Wanda

Die Auktion

Unter allen Gesellschaften der Stadt war ‚die Erheiterung‘ die beliebteste. Zwar gehörten ihre Mitglieder ohne Ausnahme dem Handwerkerstand an, aber bei all ihren Zusammenkünften und Vergnügungen herrschten anständiger Ton und löbliche Sitte, und da die dem einfachen Bürgersmann mehr als dem Höhergestellten eigentümliche Gemütlichkeit ihre Anziehungskraft auch nach oben äußert, so ließen sich sogar die Honoratioren der Stadt gern und öfters herbei, in dem Kreis der jungen, munteren Leute erscheinen und sich von ihnen unterhalten zu lassen.

Hochgespannte, in lederne Etikette gekleidete Ansprüche durfte man freilich nicht mitbringen und noch weniger zu irgendeinem kernlustigen Einfall mit schulmeisterlicher Pedanterie den Kopf schütteln. Wer kam, der mußte mitmachen, und wer nicht einstimmte, der erhielt ohne weiteres sein Entrée zurück und durfte gehen. Und gerade dieses energische Ausscheiden aller störenden Elemente hatte dem Verein seine Beliebtheit erworben, sicherte ihm die Teilnahme der Verständigen und machte sein Lokal zum Versammlungsort all derer, die den Staub der Arbeit oder den Zwang belästigender Formen einmal abschütteln und fröhliche Menschen sein wollten.

Heute nun feierte ‚die Erheiterung‘ ihr Stiftungsfest, und zahlreiche Einladungen waren ausgeschrieben und auch angenommen worden. Sogar der Herr Polizeirat hatte zugesagt und um die Erlaubnis gebeten, seinen hohen Gast, den Herrn Baron von Säumen, mitbringen zu dürfen. Dieser letztere hatte einen langjährigen Aufenthalt in Italien gehabt und war nach dem kürzlich erfolgten Tod seines Vaters in die Heimat zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten. Der Letzte Wille des Verstorbenen hatte ihn einem Fräulein von Chlowicki verlobt, welche mit seiner Mutter eine der in der Nähe der Stadt gelegenen Villen bewohnte; er war deshalb nach erfolgter Erbschaftsregulierung gekommen, um die junge Dame, die er vorher noch nie gesehen, kennen zu lernen, und hatte bei dem Polizeirat, einem alten pensionierten Sicherheitsbeamten, der in einer Art von Verwandtschaft zu ihm stand, gastliche Aufnahme gefunden.

Frau von Chlowicki war nach der Aussage der wenigen Personen, denen die seltene Gunst ihres Anblicks zuteil geworden, eine alte, kränkliche, unausstehlich hochmütige Dame, deren einzige Beschäftigung in dem Studium der Vorrechte ihres Standes bestand. Zur Abwechslung peinigte sie die Dienstboten, beklagte den immer mehr an den Tag tretenden Verfall des Adels und räsonierte über ihre Stieftochter, deren Erziehung sie, obgleich sie dieselbe in höchst eigener Person geleitet hatte, eine durchaus verkehrte und verfehlte nannte. Sie verließ nur äußerst selten ihre Wohnung, und deshalb gab es in der Stadt nur wenige Personen, welche sich rühmen konnten, sie gesehen zu haben.

Eine desto öfter gesehene Erscheinung war die Tochter, Fräulein Wanda oder, wie sie allgemein genannt wurde, die wilde Polin.

Als sie vor mehreren Jahren die Residenz mit ihrem jetzigen Aufenthaltsort vertauscht hatte, war eine rasch um sich greifende Epidemie unter der jungen Männerwelt der Stadt ausgebrochen, welche der alte bißfertige Doktor Kühne mit dem Namen Wandamanie bezeichnet hatte. Da aber das schöne Mädchen auch nicht die geringste Notiz von dieser höchst interessanten Krankheitsform nahm und selbst die hoffnungslos Darniederliegenden vollständig und konsequent ignorierte, so verwandelte sich der Paroxismus nach und nach in ein Toggenburgisches Schmachten in die Ferne, und Wanda war Königin, ohne daß es einer ihrer Untertanen gewagt hätte, ihr eine offizielle Huldigung darzubringen.

Von der Natur mit den herrlichsten Gaben ausgestattet, glänzte sie als leuchtendes, aber unberechenbares Phänomen am gesellschaftlichen Himmel. Während andere ruhig ihre Bahnen wandelten, flimmerte sie in den verschiedensten Lichtern, zuckte blitzähnlich von einem Punkt zum anderen, warf oft die ganze Planetenstellung über den Haufen und hätte auch den kaltblütigsten Astronomen zur Verzweiflung bringen können. Für sie gab es keine dehorsielle Unmöglichkeit. Sie ritt wie ein Husarenleutnant, schoß mit den Jägerburschen um die Wette, betrat ganz unerwartet den Fechtboden und trieb mit dem Schläger in dem kleinen, weißen Fäustchen jedmänniglich in die Enge. Sie fuhr mit Vieren im sausenden Galopp über Heide und Stoppel, durch dick und dünn, erschien bei Tagesgrauen, wenn die ehrbaren Spießbürger sich noch in den Federn streckten, hochgeschürzt auf dem Turnplatz der Feuerwehr, um an Reck, Barren, Bock und Kletterstange ihre Meisterschaft zu bewähren, tanzte, sang und deklamierte prächtig, spielte das Piano mit ungewöhnlicher Fertigkeit, schien in jeder Sprache, in jeder Kunst und Wissenschaft zu Hause und wußte auch in die steifsten Zirkel Leben und Bewegung zu bringen.

Trotz dieser scheinbar unweiblichen Vielseitigkeit und Selbständigkeit war jedem ihrer Worte, jeder ihrer Taten, ihrem ganzen Wesen und Leben eine so bezaubernde Anmut, eine so mädchenhafte Reinheit, ein so imponierender Adel aufgeprägt, daß es außer der Stiefmutter niemanden gab, der auch nur die leiseste Spur eines Anstoßes zu entdecken gewußt hätte. Und wie sie von der Männerwelt vergöttert wurde, so stand sie bei den Frauen in der unbeschränktesten Achtung. Wo die Armut ihre düsteren Schatten über ein Familienleben warf, wo die Krankheit drohend an die Türen klopfte, wo irgendein Leid den fröhlichen Schlag eines Menschenherzens hemmte, da erschien sie gewiß, um Rat, Trost und Hilfe zu bringen, und es war deshalb kein Wunder, wenn sie nicht bloß von ihren Schutz- und Pflegebefohlenen, sondern auch von anderen, die von ihrem stillen, liebevollen Walten Kenntnis nahmen, wie ein Engel verehrt wurde.

Sie war natürlich zu dem heutigen Fest auch geladen, und da man ihren Verlobten erwartete, so glaubte man auch auf ihr Erscheinen rechnen zu dürfen. Aber fast wäre das erwartete Vergnügen gestört worden. Kurz vor Beginn der Festrede brach nämlich in einem Dorf der Nachbarschaft Feuer aus, und auf den ersten Schreckensruf schien es, als wolle die ganze zahlreiche Versammlung auseinanderstürmen. Bald jedoch überzeugte man sich, daß der Ort fast eine Meile entfernt und also keine Ursache zu einer so gewaltsamen und unwillkommenen Störung vorhanden sei. Nur zwei Mitglieder des Vereins, der Schmiedemeister Anton Gräßler und der Schornsteinfeger Emil Winter, mußten als Mitglieder der Feuerwehrsektion für auswärts dem Ruf des Signalhorns folgen; die anderen aber kehrten in den Saal zurück und gaben ihre Teilnahme nur durch ein zeitweiliges Ausschauen nach dem fernen Brand kund.

So verging die Zeit. Längst schon war die städtische Löschmannschaft an der Unglückstelle angekommen und sah ihre Bemühungen von allmählich immer größerem Erfolg gekrönt. Blutigrot glänzte der Himmel, und die über der Brandstelle sich sammelnden Wolken tauchten ihre Säume in die aufsteigenden Gluten. Lange hatte das Gemäuer dem Feuer widerstanden; jetzt aber stürzte es mit lautem Getöse zusammen. Dichter, schwarzer Rauch wirbelte aus dem zischenden Herd auf, und wie die Strahlen einer riesigen Fontäne zuckten und sprühten die Flammen mit weithin leuchtender Helle zum letzten Mal empor. Dann sanken sie in sich zusammen; der Himmel färbte sich dunkler, und nur hier und da leckte eine gefräßige Zunge an einem noch unverkohlten Balken.

„Gott sei Dank, itzt is' endlich vorbei!“ sagte tief aufatmend der Schmied, welcher als Spritzenmeister das Mundstück des Wasserschlauches geführt hatte. „Das war mei' Seel' keen Zuckerlecken; ich bin wie gerädert.“

„Na, du Riesenkind wirst das bissel Anstrengung nicht gar sehr merken, aber wie es unserem Winter dort zumute is, das möchte ich wissen. Der hat fast Übermenschliches getan, und ohne ihn hätten die armen Leute elendiglich umkommen müssen.“

„Hast recht, alter Kumpan. Das Herz hat mer mein' Seel' im Leibe gezittert, als ich den braven Jungen so hoch da droben mitten durch Rauch und Flammen über die Firste hinbalancieren sah. So eenen verwegenen Gesellen gibt's hundert Meilen in der Runde nich wieder, und er hat sich heut' wenigstens ein halbes Dutzend Orden und Medallgen verdient. Na, wenn ich Fürst wäre, oder gar König, so wüßte ich, was ich zu machen hätte; da ich aber leider nur een simpler Hufnagler bin, so kann ich ihm weiter nischt, als nur eenen ehrlichen, gutgemeinten Händedruck applizieren. Und den soll er ooch gleich haben!“ Er kletterte über die herumliegenden Trümmer und schritt auf den Schornsteinfeger zu, welcher abgesondert von der Menge an einem Baum lehnte.

„Emil, alter Schwede, wie schaut's denn aus bei dir? Du mußt doch mein' Seel' verbrannt sein wie 'ne Weihnachtsstolle, die von Pfingsten bis zu Ostern im Backofen gestanden hat!“

„Danke, Anton. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Meine schwarze Staatsmontur hat freilich einige Schandflecke davongetragen; die Haut aber ist so ziemlich unverletzt geblieben. Du hast mich ja erst gehörig eingeweicht, bevor ich das Kunststück unternahm.“

„Na, schönes Kunststück! Wenn es gilt, 'nen Tanzsaal auszuräumen, oder ein Dutzend Baldrians zusammenzuhauen, oder meinswegen noch mit eenem zweenspännigen Fuder Erdäpfel auszureißen, da bin ich derbei. Aber wie 'ne Katze off brennenden Dächern 'rumklettern und drei Menschen, eenen nach dem anderen, dem Bruder Vesuvius aus dem Rachen reißen, dazu bin ich nich gemacht, das kann nur so een verteufelter Kerl wie du zustande bringen. Ich hab's ja immer gesagt, du bist ein tüchtiger Kerl in allen Stücken, und wir sind alle froh, daß du wieder bei uns bist.“

„Laß es gut sein. Ich habe nur getan, was jeder andere brave Essenkehrer auch tun würde. Freilich wollte es mir erst nicht so recht passen, daß ich unseren schönen Ball im Stich lassen mußte; es ist ja der erste, dem ich wieder beiwohne, jetzt aber bin ich ausgesöhnt mit der Störung. Du glaubst nicht, Anton, wie wohl es einem tut, wenn man sich sagen kann: Hast heut' rechtschaffen deine Pflicht getan!“

„Bist alleweil ein guter Junge, Emil! Und was den Ball betrifft, so is er uns ja noch gar nich davongeloofen. Wenn wir jetzt gleich anspannen, so kommen wir ganz schön zurechte. Es gibt sowieso nischt mehr für uns zu tun. Du, guck 'mal da 'nüber. Ich gloobe, die suchen dich. Es is der Pastor und der Schulze.“

„Du hast recht. Aber ich bin kein Freund von Komplimenten. Spanne rasch an und komme nach; ich werde vorangehen. Ich habe nicht allein gearbeitet; ihr habt alle Dank verdient.“

„Na, so loof nur zu. In zehn Minuten haben wir dich eingeholt.“

Der Schornsteinfeger schlich sich durch die Gärten und suchte die Straße zu gewinnen, welche nach der Stadt führte. Als er sie erreicht hatte, schritt er leichten Fußes vorwärts. Er mochte die Seligkeit, welche er über die Rettung dreier Menschen empfand, nicht durch störende Dankesworte entweihen lassen und gab sich den wohltuenden Gefühlen seines Inneren hin, bis er das laute Rollen der herannahenden Spritze hinter sich vernahm.

„Hallo, Emil, bist du's? Da sind wir: Komm, steig' uff. In eener halben Stunde sind wir in der Stadt; unsre Eglipasche fährt rasch. Da sehen wir zuerst, wie's im Saale ausschaut, und dann rennen wir heeme, stecken die Arme in den Frack und holen das Versäumte doppelt nach. Vorwärts, Christian, und een bißchen laut!“

Das Sechsgespann donnerte im scharfen Trab weiter, und kaum war die halbe Stunde vorüber, so hielt die Spritze mit der darauf hockenden Mannschaft vor dem Gasthaus.

Die beiden Männer sprangen ab und traten in den Hausflur.

Hier kam ihnen der Wirt entgegen.

„Seid ihr wieder da? Ist's nieder?“

„Ja. Wie sieht's dem droben aus, Gevatter?“

„Possierlich genug! Der Thomas hat wieder was Schönes ausgeheckt; er verauktioniert die Weibsen. Macht, daß ihr 'naufkommt, wenn ihr noch eene haben wollt. Umziehen könnt ihr euch nachher ooch noch. – Höre, Emil, der Buchhändler hat das Geld für dich geschickt; ich hab's drin liegen, wenn du's haben willst.“

„Nachher; halte nur reinen Mund. Es braucht hier niemand zu wissen, was ich in meinen Feierstunden treibe!“

Aus den geöffneten Flügeltüren tönte ihnen lustiges Lachen entgegen, welches eine laute, um Ruhe bittende Stimme zu durchdringen strebte.

„Silentium, meine Herrschaften, Si-Si-Silentium, was so viel heeßt als: Wer fertig is mit Lachen, der mag sich den Bauch wieder zurecht schieben; denn es wird gleich wieder losgehen. Also drei Taler zum zweeten Male; drei Taler zum dritten Male, zum dritten und letzten Male, Pumps! Der Herr Corpus juris Heinemann aus Dresden, welcher heut' auf Grund eenes Gevatterbriefes in unserer guten Stadt verweilt, zahlt für die Frau Schmiedemeisterin Anton Gräßler, welche bisher ohne Gevatterbrief anwesend gewesen ist, drei Taler. Kassierer, hier ist das Geld!“

„Meine Frau verkooft?“ rief der Schmied mit seiner tiefen Baßstimme in die von neuem lachende Versammlung hinein. „Und für drei Taler? Ihr seid nicht recht gescheit; so viel habe ich doch selber nich für sie gegeben.“

„Schadet nischt, Anton. Nimmst den Profit und erstehst dir eene Bessere. Erlooben die verehrtesten Herrschaften, daß ich meiner Pflicht als Auktionater genüge, indem ich von dem Notwendigen in Kenntnis setze. Er hat wegen des Feuers fortgemußt und weeß also nich, was hier eegentlich losgeht. Wie steht es denn mit dem Brande?“

„'s is aus: kannst's nachher ausführlicher hören. Erkläre mir nur erst die Rebellion, die du angerichtet hast, alter Schabernack.“

„Keine Beleidigung nich, Anton; ich bin nich schuld, daß dir deine Gustel abhanden gekommen is; denn ich habe dich wahrhaftig nich verleitet, in die Feuerwehr zu treten und jedem glimmenden Zigarrenstummel nachzuspringen. Also, off meinen Vorschlag hat der Verein den Beschluß gefaßt, alle anwesenden Damen zu verauktionieren. Jede dieser Damen gehört dem, welcher sie ersteht, für die Dauer des heutigen Abends an, muß ihm beim Dankeswalzer eenen Kuß geben, darf ohne seine Erloobnis mit keenem anderen tanzen, geht mit ihm zur Tafel und muß ihm ooch gestatten, sie nach Hause zu begleiten. Diejenige, für welche das meiste bezahlt wird, ist Ballkönigin; ihr Herr wird König, und dann errichten die Majestäten eenen Hofstaat, mit dessen Hilfe das Programm entworfen wird. So, und nun mach nur, daß du heem kommst und eenen anderen Gottfried anziehst. Du siehst ja aus, als wenn du een halbes Jahr im Teiche gelegen hättest und nachher noch eenige Monate lang als Froschreuse in Gebrauch gewesen wärest.“

„Wie viel haste denn noch?“

„Grad noch een Dutzend.“

„Na, da kann ich doch nicht erst heeme gehn; denn wenn ich eenmal ins Parfümieren komme, so werde ich vor dem ersten Advent nich fertig, und dann habe ich das Nachsehen. Ich möchte alleweile gern Schadenersatz für meine Alte haben und werde warten, bis eene darankommt, die nach meinem Geschmacke is. Wer mich in meiner jetzigen Schönheet nich haben will, der kriegt mich mein' Seel' ooch nich, wenn ich nachher noch schöner bin. Also, fang an.“

Der Essenkehrer war unbeachtet von den anderen hinter einen der Türpfosten getreten und überflog mit musterndem Blick die noch zu versteigernden Damen. Sie waren ihm alle bekannt außer – mit einer Bewegung ungewöhnlicher Überraschung trat er aus dem Versteck hervor und heftete das Auge auf ein Mädchen, welches zwischen dem Polizeirat und einem unbekannten Herrn saß.

„Welche Ähnlichkeit! So schön, so herrlich müßte sie geworden sein!“

Und sich zu dem eben eintretenden Wirte wendend, fragte er:

„Wer ist die junge, weißgekleidete Dame dort unter dem Orchester?“

„Das is Fräulein von Chlowicki. Kennst du sie denn noch nich?“

„Die wilde Polin? Ich habe wohl von ihr gehört, sie aber noch nicht gesehen. Und der Herr zu ihrer Linken?“

„Das is der Baron von Säumen, een reicher Erbe und ihr Verlobter.“

„Kennst du ihren Vornamen?“

„Se heeßt Wanda.“

„Bitte, hole mir mein Geld.“

„Emil, biste toll? Ich gloobe gar, du willst das Mädchen erstehen.“

„Geh nur und laß mich nicht lange warten.“

Er trat, in Rücksicht auf seinen nichts weniger als ballmäßigen Anzug, wieder hinter den Pfeiler zurück und beobachtete von da aus den Gegenstand seiner vorhin gezeigten Überraschung. In ziemlich reservierter Haltung saß Wanda neben dem Verlobten, dessen rednerische Anstrengungen, nach dem leisen Unmute, welcher wie ein Schatten auf ihrem schönen Angesicht lag, zu urteilen, von keinem glücklichen Erfolg gekrönt zu sein schienen.

„Also du wirst mit aufbrechen, Wanda?“

„Nein!“

„Du wirst mitgehen, und ich bitte dich um die Erlaubnis zu der Überzeugung daß eine Dame von deiner Distinktion an einem so plebejischen Spaß unmöglich Wohlgefallen finden könne.“

„Ich erteile dir meine Erlaubnis höchstens zu der Überzeugung, daß du nicht das rechte Maß für dergleichen Dinge besitzt. Ich werde bleiben.“

„Wirklich?“

„Wirklich!“

„Dann zwingst du mich, von dem Recht, welches meine Stellung als dein Verlobter mir erteilt, Gebrauch zu machen, indem ich dich diesen Schustern, Schneidern, Schmieden und Perückenmachern entziehe.“

„Ah!“

In diesem einen Laut lag eine unverhohlene Geringschätzung, und ihr großes, dunkles Auge blitzte mit spöttischem Blick über die hagere Gestalt ihres Verlobten hin, als sie, die reichen, blonden Locken mit einer unnachahmlichen Bewegung nach hinten werfend, hinzufügte:

„Und wenn ich mir nun wirklich einen dieser Schneider und Perückenmacher zum Ballherrn wünsche? Deine so rücksichtsvoll bei den Haaren herbeigezogene Stellung als mein Verlobter gibt dir keine andere Berechtigung, als einzig und allein diejenige, dich in meine Wünsche fügen zu dürfen.“

„Herr Baron“, fiel hier der Polizeirat in der Absicht, einem möglichen Eklat vorzubeugen, ein, „das Vergnügen ist ein durchaus unschuldiges. Man beliebt zuweilen einmal, auf wohlberechtigte Ansprüche zu verzichten, um den gewöhnlichen Mann in seinem Habitus kennen zu lernen und sich dabei ein kleines, erlaubtes Amüsement zu bereiten. Die Versammlung besteht aus durchaus ehrenwerten Personen, und ich selbst habe mich bewogen gefühlt, eine kleine, nette Schnittwarenhändlerin zu engagieren. Und hegt Fräulein Wanda wirklich die interessante Absicht, einem auf ihre verehrte Person gerichteten Gebote keine Schwierigkeiten entgegenzusetzen, so bleibt Ihnen ja die vollständige Freiheit, dieses Gebot selbst zu tun.“

„Einem so beredten und in dem Besitze meiner ungeteiltesten Hochachtung befindlichen Verteidiger muß ich mich allerdings fügen“, antwortete Säumen; aber es war kein guter Blick, welchen er bei dem Wort ‚ungeteilt‘ auf das Mädchen warf. „Doch werde ich der erwähnten Stellung wenigstens dadurch Rechnung tragen, daß ich ein Gebot sprechen werde, welches jede Konkurrenz ausschließt.“

Da erschallte die Stimme des Auktionators von neuem:

„Offgepaßt, meine Herrschaften! Ich habe aus Höflichkeit gegen die anwesenden Herren mein Gebot offgeschoben bis jetzt und erwarte deshalb, daß bei der nächsten Dame meine rücksichtsvolle Politik keene Gegner finden werde. Jede feindselige Intervention werde ich bis zum letzten Groschen meines Geldbeutels zurückweisen. Also jetzt, Fräulein von Chlowicki. Ich biete fünf Taler.“

„Zehn Taler“, rief der Baron von Säumen mit einer Stimme, in deren Klang sich sehr hörbar die Überzeugung aussprach, daß mit dieser Summe das Bürgertum vollständig geschlagen sei. Thomas maß den Sprecher mit scharfem, stechendem Auge und antwortete dann:

„Der reiche Herr Baron von Säumen bietet für seine Verlobte zehn Taler. Ich bin nur een armer Buchbinder, doch für eene solche Dame is mir das Doppelte nicht zu viel. Zwanzig Taler zum ersten Male.“

„Fünfundzwanzig Taler!“ rief der Baron.

„Ich gebe dreißig Taler und esse zwee Monate lang trockenes Brot. Also dreißig Taler zum ersten!“

„Fünfunddreißig!“

„Zehne mehr!“

Die Anwesenden folgten diesem ungewöhnlichen Wettstreit mit der größten Spannung. Wollte Thomas die so hoch über ihm stehende Aristokratin wirklich für sich erstehen, oder beabsichtigte er nur, den Baron in die Höhe zu treiben? Und warum lag, ganz gegen seine bisherige Freundlichkeit, jetzt eine so ätzende und beleidigende Schärfe in seinen Worten? Man sah es jedem seiner Blicke an, daß er unter einem dem Baron höchst unfreundlichen Gefühle handele.

„Das Gebot“, fuhr er fort, „is jetzt so hoch gestiegen, daß ich mich genötigt sehe, noch eenmal daroff offmerksam zu machen, daß der Betrag desselben sofort und bar bezahlt werden muß.“

„Fünfzig Taler!“ rief Säumen, ergrimmt über diese neue Malice.

„Hundert Taler!“ scholl es plötzlich mit lauter Stimme von der Tür her. Alle wandten sich überrascht dieser Richtung zu, und auch Wanda bemühte sich, den Mann zu entdecken, welcher ihr eine für die bescheidenen Verhältnisse der anwesenden Handwerker so bedeutende Summe opfern wollte. Aber da er im äußersten Winkel des Saales stand, so gelang es ihr nicht, ihn zu sehen.

„Emil, du bist's?“ rief Thomas. „Da trete ich gern zurück; denn niemandem gönne ich dieses Glück so gern wie dir!“

Und wie um dem Baron jedes weitere Gebot abzuschneiden, rief er schnell hintereinander:

„Also hundert Taler zum ersten, zum zweeten und zum dritten Male, Pumps! Unser neuer Herr Vorsteher, der leider durch das Feuer abgehalten worden is, eher zu erscheinen, gibt für Fräulein von Chlowicki hundert Taler. Und da diese Summe die höchste is, die heute geboten wurde, so is die genannte Dame die Königin des heutigen Festes. Es wird, sobald sich unser Feuermann in een anderes Habit geworfen hat, sofort zur Krönung geschritten werden. Jetzt aber erlobe ich mir vor allen Dingen die Majestäten eenander vorzustellen.“

Wanda erhob sich, als Thomas von der Tafel stieg, auf welcher er bisher gestanden hatte, um ihr den König zuzuführen. Sie liebte das Ungewöhnliche und fühlte ihr aristokratisches Gewissen nicht im mindesten beschwert durch den Vorwurf, die Königin eines bürgerlichen Balles zu sein. Zudem war Winter ja als Vorsteher der Gesellschaft bezeichnet worden, ein Umstand, welcher ihm als Empfehlung dienen mußte. In der einfachen Natürlichkeit dieser Leute, deren harmlose Munterkeit, verbunden mit einem offenen, gutmütigen Wesen, und unterstützt von dem treuherzigen Charakter ihres Dialektes auch eine stolzere Natur, als die ihrige, anmuten und anheimeln mußte, lag wenigstens für sie nichts Verletzendes. Die Sonne des Lebens hatte für sie nur kaltes, winterliches Licht gehabt und ihr nur selten einen freundlichen, erwärmenden Strahl zugesandt. Die Quelle ihres tiefen, reinen Gemütes war von einer falschen, auf wankenden Grundsätzen fußenden Erziehung zurückgedrängt und mit steinernem Riegelwerk verschlossen, der Reichtum ihres Geistes brach gelegt und ihr Wollen und Handeln von den rechten Bahnen seitwärts gelenkt worden. Der Anschluß an ein ihr innerlich verwandtes Wesen war ihr versagt geblieben, und so hatte sie sich stets einsam und verlassen gefühlt und in dieser Einsamkeit keine Gelegenheit gefunden, nach der echten Freiheit und Selbständigkeit zu streben und diese hohen Güter auch in der rechten Weise anzuwenden. So war sie das geworden, als was man sie bezeichnete, die wilde Polin.

Ihre Verlobung war das Werk kalter Berechnung, der sie sich nur gezwungen gefügt hatte. Der Baron war ihr verhaßt und widerwärtig, und da er ihr mit verletzender Offenheit zeigte, daß er nur von geschäftlichen Rücksichten in ihre Nähe geführt worden sei, so machte auch sie keine Anstrengung, ihm ihre Gesinnung zu verhehlen, und ersah sich aus der Verbindung mit ihm weder Glück noch Segen. Sein herrisches und hofmeisterliches Gebaren empörte sie, und mit Befriedigung ergriff sie deshalb jede Gelegenheit, sich unabhängig von ihm zu zeigen. Daher kam auch ihre gegenwärtige Bereitwilligkeit, sich von der Auktion nicht auszuschließen, deren Ergebnis ganz ihren Wünschen entsprechend war. Hätte der Baron sie erstanden, so hätte sie sofort den Saal verlassen, nun er aber geschlagen worden war, beschloß sie, dem Sieger durch freundliches Entgegenkommen zu danken und heute einmal so recht fröhlich unter den Fröhlichen zu sein.

„Ach was da“, hörte sie vorn an der Tür den Auktionator rufen. „Erst heeme loofen und Toilette machen! Dazu is es nachher ooch noch Zeit, Emil. Es würde doch die reene Unhöflichkeet sein, wenn du deine Dame so lange off die Geduldsprobe stellen wolltest. Du mußt ihr vor allen Dingen jetzt das schuldige Kompliment machen und nachher um den notwendigen Urlaub bitten. Komm!“

„Ja, Emil“, unterstützte ihn der Schmied mit nachdrucksvollem Baß. „Ich sehe akkurat so unappetitlich aus wie du, und doch bin ich meiner Gouvernante, die ich erstanden habe, willkommen gewesen. Deine Dame is jedenfalls nich weniger verständig als die meinige. Wir kommen eben von der Arbeit, und die hat noch niemand geschändet. Geh nur, geh!“

Sie sah die Versammlung sich teilen und Thomas auf sich zukommen. Hinter ihm ging ein anderer.

War es möglich? Deutlich fühlte sie das zornige Klopfen ihres Herzens; das Auge öffnete sich weit bei dem Anblick des rußgeschwärzten Mannes, und über ihre weichen Züge legte sich jene strenge Kälte, hinter deren Schild die gekränkte Weiblichkeit sich so gern und erfolgreich flüchtet. Ein rascher Blick in das Angesicht des Barons zeigte ihr ein schadenfrohes, höhnisches Lächeln, welches ihr die in diesem Augenblick so notwendige Fassung zu rauben drohte und ihr es schwer, ja fast unmöglich machte, das Richtige zutreffen.

„Gnädiges Fräulein, leider habe ich nich off Zeremonienmeester studiert und bin also ooch nich imstande, so hohe Herrschaften mit hofmäßigem Aplomb eenander vorzustellen. Beglücken Sie deshalb Ihren untertänigsten Diener mit königlicher Nachsicht. Herr Schornsteinfeger Emil Winter – Fräulein Wanda von Chlowicki.“

„Herr König aus dem Mohrenland, kehren Sie nach Dahomey zurück!“

Mit einer zurückweisenden, stolzen Handbewegung trat sie zur Seite und wehrte den penetranten Brandgeruch, welcher der versengten Kleidung des Essenkehrers entströmte, mit dem duftgetränkten Taschentuch von sich ab.

Ein leises Lächeln in dem von Schweiß und Schmutz entstellten Angesicht, wollte Winter ihr antworten, da aber trat ihm der Baron hastig und mit gebieterischer Handbewegung entgegen.

„Sie sehen, daß die Dame nichts von Ihnen wissen will, gehen Sie. Ein Mensch Ihresgleichen sollte notwendigerweise hier gar nicht Zutritt finden dürfen.“

„Wer sind Sie, mein Lieber?“

„Ich will die Lächerlichkeit begehen und Ihnen meinen Namen nennen. Ich bin der Baron Eginhardt von Säumen.“

Winters Auge, dessen Weiße von der Schwärze seines Antlitzes hervorgehoben wurde, maß den Baron langsam und forschend vom Kopf bis zur Fußspitze herab, und dann klang es mit eigentümlichen Ausdruck:

„Ich kenne Sie nicht!“

„Ist mir eine Ehre. Gehen Sie.“

„Nur keine lächerliche Anmaßung, mein Herr Baron!“ Und auf dem Wort Baron lag wieder jener eigentümliche, zweifelhafte Ausdruck. „In Ihrem Ton spricht selbst ein Eskimo nur mit seinen Hunden.“

Und sich zu Wanda wendend, fuhr er fort:

„Ich ließ mich in Ihre Nähe zwingen, Fräulein, um unter zwei Fehlern den kleineren zu begehen. Verzeihen Sie einem Mann, dem die Aufmerksamkeit gegen eine Dame in der ersten, die Seife aber erst in der zweiten Reihe stand, weil er gewohnt ist, den Menschen nicht nach dem äußeren Schein, sondern nach dem inneren Gehalt zu taxieren. Adieu!“

Mit einer gewandten Verbeugung entfernte er sich und verließ nach einer kurzen Unterredung mit Thomas den Saal.

„Hat man je so etwas erlebt!“ rief der Baron. „Diese Schmach hast du dir selbst zuzuschreiben, und ich hoffe, daß du jetzt nicht zögerst, mir zu folgen.“

Sie schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. Ihr Auge hing noch an der Tür, welche sich hinter dem Essenkehrer geschlossen hatte. Die Härte in ihren Zügen war gewichen und hatte einem sinnenden Ausdruck Platz gemacht. Wie kam dieser Mann zu der noblen Tournure und behenden Sprachfertigkeit, die er während des ganzen für sie so beleidigenden Vorganges gezeigt hatte? Woher kam ihm die Geschicklichkeit, diese Beleidigung zu parieren und auf die Gegner zurückzuwerfen? War diese sonore, metallreiche Stimme nicht schon einmal an ihr Ohr geklungen, und warum hatte dieselbe bei den Worten: ‚Ich kenne Sie nicht‘ einen so merkwürdigen Klang gehabt?

Es wurde ihr klar, daß der faux pas, den sie begangen, größer war als der seinige, wenn bei ihm überhaupt von einem solchen die Rede war. Sie war nicht nur unhöflich, sondern sogar undankbar und rücksichtslos gewesen. Während die anderen sich in ihrem Vergnügen nicht hatten stören lassen, war er dem Ruf der Pflicht gefolgt und derselben gewiß im vollsten Maße nachgekommen. Sein Habit war verbrannt und zerrissen, und gerade der unausstehliche Geruch desselben führte den deutlichsten Beweis, daß er sich sogar mitten in die Flammen hineingewagt habe. Und diesem braven, vielleicht sogar kühnen Mann, der obendrein ihretwegen eine so bedeutende Ausgabe gemacht hatte, war für alles das nur bittere Kränkung geworden. Oh, wie haßte sie den Baron, dessen Blick sie getrieben hatte, Worte zu sprechen, die sie jetzt bereuen mußte!

Und was nun? Die Freude war gestört, und wenn auch viele der Anwesenden ihr Verhalten gerechtfertigt fanden, so war doch bei den anderen die Unzufriedenheit mit demselben desto deutlicher zu erkennen, und sie selbst konnte sich bei dem Nachdenken über ihre Lage einer kleinen Verlegenheit nicht erwehren.

Da trat in Begleitung einiger Vereinsmitglieder der Buchbinder Thomas wieder zu ihr und bat sie, für den heutigen Abend das Zepter allein zu führen, da Winter sich infolge der bei dem Brand gehabten Anstrengung außerstande fühle, den Anforderungen der ihm übertragenen Würde gerecht zu werden.

„Ist diese Anstrengung so groß gewesen?“ fragte sie.

„Gewiß; er hat drei Menschenleben gerettet.“

„Drei Menschenleben“, wiederholte sie, und ihr schönes Auge füllte sich mit leuchtendem Glanz. „War Gefahr dabei?“

„Sehr. Der Zutritt von unten war unmöglich, so mußte er von dem Nachbarhaus auf das Dach hinabspringen, mitten durch Rauch und Flammen über die Firste hinklettern und sich durch die Feueresse einen Weg in die Kammer bahnen, in der die Leute staken. Dann hat er das Dach zerschlagen, und eenen nach dem anderen in die mitgenommenen Decken gewickelt und über die Firste zurückgetragen.“

„Das ist eine Heldentat, welche den größten Dank verdient.“

„Der mag keenen Dank. Er ist sogar fortgegangen, als er bemerkt hat, daß sie nach ihm suchten: 's is een Kerl, der mehr wert is als zehn Barone!“

Diese Worte waren laut genug gesprochen, daß Säumen sie vernehmen konnte, und auch Wanda mußte den Vorwurf, welcher in ihnen lag, um so mehr als einen gerechten anerkennen, als sie überzeugt war, daß sie nur Winter die Schonung zu verdanken habe, mit welcher diese guten Menschen ihr feindliches Benehmen ignorierten.

„Wird er wiederkommen?“

„Ja; er is Vorsteher und kann nicht gut entbehrt werden.“

„Ich bin bereit, den Thron, welchen Sie mir bieten, zu besteigen und werde mich sehr bestreben, meine Untertanen während der Dauer meiner Regierung froh und glücklich zu sehen. Bitte, Herr Thomas, rufen Sie die Herren zu einer Beratung zusammen.“

Sie trat in die Mitte des Saales, und bald herrschte in der Versammlung die heiterste Regsamkeit, von welcher nur der Baron, als der einzige, welcher keine Dame hatte, ausgeschlossen war. In vornehmer Nonchalance lag er auf dem Stuhl und würdigte das fröhlich um ihn herwogende Treiben keines Blickes. Aber trotz seiner anscheinenden Teilnahmslosigkeit zuckte ein gewaltsam zurückgehaltener Ärger um seine Lippen, und unter den halbgeschlossenen Lidern flog zuweilen ein zorniger Blick hinüber zu der Verlobten, die seine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben schien.

Als jeder seine Anstellung erhalten hatte, wurde das Programm entworfen. Krönung, Huldigung, Paraden, Manöver, Kammer- und Reichstagsversammlungen fanden auf demselben ihren Platz, und nur kurze Zeit war vergangen, so erkannten die entzückten Untertanen, daß es unmöglich sei, eine schönere und liebenswürdigere Königin zu wünschen. Wanda selbst fühlte sich amüsiert wie noch nie, und hätte die Gegenwart des Barons und der Gedanke an den zurückgewiesenen König nicht einen Schatten über ihr vor Freude gerötetes Angesicht geworfen, so wäre der heutige Abend der froheste und ungetrübteste ihres bisherigen Lebens gewesen.

Da bemerkte sie einen jungen Mann, welcher in nachlässiger Haltung an dem Buffet lehnte und mit halbem Lächeln die heiter beschäftigte Versammlung beobachtete. Wieder und immer wieder mußte sie den Blick zu ihm hinlenken, und ebenso bemerkte sie, daß auch sein Auge immer von neuem zu ihr zurückkehrte.

Wer war dieser Fremde, den sie nicht kannte, und den sie gleichwohl schon irgendwo gesehen zu haben glaubte? Sie mußte sich gestehen, daß das Äußere dieses Mannes ein ungewöhnliches sei und ihr ein ebenso ungewöhnliches Interesse abnötigte. Ein wehmütiger Ernst schien nicht bloß für den gegenwärtigen Augenblick, sondern für immer seinen Sitz in den blaßfeinen, geistreichen Zügen aufgeschlagen zu haben. Die hohe, freie Stirn gab dem männlich schönen Angesicht etwas ungemein Dominierendes; das Auge blickte so selbstbewußt und sicher in die buntbewegte, kleine Welt hinein, als hinge jede dieser Bewegungen nur von seinem Blick ab; seine Haltung trug das Gepräge strengster Eigentümlichkeit, und als er jetzt quer durch den Saal schritt, um sich dem isoliert sitzenden Baron zu nähern, zeigte jede seiner Bewegungen eine Eleganz, welche selbst in dem feinsten Zirkel Lob gefunden hätte.

Er nahm neben dem Baron Platz, und es war augenscheinlich, daß dieser der angeknüpften Unterhaltung das wärmste Interesse widmete. Sie wußte, daß ein wirklich nicht unbedeutendes Talent erforderlich sei, dem blasierten und dünkelhaften Säumen Achtung für eine Persönlichkeit einzuflößen und ihn zur Teilnahme an einer so lebhaften Konversation zu bewegen, und doch waren die Erfolge hier in so kurzer Zeit erreicht, daß Wanda den Wunsch fühlte, diesen Mann nicht bloß von weitem beobachten zu dürfen.

Als habe er diesen Wunsch in ihren Augen gelesen, erhob er sich und schien dem Baron eine Bitte vorzutragen. Dieser nickte zustimmend, nahm seinen Arm und führte ihn vor den reich mit Blumen und Girlanden geschmückten Thron, auf welchem die Königin saß. Das augenscheinlichste Wunder hätte sie nicht mehr überraschen können, als die Bereitwilligkeit ihres Verlobten, ihr nach allem, was vorgefallen war, hier mitten in einer ihm doch so sehr verhaßten Umgebung nahe zu treten, und mit Spannung sah sie seinen Worten entgegen, die ihr wenigstens einige Aufklärung über den Fremden bringen mußten.

„Ich bitte um die huldvolle Genehmigung, Eurer Majestät einen Ritter mit geschlossenem Visier vorstellen zu dürfen.“

Sie neigte zustimmend den Kopf, und Säumen kehrte nach seinem Platz zurück, während der Unbekannte, eine Anrede erwartend, vor ihr stehen blieb.

„Wir wollen Unsere Wißbegierde beherrschen und nicht mit Fragen das Visier zu öffnen versuchen. Noch haben Wir einige Vakanzen zur Verfügung und werden Eure Bitte gern vernehmen und erfüllen. Sprecht!“

„Dir meine Huldigung zu bringen,
Nah' ich, ein armer Troubadour.
Drum laß fortan mein Lied erklingen,
Zu deiner Locken duft'ger Spur.“

Bei dem Klange dieser Stimme, an welcher sie sofort den Essenkehrer erkannte, zog tiefe Röte über das Antlitz Wandas, aber sie faßte sich schnell und erwiderte:

„Der Sänger ist Uns hoch willkommen! Weilt bei Uns, lieber Troubadour, und nehmt hier diese Rose als Zeichen Unserer königlichen Gunst.“

Das Knie beugend, nahm er die Rose in Empfang, drückte sie an seine Lippen und steckte sie an die Brust. Hernach erhob er sich.

„Doch ist die Rose einer Königin nicht ohne Mühe zu erlangen. Es soll Uns Eure Kunst den Dank erstatten.“

„Ich harre des Befehls. Sprecht, Königin.“

„Die Flamme hat in unserer Nachbarschaft gewütet, und kühne Heldentat ist bei dem Brand geschehen. Uns war es nicht vergönnt, dabei zu sein; doch möchten gern wir sichere Kunde hören. Dort ist die Bühne; zieht den Vorhang auf und laßt sofort uns den Bericht vernehmen.“

Er verneigte sich und schritt nach dem Hintergrund des Saales, wo die Bühne errichtet war, auf welcher der Verein zuweilen ein kleines dramatisches Stück zur Aufführung brachte. In seinen Mienen lag es wie süße Genugtuung, und als er jetzt die Stufen hinter der Szene betrat, fühlte er sich stark genug, auch ungewöhnliche Ansprüche befriedigen zu können.

Wanda hatte, wie gesagt, den Schornsteinfeger wiedererkannt; sie sah sich tief beschämt durch das Zartgefühl, welches er durch das Verschweigen seines Namens und die Verzichtleistung auf seine Ansprüche zeigte, und zugleich mußte sie die Feinheit bewundern, mit welcher er sich von dem Baron Satisfaktion verschafft hatte, dadurch, daß er sich von keinem anderen vorstellen ließ, als von ihm, der ihn erst vor kurzem auf eine so unmanierliche Weise fortgewiesen hatte. Die Aufgabe, welche sie ihm erteilt, war sicher keine leichte; aber es war ihr gewesen, als müsse und werde sie ihn mit etwas Leichterem beleidigen. Er hatte sich einen Troubadour genannt, hatte in Reimen zu ihr gesprochen, und sein ganzes Wesen sprach dafür, daß er der Aufgabe gewachsen sei. Mit Spannung harrte sie deshalb der Lösung derselben.

Da ertönte die Klingel, der Vorhang stieg in die Höhe, und zu gleicher Zeit trat Winter zwischen den Kulissen hervor, um nach einer respektvollen Verbeugung zu beginnen.

Er sprach in gebundener und gereimter Rede. Ohne das leiseste Stocken flossen die Worte von seinen Lippen. Laut und jede Modulation beherrschend, schallte seine klangvolle Stimme über die aufmerksam lauschende Zuhörerschaft hin, und reich an ergreifenden Bildern und frappanten Wendungen hob die meisterhafte Schilderung sich auf glanzvollen Versen aus dem verborgenen Winkel, wo die Flammen sich entwickelten, empor in die glühenden Wolken, um dann mit dem besiegten Element wieder zur Erde niederzusteigen.

Aller Augen hafteten mit Bewunderung an dem so reichbegabten Improvisator, ihre Ohren verschlangen jede seiner Silben; ihr Atem stockte unter der packenden Gewalt seiner Sprache, und als er geendet, wagte niemand, den tiefen Eindruck seines Vortrages durch das übliche Händeklatschen zu entweihen. Als er aber nach einer Pause, in welcher die Herzen in tiefen Atemzügen sich von der Beklemmung befreit hatten, den Vorschlag machte, die durch die Auktion gewonnene Summe zur Unterstützung der Abgebrannten zu verwenden, da ertönte ein schallendes Bravo, und fast jede Hand fuhr in die Tasche, um freiwillig noch ein weiteres hinzuzufügen.

Als er durch die Portiere wieder in den Saal trat, stand Wanda vor ihm, streckte ihm beide Hände entgegen. An ihren Wimpern hingen helle Tropfen, und die tiefste Rührung bebte um den feinen, zitternden Mund.

„Können Sie mir verzeihen?“

„Gern, o so gern.“

„Und wollen Sie mein König sein?“

„Ich wage es nicht.“

„Aber wenn ich Sie bitte?“

„Dann gehorche ich; denn eine Bitte von Ihnen ist mir Befehl.“

„Kommen Sie schnell. Noch haben wir Blumen zu einer zweiten Krone, und ich werde bestrebt sein, alles gut zu machen.“

Jetzt erkannte auch der Baron, wen er vorhin der Königin empfohlen hatte, und der Grimm über diese Niederlage trieb ihn fort.

„Wanda, ich gehe, deine Garderobe zu holen!“

„Das ist nicht nötig, ich bleibe noch.“

„Du wirst diesen Ort sofort mit mir verlassen!“

Da trat Winter zwischen die beiden.

„Herr Baron, ich bin Vorsteher unserer Gesellschaft und habe als solcher innerhalb dieser Räume jede Störung des allgemeinen Wohlbefindens zu verhüten. Erlauben Sie mir eine Frage.“

„Welche?“

„Sie wollen sich entfernen?“

„Ja.“

„Und Sie wollen bleiben, mein Fräulein?“

„Ja.“

„Dann gehen Sie ohne Sorge, Herr Baron; denn Ihre Entfernung wird uns keine Störung bereiten, und Fräulein von Chlowicki befindet sich in unserem Schutz vielleicht wohler als in jedem anderen. Wer sie nur mit einem Blick zu beleidigen wagt, den lasse ich durch den Hausknecht auf die Straße bringen, gleichviel ob er Fürst oder Schusterjunge ist. Dies zu Ihrer Beruhigung, Herr Baron!“

Wieder lag auf dem Wort Baron jener auffallende Akzent, und jeden weiteren Einspruch seines Gegners abschneidend, gab er Wanda seinen Arm und schritt, nach einer unendlich geringschätzigen Bewegung seiner Achsel, von dannen.

Als er später in eins der Nebenzimmer trat, fand er Gräßler und Thomas in demselben.

„Heut' is es doch prächtig“, sprach der erstere; „und dein Einfall, Heinrich, is tausend Taler unter Brüdern wert. Meine Alte bin ich Gott sei Dank 'mal los und habe an ihrer Stelle een Gouvernantchen gekriegt, wie ich sie mir nich hübscher und draller denken kann. Ich mache alle Tage mit!“

„Der Einfall stammt nicht von mir; ich habe ihn von meiner Wanderschaft aus der Rheingegend mitgebracht. Aber weeßte, wer von uns am allerbesten weggekommen is?“

„Nu?“

„Unser Emil da! Potz Blitz, ist das een Mädel, die Polin! Mein Lebtage habe ich noch keene solche Schönheet gesehen, und wenn unser Vorsteher statt seiner Rußkapuze eene Grafenkrone offzusetzen hätte, so wüßte ich, was ich ihm für eenen Vorschlag zu machen hätte.“

„Einverstanden, altes Haus! Ich gab' mein' Seel' zehn Gouvernantchens hin für die eene Polin; aber wie gesagt, ich bleibe dabei, du bist een tüchtiger Kerl, Emil. Warum, das brauche ich dir nicht erst zu erklären.“

„Und herzlich gefreut hat es mich alleweil“, fuhr der Schmied fort, „daß der Säumling, oder wie er heeßt, ohne Musik hat abziehen müssen. Der Mann gefällt mir nich.“

„Warum?“

„Kann es nicht sagen. Hat so een Ohrfeigengesicht.“

„Wieso?“ lachte Winter.

„Weeßte das noch nich? Es gibt Gesichter, bei deren bloßem Anblick es eenem in den Händen juckt. Ich bin keen Physiogniff, oder wie es heeßt, und nenne diese Visagen also kurzweg Ohrfeigengesichter.“

„Haste vielleicht seine Uhrkette und seine blaue Nasenquetsche angesehen, Emil?“ fragte Thomas.

„Ja; ich habe mir den Mann überhaupt sehr genau betrachtet. Beides war von einer Arbeit, wie man sie nicht oft zu sehen bekommt. Warum?“

„Hm! Ich habe so meine Gedanken derbei gehabt!“

„Welche Gedanken?“

„Das sage ich dir vielleicht später 'mal.“

„Freundlich sind diese Gedanken wohl nicht. Du hast den Mann ja mit einer Aversion behandelt, die ganz gegen deinen Charakter ist.“

„Hab' vielleicht ooch Ursache dazu. Sollst's schon noch erfahren, was für eene. Da, jetzt geht die Polka los; das is so meine Art. Komm, Anton.“

„Meinetwegen Polka oder Rutscher, wenn's nur rund 'rum geht. Aber wie steht es denn eigentlich mit unserem Dankeswalzer, Emil? Der steht ja gar nich mit off der Liste. Du, altes Haus, den hat mein' Seel' deine Polin vorhin nur deshalb weggelassen, weil ihr der König dazu fehlte. Bringe es ihr 'mal off eene feine Art und Weise mit bei, daß ich 'nen Appetit off Gouvernantenlippen habe! Sapperlot noch 'mal, da steht sie ja gleich, unsre Königin, und hat den ganzen Kram mit angehört. Na, Majestät, sein Sie nur nicht bös deshalb. Unsereener redet alleweile grad' so, wie ihm der Schnabel gewachsen is.“

Er ging mit Thomas in den Saal zurück und ließ die beiden Majestäten allein.

„Meine Königin hat den Wunsch des treuherzigsten Ihrer Untertanen vernommen.“

Sie errötete und erwiderte mit schalkhaftem Lächeln:

„Es ist Uns die Kenntnis über die Wünsche der Unsrigen sehr angelegen.“

„Und diese Kenntnis verfolgt den Zweck der Erfüllung dieser Wünsche?“

„Ohne Zweifel, sobald dieselben billig sind.“

„Dürfen wir Uns zu der verheißungsvollen Ansicht neigen, daß der vorhin vernommene Wunsch zu dieser glücklichen Kategorie gehöre?“

„Vielleicht. Nur dürfte die Ressortfrage eine unentschiedene bleiben.“

„Untersuchen Wir diesen Kasus. Der Kuß als Dankeszahlung gehört in das Ressort des Finanzministers, der Kuß als Opfer in dasjenige des Kultusministers, der Kuß als Äußerung einer innerlichen Gesinnung in dasjenige des Ministers des Innern, der Kuß als Friedenszeichen in dasjenige des Kriegsministers und der Kuß als Buß- und Sühnezeichen in dasjenige des Justizministers.“

„Dann müßten Wir Uns in Erwägung des Geschehenen für den letzteren Fall entscheiden und mit Ergebung in die Strenge des Gesetzes die über Uns verhängte Strafe tragen.“

„Das klingt so widerstrebend, daß Wir Uns bewogen fühlen, diese Strenge durch ein nachsichtsvolles Arrangement zu mildern und auf dem Gnadenweg dem finsteren Verhängnis zu begegnen.“

„Wir sagen Dank und fügen Uns in Euren hohen, gnadenreichen Willen.“

Sie gingen in den Saal und traten zu Thomas, welcher soeben seine Tänzerin verlassen hatte, um den König aufzusuchen.

„Geruhen Majestät, eene untertänigste Frage des Hofkapellmeesters vorzutragen?“

„Nee, Wir geruhen nich, geruhe du, Anton!“ lachte Winter.

„Ach so, hab' ich wieder 'mal 'nen Bock geschossen? Ihr habt mich ooch zu meinem Unglück zum Oberhofkurier gemacht; denn wo ich nur das Maul offtue, da werde ich allemal ausgelacht.“

„Mach's besser. Also deine Frage?“

„Das Konzert soll beginnen. Werden Eure Königliche Gnaden untertänigst belieben, eene gehorsamste Solopartie vorzutragen?“

„Nein. Bei Unsrer hohen Stellung ziemt es sich nicht für Uns, mit Gimpeln und Zeisigen gehorsamst und untertänigst um die Wette zu zwitschern; aber sobald wir die Krone von Unserem Haupte getan, wird der Bariton Emil Winter ein Liedchen vortragen, welches äußerst wertvoll durch den Umstand ist, daß er es selbst gedichtet und in Musik gesetzt hat. Jetzt aber, Herr Oberhofkurier, tut Eure Ohren auf und vernehmt den gnädigen Entschluß, daß Wir noch vor dem Konzert den Thron besteigen werden, um an der Seite Unsrer hohen Herrin Uns an dem Dank zu weiden, den Eure Damen Euch noch schuldig sind. Der Kußwalzer mag beginnen!“

„Kußwalzer? Mein' Seel'! Majestät, du bist een ganzer Kerl! Warum, das brauche ich dir ooch jetzt nicht erst zu sagen. Na, Gouvernantchen, freue dich alleweile off deinen Schmied!“

Mit raschen Schritten eilte er davon, um die frohe Botschaft weiter zu tragen.

Als nach einiger Zeit Winter sich mit Wanda zurückzog, um einen Augenblick der Erholung zu finden, fragte die Polin:

„Sie singen auch?“

„Zuweilen ein Liedchen.“

„Welches Sie natürlich selbst dichten und komponieren?“

„Nicht immer. Bei unserem Reichtum an wertvollen, tonkünstlerischen Werken hat ein Autodidakt, wie ich, keine Veranlassung, sich auf die anspruchslosen Kinder seiner Mußestunden zu beschränken.“

„Bei diesem fremden Wort fühle ich immer ein verwandtschaftliches Mitgefühl für jene reichbegabten Naturen, welche, an kleinliche Verhältnisse gebannt, in ihnen keine Befriedigung finden können, oder gar zu Grunde gehen müssen, weil sie für Größeres angelegt sind.“

Er blickte sie überrascht an. Kannte sie sich wirklich so genau, daß die Selbsterkenntnis ihr diese Worte diktierte? Er entgegnete mit leisem Kopfschütteln:

„Zu Grunde gehen? Sollte eine großangelegte Natur nicht die Kraft besitzen, auch das Kleine zu überwinden?“

„Das Kleine, ja, aber nicht das Kleinliche. Ich kenne leider diesen Unterschied.“

„Das Kleine ist zu achten; denn es ist ein Teil des Großen und Ganzen, und man darf es deshalb, wenn es einem feindlich entgegentritt, ohne Schädigung des Selbstgefühls immerhin bekämpfen, das Kleinliche aber ist einfach verächtlich und kann weder die Seelenstimmung noch die Entschließungen eines ausgebildeten Charakters beeinflussen!“

„Eines ausgebildeten Charakters, – ja, das ist es“, setzte sie hinzu. „Das Kleinliche besitzt im Leben ja nur deshalb so viel Macht, weil es an wirklich ausgeprägten Charakteren mangelt. Und wer trägt die Schuld an diesem Mangel? Wie viel wird hier gefehlt und gesündigt, wie manches Lebensglück zertrümmert, weil der Grundstein zu demselben auf sandige oder verwitterte Unterlage zu liegen kam!“

„Und doch liegt es meist in unserer eigenen Hand, den wankenden Bau mit starkem, vorurteilsfreiem Willen niederzureißen, um ihn dann auf festerem Boden schöner und haltbarer wieder aufzurichten.“

Jetzt war an ihr die Reihe, ihn mit einem forschenden Blicke anzusehen. Traute er ihr diesen Willen nicht zu?

„Wer doch die freie, ungebundene Kraft dazu besäße!“ hauchte sie.

„Wenn nicht, so leiht man sich die nötige Kraft. Auch ich habe niedergerissen und arbeite noch heute an dem Wiederaufbau des Zertrümmerten.“

„Allein?“

„Allein.“

„Dann beneide ich Sie um Ihren Mut.“

„Oh, ich habe noch davon übrig, Kraft und auch Mut“, erwiderte er, während sein Auge in heller Genugtuung aufleuchtete.

Sie fühlte, daß weder Stolz noch Selbstüberhebung aus diesen Worten sprach, und legte unwillkürlich die Hand auf das Herz, in welchem noch nie empfundene Regungen sich geltend machen wollten.

„Dieses edle, freudige Selbstbewußtsein habe ich bisher nur bei einem einzigen bemerkt, und dieser eine war fast noch ein Knabe.“

„Ein Knabe?“

„Sie wollen zweifelnd fragen, ein selbstbewußter Knabe? Ich weiß, wie wenig diese beiden Worte oder Begriffe zusammenpassen, und doch ist es so.“

„Darf ich diesen Knaben kennen lernen?“

„Ich begleitete als junges, zwölfjähriges Mädchen den damals lebenden Vater auf einer Erholungsreise durch Thüringen. Wir hatten bei einem seiner früheren Studiengenossen Absteigequartier genommen, und da die Herren es liebten, sich den ganzen Tag bei Gott weiß welchem philosophischen Thema zu langweilen, so zog ich es vor, allein und ohne Begleitung, wie es auch jetzt noch meine Art und Weise ist, in Busch und Wald herumzustreichen und der Freundin Natur so recht tief und aufmerksam in das herzige Auge zu blicken. Während dieser Streifzüge traf ich auf einen jungen, siebzehnjährigen Menschen, welcher in der nahen Stadt einen Verwandten aufsuchen wollte. Er kam aus Leipzig und war der jüngste Sohn eines Ihrer Berufsgenossen. Dieser war kürzlich gestorben und hatte, da sein hinterlassenes Soll das Haben bedeutend überstieg, die Seinen in den betrübendsten Verhältnissen zurückgelassen. Da es an den nötigen Mitteln mangelte, mußte der ältere Sohn die Universität verlassen und sich mit einer karg besoldeten, subalternen Stelle bei der Polizei der Residenz begnügen. Der Jüngere, welcher noch im Gymnasium gesessen hatte, war gezwungen, der Heimat den Rücken zu kehren, um bei einem Paten, welcher dem ehrsamen Schneiderhandwerk oblag, dessen Profession zu erlernen, und die Mutter blieb mit den Schwestern zurück, um ihr Leben mit dem spärlichen Ertrag der Nadelarbeit zu fristen.

Der junge Mensch brauchte erst am Abend bei dem Paten einzutreffen, und da wir, wie es bei Kindern oft zu geschehen pflegt, schnell Wohlgefallen aneinander fanden, so beschlossen wir, uns für den heutigen Nachmittag einander anzuschließen und diese letzten seiner freien Stunden gehörig auszunützen. Er war eine jener großartig angelegten Naturen. Das fühlte und erkannte ich freilich erst später; aber als wir endlich voneinander schieden, bat ich ihn, mir ein Andenken zurückzulassen. Er fragte mich, welches, und da ich bemerkt hatte, daß er eine wundervolle Stimme besaß und auch gewandt im Versemachen war, so gab ich ihm die Aufgabe, ein Gedicht auf mich zu machen und es mir zum Abschied vorzusingen. Da lehnte er sich mit verschlungenen Armen an den Stamm eines nahen Baumes, blickte mir eine Zeitlang sinnend in das Angesicht und begann dann zu singen. Zwar habe ich nur die vier letzten Verse des Liedes behalten, aber sie sind mir ein liebes und gern gehegtes Andenken geblieben bis auf den heutigen Tag.“

„Darf ich fragen, was er gesungen hat?“

„Ich hatte ein Heckenröschen in das Haar gesteckt, und da er zwischen dieser Blume und meinem damaligen Wesen Ähnlichkeit zu entdecken schien, so hatte ich die zweifelhafte Ehre, von ihm als ‚wilde Rose‘ besungen zu werden.“

„Und der Dank für sein Lied?“

„Bestand in jenem Röschen, welches er sich beim Scheiden von mir erbat.“

„Um es vielleicht wegzuwerfen, als er später der Erinnerung müde geworden ist.“

„Nein, nein“, antwortete sie mit leisem, nachdenklichem Ton. „Er war ein aufrichtiges und treues Gemüt und hat jedenfalls die Erinnerung an jene Stunden ebenso festgehalten wie ich. Seine Züge hat mein Gedächtnis nicht behalten können; aber seine Stimme klingt noch heute in mir fort, und ich glaube, daß ich ihn an derselben wiedererkennen würde.“

„Nicht auch an seinem Namen?“

„Den kenne ich nicht. Wir waren ja Kinder und fragten uns nicht nach der üblichen Legitimation. Meinen Namen habe ich ihm vielleicht genannt; der seinige aber ist nicht in Erwähnung gekommen. Doch wir entziehen uns der Gesellschaft. Lassen Sie uns zu ihr zurückkehren.“

Es wirbelte in dem Kopf Winters, und er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig zu bleiben. Warum erzählte sie gerade ihm dieses kleine, kindliche Abenteuer, von welchem sie sicher gegen niemanden weiter gesprochen hatte? Warum verglich sie gerade ihn mit diesem Knaben, dessen Verse ihr bis heute ein teures Andenken gewesen waren? Er lächelte still und glücklich vor sich hin und mußte sich mit Gewalt von den Gedanken losreißen, welche ihn bestürmten. Aber als er später die Attribute seiner königlichen Würde abgelegt hatte und nun von allen Seiten um das versprochene Liedchen gebeten wurde, trat er mit dem Vorsatz an das Piano, den Beweis zu führen, daß jener Knabe den Tag im Wald auch treu im Gedächtnis bewahrt habe.

Mit gewandter Technik flogen seine Finger präludierend über die Tasten, und als die nötige Stille eingetreten war, begann er den Gesang.

Sein Auge war auf Wanda gerichtet. Er wollte sich den Genuß nicht versagen, sie während seines Vortrages zu beobachten.

Bei den ersten Worten senkte sie, dem Wohlklang seiner Stimme lauschend, das Köpfchen; aber nicht lange währte es, so hob sie es mit einer raschen Bewegung in die Höhe. Forschend suchte ihr Auge in seinen Zügen; doch schien es, als wolle ihr das Gedächtnis nicht zu Hilfe kommen. Sie hatte ja vorhin gesagt, daß sie nur die vier letzten Verse behalten habe.

Da erhob er sich, verließ, ohne Begleitung weiter singend, das Instrument und lehnte sich, den Blick noch immer auf sie gerichtet, mit verschränkten Armen an den nahen Pfeiler.

Jetzt machte mit einem Mal der sinnende Ernst auf ihrem Angesicht einem hellen, sonnigen Lächeln Platz; dann strich sie mit einer Bewegung des freudigen Erkennens das reiche, volle Haar von den Schläfen zurück und schloß das Auge, um sich seinen Tönen mit vermehrter Aufmerksamkeit hingeben zu können. Kaum aber waren die Strophen

„Drum schließe deine Augen zu,
Worin die Tränen glühn.
Ja, meine wilde Rose, du
Sollst nicht im Wald verblühn!“

verklungen, so schnellte sie von ihrem Sitz in die Höhe und eilte mit einem Ausruf des Entzückens auf den Sänger zu.

Schon wollte dieser ihre ausgestreckten Hände erfassen; da aber hielt sie plötzlich inne und floh, während die Glut der Scham ihr Antlitz bedeckte, dem Nebenzimmer zu.

Hier öffnete sie das Fenster und bot die heiße Stirn dem kühlenden Hauch der Abendluft dar.

Warum hatte sie ihn nicht eher erkannt! Dann wäre sie von der Überraschung nicht so plötzlich übermannt worden, und er hätte nie, nie erfahren, daß sie sein Bild aus den Jahren der Kindheit mit herübergenommen habe auch in die reifere und ernstere Zeit des Lebens. Eine plötzliche Erkenntnis stieg jäh und leuchtend in ihr empor, und alles, alles, was sie bisher gedacht, gefühlt, gehofft und gewollt hatte, stürzte haltlos zusammen und ließ nichts zurück als eine langsam aufdämmernde Ahnung gänzlicher Hilflosigkeit, gänzlichen Verlassenseins.

Und mitten in diese Dämmerung hinein tönten jene mahnenden Worte, welche er ihr am heutigen Abend gesagt:

„Es liegt in unserer Hand, das Niedergerissene mit starkem, vorurteilsfreiem Willen schöner und haltbarer wieder aufzurichten.“

Konnte das geschehen? Konnte sie dem Bann, den Geburt, Gewohnheit und Erziehung um sie gezogen, sich entreißen, um dem Ruf eines Gefühls zu folgen, welches Jahre unentdeckt in ihrem Innern geschlummert hatte und jetzt mit einem Mal seine leuchtenden Flammen über sie zusammenschlug?

Lange, lange stand sie so am Fenster und vermochte trotz aller Anstrengung nicht ihr heftig klopfendes Herz zur Ruhe zu bringen. Da ertönte es leise neben ihr:

„Wanda!“

Sie verharrte regungslos in ihrer Stellung.

„Habe ich Sie beleidigt? Verzeihen Sie mir!“

Es erfolgte keine Antwort.

„Bitte, sagen Sie mir ein Wort, nur ein einziges Wort!“

Es war ihr unmöglich, ihr glühendes Angesicht dem Sprecher zuzuwenden, und eine jede Silbe hätte ihre innere Aufregung verraten. Sie schwieg.

„Gute Nacht, Fräulein von Chlowicki!“ klang es da fest und energisch an ihr Ohr, und zu gleicher Zeit vernahm sie seinen sich entfernenden Schritt.

„Herr Winter!“

Er drehte sich langsam um. Kalt blickte sein Auge auf sie hin, und kein Zug seines Gesichts verriet auch nur die leiseste Störung seines inneren Gleichgewichts.

„Sie dürfen mich nicht verlassen, Herr Winter! Oder soll ich ohne Schutz und Begleitung dem Dunkel der Nacht mich anvertrauen?“

„Befehlen Sie Ihre Garderobe?“

„Ich bitte um sie!“

Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit dem Gewünschten zurück und verließ mit ihr das Haus. Auf der Straße angekommen, bot er ihr seinen Arm. Sie legte die Hand leise auf denselben, und so schritten sie in tiefen Gedanken wortlos weiter.

„Hier ist meine Wohnung. Die Mutter hat noch Licht und erwartet mich.“

Er zog die Glocke, und sofort erschien eine Dienerin, um zu öffnen.

„Im Namen meines Vereins danke ich Ihnen für die gnädige Herablassung, welche uns einen so unerwartet schönen Abend bereitet hat!“

„Wollen Sie nicht für einen Augenblick Zutritt nehmen, damit auch Mutter Ihnen für Ihre Begleitung Dank sage?“

„Ich bitte, mich zu dispensieren. Die späte Stunde wird mich genügend entschuldigen.“

„Dann gute Nacht!“

„Gute Nacht!“