Der Gitano

Es war am 29. Juli 1875. Zwei Tage vorher hatte Don Carlos bei Tolosa über die Brigaden Dorregarrays große Heerschau gehalten und demselben neue Pläne über den fortzusetzenden Widerstand nach Navarra geschickt. Ich selbst war bei dieser Gelegenheit so glücklich gewesen, den jetzt so vielgenannten, um nicht zu sagen, berühmten Mann zu sehen, hatte auch um eine kurze Audienz gebeten, war aber abgewiesen und zu General Mondiri, welcher an Stelle Perulas kommandierte, geschickt worden.

Das Saragossische Haus, welches ich vertrat, hatte vor längerer Zeit mehrere bedeutende Lieferungen an die Carlisten effektuiert und trotz mehrmaliger Erinnerungen bis dato noch keine Zahlung erhalten. Deshalb war ich von dem Chef der Firma beauftragt worden, nach Tolosa zu gehen und womöglich mit dem Prätendenten selbst zu sprechen. Leider kehrte ich unverrichteter Sache zurück und mußte dabei noch Gott danken, mit heiler Haut davongekommen zu sein, da ich von verschiedenen Seiten nur zu deutlich den guten Willen erkannt hatte, dem unwillkommenen Mahner einen der nur zu wohl bekannten ‚Carlistenstreiche‘ zu spielen.

Deshalb wählte ich nicht die gewöhnliche, über Pamplona, Sanguesso und Egea nach Saragossa führende Straße, auf welcher es von Bandieros (Carlisten) wimmelte, sondern schloß mich einer Mula (Maultierkarawane) an, welche nach Alfaro ging, und wollte von diesem Ort womöglich auf den Wellen des Ebro mein Ziel erreichen, um dann später über Tortosa auf dem Seeweg in meine Heimat zurückzukehren.

Der Mulero (Führer der Karawane) war ein Asturier von finsterem Aussehen. Er sprach wenig, fluchte aber desto mehr und hatte nach seiner Ansicht auch genügend Ursache dazu. Schon seit langen Jahren hatte er mit den Contrabandistos (Schleichhändler) an der französischen Grenze in Verbindung gestanden, von denen er in Ochagavia die Warenballen in Empfang nahm, um sie über Tafalla und Alfaro nach Soria zu bringen, von wo aus sie von einem Geschäftsfreund nach Valladolid expediert wurden. Bei seiner letzten Reise war er unter die Carlisten geraten und hatte nicht nur seine Ladung, sondern auch die besten seiner Maultiere eingebüßt, so daß er nur mit dem ingrimmigsten Haß an die ‚Banditen des räuberischen Don Habenichts‘ dachte.

Unterwegs hatten sich uns zwei Gitani (Zigeuner) zugesellt, welche fast meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Es war ein noch junger Mann von ungefähr sechsundzwanzig Jahren und ein Mädchen, welches acht Jahre weniger zählen mochte. Beide waren von außerordentlicher Schönheit und zeigten jene stolze, imponierende Haltung, durch welche sich der Bewohner Neukastiliens so außerordentlich empfiehlt. Ganz besonders fiel mir die achtungsvolle Sorglichkeit auf, welche der Gitano für seine Begleiterin zeigte und mit welcher er ihr den beschwerlichen Ritt auf dem steilen, holprigen Saumpfad zu erleichtern suchte. Wenn sein dunkles Auge forschend auf ihrem leichtgebräunten Angesicht ruhte, so antwortete ihm jedesmal ein leises Lächeln, in welchem trotz seines beruhigenden Ausdrucks doch eine nur mit Mühe unterdrückte Besorgnis nicht zu verkennen war, und wenn er mit ihr sprach, was immer nur halblaut geschah, so daß ich die Worte nicht verstehen konnte, so hatte der Ton seiner Stimme stets einen beruhigenden und beschwichtigenden Klang, und ich kam schließlich zu der Überzeugung, daß die beiden Leute sich unter dem Einfluß irgendeiner Gefahr befinden mußten.

„Santa madre de dio!“ seufzte der Mulero; „das ist eine Hitze, wie ich sie zwischen diesen Felsen noch nie erlebt habe. Danken wir den Heiligen, daß wir sogleich an die Estanzia meines Freundes Diego Bonomaria kommen, wo wir uns in den Schatten niederstrecken und ausruhen können. Das ist auch ein Ort, wo die carlistischen Teufel gehaust haben wie die Wilden. Das Haus angesteckt, die Bewohner umgebracht, und alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Möchten sie dafür tausend Jahre länger im Fegefeuer brennen!“

Der Ritt ging noch um eine Ecke, und dann sah man die Estanzia vor sich liegen, oder vielmehr, früher hätte man sie vor sich liegen sehen können; denn jetzt bemerkte man nur einen Trümmerhaufen, aus welchem die vier brandgeschwärzten Umfassungswände hervorragten.

„Da, seht hin, Señor, und Ihr müßtet kein Mensch sein, wenn Eure Hand nicht unwillkürlich nach dem Messer zuckte, um es dem ersten dieser Schurken, der uns begegnet, in die Rippen zu stoßen. Meine Seidenballen und Madrinas (Maultiere) mögen immer zum Teufel sein; ich werde diese Scharte doch in irgendeiner Weise wieder auszuwetzen wissen; aber daß diese Barbaren meinen Freund Diego Bonomaria gemordet haben, das kann ich ihnen nie vergessen. Wenn ich nach Alfaro komme, werde ich ihm ein Dutzend Messen lesen lassen, und ich will nicht selig werden, wenn ich mit der Zeit nicht ebenso viel gute Messerstiche an den rechten Mann bringe!“

Man stieg ab, überließ die Tiere, nachdem sie abgezäumt und an den Vorderfüßen gefesselt waren, ihrem eigenen Instinkt und suchte sich zwischen den eingefallenen Mauern einen kühlen Winkel, um auszuruhen und ein kurzes Schläfchen zu halten.

Wieder sorgte der Gitano mit der größten Aufmerksamkeit für die Bequemlichkeit seiner Reisegefährtin. Sie dankte ihm mit einem warmen Blick ihres großen, seelenvollen Auges, und bald breitete der erquickende Schlaf seine weichen Schwingen über sie und den Maultiertreiber.

Der Zigeuner schlief nicht. Vielmehr lehnte er sich in aufrecht sitzender Stellung, der man es anmerkte, daß er zu wachen gesonnen sei, an die Mauer, und auch meine Augen wollten sich nicht schließen, da ich immer und immer wieder den Blick auf die schöne Gruppe vor mir richten mußte. Der Gitano Spaniens ist ein stolzer Gesell, mit dem sich sein vagabundierender Verwandter in Ungarn nicht messen kann; aber in der Haltung, den Zügen, dem ganzen Wesen dieses jungen Mannes lag etwas so Distinguiertes, so Achtungsgebietendes, daß es mir schwer wurde, mir ihn als einen Angehörigen jenes Stammes zu denken, welcher zur ewigen Heimatlosigkeit verdammt zu sein scheint.

Da plötzlich richtete sich sein Kopf in die Höhe, die stolzen Brauen zogen sich aufwärts, und die Hand fuhr nach der Brust. Draußen ertönte das Getrappel von Pferden, und laute Stimmen wurden vernehmlich; Sporengeklirr und Säbelgerassel näherten sich unserem Zufluchtsort, und bald stand eine Anzahl zwar buntgekleideter, aber kriegerisch aussehender und gut bewaffneter Leute vor uns, welche uns mit neugierigen und mißtrauischen Blicken musterten.

„Holla! Was treibt sich denn da für Gesindel herum?“ fragte der vorderste von ihnen. „Wißt Ihr nicht, daß das Passieren von Schleich- und Nebenwegen höchst verdächtig ist?“

Der Mulero war erwacht und hatte sich erhoben, während die Gitani ebenso wie ich in ihrer ruhenden Lage verharrten.

„Da habt Ihr ein wahres Wort gesprochen“, antwortete er, indem sein sonnverbranntes Gesicht den Ausdruck offenen Hasses zeigte. „Diese Wege geht nur der ehrliche Maultiertreiber; sie sind nur für ihn da, und wer außer ihm sie benutzt, der hat gewöhnlich zehn Finger zu viel.“

„Sage noch ein solches Wort, Mensch, und du bist verloren!“ herrschte der andere ihn an. „Siehst du denn nicht, daß wir Soldaten Seiner tapferen Majestät, des Königs Carlos sind und das Recht haben, dich sofort über den Haufen zu schießen?“

„Oho, wen nanntet Ihr als König? Doch, das geht mich ja nichts an; Euren edlen Ritter Don Quixote mögt Ihr meinetwegen nennen, wie Ihr wollt. Wenn sich aber Gesindel hier herumtreibt, so werde ich, der weitbekannte Mulero Fernando Lunez, mit meiner ehrenwerten Gesellschaft einen anderen Ort suchen, wo wir ruhen und der Gefahr, zu diesen Leuten gezählt zu werden, entgehen können. Geht uns also aus dem Weg und –“

„Halt“, fiel ihm der Carlist, denn ein solcher war es, in die Rede. „Du bleibst und gehst keinen Schritt von hier! Du hast den König beschimpft und also ein todeswürdiges Verbrechen begangen. Don Enrico de Calanda y Munilla, welcher im Heer Seiner Majestät des Königs Carlos die Stelle eines Colonels bekleidet und uns vorausgeschickt hat, um ihm hier einen Ruheplatz zu bereiten, wird in einer Viertelstunde hier sein und über dein Schicksal entscheiden. Du bist unser Gefangener!“

Über das Angesicht des Mulero glitt jenes stolze Lächeln, welches nur der Spanier in dieser mimischen Vollendung in der Gewalt hat. Seine Hand näherte sich dem Gürtel, aus welchem der Griff des Dolches hervorragte, und mit einer geringschätzenden Drehung des Kopfes entgegnete er:

„Die Sonne hat Euch den Verstand verbrannt! Wer ist denn Euer Don Enrico de Calanda y Munilla eigentlich? Ich kenne ihn nicht. Jedenfalls auch einer von den Bandistos, welche die armen Muleros überfallen, um ihnen Sack und Pack abzunehmen. Macht Platz hier!“

„Keinen Schritt weiter!“

„Wahrt Euch! Wer mich anrührt, bekommt sechs Zoll kaltes Eisen in den Leib. Mein Eigentum zwar habt Ihr mir schon geraubt; mich selbst aber bekommt Ihr nicht!“

Er zog den Dolch; aber in demselben Augenblicke krachte auch ein Schuß, welcher bestimmt war, ihn zu treffen. Doch hatte er sich blitzschnell zur Seite gewandt, und so flog die Kugel an ihm vorbei und in die Mauer. Im nächsten Moment stak sein Dolch in der Brust dessen, der auf ihn geschossen hatte, und es entspann sich ein Kampf, der, da die Zahl der Gegner zu groß war, mit der Niederlage des Maultiertreibers endete.

Während dieses Vorgangs hatte ich weniger ihn, als vielmehr den Gitano beobachtet.

Bei den mutigen Worten unseres Führers leuchteten seine Augen, und seine Gestalt zuckte unter der Absicht, sich blitzschnell zu erheben. Aber ebenso schnell legte sich die Hand des Mädchens auf seinen Arm, und als er die Angst erblickte, welche sich in ihren Mienen aussprach, ließ er sich langsam aus der schon halb erhobenen Stellung wieder niedersinken, und ich hörte jetzt zum ersten Mal deutlich seine Worte:

„Nur aus Rücksicht für Euern Wunsch und Eure Sicherheit Señorita!“

Der Mulero wurde unter den gräßlichsten Mißhandlungen gebunden, und auch uns hätte ein ähnliches Schicksal getroffen, wenn die Leute nicht für ihren Colonel zu sorgen gehabt hätten. So aber begnügte man sich, uns streng zu bewachen, und richtete, nachdem die Leiche des Erstochenen unter Drohungen und Verwünschungen beiseite geschafft worden war, einen Ruheplatz für den erwarteten Offizier her.

Kaum war dies vollendet, so bemerkten wir einen Trupp Reiter, deren müde Pferde sich den steilen Berg heraufarbeiteten. An ihrer Spitze ritt auf einem andalusischen Rapphengst, dessen zierlich kraftvollen Bewegungen man nicht die mindeste Ermüdung ansah, ein Offizier, welcher seinen militärischen Abzeichen nach der Colonel sein mußte. Den Schluß der kleinen Kavalkade bildeten einige Maultiere, welche hoch und schwer belastet waren.

Noch war der Offizier nicht abgestiegen, so machte man ihm schon die Meldung des Vorgefallenen. Ohne den Rapport vollständig anzuhören, riß er das Pferd herum und drängte es zu dem Ort, wo die Leiche lag. Nachdem er sich mit einem raschen Blick von der Wahrheit des Gemeldeten überzeugt hatte, spornte er den Hengst über die nächstliegende Mauerbresche und hielt nach einem kühnen Satz dicht vor unseren Augen. Den Mulero mit flammenden Blicken messend, rief er:

„Du bist's also, der es gewagt hat, einen Soldaten meines Regimentes zu ermorden? Bete zur heiligen Madonna, in einer Viertelstunde hast du ausgelebt!“

„Sorgt für Eure eigene Seele, Señor! Die meinige wird ihren Weg schon finden.“

Der Offizier schien diese derbe Antwort keiner Entgegnung wert zu halten und wandte seinen Blick auf uns andere. Nachdem sein Auge mit verächtlichem Ausdruck über die beiden Zigeuner hinweggeglitten war, haftete es forschend auf mir.

„Erhebt Euch, Mann! Oder wißt Ihr nicht, daß man mit einem königlichen Offizier nicht im Liegen spricht?“

„Entschuldigung, Señor; das Sprechen soll wohl erst beginnen.“

„Unternehmt es ja nicht etwa, mich zu korrigieren! Wer seid Ihr?“

Statt aller Antwort gab ich ihm die Passierkarte, welche mir von meinem Chef ausgewirkt worden war.

Ich machte ihn mit der Ursache meiner Reise bekannt und teilte ihm mit, daß ich beabsichtige, nach Saragossa zu gehen.

„Das ist nicht wahr! Wie kommt Ihr sonst an diesen Ort hier, da Euch Euer Weg doch nach Pamplona führen würde. Ihr seid kein Spanier. Wo ist Euer Vaterland?“

„Ich bin ein Deutscher und stehe unter dem Schutz meiner Regierung.“

„Laßt Euch nicht auslachen! Wenn Eure Regierung Euch schützen soll, so müßt Ihr hübsch zu Hause bleiben und dürft Euch nicht in Gesellschaft von Mördern hier in den Bergen herumtreiben. Macht Euch gefaßt, mit –“

Er stockte mitten in der Rede. Sein Blick war auf die gegenüberliegenden Höhen gefallen und schien dort auf etwas zu haften, was Wichtigkeit genug haben mußte, seine gespannte Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen.

Ich folgte der Richtung seines Auges und bemerkte eine kleine Truppe Militär, welche seitwärts zwischen den Bergen hervorgekommen war und nun denselben Weg einschlug, welchen wir geritten waren. Sie bestand aus einem Offizier mit sechs Mann Soldaten und war jedenfalls bestimmt, eine Rekognition der umliegenden Gegend vorzunehmen. Wir befanden uns auf einem höheren Punkt als sie, und da die Carlisten durch die Trümmer der Ruine und nebenstehendes Gesträuch Deckung fanden, konnten sie nicht bemerkt werden.

„Habt acht, Leute: da drüben kommt der Feind!“ kommandierte der Colonel, welcher in den Nahenden sofort Regierungstruppen erkannt hatte. „Es ist eine Streifpatrouille, welche wir ausheben müssen. Nunez, du gehst mit drei Mann zurück bis an die Stelle, wo sich der Weg um die Felsen biegt, und schießt jeden nieder, der uns etwa entkommen sollte, und du, Pedrillo, schleichst dich vorwärts, bis du etwa genügende Deckung zu einem Hinterhalt hast, um dafür zu sorgen, daß dem Feind der Rückweg abgeschnitten ist. Ich selbst lege mich mit den übrigen hin in die Ruine, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn uns einer von ihnen entginge. Schafft die Tiere beiseite und haltet ein scharfes Auge auf die Gefangenen. Wer sich von ihnen rührt, wird niedergeschossen.“

Es wurde dem Befehl mit der größten Schnelligkeit Folge geleistet, und kaum waren einige Sekunden vergangen, so lag der kleine freie Platz leer vor dem Gemäuer, und tiefe Stille herrschte ringsumher.

Der Befehl des Obersten, jeden von uns, der sich bewegen werde, niederzuschießen, hatte auf mich keinen großen Eindruck gemacht. Ich war vollständig unbeteiligt bei der Sache und konnte also ruhig liegen bleiben. Anders schien es bei dem Gitano zu sein.

Mit scharfem Auge war er jeder Bewegung der Carlisten gefolgt, und als jetzt der Augenblick der Entscheidung nahte, spiegelten sich die widerstreitendsten Empfindungen auf seinem schönen Angesicht ab. Um dies nicht den Wächtern merken zu lassen, hatte er sich zur Seite gewandt, und so war es mir möglich, ihn und seine Begleiterin genau zu beobachten. Sie flüsterten leise und hastig miteinander, und während er ihr einen Entschluß mitzuteilen schien, sprach sie mit einem so flehenden Ausdruck zu ihm, daß der Zug von Entschlossenheit, welcher sich in seinen Mienen aussprach, mehr und mehr schwand und er endlich mit einem langsamen Neigen des Hauptes sich in ihren Willen ergab.

Mit dankbarem Lächeln blickte sie zu ihm auf, und als bedürfe es noch einer Begründung ihrer Bitte, entfuhr es halblaut ihren Lippen:

„Es sind ihrer zu viel!“

Er antwortete mit einem überlegenen Schütteln des Kopfes und legte sich dann lauschend in die Ecke zurück.

Jetzt vernahm man nahende Schritte. Die hinter den Trümmern im Anschlag knieenden Carlisten hielten ihre Blicke auf den Punkt gerichtet, an welchem ihre nichts ahnenden Gegner erscheinen mußten, und jeder Augenblick konnte diesen jetzt den sicheren Tod bringen. Schon trat der erste von ihnen um die Ecke, welche auch wir vorhin passiert hatten, und sofort legten sich die Finger der im Hinterhalt Liegenden zum Schuß an die Drücker; da aber ertönte ein kurzer, scharfer Pfiff, und in demselben Augenblick warf sich der Erschienene zurück, und der Platz war wieder leer wie vorher.

Überrascht und zornig war der Oberst bei dem verräterischen Pfiff aufgesprungen und hatte das Auge auf uns geworfen. Aber er schien nicht genau zu wissen, aus welcher Richtung der Laut gekommen war, und zudem durfte jetzt keine Zeit verloren werden, wenn die Gewarnten nicht entkommen sollten.

Schnell gab er deshalb die nötigen Befehle und stürmte dann, eine hinreichende Wache bei uns zurücklassend, vorwärts.

Der Hinterhalt mußte die Zurückkehrenden schon aufgenommen haben, wie die rasch hintereinander fallenden Schüsse bewiesen, und da es dann plötzlich wieder ruhig wurde, so waren die Überfallenen entweder glücklich entkommen oder niedergemacht worden. Ich glaubte das erstere annehmen zu dürfen, wurde aber sofort eines anderen belehrt; denn mitten in die augenblickliche Stille hinein erscholl jetzt ein lautes Jubelgeschrei, und nach einigen Augenblicken der Ungewißheit und des Wartens von unserer Seite kehrten die Carlisten zurück, den feindlichen Offizier als Gefangenen in ihrer Mitte.

Seine Uniform hing in Fetzen um den Körper, und das Blut strömte ihm aus mehreren Wunden. Er mußte wacker gekämpft haben und jedenfalls mit dem Colonel zusammengekommen sein; denn auch dieser war verwundet und warf Blicke auf ihn, in denen sich Haß und Rachelust nur zu deutlich aussprachen.

„Bindet ihn und schafft ihn einstweilen zu den anderen dort! Er ist nichts anderes als sie, ein Spion, und wird also auch mit ihnen aufgeknüpft.“

„Hoffentlich sind diese Worte nur eine Folge des Schmerzes, welchen Euch Eure Wunde verursacht, Colonel. Ich bin weder ein Spion noch sonst ein Individuum, welches gewohnt ist, mit Stricken in Berührung zu kommen, und Ihr werdet nicht weniger als ich wissen, wie man Offizieren zu begegnen hat“, antwortete der Gefangene, und seine hohe, stolze Gestalt schien bei dieser Entgegnung zu wachsen.

„Pah! Gebt Euch keine Mühe, mich mit den Regeln der Höflichkeit bekannt zu machen. Wir befinden uns nicht im Salon, und wer Blut vergießt, des Blut wird wieder vergossen. Auge um Auge, Leben um Leben. Warum ergebt Ihr Euch einer Sache, welche die angestammten Rechte Seiner Majestät mit Füßen tritt!“

Verächtlich zuckte der Leutnant, denn in diesem Rang schien der Gefangene nach dem Abzeichen seiner Uniform zu stehen, die Achsel und wandte sich, um zu uns zu treten. Kaum aber hatte er einen Blick auf den Zigeuner geworfen, welcher, den Finger mahnend an die Lippen gelegt, in der Ecke lehnte, so trat er erschrocken einen Schritt zurück, faßte sich aber sofort wieder und fragte, zurückblickend:

„Wollt Ihr mich wirklich zu solcher Gesellschaft verurteilen?“

„Geht nur immer zu! Sie ist ehrenwert genug für einen Mann, dem der Strick bestimmt ist.“

Der so Abgewiesene nahm Platz auf einem der wirr übereinander liegenden Steine und versuchte, das aus seiner Wunde, die mir nicht sehr gefährlich zu sein schien, fließende Blut zu stillen. Schon beim ersten Blick auf ihn war mir eine ganz frappante Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Zigeuner aufgefallen, und sein Erschrecken beim Erblicken des letzteren machte eigentümliche Gedanken in mir rege.

War diese Ähnlichkeit wirklich nur eine zufällige, so mußten sie sich doch kennen, wie mir das Verhalten beider bewies, und wenn ich mir die Situation überdachte, so kam ich zu der Überzeugung, daß ich vor einem Ereignis stand, welches auch auf meine eigene Lage von Einfluß sein konnte.

Hart neben mir lag der gefesselte Mulero. Es hatte bisher geschienen, als ergebe er sich in sein Schicksal; aber jetzt bemerkte ich an seinen Mienen, daß er mir etwas zu sagen wünsche. Deshalb streckte ich mich lang auf die Erde und suchte mit möglichster Unbefangenheit mein Ohr so weit wie möglich in seine Nähe zu bringen.

„Stricke zerschneiden!“ flüsterte er mir zu. Ich winkte bejahend mit den Augen und beschloß, ihm den Wunsch zu erfüllen, trotzdem ich mich in nicht geringe Gefahr dabei brachte.

Er wälzte sich etwas auf die Seite, um mir Gelegenheit zu geben, zu den auf dem Rücken gebundenen Händen zu gelangen. Dabei fuhr sein Auge beobachtend über die Umgebung, und ich bemerkte, daß dabei ein Blitz freudiger Überraschung über sein Gesicht fuhr.

Schnell folgte ich der Richtung seines Auges und gewahrte einen Männerkopf, welcher vorsichtig hinter der eingestürzten Wand hervorlugte und mit ermunterndem Nicken sofort wieder verschwand. Das Erblicken desselben machte den Gebundenen unvorsichtig.

„Santa Maria de Ragunna, mein Freund Diego Bonomaria! Er ist den Schuften also doch entkommen und wird uns retten“, sprach er ziemlich vernehmlich, so daß der nächstsitzende der Wächter sofort herbeitrat.

„Was habt ihr miteinander zu sprechen!“ schalt er und fuhr, zu mir gewendet, fort: „Rückt fort von hier, dorthin an die Mauer; es ist hier nicht der Ort zum Plaudern.“

Wohl oder übel mußte ich diesem Befehl Folge leisten; kaum aber hatte ich den Platz erreicht, so vernahm ich über meinem Kopf, wo sich eine Öffnung in dem Umfassungsgemäuer befand, eine Stimme, deren Worte jedenfalls mir galten.

„Haltet Euch ruhig, Señor, damit die Bandistos nicht merken, daß jemand mit Euch spricht.“

Es war Bonomaria, der sich um die Ruine herumgeschlichen und diesen Ort gewählt hatte, sich uns verständlich zu machen. Ich schloß die Augen und hielt meine Gesichtszüge vollständig unbeweglich.

„Ich komme aus Tudela, wohin ich geflohen war, und wollte sehen, was aus meinem Eigentum geworden ist. Dort liegt Martínez Campos mit seinen Scharen und hat eine Abteilung in die Berge geschickt, um die Gegend abzusuchen. Ich werde diese Leute aufsuchen und sie hierherführen, um Euch zu befreien und mich zu rächen. Sagt dies meinem Freund Fernando Lunez, wenn Ihr könnt, und sucht den Aufbruch zu verschieben. Addio, Señor!“

Trotzdem diese Worte einen höchst erfreulichen Eindruck auf mich machten, suchte ich denselben doch zu verbergen. Glücklicherweise waren die Carlisten jetzt mit dem gefangenen Offiziere beschäftigt, welcher sich nicht binden lassen wollte, aber doch endlich, wie ich zu bemerken Gelegenheit hatte, auf einen Wink des Zigeuners nachgab.

„So“, sagte feindselig lachend der Colonel; „trotzdem auch wir die löbliche Eigentümlichkeit haben, gefangenen Offizieren Achtung und Rücksicht zu erweisen, dürft doch Ihr auf so etwas nicht rechnen, und das habt Ihr Eurem Bruder zu danken.“

„Meinem Bruder?“ fragte der Gefangene wie verwundert.

„Niemand anderem, Don Ramirez. Da Ihr nicht bei derselben Abteilung gestanden habt, mag Euch wohl unbekannt sein, wie ich zu dieser Äußerung komme. Er ist vom General Jovellar nach Tolosa gesandt worden, um unsere Streitkräfte kennen zu lernen, also Spion. Unglücklicherweise ward er von einem unserer Offiziere, der ihn kannte und sah, entdeckt und zum Tode verurteilt. Dieses Urteil scheint sich aber seiner Zustimmung nicht erfreut zu haben; denn eine Viertelstunde vor der Exekution war er verschwunden und mit ihm eine von den jungen Damen, welche Major Resibo veranlaßt hatte, den Bahnwagen zwischen Saragossa und Barcelona zu verlassen und mit ihm zu gehen, um in ihnen eine Anweisung auf die Kasse ihrer Väter zu besitzen. Natürlich hat man alles in Bewegung gesetzt, um der Entflohenen habhaft zu werden, bisher aber ohne Erfolg. Da Ihr nun denselben Namen tragt, wie Euer Bruder, so dürft Ihr es uns nicht verargen, wenn wir für Eure Person eine etwas unliebenswürdige Aufmerksamkeit haben.“

„Die Schuld meines Bruders ist nicht die meinige, obgleich ich an seiner Stelle ebenso gehandelt hätte. Übrigens bin ich nicht ein Mörder, sondern Kriegsgefangener, und werde an der geeigneten Stelle Satisfaktion zu verlangen wissen!“

„Das werde ich Euch nicht verwehren; doch wird Euch dazu wohl wenig Zeit übrig bleiben.“

Bei diesen Worten wandte er sich ab und trat zu dem Zigeuner, welcher jetzt scheinbar teilnahmslos in der Ecke gelehnt hatte.

„Jetzt zu dir, Bursche. Wer war es, der vorhin gepfiffen hat?“

Der Gefragte blieb unbeweglich liegen und blickte mit einem Ausdruck, in welchem ein leiser Spott kaum zu verkennen war, zu dem Frager empor.

„Wendet Euch an eine andere Adresse, Señor! Ich laufe nicht als Pfiffinspektor in der Welt herum.“

„Kommst du mir so, Halunke! Wahre deine Zunge und gib Antwort auf meine Frage, sonst werde ich dir den Mund zu öffnen wissen. Übrigens hast du dich zu erheben, wenn ich mit dir spreche. Also, wer hat gepfiffen?“

„Was geht das mich an?“ fragte der Bedrohte ruhig, indem er trotz der Aufforderung des Offiziers in seiner Stellung verharrte. „Ich glaube nicht, daß es mir gegolten hat.“

„Steh auf, sage ich dir, oder ich lasse dich peitschen, bis du höflich wirst. Gestehe, daß du es selbst gewesen bist!“

„Warum fragt Ihr dann, wenn Ihr das so genau wißt?“ entgegnete der Gitano, indem er sich langsam erhob und gähnend die schlanken Glieder streckte, als befände er sich in der sicheren Mitte der Seinen und nicht in einer so lebensgefährlichen Lage.

„Damit hast du deine Schuld eingestanden und wirst den Lohn des Verräters haben. Bindet ihn!“

Sofort traten einige der Leute herbei, um der Weisung zu gehorchen. Er streckte ihnen mit einem ruhigen, überlegenen Lächeln die Hände entgegen und verzog keine Miene, als sie ihm die Arme in einer Weise zusammenschnürten, die ihm jedenfalls Schmerzen verursachen mußte.

Das Mädchen hatte sich erhoben und trat mit einer angstvollen, abwehrenden Bewegung auf den Colonel zu. Dieser warf einen langen Blick auf die schöne Gestalt der Bittenden und sprach dann:

„Spare deine Worte, mein Schätzchen; sie werden ihm und dir nichts helfen. Übrigens ist es jammerschade, daß ein so niedliches Kind wie du seine Schönheit nicht besser zu verwerten weiß. Ich werde dir Gelegenheit dazu geben, und wenn du verständig und gehorsam bist, wird Don Enrico de Calanda y Munilla vergessen, in welcher Gesellschaft er dich getroffen hat.“

Trotz der Bräune ihres Gesichtes war doch die glühende Röte zu bemerken, welche dasselbe bei diesen Worten überzog. Der Offizier, dieses mißdeutend, fuhr fort:

„Deine gegenwärtige Gesellschaft taugt nicht für dich. Gehe dort zu meinen Leuten und nimm teil an dem Mahl, welches sie eben bereiten. Nach demselben wird die Exekution des Mörders vorgenommen werden. Über die anderen mag ein Kriegsgericht entscheiden.“

Er winkte einem der Seinigen, welcher herzutrat und die Widerstrebende mit sich fortzog.

Unwillkürlich warf ich dabei einen Blick auf den Zigeuner. Ganz gegen meine Erwartung blieben seine Züge unbeweglich und ausdruckslos. Die unfreiwillige Entfernung seiner Begleiterin schien ihn nicht zu berühren, vielmehr bemerkte ich, daß seine Aufmerksamkeit mehr auf mich als auf sie gerichtet war.

Man hatte ihn in meine Nähe plaziert, so daß wir uns bei einiger Vorsicht verständlich machen konnten. Während der Colonel seinen Ruheplatz suchte und die anderen mit dem frugalen Mahle beschäftigt waren, raunte er mir, indem er nach der über mir befindlichen Maueröffnung winkte, hastig zu:

„Was wollte der?“

Er hatte also Bonomaria gesehen und in ihm jedenfalls einen uns freundlich gesinnten Mann erkannt.

„Der Besitzer dieses Hauses. Er holt Militär!“ antwortete ich.

„Ist welches in der Nähe?“

Ich nickte und winkte nach der Richtung zu, welche der Estanciero eingeschlagen hatte.

Da erscholl aus der Gruppe der Carlisten ein lauter Schrei, bei welchem, während ich nur den Kopf wendete, der Gitano mit einem Satz in die Höhe schnellte. Einer der Leute hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und versuchte, ihr einen Kuß aufzudrängen. Sie wehrte sich gegen diese Berührung und wiederholte, während die anderen roh lachten, ihren Hilferuf.

Schon stand der Zigeuner vor dem Colonel.

„Señor“, sprach er, „ich werde nicht zugeben, daß man meine Schwester beschimpft. Daß Ihr sie von mir wegnahmt, mußte ich leiden; denn ich befinde mich in Eurer Hand. Aber wenn Ihr nicht sofort gebietet, daß Eure Untergebenen von ihr lassen, werde ich selbst sie gegen Mißhandlungen in Schutz nehmen!“

Erstaunt blickte der Offizier den jungen Mann an, welcher vor ihm stand, nicht als befinde er sich in Fesseln und gehöre einem zurückgesetzten Volksstamm an, sondern als sei er hier Herr und Gebieter, dem man Gehorsam leisten müsse.

„Bist du wahnsinnig, Mensch“, rief er, „oder hat die Angst dich betrunken gemacht?“

„Angst?“ fragte der Gitano, indem er mit einem geringschätzenden Blicke die Gestalt seines Gegners übermaß. „Don Enrico de Calanda y Munilla ist zwar ein tapferer Offizier, und es ist zu beklagen, daß er seinen Arm einer so ungerechten Sache gewidmet hat, aber mir Furcht einzuflößen, dazu ist er der Mann doch noch nicht! Ich wiederhole also, Señor, daß ich jeden, der es zum zweiten Mal wagen sollte, das Mädchen anzurühren, eine Kugel durch den Kopf jagen werde. Jetzt wißt Ihr, was Ihr zu tun habt.“

„Ja, das weiß ich, mein Söhnchen. Ich werde dich um etwas fester schließen lassen und dir sodann im Irrenhaus ein ruhiges Zimmerchen verschaffen, wo du den Helden spielen kannst, ohne ausgelacht zu werden. Gebt ihm noch einen Strick mehr um den Arm!“

Der Zigeuner trat einen Schritt zurück und warf einen so überwältigenden Blick auf die beiden Männer, welche herzutraten, um dem Befehl zu gehorchen, daß sie unwillkürlich stehen blieben und ihren Gebieter unentschlossen ansahen.

„Wer wagt es?“ fragte er. „Ich habe mich vorhin binden lassen, Don Enrico, weil es mir Spaß machte und ich die Gelegenheit benützen wollte, einmal die Festigkeit Eures Hanfes zu erproben. Ihr sollt sofort sehen, daß sie nicht bedeutend ist.“

Er machte eine Bewegung, die Arme aus den Fesseln zu ziehen. Da sprang der Colonel empor, um ihn daran zu verhindern, erhielt aber einen so gewaltigen Fußtritt auf den Unterleib, daß er mit einem Schmerzenslaut niederstürzte und einige Sekunden bewegungslos und wie gelähmt liegen blieb.

Mit einem kräftigen Ruck riß der Gitano den Arm aus der jedenfalls schon vorher gelockerten Schlinge, sprang in den Winkel zurück, in welchem er gelegen hatte, und zog unter den dort liegenden Steinen zwei Revolver hervor, welche er bei dem Erscheinen der Carlisten dort versteckt, und die man deshalb nicht bei ihm bemerkt und gefunden hatte. Er hob den einen empor, drückte los, und der erste von den Leuten, welche ihn zu fassen drohten, stürzte, durch die Brust geschossen, nieder. Ihm folgte der nächste, und noch hatte der Colonel sich nicht erholt, so sah er schon vier seiner Leute in ihrem Blut liegen.

So wenig ich sonst kriegerische Geschicklichkeit besitze, das Beispiel des Gitano elektrisierte mich und riß mich aus dem Gleichmut, welchen ich bisher bewahrt hatte. Ich zog ein Messer, trat zu dem gefangenen Offizier und hatte in der Zeit von zwei Augenblicken sowohl seine Bande als auch diejenigen des Maultiertreibers durchschnitten.

„Gracia a dio!“ rief der letztere. „Jetzt sollt Ihr den Mulero Fernando Lunez kennen lernen.“

Er sprang empor und warf sich mit geballten Fäusten mitten unter die Carlisten hinein. Während dieser kurzen Zeit hatte der Gitano dem sich auf ihn stürzenden Colonel den Degen entrissen und lehnte nun, gegen eine bedeutende Übermacht kämpfend, an der ihn deckenden Mauer.

Ein Glück war es, daß die Feinde unvorsichtigerweise keine Ladung in den Gewehren hatten und in der Hitze des Augenblicks auch nicht an das Schießen dachten. Kaum von den Banden befreit, standen wir alle vier im blutigen Handgemenge, und ich bemerkte gar wohl, daß der Ausgang desselben ein sehr zweifelhafter sei. Trotz der vier Gefallenen kämpften wir doch gegen eine fünffache Übermacht, und schon faßte ich den Entschluß, mich auf eines der angekoppelten Pferde zu werfen und auf demselben das Weite zu suchen, als hinter uns eine Salve gegeben wurde, welche ein halbes Dutzend unserer Feinde niederstreckte.

Im nächsten Augenblick sprangen eine Anzahl Männer, die an ihrer Uniform als Regierungstruppen kenntlich waren, zwischen uns, und nun bekam das Gefecht allerdings eine andere Wendung.

„Holla, Freund Diego, bist zu rasch gekommen!“ rief der Mulero. „Ich hätte das Vergnügen, diese Schurken hinüber zu spedieren, gern allein gehabt. Immer drauf, Männer, und laßt keinen durch! Da hast du eins! Das ist für meine Madrina, die ihr mir gestohlen habt. Du auch eins! Das ist für die Seidenballen, und dieser Hieb da für die Zigarren!“

So gab er, während er mit seinen sehnigen Armen unter den Feinden aufräumte, seinen Worten Ausdruck, und bald lagen sämtliche Gegner außer einem tot oder schwer verwundet am Boden.

Dieser eine war der Colonel, welcher, als eben der letzte der Seinigen fiel, von dem Gitano einen Schlag mit dem Knopf des ihm entrissenen Degens erhielt, der ihn betäubte. Er griff mit beiden Händen in die Luft und schien die Besinnung zu verlieren. Aber seine starke Natur überwand schnell die Schwäche, und eben wollte er sich wieder auf den Gegner stürzen, als dieser einige Schritte zurückwich.

„Don Enrico, Ihr habt Euch brav gehalten, trotzdem Ihr seht, daß ich Euch überlegen bin. Nehmt Pardon und eine ehrenvolle Gefangenschaft; denn mein nächster Hieb wird Euch zur Leiche machen!“

„Ein Offizier nimmt keinen Pardon von einem Zigeuner!“

„Das ist wahr; aber von dem Leutnant Milio de Algora könnt Ihr ihn nehmen.“

„Was!“ rief, mitten im Ausfall erstaunt innehaltend, der Colonel, „Ihr wäret – – –?“

„Milio de Algora, der Spion, welcher mit einem Mädchen eine Viertelstunde vor der Exekution entflohen ist, wie Ihr vorhin meinem Bruder erzähltet.“

„Dann aber ist die Zigeunerin –“

„Die Tochter Jovellars, den Ihr haßt und fürchtet und deshalb durch den Raub seines Kindes schädigen wolltet. Nehmt Ihr Pardon?“

„Ich sehe, daß der Widerstand vollständig unnütz ist. Ich bin Euer Gefangener.“

„Gut; ich gewähre Euch eine Gefangenschaft ohne Strick. Nehmt Platz und laßt Euch verbinden!“

Mit den letzten Worten wandte er sich, die Arme um ihn schlingend, zu seinem Bruder und führte denselben, nachdem die ersten freudigen Grüße und die darauffolgenden Fragen und Antworten ausgetauscht waren, zu dem Mädchen, welches in größter Angst und Bangigkeit sich während des Kampfes zurückgezogen hatte und nun mit wonnigem Lächeln auf seinen Retter zutrat.

„Hier, Donna Elvira, stelle ich Euch meinen Bruder Ramirez vor, welchen Ihr so gerne kennen lernen wolltet, er hat lange Zeit in Granada, dem Paradiese der Zigeuner, gestanden und wird meiner Ansicht beistimmen, daß er heut' die schönste der Gitanas begrüßen darf.“

„Mein Bruder spricht die Wahrheit, Donna de Jovellar, und außerdem ist es mir die größte Ehre, der Tochter unseres verdienten Generals meine Dienste offerieren zu können.“

„Dank, Señor! Obgleich sich die Eigenschaften meines bisherigen Ritters als vollkommen ausreichend erwiesen haben, ist mir unter den jetzigen Verhältnissen der Schutz Eures Armes nicht unwillkommen, und ich bitte, Euch mit Eurem Bruder zu vereinen, um die arme, flüchtige Zingarietta (Zigeunermädchen) zu ihren Eltern zu bringen, welche sich in bangen Sorgen um das Schicksal ihres Kindes befinden!“

Da trat der Mulero an der Seite des Estanciero zu den dreien.

„Verzeiht, Señor“, sprach er zu Ramirez. „Wir sind etwas neugierig gewesen und haben eine wichtige Entdeckung gemacht.“

„Welche?“

„Das eine der Maultiere trägt zwei Fäßchen, welche, nach ihrer Schwere zu schätzen, Gold oder Silber enthalten müssen. Der Colonel winkte dem Treiber, sich unbemerkt davonzuschleichen, und machte mich dadurch aufmerksam. Die anderen Tiere tragen Tabak und dergleichen Sachen.“

„Wir werden die Fässer untersuchen“, antwortete Milio, „und wenn sich deine Vermutung bestätigt, so sollst du die übrigen Tiere samt ihrer Ladung als Entschädigung für den Verlust deiner Mula haben.“

Erstaunt und zweifelnd blickte Fernando Lunez den Zigeuner an. Es war ihm unbegreiflich, daß er, der arme Gitano, so sprechen konnte. Dieser lächelte vergnügt und fuhr fort:

„Eigentlich steht mir freilich das Recht, über unsere Beute zu verfügen, nicht zu; aber ich werde mein Verfahren zu verantworten suchen. Und was deinen Freund hier betrifft, so werde ich ihm aus meinen Privatmitteln so viel zur Verfügung stellen, daß er seine Estancia wieder aufbauen kann, wenn es in der Gegend wieder sicher ist.“

Die Zuversicht, mit welcher die Worte gesprochen wurden, machten den guten Fernando Lunez noch verwirrter, und mit erwartungsvollen Blicken fragte er:

„Aber wer seid Ihr denn eigentlich?“

„Es ist mein Bruder Milio de Algora“, antwortete Ramirez an Stelle des Gefragten, „und Ihr könnt also glauben, was er sagt.“

„Ein Algora ist er?“ fragte der Erstaunte, welcher vorhin in der Hitze des Gefechts die kurzen Worte nicht gehört hatte, welche der Gitano mit dem Colonel wechselte. „Mein Vetter Alfonso Clarino ist Stallmeister bei Eurem Vater, und ich weiß nun bestimmt, daß Ihr Euer Wort halten werdet. Aber wie konnte ich nur so dumm sein und Euch für einen Gitano halten. Diego, hast du schon einmal eine solche Unklugheit an deinem Freunde Fernando Lunez bemerkt?“

„Laß es gut sein und mache mir lieber Platz, daß ich mich auch bedanken kann. Señor, ich hoffe, daß Ihr Euch seiner Zeit an mich erinnert werdet. Ihr könnt von Fernando stets erfahren, wo ich zu finden bin.“

„Habt keine Sorge! Für jetzt werden wir wohl noch eine kleine Strecke beisammen bleiben; denn Ihr geht doch wohl mit nach Alfaro?“

Als diese Frage beantwortet war, wandten sich die beiden Offiziere zu dem Colonel.

„Könnt Ihr mir vielleicht sagen, Don Enrico, was Ihr geladen habt?“

„Es sind meist Viktualien.“

„Und was trägt dort jenes Maultier, dessen Treiber sich auf Euren Befehl entfernen sollte?“

„Ich bin in Eurer Hand. Tut, was Euch beliebt, Señor Milio.“

„Ist der Rapphengst Euer Eigentum?“

„Ich habe ihn an einen anderen abzuliefern.“

„Gut, so werdet Ihr also durch den Verlust des Tieres, welches zu unserer Beute gehört, nicht geschädigt. Ihr begleitet uns bis Alfaro, wo Ihr weitere Bestimmungen erhalten werdet.“ Und zu mir gewendet, fuhr er fort: „Euer Weg führt Euch, wie ich gehört habe, nach Saragossa. Wollt Ihr vielleicht die Güte haben und meinen Vater, welcher auf seinem Schloß bei Alagón wohnt, eine Nachricht von uns überbringen?“

„Gern, Señor!“

„Danke. Zwar macht Ihr dabei keinen Umweg; aber damit Ihr schneller vorwärts kommt, sollt Ihr als Andenken an das heutige Abenteuer den Hengst haben. Ich werde auch das verantworten, und da Ihr gut reitet, so ist er bei Euch wohl aufgehoben. Vater kann Euch Empfehlungen geben, welche Euch vielleicht von Nutzen sein werden.“

Er wandte sich, meine Dankesworte überhörend, wieder zu seiner Begleiterin. Das verheißungsvolle Augenleuchten, mit welchem sie ihn empfing, war ihm jedenfalls ein besserer Dank als meine trockenen Worte, und ich schloß mich der bald aufbrechenden Truppe mit der Überzeugung an, daß er seine schöne Gitana als besten Preis für die bewiesene Tapferkeit empfangen werde.