemerkbare Röte als einziges Zeichen ihres Ergriffenseins; doch war bei der streng abweisenden Unempfindlichkeit der alten Dame diese Röte ein größeres Zugeständnis für den Dichter, als es der Applaus eines der Bewunderung des wahrhaft Edlen und Schönen zugänglicheren Publikums hätte sein können.

„Ich habe nie einem Menschenkind gestattet“, sprach sie mit heiserer, vom Husten oft unterbrochener Stimme, „sich irgendwelchen Einflusses auf die Gefühle meines Herzens zu rühmen. Wer die hohe Aufgabe zu lösen hat, für die von so vielen Seiten angefochtenen Traditionen eines bevorzugten Standes einzustehen, der muß auch die kleinste Anlage zu idealistischer Schwärmerei ersticken und vernichten; denn die nackte Realität des Lebens tritt an die Angehörigen dieses Standes mit Anforderungen heran, denen nur ein in Drachenblut getauchter und so gegen alle Anfeindung gefeiter Charakter gerecht werden kann. So bin ich aller schwärmerischen Empfindelei fremd geblieben und kann nur aus diesem Grund mich rühmen, stets und in allen Lagen Herr meiner selbst und auch meiner Verhältnisse gewesen zu sein. Dieser unbekannte Autor, dessen gewandte und aristokratisch feine Schreibweise ihn hoch über den Schwarm unserer heutigen Dichterlinge stellt, ist der erste, dem ich meine Aufmerksamkeit und geistige Hingebung widme, und ich kann das in der beruhigenden Überzeugung tun, daß er sich in einer seiner nächsten Nummern als der Träger eines den höheren Sphären angehörigen Namens demaskieren wird.“

„Aristokratisch sein und gewandt, Mama? Dieser eine Vorzug scheint mir, da er sich doch nur auf die Form bezieht, bei seinen vielen anderen vortrefflichen Eigenschaften der kleinste und unbedeutendste zu sein. Ich beurteile den Mann nicht nach dieser Außenseite und hege infolgedessen eine der deinigen vollständig entgegengesetzten Meinung über die Sphäre, welche ihm als Heimat dient. Seine urwüchsige Natürlichkeit, die so kraft- und effektvoll unter säuselnden Blättern und duftigen Blüten zum Himmel strebt, kann unmöglich in der künstlich gemischten Blumenerde des Salons ihre Wurzel geschlagen haben. Sein gegen den Druck niederbeugender Verhältnisse kämpfender, in die Zügel knirschender und mutig sich aufbäumender Geist durchbricht, himmelanstrebend, die von sozialer Anmaßung gezogenen Schranken und steigt, Asche und Schlacken von sich schleudernd, in stolze Höhe wie der Lichtstrom, welcher dem Krater entflutet, um zu verkünden, daß der Boden unterhöhlt und den ewigen Gesetzen der Natur kein dauernder und siegreicher Widerstand zu leisten sei. Ich könnte alles, alles, was ich bin und habe, von mir werfen, um zu seinen Füßen sitzen und dem Flug seines Genius folgen zu dürfen. Ich frage nicht nach seinem Namen, nicht nach seinen Ahnen; ich empfinde nur den Wohllaut und die unwiderstehliche Macht seiner Rede und fühle, daß meine Seele ihm bei jedem seiner Worte zurufen möchte: Du bist so groß, und ich bin so klein, klein, klein!“

„Einem so egozentrischen und dabei unlenkbaren Wesen wie du muß man selbst eine Überspanntheit, wie die gegenwärtige, verzeihen.“

„In mancher Beziehung mag ich vielleicht etwas ungewöhnlich und schwer zu lenken sein, Mama; doch ist das wohl nicht meine eigene Schuld. Den Ausdruck ‚Überspanntheit‘ aber darf ich selbst dir nicht gestatten.“

„Ach so?“ fragte die alte Dame mit scharfer Betonung. „Du beabsichtigst, mich zu hofmeistern. Liegt hierin nicht etwas der Überspannung Ähnliches?“

„Es kann nicht meine Absicht sein, dich zu korrigieren; aber ebensowenig dulde ich ein Urteil, welches ich aus dem Mund der Mutter am allerwenigsten zu hören erwarte.“

„Und doch hast du keine Berechtigung, dich in deiner Würde verletzt zu fühlen, denn du selbst beleidigst ja diese Würde durch Unziemlichkeiten, welche haarsträubend wirken möchten. Denke nur an gestern. Ich nehme natürlich daraus Veranlassung, dich so bald wie möglich unter die strenge Vormundschaft eines Mannes zu stellen, dessen ernste Festigkeit dir mehr imponieren wird, als meine leider allzu schwache und schonende Nachsicht.“

„Bitte, Mama, laß das! Du hast diesen Verweis heute schon so oft wiederholt, daß er notwendig seine Schärfe verlieren muß. Wie man das Bäumchen zieht, so wird es wachsen, und mit Vorwürfen sind die Fehler der Erziehung nicht wieder gut zu machen.“

„Mädchen! Das wagst du?“

„Bei dieser Art von erzwungener Verteidigung kann von einem Wagnis keine Rede sein.“

„Verteidigung? Sprich weiter! Die zweite Frau deines Vaters hat wohl das Recht, diesen Befehl auszusprechen!“

„Wiederhole dir meine Worte, und du wirst alles haben, was dir zu wissen nötig ist. Das Opfer der vornehmen Tradition verschmäht es, ein weiteres Wort zu verlieren. Adieu!“

„Halt, bleib! Du bist kurz, ich will es auch sein. Bist du vielleicht gewillt, dieses sogenannte Opfer rückgängig zu machen?“

„Nein; ich gab mein Wort und werde es halten.“

„So wirst du deinen faux pas durch verdoppelte Aufmerksamkeit gegen den Baron gut zu machen wissen. Er wird in kurzer Zeit hier sein, um dich auf deinem gewöhnlichen Spaziergang zu begleiten.“

„Die größte Aufmerksamkeit, welche ich ihm erzeigen kann, besteht in der vollständigen Verzichtleistung auf seine Gesellschaft. Ich bin ihm unbehaglich.“

Sie wandte sich zur Tür und verließ kurze Zeit darauf das Haus. – – –

Winter saß in seiner Stube und blätterte in den Kehrlisten; aber seine Gedanken schienen nicht bei den Namen und Hausnummern zu sein, welche auf dem Papier standen. Sie verweilten vielmehr bei jenem Tag, an welchem der ‚selbstbewußte Knabe‘ mit dem wilden, reizenden Mädchen durch den Wald gestrichen und in ihrer Nähe so glücklich gewesen war.

Er gedachte der Enttäuschung, die ihn dann am Abend erwartet hatte, als er den Paten krank und sterbend fand und also hilflos und verlassen zurückkehren mußte in die große Stadt, in welcher niemand sich seiner annehmen wollte.

Sein Vater war ein wohlangesehener Schornsteinfegermeister gewesen. Emil hatte als Knabe öfter die Gesellen begleitet und war mit ihnen in den Essen und auf den Dächern herumgestiegen. Er besaß einen gewandten, kräftigen Körper, ein schwindelfreies Auge und genug Energie, um jetzt zu einem raschen Entschluß zu gelangen.

Weder von der Mutter und den Schwestern, noch von dem Bruder, welcher auf Jahre hinaus mit der eigenen Not und Sorge zu kämpfen hatte, durfte er Unterstützung erwarten, und so ging er zu einem Kollegen des verstorbenen Vaters, um bei ihm als Geselle einzutreten.

Aber damit hatte er nicht dem Ziel entsagt, nach welchem zu streben seine Aufgabe gewesen war. Er gehörte vielmehr zu jenen zähen, konsequenten Naturen, welche durch momentanes Nachgeben selbst das feindlichste Schicksal zu besiegen wissen und die Ausführung eines einmal gefaßten Gedankens wohl für einige Zeit aufschieben, niemals aber aufgeben.

Zwar gab er sich dem neuerwählten Beruf mit dem nachhaltigsten Pflichteifer hin; aber dieser Beruf sollte ihm die Mittel bringen zum selbständigen Vorwärtsschreiten auf dem Weg, welchen zu verlassen er gezwungen gewesen war. Und so kam es auch.

Schon nach einigen Jahren hatte er Leipzig, wo er Selbständigkeit nie gefunden hätte, mit seinem jetzigen Aufenthaltsort vertauscht, nach dem Tod seines Meisters dessen Geschäft übernommen und nun auch die Mutter mit den Schwestern zu sich gerufen, um sich einer geschlossenen Häuslichkeit erfreuen zu können.

Jetzt nun, da er sich in einer gesicherten Stellung sah, griff er wieder zu den alten Plänen und warf sich in seinen Mußestunden mit Eifer auf die Fortsetzung der unterbrochenen Studien.

Seine freie Lebensanschauung fand in dem schmutzigen Beruf eines Essenkehrers nichts Ehrwidriges, und so schritt er rastlos auf dem wiederbetretenen Weg vorwärts, ohne sich nach rechts oder links umzusehen und sich aus irgendeinem Umstand Störung bereiten zu lassen.

Seiner einzigen Erholung waren diejenigen Stunden gewidmet, welche er in der ‚Erheiterung‘ zubrachte, deren Vorsteher er vermöge seines organisatorischen Talents geworden war. Er war es eigentlich gewesen, der den Verein zu jener Beliebtheit gebracht hatte, welche seine Konzerte und Bälle so besucht machte, und als infolge einer mehrmonatlichen Abwesenheit sein Amt in die Hände eines anderen übergegangen war, hatte man es ihm nach seiner Rückkehr sofort wieder übertragen, und im gestrigen Stiftungsfest hatte er das erste neue Lebenszeichen von sich gegeben. Das dabei gehabte Zusammentreffen mit Wanda war ihm heute morgen Veranlassung geworden, sich an jenen Tag zurückzuversetzen, an welchem er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Jene taufrische, kindlich reine Mädchenerscheinung hatte sich seinem poesievollen Sinn tief eingeprägt und war von dem Gedächtnis auch in dem kleinsten und einzelsten ihrer Züge mit inniger Treue festgehalten worden. Mitten in der Ausübung seines unromantischen Berufs tauchte diese Erscheinung auf; die Bilder seiner früchtereichen Phantasie gruppierten sich um ihre feenhafte, anmutige Gestalt und kehrten, so oft sie hinaus in die Weite schweiften, doch immer zurück zu dieser einen, an die er immer denken mußte und die er nimmer, nimmer vergessen konnte.

Der Gedanke an sie hatte ihn begleitet in seine bescheidenen und anspruchslosen Verhältnisse hinein, hatte ihm Kraft gegeben zu fortgesetztem, unermüdlichem Ringen, ihn begeistert und gestählt im Kampf mit dem widrigen Geschick und war auf diese Weise zu einer Macht geworden, der er sich beugte in all seinem Denken, Fühlen und Wollen.

Wie das so gekommen, wie es möglich war, daß das Bild eines den Kinderschuhen noch nicht entwachsenen Mädchens sich seines Herzens, seiner ganzen Seele hatte bemächtigen können, so daß es ihm für die Ruhe und den Frieden seines Inneren geradezu unentbehrlich geworden war, das konnte er nicht begreifen. Er hatte sich der lieben, freundlichen Erinnerung widerstandslos hingegeben und sich des anregenden und läuternden Einflusses dieser Erinnerung herzlich gefreut. Jetzt aber handelte es sich nicht mehr um ein bloßes Bild; jetzt hatte sie vor ihm gestanden voller Leben und sprudelnder Jugendlust, gerade so wie damals, aber unendlich schöner noch, unendlich bezaubernder. –

Mitten aus diesem Sinnen wurde er aufgeschreckt durch den Eintritt der beiden Freunde Thomas und Gräßler.

„Grüß Gott, Majestät! Haste ausgeschlafen?“ fragte der Schmied.

„Dank schön, Herr Oberhofkurier. Unsere königliche Gnaden haben schon geruht, in einer halben Mandel Essen herumzuscharren. Wie hat sich das Gouvernantchen angestellt?“

„Prächtig, altes Haus! Der Herr corpus juris Heinemann hat meine Alte an die richtige Adresse gebracht, und so durfte se nich böse sein, daß ich meiner Dame den schuldigen Respekt ooch erwiesen habe. Ich bin mein' Seel' erst halb viere heeme gekommen.“

„Und du, Heinrich?“

„Ich bin solid gewesen. Du weeßt doch, daß ich gar keene Dame gehabt habe, und da habe ich mich recht schön vernünftig in meiner eegenen Begleitung nach Bethlehem getrollt.“

„Na, alter Papierkleister, eene solche Solidität is mir bei dir ooch nich ganz begreiflich. Ihr Buchbinder steckt eure Nasen doch in so viel Liebes- und Mondscheinscharteken, daß ihr gewöhnlich von eener wahren Wut besessen seid, eure theoretischen Studien ins Praktische hinüber zu modulieren. Oder hat's an der Anna gefehlt?“

„An welcher Anna?“ fiel Winter ein.

„Weeste das noch nich?“ rief Gräßler mit einer Gebärde komischen Erstaunens. „Darfst nur 's Fenster offmachen und 'naus horchen. Jeder Sperling pfeift davon, daß er in eenem aristotelischen Verhältnis zu der Kammerzofe der Wanda steht, und das is eben der Grund, daß er heut' nacht so ohne Sang und Klang seinen Hausschlüssel heeme getragen hat.“

„Ach so! Glaubte, du hättest deshalb verzichten müssen, weil ich dich überboten habe.“

„I bewahre, Emil! Ich habe off das Fräulein geboten, nich um es zu kriegen; denn diese Art Trauben hängen mir zu hoch, sondern aus reener Malice gegen den Baron, der mir im höchsten Grade zuwider is.“

„Ich habe an dem Kerl meinen Narren ooch gefressen, eben wegen des Ohrfeigengesichtes. Bei dir aber muß es noch eenen anderen Grund haben.“

„Den hat es ooch.“

„Welcher wäre das?“ fragte Winter. „Du wolltest gestern nicht davon sprechen.“

„Weil een Saal nich der passende Ort is, über Dinge zu reden, die das Zuchthaus in Aussicht stellen.“

„Alle Wetter, Junge, biste toll! Wer soll denn so 'ne unbegreifliche Inklination zum Wollezupfen haben, du oder der Säumling?“

„Ich natürlich nich.“

„So rede doch“, bat der Essenkehrer. „Du weißt nicht, wie wichtig mir deine Mitteilung werden kann.“

„Na meinetwegen. Ihr sollt's hören, obgleich ich mich ooch irren kann. Als ich vor ungefähr anderthalb Jahren in Paris arbeitete, trat eenes Tages een Herr in den Laden und suchte für die Dame, die er bei sich hatte, so etliches von unseren Galanteriewaren aus. Er bezahlte in Banknoten, die sich später als falsch erwiesen. Trotz allen Suchens is der Mann von der Polizei nich offzufinden gewesen, obgleich es gelang, seine Helfershelfer zu entdecken.“

„Und du denkst, daß es der Baron gewesen is?“

„Ich kann mich, wie gesagt, irren, aber die Stimme is dieselbe, und obgleich er damals 'nen mächtigen, schwarzen Vollbart trug, scheint mir sein ganzes Wesen und Gebaren dasjenige zu sein, welches ich an dem Banknotenfälscher beobachtete.“

„Du machtest mich gestern auf sein Lorgnon und seine Kette aufmerksam.“

„Ja, das is' eben, was mich in meinem Verdachte bestärkt. Dieselbe Nasenquetsche und dieselben Berloquen sind mir in Paris an ihm offgefallen. Der Mensch trug sich so in die Oogen fallend und benahm sich so widerwärtig vornehm, daß mir jede Eenzelheet an ihm im Gedächtnis geblieben is.“

„Beabsichtigst du, Anzeige zu machen?“

„Nee. Wenigstens werde ich so vorsichtig sein, den sogenannten Baron erst noch 'ne Weile zu beobachten, um vielleicht noch mehreres zu finden, was mir Gewißheit gibt, daß er der wirklich is, für den ich ihn halte.“

„Du? Welche Gründe haste denn zu dieser Überzeugung?“

„Der wirkliche Baron von Säumen hat in Leipzig studiert und wohnte in dem Haus meiner Eltern bei einer alten Dame, welche sich von der Vermietung möblierter Zimmer an die Wohlsituierten unter den Herren Studenten ernährte. Ich habe ihn täglich gesehen und finde es trotz einer höchst ungewöhnlichen Ähnlichkeit zwischen beiden nicht schwer, ihn von dem Schwindler zu unterscheiden, welcher jetzt seinen Namen trägt.“

„Also sehr ähnlich is er ihm?“

„Sehr.“

„Dann sind se vielleicht Brüder, und unser Verdacht is voreilig.“

„Dieser Fall ist möglich. Ich werde genaue Erkundigungen einziehen, und nach dem Ergebnis derselben muß sich die Art und Weise unseres Handelns richten. Bis dahin aber müssen wir schweigen. Du hast doch noch zu niemandem über diese Angelegenheit gesprochen?“

„Is mir nich eingefallen.“

„Na, Brüder sind se mal nich“, nahm jetzt auch der Schmied, welcher dem Gespräch mit Spannung gefolgt war, das Wort. „Es is mir zwar sehr egal, ob im norddeutschen Gesetzbuch een Paragraph darüber steht; aber een Baron darf keen Ohrfeigengesicht haben; das versteht sich ganz von selber. Wer soll denn einem so hochgestellten Herrn die besagten Ohrfeigen vermitteln, und wenn er meinetwegen zehn Gesichter hätte, die derzu passen und berechtigen? Ich nich, so gern ich es sonst täte, denn mit großen Leuten is nicht gut Kirschen essen.“

„Du willst also sagen, daß –“

„Sagen?“ fiel ihm Gräßler in das Wort. „Ich will mehr als sagen; ich will eenen logisch richtigen Beweis führen.“

„Du, Anton?“ fragte Thomas. „Woher beziehst du denn das Ding, welches du Logik schimpfst?“

„Malträtiere mich nich, Heinrich! Sollte 'mal Schulmeester werden und habe es wirklich wegen Überflusses an Dummheit sogar bis zu einer vierteljährigen Tortur im Proseminar gebracht. Und von dieser selbigen Zeit her schreibt sich meine unübertreffliche Virtuosität im Schlüsseziehen.“

„Na, so ziehe 'mal!“

„Gut. Der Obersatz heeßt: Een Baron darf keen Ohrfeigengesicht haben.“

„Weiter.“

„Der Baron hat aber een Ohrfeigengesicht.“

„Folglich, Anton?“

„Folglich, folglich – ja, zum Teufel, folglich darf een Baron doch keen Ohrfeigengesicht haben.

Seid doch so gut“, fuhr er, als die beiden anderen über diesen sonderbaren Beweis lachten, fort, „seid doch so gut und macht euch nich über mich lustig. Du hast mich mit deinem ‚weiter‘ und folglich' ganz aus dem Konzept gebracht. Mach's besser, wenn du's kannst. Beim Schlüsseziehen wird man ganz konfus; wenn andere dreinreden!“

„Du wolltest sagen“, begütigte ihn Winter, „wer ein Ohrfeigengesicht hat, der ist kein Baron; der Säumen hat aber ein solches, folglich –“

„Ja, folglich is er keen Baron. So wollte ich sagen. Du bist een tüchtiger Kerl, Emil; ich hab's ja immer gewußt! Horch! Was war das?“

Ein entsetzlicher Krach hatte in diesem Augenblick die Luft erschüttert, so daß die Fenster zitterten und der Boden unter ihren Füßen zu wanken schien. Winter riß die Tür auf und eilte auf die Straße. Die anderen folgten.

Sie waren es nicht allein, welche die Wißbegierde über den Ort und Grund der Explosion auf die Straße gelockt hatte. Aus allen Türen stürzten die Bewohner der Häuser und forschten nach der Richtung, in welche sie sich zu wenden hatten, um Näheres zu erfahren. Der eine mutmaßte das, der andere jenes; aber keiner wußte etwas Gewisses.

„Ich möchte nur in aller Welt wissen“, meinte Thomas, „was das für een Schuß gewesen is!“

„Wenn du an eenen Schuß globst, so kannst du dir off dein Gehör gerade so viel einbilden, wie ich mir off meine Logik. Een Schuß hat keen solches Geprassel und Gepolter im Gefolge. Ich denke vielmehr, daß da draußen in den Felsenbrüchen 'ne Wand eingestürzt sein wird.“

„I, warum nich gar! So 'ner Wand wird das im ganzen Leben nich einfallen. Die hält ja für zehn ganze Ewigkeeten.“

„Na, alter Junge, mache nur een paar weniger! Wo alle Wochen drei, viermal gesprengt wird, da is' wirklich keen Wunder, wenn's endlich mal kopfüber und kopfunter geht. Es darf ja nur een Bohrloch falsch getrieben oder die Ladung zu stark abgemessen werden, so purzelt alles zusammen.“

„Ich glaube auch, daß es eher in den Felsenbrüchen als sonst wo anders gewesen ist“, nahm jetzt auch Winter das Wort. „Zwar weiß ich nicht, ob heute Arbeiter draußen beschäftigt sind, aber es muß doch so sein, und bei der ungewöhnlichen Stärke des Sprengschusses ist der Gedanke an ein mögliches Unglück jedenfalls nicht unbegründet. Ich eile hinaus. Geht ihr mit?“

„Meinswegen! Gearbeitet wird heut' sowieso nich, und da ist es mir alleweile ganz und gar egal, off welchem Grund und Boden ich mir die Langeweile vertreibe. Loof also nur zu, Emil. Komm mit, Heinrich!“

Mit langen, raschen Schritten voranschreitend, blickte er nach einer Weile zurück, um zu sehen, ob die beiden anderen ihm auch folgten. Und als er bemerkte, daß sie sich dicht hinter ihm hielten, fuhr er fort:

„Bin zwar schon 'mal draußen gewesen, heut' morgen; tut aber nichts.“

„Was hast du denn so bei Zeiten im Freien gewollt, wenn du so spät erst heeme gekommen bist?“

„Ich bin eenmal een verkehrter Kerl. Geh ich bald zu Bette, so wache ich späte off, un gehe ich spät zu Bette, so wache ich balde off. Und wenn ich eenmal off bin, so leidet mich's ooch nich unter der Decke; ich muß 'raus. Gibt's ooch keene Arbeit im Hause, so gibt's doch draußen immer was zu tun, und wenn's nur wäre, daß mer 'mal nachsieht, wie sich heuer die Erdäpfel anlassen werden.“

„Ach so, du hast ja dein Feld da droben über den Brüchen.“

„Ja. Übrigens bin ich nich der eenzige gewesen, der oben rumgekrochen is. Unser Baron scheint ooch een Freund von Morgenkühle zu sein. Er kam aus dem untersten Bruche, als ich den Seitensteg noffging.“

„Was muß denn der da drin zu tun haben?“

„Weeß es nich. Erst dachte ich, er hätte een Bohreisen in der Hand, aber es wird wohl der Spazierstock gewesen sein. Und off dem Heemwege begegnete mir deine Königin, Emil. Se machte mir eenen freundlichen Knicks und fragte mich, ob der Altan schon besetzt sei.“

„Der Altan droben über dem obersten Bruch?“ fragte Winter erschrocken.

„Ja. Du weeßt wohl noch nich, daß se da droben der schönen Aussicht wegen ihren Stammplatz hat?“

„Lauft schnell, um Gottes willen, lauft schnell!“ rief der Essenkehrer jetzt und stürmte mit fliegender Hast den anderen voran.

„Na, na, na, na, alter Junge. Derwegen braucht dir die schöne Aussicht nich so in die Beene zu fahren. Wenn se noch droben ist, so treffen wir se jedenfalls, ooch wenn wir uns nich so ganz und gar außer Atem loofen.“

„Kommt nur, kommt! Es handelt sich ja gar nicht um das Antreffen, sondern um das Unglück, welches hier geschehen sein kann.“

„Ach so. Alle Wetter, du hast recht. Wenn der Knall in den Brüchen losgegangen is, so kann – na, wenn ihr meine Weisheet alleweile nich anhören wollt, so looft meinswegen immer zu!“

Der Weg hob vor der Stadt steil an und führte durch eine Reihe von Steinbrüchen, deren oberster seit langer Zeit nicht mehr bearbeitet wurde und den Zielpunkt vieler Spaziergänger bildete.

Seine senkrecht und turmhoch emporstarrenden Wände waren von zahlreichen Sprüngen zerrissen und zerklüftet. Die hölzerne Schutzwehr, welche seinen steil abfallenden Rand umgab, war verfault und vermodert und existierte fast nur dem Namen nach: trotzdem aber gab es Leute, welche den gefährlichen Ort gern besuchten, weil man von ihm aus einen weiten Fernblick in das rundum und weit hinaus liegende Land tun konnte.

Am häufigsten war die wilde Polin hier zu sehen. Ihrem ungewöhnlichen Charakter behagte der Ort gerade der Gefahr wegen, und aus ebendemselben Grund faßte sie gewöhnlich an derjenigen Stelle Posto, welche von den anderen am sorgfältigsten vermieden wurde.

Es war das der sogenannte ‚Altan‘, ein weit hinausgehender Felsenvorsprung, welcher fast jeden Haltes entbehrte und zu der Verwunderung darüber berechtigte, daß er nicht längst schon in die gähnende Tiefe hinabgestürzt sei. Zwar war der Zugang zu dem Ort streng verboten; aber Wanda kannte keinen Grund, dieses Verbot zu respektieren, und freute sich, ein Plätzchen gefunden zu haben, auf dessen Alleinbesitz die Kühnheit ihr ein unbestrittenes Monopol gab.

Als die drei Freunde in den untersten der Brüche einbogen, bemerkten sie eine Schar Städter, welche die gleiche Vermutung aus der Stadt getrieben hatte. Aber ohne das Herannahen dieser Leute abzuwarten, eilten sie vorwärts, zumal sie aus dem ungewöhnlichen Staubgehalt der Luft die Überzeugung nahmen, daß Gräßler sich nicht getäuscht habe.

„Seht ihr's?“ rief Winter, als er um die letzte Ecke gesprungen war und das Chaos von Felsenstücken überblickte, welches vor ihm lag. „Der Altan ist heruntergestürzt und hat alles zerschmettert, was in seinem Weg lag. Wenn die Polin sich wirklich auf ihm befunden hat, so ist sie tot!“

„Droben is se ganz sicher gewesen. Und nur für kurze Zeit hat se gewiß nich noff gewollt; denn sie hatte ihre Zeichenmappe unter dem Arme. Wir müssen suchen.“

Sofort und mit Eifer gingen sie an das Werk, und besonders war es Emil, welcher von Felsen zu Felsen flog und mit Riesenkraft die Steine auseinanderriß, um eine Spur der Gesuchten zu entdecken. Er war von einer Seelenangst erfüllt, wie er sie im Leben noch nie empfunden hatte. Er bemerkte nicht, daß ihm die Hände bluteten und die Kleidung von dem scharfkantigen Gestein zerrissen und zerfetzt wurde; finden, nur finden wollte er; einen anderen Gedanken gab es für ihn nicht. Und selbst als die übrigen ankamen und noch andere nachströmten, hatte er für sie weder Blicke noch Worte und ruhte nicht, bis auch das letzte Trümmerstück davongewälzt und damit die Überzeugung gefunden worden war, daß Wanda hier nicht zu finden sei.

„Laß es itzt gut sein, Emil“, mahnte Thomas. „Se kann nich droben gewesen sein, sonst hätten wir wenigstens etwas von ihr bemerkt.“

„Aber se is ooch nich derheeme“, antwortete der hinzutretende Schmied. „Ihr Wirt is da; der weeß es ganz gewiß, daß se off dem Altan hat zeechnen wollen.“

„Se kann doch ooch wo anders hingegangen sein.“

„Wir müssen Klarheit haben. Laßt uns einmal nach oben steigen.“

Er warf einen forschenden Blick in die Höhe und schien plötzlich zu erbleichen.

„Seht einmal da hinauf. Liegt nicht etwas Weißes auf dem Brombeergesträuch, welches aus der Ritze wächst?“

„Das is entweder een weißes Taschentuch oder een zerknitterter Zeechenbogen. Se muß also doch dagewesen sein.“

„Laßt die anderen noch einmal alles genau durchsuchen und kommt dann nach. Ich muß hinauf.“

Er eilte zurück durch die vorderen Brüche und stieg dann den Seitenpfad empor, von welchem Gräßler vorhin gesprochen hatte.

Nicht lange dauerte es, so hatten ihn, trotz der Eile, mit welcher er sich fortbewegte, die beiden Freunde eingeholt, und so schritten sie, mit scharfem Auge die gegenüberliegenden Wände musternd, längs des Felsenrands vorwärts.

„Hier hat der Altan gehangen, und hier sehe ich die Spuren eines kleinen, weiblichen Fußes im Sand. Sie gehen nicht wieder zurück, also muß sie mit hinabgestürzt sein.“

„Guck 'mal, Emil, hier sind ooch noch größere Fußtapfen. Die rühren ganz sicher von eenem Männerstiefel her. Sie gehen ooch wieder retour. Wer muß denn das gewesen sein?“

„Warte einmal, Heinrich. Wir müssen vorsichtig sein und die Spuren ja nicht verwischen. Man kann nicht wissen, was hier geschehen ist.“

Er bückte sich nieder, um die Fußtapfen einer genauen Prüfung zu unterwerfen.

„Der Mann hat einen kleinen, zierlichen Fuß und trägt Sporenkasten an den Absätzen. Er ist eher dagewesen als die Polin; denn seht, die Kanten ihrer Spur sind noch scharf, während die seinigen schon eingebröckelt sind. Laßt uns sehen, ob er auf dem Altan gewesen ist.“

„Nee, er ist hierhergegangen. Alle Wetter, das sieht ja grad' so aus, als ob er immer über den Rand hinweg grad' aus in die Luft hineingeloofen wäre.“

„Wohl nicht. Hier am Rand häufen sich die Spuren. Er hat also hier Stand genommen.“

„Das gloobe ich nich. Drei Zoll vom Rande stellt sich niemand her. Auch das schwindelfreieste Auge kann das nicht vertragen.“

„Du hast recht. Halt! Hier sind zwei runde Eindrücke, wie von Knien, und hier ist der Rand abgerieben. Er ist also über denselben hinuntergestiegen.“

„Das wäre mein' Seel' een Wagestück, zu dem ich ihm meinen sterblichen Leichnam off keene halbe Minute geborgt hätte.“

„Und doch ist es so; eine Verwegenheit, wie sie wohl selten zu finden ist, gehört freilich dazu. Jedenfalls hat er eine Strickleiter gehabt. Suchen wir nach dem Ort, wo dieselbe befestigt gewesen ist. Er muß in dieser Richtung hier zu finden sein.“

„Hier; schau 'mal her. Er hat den eisernen Keil nich wieder 'raus gebracht und ihn also vollends hineingetrieben, damit er nich bemerkt werden soll.“

„Wart 'mal, Heinrich! Der Keil ist noch neu, wie's scheint; er is aus zwee Stücken zusammengeschweißt; das sehe ich schon, ehe wir ihn 'rausgezogen haben. Das Ding kommt mir außerordentlich bekannt vor.“

„Wieso?“ fragte Winter erwartungsvoll.

„Ich habe für Polizeirats eenen machen müssen, und der wird's wohl sein. Der alte Herr hat die löbliche Angewohnheet, sich aus Gesundheitsrücksichten sein Hoolz höchst eegenhändig klar zu machen.“

„Der Baron wohnt jetzt bei dem Rat. Du hast heute morgen geglaubt, ein Bohreisen in seiner Hand zu sehen?“

„Ja, aber behaupten kann ich nich, daß es ooch eens gewesen is.“

„Schon gut. Ihr beide bleibt hier und bewacht die Spuren, damit sie nicht verwischt werden. Ich habe den Stadtrichter unten bemerkt; er mag die Sache näher untersuchen. Es liegt ein Verdacht nahe, und es kann nicht gar zu schwer sein, die Stiefel zu finden, von denen diese Eindrücke hier herrühren.“

„Du denkst doch nicht etwa, daß der Baron seine eegene Braut –“

„Ich denke jetzt an nichts weiter als an die Verpflichtung, unsere Entdeckung der Polizei mitzuteilen. Diese mag dann aus dem Gefundenen beliebig weiter schließen.“

Er entfernte sich und eilte zu der anderen Seite des Bruches unten.

Wie vorhin, so musterte er auch jetzt mit suchenden Augen die gegenüberliegende Wand und blieb plötzlich überrascht und erschrocken stehen. Etwas von der Höhenmitte der Seitenwand war früher ein von Rissen umgebenes Felsenstück durch irgendeinen Umstand abgelöst und in die Tiefe gestürzt. So hatte sich eine Höhle gebildet, welcher der Same allerlei Unkrauts, welches den Eingang fast verdeckte, vom Wind zugetragen worden war. Und dieses Gestrüpp, welches seine Zweige nach außen an das Tageslicht drängte, war jetzt nach innen gebogen und bildete das Lager einer Frauengestalt, welche regungslos in der Weise auf demselben niedergestreckt war, daß ein Teil des unteren Körpers über den Grund der Höhle herausragte und nur in den wenigen Dornenzweigen eine zweifelhafte Stütze fand.

Es war die Polin.

Die Macht der Explosion hatte sie seitwärts geschleudert, und nur Gottes Hand war es gewesen, die den Sturz so geleitet hatte, daß er nicht in die Tiefe gegangen war.

Ob sie tot, ob sie lebend sei, Winter fragte nicht danach.

Seine Haare wollten sich emporsträuben bei dem Gedanken an die Gefährlichkeit ihrer jetzigen Lage; denn bei der geringsten Bewegung mußte sie den Halt verlieren und unten auf den Felsentrümmern zerschmettert werden.

Von oben war die Höhle selbst mit einer Strickleiter nicht zugänglich, da der Rand des Bruchs weit hervorragte, und von unten konnte sie wegen ihrer außerordentlichen Höhe auch durch zusammengebundene Leitern nicht erreicht werden. Es gab nur einen Weg zu ihr, und dieser eine Weg mußte sofort und ohne die mindeste Versäumnis betreten werden, wenn Hilfe überhaupt noch gebracht werden sollte und konnte.

Ohne zu beobachten, daß die Nähe des Abgrundes ihm selbst Gefahr drohe, rannte er in mächtigen Sätzen den steilen und glatten Pfad hinab.

Die Umstehenden sahen ihn kommen, schlossen aus der Eile, mit welcher er seinen Weg zurücklegte, daß er eine Entdeckung gemacht habe und drängten sich ihm entgegen.

„Wo ist der Herr Stadtrichter?“ rief er atemlos.

„Hier bin ich, Herr Winter. Was gibt es?“

„Verfügen Sie sich so schleunigst wie möglich, aber ohne Begleitung dieser Leute hier, hinauf an die Stelle, an welcher der Altan sich befunden hat. Es erwarten Sie wichtige Mitteilungen oben.“

Und sich zu den anderen wendend, fragte er:

„Haben Sie bei Ihrem Suchen vielleicht ein Seil oder so etwas Ähnliches bemerkt?“

„Wir haben ein Seil unten in unserer Hütte“, antwortete einer der Steinbrecher, welche mit herbeigetreten waren.

„Langt es bis hinauf an die Höhle dort?“

„Ja, es ist das große Windeseil.“

„Holen Sie es sofort, und hier, Junge, hast du Geld und hole von deinem Meister zwei Pack vom stärksten Bindfaden. Aber laufe um Gottes willen schnell: es gilt ein Menschenleben. In fünf Minuten mußt du wieder hier sein.“

Wie aus einer Pistole geschlossen, flog der Seilerlehrling von dannen, und Winter erklärte nun den Umstehenden die Notwendigkeit, Seile und Bindfaden zu haben.

„Fräulein von Chlowicki ist von dem Sturz dort oben in die Höhle geschleudert worden. Der Zugang zu dieser Höhle ist nur dadurch möglich, daß man die Risse im Felsen zum Emporsteigen benutzt, das schwere Seil dann mittels des Bindfadens emporzieht und erst die Verunglückte und dann sich selbst daran herunterläßt.“

Die Aufregung der Leute war groß. Rufe des Erstaunens und der Verwunderung über die glückliche Richtung des Falls mischten sich mit mißbilligenden Ausdrücken über die von Winter gehegte Ansicht von der Art und Weise, wie das Mädchen zu retten sei.

Hunderterlei Meinungen wurden ausgesprochen; der Essenkehrer aber hörte gar nicht auf die Worte. Er verfolgte den Lauf der verschiedenen Risse und Klüftungen und schien endlich über den Weg, den er einzuschlagen hatte, mit sich einig zu sein.

Jetzt brachten auch mehrere Arbeiter das Seil, und gleich hinter ihnen kam der schnellfüßige Lehrling gesprungen und übergab Winter den verlangten Bindfaden.

„Nun paßt auf, ihr Leute. Ich steige hinauf, und wenn ich euch den Faden herablasse, so befestigt ihr das Seil daran. Das ist alles, was ihr zu tun habt!“

Er steckte Hammer und Meißel, welche er schon vorhin aus der Werkzeughütte geholt hatte, zu sich, kletterte über die Steintrümmer hinüber zur Felsenwand und begann den gefahrvollen Aufstieg.

Der Felsen stieg senkrecht in die Höhe und zeigte sogar Stellen, wo er sich nach außen wölbte.

Hier galt es nicht nur ein sicheres Auge und ein mutiges Herz, sondern vor allen Dingen war ein mit ungewöhnlicher Muskelkraft ausgerüsteter Körper notwendig. Denn bei dem geringsten Nachlassen der angespannten Muskeln war der verderbliche Sturz die augenblicklichste Folge.

Mit dem Rücken nach außen, stemmte er Arme und Beine in die Kluft und arbeitete sich langsam und ruhig nach Schornsteinfegermanier empor.

Die Augen der Umstehenden hingen mit Spannung an ihm; ununterbrochene Zurufe, die ihn anfeuern oder auf eine schlimme Stelle aufmerksam machen sollten, ertönten, und wenn er bloß mit einer Hand oder nur mit einem einzigen Fuß Halt nehmen durfte, um den Übergang aus einem Riß in den anderen zu erzwingen, so konnte man die Herzen fast klopfen hören.

Und je weiter hinauf er kam, desto größer wurde auch die Gefahr.

Aber nicht ein einziges Mal stieg oder griff er fehl. Es war, als hätte er den Weg schon hundert Mal zurückgelegt und sei mit jedem Fußbreit des Felsens genau und innig vertraut.

Die Nachricht von dem Unglücke, welches die schöne Polin betroffen hatte, war mittlerweile durch die ganze Stadt gelaufen, und wer nur einigermaßen von zu Hause fort konnte, der eilte hinaus, um Augenzeuge sein zu können.

Auch der Baron war sofort in die Wohnung der Baronin geeilt, hatte schleunigst anspannen lassen und fuhr mit der alten Dame so weit heran, als es das Terrain erlaubte. Dann half er ihr aus dem Wagen und führte sie vollends hinauf bis in den obersten Bruch.

Kein Zug in dem Angesicht der kalten, strengen Aristokratin verriet eine Spur von innerer Aufregung, aber ein sorgfältiger Beobachter hätte hinter dem feuchten Glanz ihres Auges die tiefe Angst bemerken können, welche ihr bei gewöhnlicher Gelegenheit starres, durch die Unglückskunde jetzt aber zum Bewußtsein gekommenes Herz erfüllte. Auf dem ganzen Weg hatte der Baron kein Wort gesprochen, aber als er jetzt den unerschrockenen Kletterer bemerkte, stieß er einen lauten Ruf der Verwunderung aus.

„Wer ist der Mann?“ fragte er einen der Leute.

„Der Essenkehrer Winter.“

„Ach dieser“, dehnte er mit einem eigentümlichen Ton der Befriedigung. „Ich kann nichts dagegen haben, wenn er den Hals brechen will. Die Sache könnte anders und besser angegriffen werden!“

Thomas und Gräßler waren jetzt wieder nach unten gekommen, und da sie eben vor dem Sprecher vorübergingen, vernahmen beide die Worte.

Rasch drehte sich der Schmied um und schlug dem Baron die große, schwielige Hand derart auf die Schulter, daß er tief zusammenzuckte.

„Maul halten, Bruderherz! Wie so vieles andere, scheint der da droben ooch diese Sache besser zu verstehen, als Sie. Eegentlich wäre es Ihre Pflicht, sich da noff zu würgen und ich kann mich nich genug wundern, daß Sie so ruhig hier stehen bleiben können. Also, Schatz, nehmen Se sich mit Redensarten in acht, wir sind heut' nich mehr im Tanzsaale!“

Säumen schien erst jetzt zu erkennen, was sein Verhältnis zu Wanda von ihm fordere. Rasch warf er den Überrock ab und trat einige Schritte vor.

„Bringt das Seil nach oben. Ich werde mich daran herablassen!“

„Das wird nich gehen!“ entgegnete ihm Thomas.

„Warum nicht?“

„Winter hat's für sich holen lassen.“

„Aber es gehört dahin, wo es am notwendigsten gebraucht wird!“

„Und das wird gerade hier bei uns sein.“

„Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?“

„Noch nich so ganz genau, vielleicht aber erfahre ich's noch!“

Jetzt erscholl ein lauter, einstimmiger Ruf der Freude. Winter hatte die Höhle erreicht und war in ihrer Vertiefung verschwunden.

Die Spannung war eine so aufreibende und bedeutende gewesen, daß selbst die Zuschauer einer Erholung bedurften, und diese fanden sie dadurch, daß sie ihrer Beklemmung in lauten Ausbrüchen Luft machten.

„Nehmt doch Verstand an, ihr Leute!“ rief der Schmied in die schreiende und gestikulierende Versammlung hinein. „Wenn der Winter uns was zurufen will, so hören wir mein' Seel keen' Wort dervon!“

Augenblicklich trat die gewünschte Stille ein; aber der erwartete Zuruf blieb aus.

Aller Augen hingen an der Mündung der Höhle. Da endlich bewegte sich oben das Gebüsch, und ein Kopf kam zum Vorschein.

„Er hat se neingezogen, und nun ist er wieder draußen und wird die Schnüre runterlassen.“

„Nee, das ist der Winter nich, das is alleweile de Polin selber. Potz Himmel und Wolken, is das een Mädel. Se will sich de Passage erst selber ansehen. Die hat keene Spur von Schwindel im Blute. Aber se is doch nich so ganz und gar billig weggekommen; seht ihr's, daß se sich den Kopp verbunden hat?“

Jetzt zog sie sich wieder zurück, und kurze Zeit darauf vernahm man laute Hammerschläge.

Eine Weile, nachdem dieselben verklungen waren, rief Thomas:

„Guckt 'mal! Is das nich der Faden, der da 'runter kommt? Ja wirklich. Er hat eenen Steen daran gebunden, daß er nich fliegen soll. So, da haben wir ihn. Er is doppelt, und das is gescheit; er könnte sonst an den Steenen gescheuert werden. Gebt das Seil her; wir wollen es anschlingen!“

Es geschah, und bald darauf wurde es in die Höhe gezogen.

Dann wurde das Gestrüpp ausgerissen und heruntergeworfen, und nun konnte man die beiden oben stehen sehen. Das Mädchen hatte das Oberkleid hosenartig zusammengeschlagen und ließ sich furchtlos an dem Rand des Abgrunds nieder.

Sie hatte sich das Seil um den Leib befestigt und stand mit den Füßen in einer Schlinge, welche ihr sicheren Halt gewährte. Die Hände hatte sie sich zur notwendigen Abwehr gegen den Felsen frei gehalten. Jetzt drehte sie sich gegen die Wand und hing im nächsten Augenblick frei in der Luft.

Winter stand mit vorgestemmtem Beine und zurückgebogenem Oberkörper am Eingang der Höhle und hielt mit kräftiger Hand das Seil, an welchem sie niederschwebte.

Langsam und vorsichtig griff sie, jede Umdrehung vermeidend, sich abwärts, und wenn sich auch ihren zarten Händen die Spuren der ungewohnten Berührung mit dem harten und scharfen Gestein einprägten, so kam sie doch nach kurzer Zeit sicher und wohlbehalten unten an, wo sie mit schallendem Jubelruf empfangen wurde.

Sie aber wehrte die stürmischen Freudenbezeugungen von sich ab und wies, nachdem sie sich von den Schlingen befreit hatte, empor zur Höhe, in welcher Winter sich eben anschickte, nachzufolgen.

Das Niederturnen war bei weitem nicht so gefahrvoll wie das Emporklimmen, und so langte auch er unverletzt auf dem Boden an. Fast, freilich, hätte er ihn nicht erreicht; denn kaum war er ihm nahe, so streckten sich auch ein Dutzend Arme aus, ihn zu empfangen, und die stürmisch erregte Menge machte alle Anstalt, ihn auf die Schultern zu heben und im Triumph nach Hause zutragen. Er aber machte sich mit einer energischen Bewegung frei und brach sich durch die Umstehenden Bahn, um zu Wanda zu gelangen.

„Sind Sie beschädigt, Fräulein?“

„Ich danke, nein.“

„So gestatten Sie mir den herzlichsten Glückwunsch. Für eine Dame war die Fahrt nicht ganz unbedenklich.“

„Das schwache Geschlecht ist zuweilen weniger zaghaft, als das sogenannte starke. Man entledigt sich einfach des Rockes und hat damit seine Pflicht natürlich in ihrem vollsten Umfange erfüllt. Nicht wahr, Mama?“

Die alte Dame war mit dem Baron herzugetreten, und letzterer hatte die ihm geltenden Worte vernommen.

„Du darfst nicht ungerecht sein, Wanda! Der Herr Baron kam, als die befriedigendsten Anstalten zu deiner Rettung bereits getroffen waren. Zur unmittelbaren Teilnahme an dem Wagnis war es für ihn also zu spät.“

„Herzlichen Dank für die freundliche Verteidigung, gnädige Frau. Ich wünsche nichts mehr, als daß es mir an Stelle eines Fremden vergönnt gewesen sein möchte, meiner Braut den Beweis zu liefern, daß ich in ihrem Dienst weder Gefahr noch Tod scheue.“

„Ich hege die vollständige Überzeugung“, entgegnete Wanda, und ihre Stimme hatte eine fast schneidende Schärfe, „daß du in bezug auf meine Person eine kleine Gefahr nicht scheust. Und hätte ich bisher diese Vermutung auch nicht gehegt, so würde dieser unerwartete Fund mich eines Besseren belehren.“

Sie hielt ihm ein weißes Taschentuch entgegen, an dessen Stickerei er es sofort als das seinige erkannte.

Bis hinter die Schläfe erbleichend, streckte er die Hand danach aus; sie aber zog es rasch zurück.

„Du erlaubst mir wohl, dieses freundliche Souvenir in meine eigene Verwahrung zu nehmen?“

„Ein so wertloser Gegenstand kann unmöglich Bedeutung für dich haben.“

„Unter gewöhnlichen Umständen allerdings nicht. Der heutige Tag aber zeigt uns eine so eklatante Romantik, daß für mich selbst das sonst Wertloseste große Bedeutung enthält.“

„Höchstwahrscheinlich habe ich das Tuch bei meinem Morgenspaziergange verloren.“

„Möglich. Doch willst du nicht Mama sekundieren? Es ist jedenfalls deine Pflicht, meinem Retter ein Wort der Anerkennung zu sagen!“

Die Baronin hatte sich mit ungewöhnlicher Herzlichkeit zu Winter gewandt. Aber obgleich er ihren überraschend wohlwollenden Äußerungen mit Aufmerksamkeit folgte und mit Gewandtheit auf ihre Redewendungen einging, so war er doch der einzige, dem keine Silbe des Gespräches zwischen den beiden Verlobten entgangen war. Diese traten jetzt näher, und der Baron versuchte, seinen Worten die größtmögliche Freundlichkeit zu geben.

„Herr Winter, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich Ihnen zu nahen, um –“

„Herr Baron, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich von Ihnen zu entfernen!“

Es lag eine unendliche Verachtung in dem Zucken seiner Augenwinkel und der nachlässigen Art und Weise, in welcher er die Spitzen seines Bärtchens drehte. Sofort aber nahmen, der Baronin gegenüber, seine Züge den Ausdruck tiefsten Respektes an, als er, von ihr sich verabschiedend, sprach:

„Gnädige Frau, ich kenne kein härteres Los, als nach einem Leben voller Entsagung und Enttäuschung weder Liebe noch Verständnis zu finden. Verzeihen Sie meine Indiskretion, welche aus dem Bestreben entspringt, Ihnen meine Hochachtung zu beweisen.“

Trotz der Zudringlichkeit, welche zu jeder anderen Stunde in diesen Worten gelegen hätte, ging es wie eine tiefe, ungewohnte Rührung über ihr sonst so starres und hartes Angesicht, und man sah es ihr an, daß sie ihm gern eine wohlwollende Antwort gegeben hätte.

Aber er hatte sich schon entfernt und schritt auf Gräßler und Thomas zu, welche ihn erwarteten. Jedoch mitten im Lauf hielt er inne und bückte sich zu dem noch am Boden liegenden Überzieher, um ihn aufzuheben und einer näheren Betrachtung zu unterwerfen.

Mit sichtbarer Spannung richtete er das Auge auf die innere Seite des Kragens, wo gerade unter dem Henkel in weißer, Seidenstickerei die Worte ‚Jules Rageller, marchand tailleur, Paris‘ angebracht waren.

Kaum hatte er die Schrift überflogen, so legte er das Kleidungsstück mit gleichgültiger Miene wieder nieder, und einem scharfen Auge wäre die Bemerkung nicht entgangen, daß diese Gleichgültigkeit nur eine scheinbare sei.

Schon wollte er sich mit den beiden Freunden entfernen, da trat Wanda auf ihn zu.

„Herr Winter, Sie haben mir das Leben gerettet; ich darf Ihnen also nicht grollen.“

„Eine von der Höflichkeit gebotene oder durch die Dankbarkeit erzwungene Verzeihung kann nur den Oberflächlichen befriedigen. Sie haben das Recht, mir zu zürnen, und ich bitte Sie, auf dieses Recht nicht Verzicht zu leisten. Ich bin nicht schwach genug, um vor einer bloßen Gesinnung zu zittern.“

„Gut, so werde ich zürnen, bis Sie selbst mich um Verzeihung bitten.“

„Das werde ich tun, sobald ich die Gewißheit habe, daß der Sünder nicht aus bloßer Dankbarkeit begnadigt wird.“

„Wenn die Verzeihung Ihnen überhaupt einmal wünschenswert sein könnte, so würden Sie jetzt nicht ein so großes Verlangen nach meinem Zorn geäußert haben.“

„Der Zorn kann nicht größer sein als seine Begründung, und diese ist wohl nicht von sehr erschreckenden Dimensionen.“

„Und doch; oder soll ich gleichgültig dazu sein, daß Sie meine Schuld ohne meine Erlaubnis quitt gemacht haben dadurch, daß Sie sich nach Belieben Ihren Lohn wählten und ihn in Empfang nahmen ohne meinen Willen und noch ehe Ihr Werk beendet war?“

„Ist's möglich, Fräulein, Sie zürnen mir nicht meiner Schwachheit wegen, sondern deshalb, weil wir nun quitt sind?“

„Ich zürne!“ erwiderte sie errötend, indem sie eine verabschiedende Handbewegung machte. „Über den wahren Grund dürfen Sie nachdenken.“

Sie schritt in Begleitung ihrer Mutter und des Barons dem Wagen zu, während Winter zu Gräßler und Thomas zurücktrat.

„Was wird denn nun mit dem Seil, Emil?“

„Die Leute mögen es losreißen; der Keil wird mehr als die Schwere einiger Menschen nicht tragen.“

„Na, das können se ooch ohne uns machen, Emil. Da kommt der Stadtrichter und wirklich schon zwee Polizisten hinter ihm.“

Der Genannte trat zu den dreien und richtete seine Fragen besonders an Winter, welcher ein einfaches Referat des Sachbefundes gab, ohne sich auf Schlüsse oder Verdachtserklärungen einzulassen.

Am Schluß der Unterredung bat der Vater der Stadt um Verschwiegenheit und gab die Erklärung, die Sache sofort der Staatsanwaltschaft zu übergeben. Dann verabschiedete er sich von ihnen.

„Da wird unser Special in eene schöne Patsche geraten. Ich werde mein Möglichstes tun, ihn in Trab zu bringen.“

„Man muß vorsichtig sein, Anton. So klar ich mir in dieser Beziehung auf meine Ansicht bin, so hüte ich mich doch vor einem lauten, voreiligen Urteil. Wir haben unsere Pflicht getan; das übrige ist nicht unsere Sache.“

„Warum gucktest du denn seinen Rock off so 'ne eigentümliche Weise an?“

„Der Name, welcher inwendig am Kragen sich befand, fiel mir auf.“

„Ach so! Das is die neue Mode. Wenn een Schneider nur halbwegs vierteljährlich drei alte Röcke zu wenden hat, so steppt er seinen Geburtsschein, sein Taufzeugnis und wo möglich ooch noch seine Impflegitimation unter den Henkel, damit der Lumpensammler später sieht, wem er den Profit zu verdanken hat. – Aber, Emil, was ich dir sagen wollte: Du bist wirklich een tüchtiger Kerl!“

„Warum?“

„Warum? Das brauche ich dir wieder nich erst zu sagen. Hier is de Türe. Mach, daß du 'neinkommst, und ruhe dich gehörig aus. Es is mein' Seel' keen Spaß, nur immer so den Lebensretter zu spielen. Gestern off der Dachfirste und heut gar im Felsenbruche. Ich bin nur neugierig, wo's morgen werden wird; vielleicht droben im Monde. Das halte der Deixel aus, ich nich! Leb wohl, Emil! Komm, Heinrich, du gehst doch mit heeme?“

„Jawohl; 's wird endlich 'mal Zeit. Leb wohl, Emil!“

„Adieu!“

Er trat in seine Stube, die er verlassen hatte, ohne zu ahnen, welche Bedeutung die nächsten Viertelstunden für ihn haben würden.

Aber er gönnte sich die nach der gehabten Aufregung und Anstrengung so notwendige Ruhe nicht, sondern kaum hatte er die schadhaft gewordene Kleidung mit einer anderen vertauscht, so öffnete er ein Fach seines Schreibpultes und zog einen Pack Briefe hervor, aus denen er einen herausnahm und öffnete, um ihn zu lesen.

Den ersten Teil des Schreibens überblickte er mit flüchtigem Auge; den letzten Zeilen aber schenkte er doppelte Aufmerksamkeit.

Sie lauteten:

„Selbst ein nur leidlicher Polizist hätte das Material ein hinreichendes nennen müssen. Der Stubennachbar war jedenfalls der Täter; denn er hatte bei seiner Entfernung das sämtliche Gepäck des Ermordeten bei sich gehabt, worauf der Hausknecht sich leider zu spät besann. Sein Signalement war ein vollständiges, und wenn ich auch annehme, daß der dichte, schwarze Vollbart ein falscher gewesen sei, so kann doch dieser Umstand ein gutes Auge nicht irre leiten. Als vorsichtiger Mann hat er die eingeschlagene Route jedenfalls bei der nächsten Station schon verändert; aber man hatte ja Erkennungszeichen, und das sicherste, wenn auch nicht auf den ersten Blick zu ermittelnde, war eine Namenstickerei, welche der Hausknecht beim Reinigen des Oberrockes an der inneren Seite des Kragens bemerkt hatte. Sie lautete: ‚Jules Ragellef, marchand tailleur, Paris‘. Hiermit war der Nachforschung das Terrain geöffnet. Aber man gefiel sich wie gewöhnlich in dem ignoranten Belächeln meiner Gründe und Folgerungen und lief ins Blaue hinein, bis man Weg und Steg verloren hatte und endlich froh war, zu Hause bei Muttern von der erfolglosen Hetzjagd ausruhen zu können. Meine akademischen Kenntnisse geben mir das Übergewicht über die Mehrzahl meiner Kameraden. Das erweckt Neid und Mißgunst und stellt mich in die traurige Lage, immer nur zu meinem Schaden gegen die Feindschaft meiner Vorgesetzten ankämpfen zu müssen. Man scheut keine Anstrengung, mich müde zu machen, und erreicht man diesen Zweck nicht, so wird man über kurz oder lang eine Gelegenheit, mich zu blamieren, bei den Haaren herbeiziehen, welche die Veranlassung zu meiner Entfernung sein wird.

Kommissar Hagen, ein Neffe Eures Polizeirates, ist der unversöhnlichste meiner Gegner; doch fürchte ich weder ihn, noch die anderen. Ich tue einfach meine Pflicht und werde ja sehen, wessen Geduld die ausdauerndste ist.

Dein Bruder.“

Als er die Zeilen wiederholt gelesen, blickte er lange mit sinnendem Ausdruck über das Papier hinweg durch das Fenster hinaus.

Er mochte an die Schwierigkeiten denken, welche sich dem entgegenstellten, welchem die Hebel fehlen, die der Bevorzugte zum Zweck eines raschen Avancements anzusetzen pflegt. Gerade so wie er, war auch sein Bruder lediglich nur auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit angewiesen gewesen und hatte unausgesetzt mit widerlichen Schicksalen zu ringen gehabt.

Die Liebe hatte ihn mit der Tochter eines seiner höchsten Vorgesetzten zusammengeführt; aber obgleich seine Neigung mit aller Treue und Herzlichkeit erwidert wurde, durfte er sich doch nicht eher Hoffnung auf die Erfüllung seiner Wünsche machen, als bis es ihm geglückt war, aus seiner untergeordneten Stellung in eine höhere emporzurücken. Aber bei der feindseligen Beharrlichkeit, mit welcher man ihm jede Gelegenheit, sich auszuzeichnen, entzog und seine Befähigung in Zweifel zu ziehen strebte, war dieser Zeitpunkt in die größte Ferne hinausgeschoben.

Die Lage des Bruders drückte Emil mehr, als es früher eigene Hilfsbedürftigkeit getan hatte.

Längst schon hatte er den sehnlichen Wunsch gehegt, ihm dienen, ihn unterstützen zu können; aber bei der Ungleichheit ihrer Stellungen und der weiten Entfernung ihrer gegenseitigen Wohnorte war ihm das eine Unmöglichkeit gewesen. Jetzt nun schien sich eine treffliche Gelegenheit dazu zu bieten, und er beschloß, sie zu benutzen.

Langsam griff er zur Feder, legte in Gedanken die vorliegenden Verhältnisse noch einmal zurecht und begann dann, einen ausführlichen Bericht nebst der klaren Darstellung seiner Vermutungen aufzuzeichnen. Als er geendet hatte, überlas er das Geschriebene noch einmal und meinte dann mit einem Lächeln, in welchem sich das wohltuende Gefühl der Hoffnung aussprach:

„So, das wäre der Anfang. Gott gebe, daß es ein Gelingen hat und ihm Erfüllung seiner Wünsche bringt.“