Kapitel 9

Emma sah auf die Uhr. Typisch Sophie! Das Taxi sollte die Schwestern um zehn Uhr abholen, und jetzt war es Viertel vor; Sophie war seit gestern Abend nicht wieder aufgekreuzt, und gepackt hatte sie auch noch nicht.

Emma hatte sich herzlich von Dehannys verabschiedet und hoffte, ihre Freundin irgendwann einmal wiederzusehen. Vielleicht, wenn Kuba kein kommunistisches Land mehr wäre und Dehannys problemlos ausreisen könnte. Oder aber sie selbst würde eines Tages nach Varadero zurückkehren.

Sie klappte ihren Koffer zu und schaute unter dem Bett nach, ob sie etwas vergessen hatte. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde sie wütender. Kuba war zwar berüchtigt für seine karibische Pünktlichkeit, aber sie wollte den Taxifahrer nicht warten lassen, falls er zufällig doch pünktlich käme.

Emma fragte sich, ob Felipe mit der Fahrt beauftragt würde. Sie hatte ihm erzählt, dass sie heute um zehn Uhr abgeholt und nach Havanna gebracht wurde.

Im paladar hatte er sie sehr ritterlich und zuvorkommend behandelt, aber nichts von einem Wiedersehen gesagt. Sie hatten Schuldgefühle geplagt, als sie im Dunkeln mit ihm auf die Veranda gegangen war, um die Sterne zu betrachten – als würde sie Paul hintergehen –, doch eine leise Stimme sagte ihr, es sei in Ordnung, die Gesellschaft eines anderen Mannes zu genießen. Das machte sie nicht zu einem schlechten Menschen und minderte ihre Liebe zu Paul nicht.

Wieder sah Emma seufzend auf das Zifferblatt ihrer Uhr. Es war höchste Eisenbahn, den Etagendienst zu rufen und einen Gepäckträger kommen zu lassen, der ihre Sachen zur Rezeption hinunterschaffte, aber sie konnte nicht allein nach Havanna fahren. Also zerrte sie Sophies Reisetasche aus dem Schrank und warf ihre sowieso schon zerknitterten Klamotten bündelweise hinein. Im Bad fegte sie mit einer Hand Sophies Toilettenartikel in ihre riesige rosafarbene Schminktasche. Zum Glück hatte ihr Schwesterherz nicht den halben Haushalt mitgenommen wie früher, als sie noch Kinder waren.

Als Emma den Verschluss von Sophies Reisetasche zuschnappen ließ, hörte sie, dass sich jemand an der Zimmertür zu schaffen machte.

Mit zerzausten Haaren und in Hochstimmung kam Sophie hereingestolpert.

»Du bist spät dran!«

»Entspann dich, Em, wir sind im Urlaub.«

»Ich musste deinen Krempel für dich packen – aber vielleicht hast du ja darauf spekuliert.«

Sophie rannte zu ihrer Reisetasche und kontrollierte sie. »Du hättest die Sachen wenigstens zusammenlegen können.«

»Du hast Nerven! Jetzt hol deinen restlichen Kram, bevor ich noch was sage, das ich vielleicht später bereue.«

Sophie verdrehte die Augen. Am liebsten hätte sie ihrer Schwester an den Kopf geworfen, wie spießig sie geworden war – sogar noch schlimmer als ihre Mutter –, aber das wäre dann doch zu beleidigend gewesen.

Es war das Beste, sie zu ignorieren und sich mit dem gereizten Schweigen auf der langen Autofahrt nach Havanna abzufinden. Vielleicht würde sie sogar ein paar Stunden Schlaf kriegen – sie hatte es nötig!

Gemeinsam mit dem Gepäckträger lief Emma nach unten in die Halle.

Sie stand gerade an der Rezeption, als Felipes vertraute Gestalt erschien.

»Buenos días, Emma.«

Emma errötete, aber im Grunde war sie nicht überrascht, ihn wiederzusehen. Sie hatte so eine Ahnung gehabt, dass er sie nach Havanna bringen würde, und fragte sich, ob er es vielleicht so gedeichselt hatte.

»Felipe! Fahren Sie uns nach Havanna?«

»Ja, heute ist ein guter Tag für Havanna.«

»Jeder Tag ist ein guter Tag für Havanna«, mischte sich der Portier ein und lachte herzhaft.

»Möchten Sie vorne sitzen?«, fragte Felipe, als sie sich dem Wagen näherten.

»Ja, sehr gerne. Da sieht man mehr.«

»Ich kann für Sie den Reiseführer spielen.«

Alles andere als begeistert, dass Felipe wieder aufgetaucht war, schlurfte Sophie hinter ihnen her. Ihr war nur daran gelegen, es sich auf dem Rücksitz gemütlich zu machen.

Sie fuhren los über die lange, schmale Zufahrtsstraße, die sie auf die Hauptstraße nach Matanzas führte.

»Wenn Sie möchten«, schlug Felipe vor, »können wir anhalten und den Raubvögeln beim Fliegen zusehen.«

»Das klingt gut«, meinte Emma und warf einen Blick auf die Gestalt, die zusammengerollt auf dem Rücksitz lag.

Wenige Minuten später schlief Sophie tief und fest. War wohl auch besser so.

Bei Tageslicht war die Fahrt nach Havanna um vieles aufschlussreicher als nach ihrer Ankunft am Flughafen José Martí. Die üppig grüne Vegetation erinnerte sie an zu Hause.

Felipe bog scharf ab, fuhr eine steile, schmale Straße zu einem Aussichtspunkt hinauf, der die Hälfte der Strecke zwischen Varadero und Havanna markierte, und hielt auf dem Parkplatz. Wie für Kuba typisch, musizierte eine Gruppe Einheimischer vor einer kleinen Bar mit angrenzendem Laden und nahm ein paar Münzen von den Touristen entgegen, die ebenfalls hier angehalten hatten, um die wunderbare Aussicht zu genießen. Wilde Raubvögel mit riesigen Flügelspannweiten stiegen auf und vollführten Sturzflüge ins Tal.

»Kaffee?«, fragte Felipe.

Emma nickte. Sie liebte den Klang seiner Stimme, wenn er das sagte. Seine schwarze Mähne und das unrasierte Gesicht verliehen ihm einen verruchten Sexappeal.

»Dos«, bat Felipe, und die Kellnerin hinter der Theke reichte ihnen die Tässchen, ohne dafür Geld zu verlangen.

Sie tranken ihre Espressos.

»Sehen wir uns die Vögel an«, schlug er vor.

Gemeinsam liefen sie zu dem blauen Geländer vor dem Café, wo einer der Raubvögel durch die Luft wirbelte und ihnen eine tolle Show bot. Ein weiterer schloss sich an, und das Viadukt und die massive Brücke, die sie gerade überquert hatten, boten einen spektakulären Hintergrund für das Schauspiel.

»Jetzt verstehe ich, warum so viele Leute hier anhalten, um sich das anzusehen.«

»Es ist praktisch für die Regierung, weil sie die Touristen dazu bringen, in dem Café etwas zu trinken.«

»Ist es Eigentum der Regierung?«

Felipe lachte ein bisschen. »Alles ist Eigentum der Regierung!«

»Ihr Englisch ist ausgezeichnet, Felipe. Wo haben Sie das gelernt?«

Felipe zuckte bescheiden mit den Achseln. »In der Schule und …« Er zögerte. Er wollte Emma noch nicht so viel über sich erzählen. »Ich übe mit den Leuten, die ich umherfahre.«

Er trank auch das letzte Tröpfchen aus seiner Espressotasse und bedeutete Emma, ihm zurück zum Wagen zu folgen.

»Wie weit ist es noch bis Havanna?«

»Etwa eine Stunde. Sie haben mich nach Cojímar gefragt. Möchten Sie es sehen?«

Das klang für Emma wie Manna in der Wüste. Cojímar war das Dorf, in dem Hemingway mit seinem Boot zum Fischen rausgefahren war.

»Ist das für Sie kein Umweg?«

Felipe zuckte mit den Achseln. »Etwa zwanzig Kilometer.«

»Kriegen Sie deswegen Schwierigkeiten?«

Felipe lachte. »Ich kann ja behaupten, dass ich eine Autopanne hatte. Das passiert oft.«

Emma war klar, dass er ein Risiko einging, um ihr eine Freude zu machen, aber diese Gelegenheit konnte sie sich nicht entgehen lassen.

Sophie schlief immer noch fest. Offensichtlich hatte sie in der Nacht zuvor ihren Spaß gehabt. Vielleicht würde sie erst wach, wenn sie schon in Havanna waren.

Ungefähr nach einer halben Stunde bog Felipe von der Hauptstraße nach rechts ab. Die Gegend, durch die sie jetzt kamen, ließ sich als arm und vorstädtisch bezeichnen. Emma bekam eine Kostprobe davon, wie die Mehrheit der Kubaner lebte. Die Wohnblöcke waren heruntergekommen und vernachlässigt, mit Wänden, von denen knallbunte Anstrichfarbe abblätterte.

Felipe hielt an einer Tankstelle und füllte den Tank. Niemand verlangte Geld von ihm – genau wie in dem Café eben. Für Europäer war es merkwürdig, wie das System funktionierte, aber sein Status als Taxifahrer und das Wappen am Wagen reichten anscheinend aus, um auf eine Bezahlung zu verzichten.

»Die Tankstelle ist Eigentum der …«

»Regierung!«, beendete Emma den Satz. »Ich glaub, ich hab’s kapiert.«

Nach weiteren zehn Minuten Fahrt kam das Meer wieder in Sicht. Die Straße fiel sanft ab, und sie kamen durch ein kleines, verschlafenes Dörfchen wie die anderen, an denen sie unterwegs vorbeigefahren waren. Hier jedoch gab es eine hübsche Bucht, in der kleine Fischerboote festgemacht waren, und am hinteren Ende des Hafens eine Festung, ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit. Der obere Teil der Hafenmauer und die Poller waren in leuchtendem Taubenblau gestrichen – eine Farbe, von der Felipe ihr versichert hatte, sie bekäme sie in Havanna oft zu sehen.

»Möchten Sie die Statue von Hemingway sehen?«

»Sehr gerne, das wäre toll.«

Sie ließen die Autofenster einen Spalt offen, damit Sophie Luft bekam. Emma hatte das Bedürfnis nachzusehen, ob sie noch am Leben war, bevor sie sie im Wagen zurückließen und sich auf den kurzen Fußweg zu dem Denkmal begaben.

»Hier hat Santiago gewohnt. Der alte Mann aus der Hemingway-Novelle«, erklärte Felipe.

»Ah, Der alte Mann und das Meer! Mir gefällt dieses Buch so sehr! Ich habe es in der Schule gelesen.«

»Die Fischer waren sehr stolz auf Hemingway. Er war ihr Freund. Als er starb, trugen sie Metallteile ihrer Boote und Haken und Anker zusammen und bauten daraus diese Statue.«

Die besagte Büste kam jetzt in Sicht, und sie stiegen die wenigen niedrigen Stufen hinauf, um sie aus der Nähe zu betrachten.

In Sichtweite fuhr ein alter amerikanischer Pontiac vorbei, von dessen Rücksitz ein jubelndes junges Paar winkte. Die Frau war ganz in Weiß gekleidet und trug Blumen im Haar. Ihnen folgten laut hupend diverse Autos anderer Marken.

»Das ist eine kubanische Hochzeit. Das zu sehen bringt Glück!«

Emma beobachtete, wie die Kinder aus dem Dorf singend und vor Freude klatschend hinter dem Autokorso herrannten. Das ganze Szenario hatte etwas so Bezauberndes, dass es Emma glücklich und traurig zugleich machte. Sie wünschte, Paul wäre bei ihr; er hätte Fotos davon geknipst. Sie wünschte sich verzweifelt, diesen Moment nie zu vergessen, wusste aber nicht, wie sie ihn festhalten sollte, bis Felipe sanft seine Hand auf ihren Arm legte.

»Soll ich ein Foto machen?«, schlug er vor, und Emma fragte sich, ob er ihre Gedanken lesen konnte.

»Ich habe meine Kamera im Auto gelassen.«

»Ihr Handy?«

Das hatte Emma ganz vergessen. Sie kramte es aus ihrer Tasche und reichte es Felipe. Er erwischte das junge Paar samt Entourage gerade noch, bevor sie eine schmale Straße hinauffuhren und für immer verschwunden waren.

»Stellen Sie sich vor das Hemingway-Denkmal, dann mache ich ein Foto von Ihnen.«

Emma tat, wie ihr befohlen, kam sich dabei aber blöd vor. Bisher hatte sie so gut wie keine Erinnerungsfotos geschossen. Jedes Mal, wenn sie mit dem Gedanken spielte, fiel ihr ein, dass Paul nicht dabei war, und so war es leichter, gar keine zu machen.

Lächelnd legte sie den Kopf schief, als Felipe sie fotografierte. Dann kam er zu ihr und gab ihr das Handy zurück.

»Stellen Sie sich neben mich«, bat sie und hielt das Telefon um Armeslänge von sich, sodass man im Hintergrund die Festung und das Meer sah. Sie knipste und drehte ihr Handy, um sich den Schnappschuss anzusehen. Felipe war fotogen. Sie aber auch! Der Kontrast zwischen ihrer sommersprossigen und seiner dunklen, sonnengebräunten Haut machte sich gut vor dem klaren blauen Himmel.

Emma reichte das Handy an Felipe weiter, damit er sich die Aufnahme ansehen konnte. Er schaute kurz darauf und sah auf zu Emma. Ihre Blicke trafen sich. Der Moment war spannungsgeladen. Beide hatten denselben Gedanken – wie gut sie zusammenpassten.

»Vielleicht sollten wir gehen?«, schlug er vor.

»Ja, ich glaube, wir müssen mal nach Sophie sehen«, meinte Emma verlegen. Es war das erste Mal seit langem, dass sie sich auf einem Foto mit einem Mann sah, der nicht Paul war, und es schockierte sie – weil es ihr gefiel.

Schweigend liefen sie zurück. Alle paar Schritte blickte Emma zum Hafen und zu den alten Männern, die am Ufer ihre Netze flickten. Als sie nur noch wenige Meter vom Wagen entfernt waren, bemerkten sie, dass etwas nicht stimmte. Alle Fenster standen weit offen.

Mein Laptop!, dachte Emma entsetzt.

Sophie war verschwunden.

Felipe fluchte auf Spanisch, rannte zum Kofferraum und öffnete ihn. Er blickte hinein und seufzte vor Erleichterung.

»Ich dachte, Ihre Taschen wären weg, aber Sie haben Glück. Ihr Laptop und Ihre Kamera sind auch da.«

»Aber wo ist Sophie?«

»Die kommt nicht weit!«, sagte er, knallte den Kofferraum wieder zu und verschloss Fenster und Türen. »Folgen Sie mir!«

Sie liefen eine leichte Steigung hinauf, bis sie zu einem wunderbar instand gehaltenen gelben Haus mit Mahagonifensterläden kamen, wie sie kein anderes Haus im Dorf hatte.

»Das ist La Terraza«, erklärte er und wusste, dass Emma es verstehen würde.

»Wow! Das ist fantastisch«, schwärmte sie und betrat das Restaurant. »Hier hat Ernest Hemingway also immer mit seinen Angelfreunden gesessen.«

An der langen Mahagonitheke saß Sophie, ein großes Glas in der Hand, das mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. »Ich hätte draufgehen können!«, stöhnte sie und trank einen großen Schluck.

»Wir haben dir doch die Fenster aufgelassen. Es besteht kein Grund, so melodramatisch zu werden!«, protestierte Emma. »Aber du hast meinen Laptop und unser Gepäck unbeaufsichtigt gelassen!«

Sophie zuckte gleichgültig mit den Achseln. Wie immer hatte es keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren.

»Ich glaube, ich nehme ein Bier«, meinte Emma. »Es sei denn, wir haben noch Zeit, etwas zu essen?«

Felipe schüttelte den Kopf. »Ich würde sehr gerne, aber ich muss noch zum Flughafen, um dort Kunden abzuholen und nach Varadero zu bringen.«

Emma verstand. Da war selbst ein Bier zu viel des Guten, aber Felipe wollte einen Kaffee. Also setzten sie sich zu Sophie an die Bar und genossen die Atmosphäre.

»Wie lange bleiben Sie in Havanna?«

»Wir haben dort nur zwei Übernachtungen. Gibt es irgendetwas, das wir uns dort unbedingt ansehen sollten?«

»Morgen ist mein freier Tag. Wenn Sie möchten, kann ich es Ihnen zeigen.«

Das gefiel Emma, und sie fragte sich, ob Felipe Single war. Er hatte zwar gesagt, dass er mit seinem Vater zusammenlebte, aber das hieß noch lange nicht, dass es keine Mrs Felipe gab. Er kam ihr zwar ziemlich gesettled vor, aber als er sie nach Matanzas gebracht hatte, hatte er es auch nicht besonders eilig gehabt, nach Hause zu kommen.

»Das wäre wirklich nett«, sagte sie. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Sophie dazwischenfunken wollte, ignorierte es aber geflissentlich. »Ich würde liebend gern Hemingways Haus sehen.«

»Ich kann Sie hinbringen.«

»Haben Sie denn an Ihrem freien Tag Ihr Taxi?«

Felipe schüttelte den Kopf. »Nein, aber mein Vater hat ein Auto, das wir nehmen könnten.«

»Können wir jetzt endlich nach Havanna fahren?«, jaulte Sophie genervt auf. »Ich hab keinen Schimmer, was wir hier wollen!«

Der Rest der Fahrt verging schnell, und Sophie döste weiter auf dem Rücksitz.

Emma hingegen sog die Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorbeikamen, in sich auf. Dieses Land war völlig anders als alle anderen, die sie bisher besucht hatte. Mit den Jahren hatten sie und Paul Thailand, Südafrika und andere exotische Ziele bereist, aber nichts war gewesen wie Kuba, und der Grund dafür war nicht der Kontrast zu Irland, sondern die Energie, die von den Menschen ausging. Während sie durch die Vororte von Havanna fuhren, kam sich Emma vor wie in einer Filmkulisse. Besonders beeindruckte sie die außergewöhnliche Vielfalt der Hautfarben. Die Männer, die an den Straßenecken standen, die Frauen, die mit schweren Taschen vorbeischlenderten, und die Kinder, die mit improvisierten Bällen herumtobten, hatten erstaunlich unterschiedliche Hauttöne. Sie warf einen Blick auf Felipe. Er hatte einen gebräunten südländischen Teint, während viele seiner Landsleute schwarz waren. Es kam ihr so vor, als spielte die Hautfarbe in Kuba für niemanden eine Rolle, und sie fühlte sich wunderbar frei.

»Felipe, gibt es Rassismus auf Kuba?«

Felipe lachte. »Fidel hat Rassismus für illegal erklärt. Das stand in seinem Manifest der Revolution. Doch dass ungeachtet der Hautfarbe alle arm sein würden, hat er uns verschwiegen!«

»Aber in dieser Gesellschaft gibt es doch sicher Menschen, die mehr haben als andere?«

»Eigentlich nicht. In dieser Stadt habe ich den besten Job. Mein Lohn beträgt zehn CUC im Monat, aber wenn man Glück hat, kriegt man das pro Tag an Trinkgeld.«

»Was verdient denn ein Arzt?«

Felipe schüttelte den Kopf. »Etwa fünfundzwanzig CUC. Da ist es verständlich, dass so viele nach Kanada oder Amerika gehen. Ein Lehrer verdient zwanzig, aber ein Fabrikarbeiter bekommt zehn und hat obendrein noch das, was er in seinen Taschen mit nach Hause nimmt und auf dem Schwarzmarkt verkaufen kann. In der Rumfabrik zu arbeiten ist gut.«

Emma sog diese Informationen in sich auf. Vielleicht ging es Dehannys doch nicht so schlecht, wenn ihr Vater in der Rumfabrik arbeitete.

Sie erblickte ein sehr prunkvolles Gebäude. »Was für ein Prachtbau!«

»Ja, das ist das Capitolio. Ein sehr großes Museum. Sie müssen es besuchen.«

»Ich habe zu wenig Zeit hier, um mir viel anzusehen.« Emma versuchte nicht, ihre Aufregung zu verbergen.

»Hier ist es viel heißer als in Varadero«, meldete sich eine Stimme vom Rücksitz.

Sophie war von den Toten auferstanden.

»Wir sind fast im Hotel«, verkündete Felipe und warf einen Blick nach hinten.

Und wirklich, sie fuhren nur noch zwei Minuten auf den holperigen Straßen, bis sie zu einem hoch aufragenden Hotel kamen, das einen frischen gelben Anstrich und leuchtend blaue Fenster- und Türrahmen hatte.

Emma wollte nicht, dass Felipe wegfuhr. Es war so schön, einen Mann zu haben, mit dem man reden konnte, und sie genoss seine Gesellschaft.

»Wir sehen uns morgen«, versprach er. »Zehn Uhr?«

»Das wäre toll. Danke für alles, Felipe.«

»Wo finde ich einen guten Nachtclub, in den ich heute Abend gehen kann?«, erkundigte sich Sophie. »Nach Varadero sehne ich mich nach ein bisschen Action.«

»Sie wollen tanzen?«, fragte Felipe.

»Ja.«

»Casa de la Música. Dahin können Sie von hier zu Fuß gehen. Das ist der beste.«

»Danke vielmals für all Ihre Hilfe, Felipe«, betonte Emma noch einmal. »Vor allem für den Abstecher nach Cojímar.«

»Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat«, antwortete er mit einem Lächeln.

Emma machte Anstalten, ihm ein Trinkgeld zu geben, doch er lehnte ab.

»Bitte«, bat sie. »Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann, wo Sie doch extra für mich einen Umweg gemacht haben.«

»Das hat die Regierung bezahlt!«

Und schnell wie der Blitz sprang Felipe in seinen Wagen.

Emma winkte ihm von der obersten Treppenstufe nach. Er war ein guter Mensch, und sie genoss seine Gesellschaft. Er war auf gewisse Weise schüchtern und trotzdem sehr selbstsicher – ein echtes kubanisches Mysterium. Sie schnappte sich ihre Taschen und begab sich in die Empfangshalle. Der Portier eilte herbei, um ihnen die Taschen abzunehmen, und gab dem Personal ein Zeichen, die Europäerinnen anzumelden.

Der Gepäckträger im Hotel Telégrafo unterschied sich sehr von dem blitzsauberen, frisch rasierten Jüngling, der ihnen in Varadero ihre Taschen abgenommen hatte. Dieser hier war schmuddeliger und nervöser. Als er sich vergewissert hatte, dass die Tür des Lifts geschlossen war, legte er los.

»Sie wollen gute Zigarre in Havanna – Sie kommen zu mir – ich kann besorgen sehr billig. Echte Cohiba – wie Castro rauchen. Havana Club – sieben años – sehr gut.«

»Vielen Dank«, sagte Sophie kurz angebunden. »Wir rauchen nicht, aber ich melde mich wegen des Rums bei Ihnen.«

Die Flure waren dunkel und die Decken außergewöhnlich hoch. Als der Gepäckträger die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, fiel ein heller Lichtstrahl durch die Vorhänge. Der Mann eilte zum Fenster, zog die Gardinen zurück, und zum Vorschein kam eine Verandatür.

»Parque Central! Kommen Sie und sehen Sie!«, drängte er die Frauen.

Sie durchquerten den Raum und folgten ihm auf den kleinen, mit Geländer versehenen Balkon.

Unten schwirrten die Einwohner Havannas vorbei, manche auf Mopeds, andere in fantastischen alten amerikanischen Wagen, die aus verschiedenen Autoteilen zusammengesetzt waren wie Patchworkdecken. Auf der angrenzenden Straße donnerte ein riesiges, merkwürdig aussehendes Fahrzeug mit ein paar Hundert Menschen darin vorbei. Die Schwestern sollten später erfahren, dass sie als Busse für die Allgemeinheit dienten und aufgrund des buckeligen Fahrgastraums camellos hießen.

»Das ist mal ein geniales Transportmittel!«, rief Emma und deutete auf einen Mann, der auf einer von einem Fahrrad gezogenen Rikscha saß, die mit einer alten quadratischen Plane bedeckt war, die einst als Bierwerbung gedient hatte. Und mittendrin im Getümmel stand eine Reihe aus Renault-Taxis, wie Felipe eines fuhr, die das moderne Kuba repräsentierten.

Für Emma fühlte es sich wie Schicksal an, dass Felipe sie am ersten Tag vom Flughafen abgeholt hatte, und sie wusste, dass er dazu vorbestimmt war, ihr alle Orte zu zeigen, die sie sehen wollte. Es war ein glücklicher Zufall, dass er am nächsten Tag frei hatte. Bis dahin hatte sie vierundzwanzig Stunden, um sich zu orientieren, und es gab einen Ort, den sie unbedingt sehen wollte, wenn sie zu Mittag gegessen hatte.

Emma reichte dem Gepäckträger zwei CUC Trinkgeld, worauf er wie auf Wolken aus dem Raum schwebte.

Sophie warf sich erschöpft aufs Bett.

»Kannst du uns Wasser organisieren, Em?«, stöhnte sie.

Emma lief zur Minibar, die diskret in einem kleinen Schrank verborgen war, öffnete die Tür und warf ihrer Schwester eine Flasche Wasser aufs Bett.

Die Fahrt von Varadero war heiß und schweißtreibend gewesen. Emma duschte schnell und zog sich eine bequeme Bermudahose und ein T-Shirt an.

»Wohin gehst du«, fragte Sophie.

»Ich will die Altstadt erkunden. Das ist nur zehn Minuten zu Fuß von hier.«

»Allein?«

»Tja, du siehst nicht so aus, als wärst du fit genug, irgendwo hinzugehen.«

»Gib mir zwanzig Minuten …«

»Du wirst länger brauchen. Ruf mich an, wenn du wieder unter den Lebenden weilst.«

Sophie war nicht in der Verfassung, sich mit ihr zu streiten. Ermattet zog sie das gestärkte Leinenbetttuch zurück und kroch darunter.

Emma schob sich ihre Sonnenbrille ins Haar – die würde sie noch brauchen.

Dann schnappte sie sich ihren kleinen Stadtplan und spazierte als Erstes über den Platz vor dem Hotel. Hier in der Stadt, wo die Häuser die Hitze speicherten, war es um einiges schwüler. Es war erstaunlich, wie die Einheimischen, genannt Habaneros, in großen Gruppen herumlungerten und das geschäftige Treiben beobachteten. Junge Menschen, von denen sie geglaubt hätte, dass sie zu dieser Tageszeit arbeiten müssten, umarmten sich ungeniert und tranken selbst gemachte Limonade, die man an Verkaufswagen erstehen konnte. Der Preis betrug zwei Cent – kubanische Pesos, nicht die Touristenwährung.

Es regte Emma langsam auf, dass gewisse Waren nur für Touristen oder Menschen zugänglich waren, die CUC in die Finger bekamen, und der Rest der Bevölkerung das einfach akzeptieren musste. Dabei handelte es sich nicht einmal um ausgesprochene Luxuswaren. Bestimmte Kosmetika, Elektroartikel, alle möglichen Dinge, die im Grunde billig waren und in jedem Laden in Dublin für selbstverständlich gehalten wurden, blieben dem Durchschnittskubaner verwehrt. Ja, dachte sie wieder einmal, wenn sie immer noch Journalistin wäre, hätte sie viel zu berichten. Sie konnte verstehen, warum so viele ihr Leben riskierten und zu der gefahrvollen, 90 Kilometer langen Fahrt übers Meer nach Florida aufbrachen. Aber jetzt ging sie auf Entdeckungsreise, um zu sehen, was Kuba zu bieten hatte und der Rest der Welt nicht.

Sophie stieg stöhnend aus dem Bett. In ihrer Toilettentasche steckte noch Paracetamol; sie hatte immer eine ganze Schachtel griffbereit. Sie war froh, endlich weg von Varadero zu sein. José war ein Halunke. Er hatte doch wirklich die Frechheit besessen, sie zu bitten, Geld für ihn zu tauschen, das er ihr später in Euroscheinen zurückschicken wollte, sobald er genug Trinkgeld beisammenhätte. Darauf fiel sie ganz bestimmt nicht rein. Er hatte damit gewartet, bis sie zu ihm aufs Moped stieg, um zurück zu ihrem Hotel gebracht zu werden. Ihr war zwar klar gewesen, dass er ein Gauner war – gerade das hatte sie ja anziehend gefunden –, doch sie hätte nie geglaubt, dass er die Unverfrorenheit besäße, sie anzupumpen.

Sie ließ den Blick durch den Raum und über den glänzenden Fliesenboden schweifen. Das Kopfbrett des Bettes war gut und gerne drei Meter hoch. Sie trat auf den Balkon und sah zu, wie die PKW, LKW und Motorräder kreuz und quer in alle Richtungen fuhren. Auf den Straßen herrschte nicht viel Ordnung, und sie vermutete, dass es in dieser Stadt nirgends viel Ordnung gab.

Sophie hatte das Gefühl, endlich das wahre Kuba zu erleben – nicht nur die auf Hochglanz polierten Hotels und den makellosen Sandstrand von Varadero. Sie war bereit, das echte Havanna zu sehen: das, in dem viele berühmte Musiker, wie die vom Buena Vista Social Club, ihre Wurzeln hatten.

So hatte Paul es für sie geplant. Schließlich hatte er sie mit auf diese Reise nehmen wollen und nicht Emma. Sie hatte Schwein gehabt, dass Emma an jenem Tag die Reiseunterlagen ihr übergeben und nichts zu dem falschen Anfangsbuchstaben gesagt hatte. Es war Emma natürlich aufgefallen, doch sie hatte es für einen simplen Druckfehler gehalten. Dieses Ticket hatte Sophie sich sofort geschnappt und es so gedeichselt, dass Pauls Ticket auf Emma umgeschrieben wurde. Dafür hatte sie mit ihrem Charme den Typen aus dem Reisebüro einwickeln müssen, der die Änderung eigentlich nur gegen eine hohe Strafgebühr hätte vornehmen dürfen. Auch Louise war das »S« aufgefallen, was Sophie sehr nervös gemacht hatte. Louise hätte alles versauen können; sie schützte Emma immer. Sophie erschauderte bei dem Gedanken, wie Emma reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass die Reise gar nicht als Überraschung für sie geplant gewesen war, sondern als feierliche Begehung der dreijährigen Beziehung ihrer Schwester Sophie mit ihrem Schwager.

Nur wenige Tage vor Pauls siebtem Hochzeitstag hatte er Sophie zufällig in der Stadt getroffen und sie zum Mittagessen in Cooke’s Bistro eingeladen. Als sie im Dubliner Sonnenschein unter den dunkelgrünen Markisen saßen, hätte das auch in Paris oder Rom sein können. Sophie hatte erst vor kurzem eine Beziehung zu einem Nachtclub-Besitzer beendet, der ein großkotziger Proll gewesen war, und wünschte sich jemanden, mit dem sie gepflegt über Kunst, Design und Kultur plaudern konnte. Sophie war nie aufgefallen, wie attraktiv Paul war, wenn Emma an seiner Seite war. Es traf sie beide wie ein Blitz.

Manchmal trafen sie sich in seinem Büro, manchmal in ihrem. Es war kein Problem, die Jalousien in seinem Büro herunterzulassen und die Tür von innen zu verriegeln. Manchmal war ihr Rücken vom Teppichboden wund gescheuert, doch danach lachten sie immer darüber.

Zu den höchst seltenen Gelegenheiten, wenn Sophie sich schlecht fühlte, weil sie Emma derart hintergingen, meinte Paul nur verächtlich: »Ist dir eigentlich klar, wie nett ich zu deiner Schwester bin? Vor dieser Affäre war ich ein echter Scheißkerl. Dir ist es zu verdanken, dass ich ein viel netterer Mensch geworden bin!«

Das nahm Sophie ihm nicht ab. Um ihn zu beschreiben, hätte sie nie das Wörtchen »nett« gewählt. »Pingelig«, »exakt«, »zwanghaft«, »aktiv« und eindeutig »talentiert«, aber »nett« war Paul nicht. Das Schreckliche daran war, dass Emma bei der Trauerfeier in der Kirche genau dieses Wort gebraucht hatte, um ihren Mann zu beschreiben. Das zeigte nur, wie wenig sie ihn eigentlich kannte.

Sophie trank aus der Wasserflasche und schluckte eine Paracetamol-Tablette. Noch ein paar Stunden im Bett, und sie wäre bereit, sich Havanna zu stellen.

Als Emma den großen Platz Parque Central verließ und das Kopfsteinpflaster der Calle Obispo betrat, wusste sie, dass es bis zu ihrem Ziel nicht mehr weit war. Die Häuser stammten noch aus der Kolonialzeit und zerbröckelten; es war das Habana Vieja, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sporadische Ausbesserungen mit rosa und blauer Farbe ließen die alternden Gebäude freundlicher wirken. Einige Türen waren kunstvoll aus Metall gearbeitet und mussten in ihrer Glanzzeit wunderschön ausgesehen haben.

In manchen Eingängen saßen alte Leute und schauten geschützt vor Hitze und Sonne heraus. Ein paar Kinder rannten Emma fast um, weil sie sie beim Fangenspielen gar nicht bemerkten. Zwei von ihnen trugen keine Schuhe. Der Gestank aus der Kanalisation oder von den Müllkippen – Emma war sich nicht sicher, woher er kam – hing über den Gehsteigen. Am Ende der Straße kam die riesige rosafarbene Fassade in Sicht, die in ihrem Reiseführer perfekt beschrieben war, und da wusste sie, dass sie das nächste Ziel ihrer Hemingway-Pilgerfahrt erreicht hatte.

Ernest Hemingway hatte einige Zeit im Ambos Mundos Hotel gewohnt, bevor er sich in La Finca Vigía niederließ, und sie hatte den sehnlichen Wunsch, seine Aura zu spüren, als sie durch die Türen des kleinen luftigen Luxushotels trat. Sie wurde nicht enttäuscht.

Nach nur wenigen Schritten ins Foyer stand sie in einem hell erleuchteten Thekenbereich. Der Barkeeper trug ein weißes Hemd mit einer schwarzen Fliege, was ihn optisch in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückversetzte. Jalousien mit schmalen Lamellen ließen gesprenkeltes Licht durch die hohen Fenster, und vereinzelte Palmen in riesigen Keramiktöpfen trennten den Bereich zwischen Bar und Foyer.

Emma lächelte dem Barkeeper zu und lief zu einer Wand, die mit Fotografien von Ernest Hemingway übersät war. Die Bilder waren in allen Nuancen aus Schwarz, Grau und Sepia und hingen gerahmt auf olivgrüner Tapete. Auf einem der Fotos holte Hemingway gerade einen Fisch ein, auf einem anderen schüttelte er Castro die Hand, und wieder auf einem anderen aß er mit Freunden Hummer, was Emma ganz neidisch auf das exotische und kultivierte Leben machte, das er geführt hatte. Ein kleines Schild an der Wand wies darauf hin, dass Touristen für eine Gebühr von zwei Dollar das Zimmer besichtigen konnten, in dem Hemingway in den dreißiger Jahren eine Zeit lang gewohnt hatte. Doch zunächst wollte sie etwas trinken. Draußen war es heiß und staubig, und die Bar und das freundliche Gesicht des Barkeepers wirkten sehr einladend.

»Buenas tardes, señorita«, begrüßte er Emma mit einem Lächeln, als sie sich auf einen Barhocker setzte. »Sie wünschen?«

»Ein Mineralwasser – con gas, por favor

Er schenkte ihr professionell ein und tat Eis und eine Limonenscheibe dazu.

»Gracias«, sagte sie und trank genüsslich einen Schluck.

»Sie kommen, um Hemingways Haus zu sehen?«

»Sí«, nickte sie.

Während sie sprach, kam eine große, schlanke Gestalt zur Bar geschlendert. Der Mann trug ein weißes Aertex-T-Shirt, und seine Haut ähnelte glatter Milchschokolade. Seine dunkelbraunen Augen glänzten und wurden groß, während sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

Er war der schönste Mann, den Emma je gesehen hatte.

»Buenas tardes, Marco!«, begrüßte er den Barkeeper. »Una cerveza, por favor!«

», Señor Adams – Sie haben einen guten Tag?«

»Sehr gut, Marco.« Sein Akzent veränderte sich, wenn er Englisch sprach, und da war eindeutig ein amerikanisches Näseln zu hören.

Der Mann wandte sich an Emma und nickte höflich, bevor er sich auf den Hocker neben ihr setzte.

»Deine Freundin, eh?«, neckte er den Barkeeper, der ihm über die Theke eine Flasche Bier zuschob.

Emma fühlte sich in der ungewöhnlichen Umgebung mit zwei fremden Männern merkwürdig wohl. Unter normalen Umständen wäre es ihr unangenehm gewesen, doch im Moment hatte sie das Gefühl, genau dort zu sein, wo sie sein wollte.

»Ich bin Emma«, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand. »Aus Irland.«

»Tja, Emma aus Irland«, antwortete er und nahm ihre Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich bin Greg aus Kanada, aber ich bin eine wilde Mischung, deshalb kann ich mich wohl als Weltbürger bezeichnen!«

Emma fühlte sich von diesem gut aussehenden Mann angezogen wie eine Stecknadel von einem Magneten. Es war in Ordnung, ihn attraktiv zu finden; sie war in einer fremden Umgebung, Tausende von Meilen von der Heimat entfernt. Hier war sie weder Pauls Witwe noch Finns Mama. Stattdessen kam sie sich vor wie eine Figur aus einem ihrer Romane, und Mr Greg Adams war so verführerisch, dass sie auf die Idee kam, ihn neben Felipe in ihr Buch aufzunehmen.

»Machen Sie hier Urlaub?«, fragte sie ihn in leichtem Flirtton.

»Eigentlich bin ich auf Geschäftsreise, aber man kann nicht nach Kuba kommen, ohne auch Spaß zu haben. Meine Mutter ist Kubanerin und hat meinen Vater hier kennengelernt, aber er hat sie vor über vierzig Jahren mit nach Nova Scotia genommen, und seitdem war sie nicht wieder hier.«

Emma war fasziniert. Sie spürte, wie ihre journalistische Neugier die Oberhand gewann. »Wow, was für eine tolle Geschichte! Sie haben also Verwandte hier?«

Er nickte. »Cousinen und Tanten – ich treffe mich manchmal mit ihnen. Mein Großvater lebt auch noch, ob man’s glaubt oder nicht, aber er wohnt in Cárdenas, und da kommt man nur schwer hin. Meine Besuche sind normalerweise zu kurz, um durchs Land zu reisen.«

Dieser Typ war so offen und ehrlich, dass sie ihn sofort mochte.

»In welchem Geschäft sind Sie tätig, wenn ich fragen darf?«

»Emma aus Irland, Sie dürfen mich alles fragen!«, grinste er frech. »Ich kaufe Kunstwerke und verkaufe sie in Kanada. Dort gibt es eine große Nachfrage nach kubanischen Künstlern. Haben Sie schon einen der Märkte hier besucht?«

Emma schüttelte den Kopf. »Ich bin erst seit heute Morgen in Havanna.«

Gregs Lächeln wurde breiter. »Tja, dann können Sie sich auf etwas ganz Besonderes freuen. Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«

Emma schüttelte den Kopf.

»Ich esse nur ungern allein«, erklärte er. »Möchten Sie mir nicht im La Bodeguita del Medio Gesellschaft leisten? Ich bin ein Hemingway-Fan – deshalb quartiere ich mich auch immer hier ein.«

Jetzt war Emma doch leicht verunsichert. Greg kam ihr zwar aufrichtig vor, aber für eine Frau war es nie eine gute Idee, mit einem Fremden zu gehen, egal in welcher Stadt. In der Beziehung war Havanna sicher keine Ausnahme.

Greg spürte ihre Vorbehalte und gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Marco, sag Emma aus Irland, dass ich nicht beiße, eh?«

»Señor Adams wohnt hier oft – er sehr guter Kunde«, versicherte Marco ihr und hielt Greg scherzhaft die offene Hand für ein Trinkgeld hin.

Greg lächelte und drückte ihm prompt fünf CUC in die Hand.

Emmas Wunsch, mehr über diesen fantastischen Mann zu erfahren, bekam die Oberhand. Schließlich hatte sie nichts zu verlieren. Sophie schlief wahrscheinlich noch, und aus ihrem Reiseführer wusste sie, dass die Bar, von der er sprach, nur wenige Blocks entfernt war.

»Okay – danke«, sagte sie deshalb und stand auf, um bei Marco ihr Wasser zu bezahlen.

»Es ist okay, Sie nicht zahlen«, lächelte er. Greg würde ihm später ein Trinkgeld geben.

Greg hielt ihr ritterlich den Arm hin, und Emma hakte sich bei ihm unter.

Sie schlenderten über die Calle Mercaderes, bis sie zur Plaza de la Catedral kamen. Die Barockfassade von San Cristóbal leuchtete wie ein glanzvolles Paradestück kolonialer Architektur. Eine alte Frau in traditioneller kolonialer Tracht mit weißer Spitze und einer roten Rose saß eine Zigarre rauchend auf den Stufen. Sie war von fotografierenden Touristen umringt, und zu ihren Füßen kläffte ein Hündchen. Neben ihr verkaufte ein alter Mann Erdnüsse in weißen Papiertüten.

»Es ist fantastisch hier!«, stieß Emma hervor.

»Es ist eine Touristenattraktion, aber mir gefällt es. Ich kriege nie genug von der Atmosphäre in La Habana Vieja. Dort drüben ist ein schönes Restaurant, um bei Sonnenuntergang zu Abend zu essen«, erklärte er und deutete auf ein sehr europäisch wirkendes Innenhofrestaurant. »El Patio. Es gehört natürlich der Regierung, wie alles andere, aber in seiner Glanzzeit vor über einem Jahrhundert muss es ziemlich spektakulär gewesen sein.«

»Ja – wirklich merkwürdig, dass hier alles der Regierung gehört. Ich war noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Osteuropa, und obwohl dort auch der Kommunismus herrschte, war die Atmosphäre ganz anders als hier.«

»Es gibt nichts auf der Welt, was sich mit Kuba vergleichen ließe. Castro hat sich die größte Insel in der Karibik zu eigen gemacht. Nicht alles, was er getan hat, war gut, aber es war auch nicht alles schlecht. Lassen Sie das bloß nicht meine Mutter hören.«

»Will sie irgendwann zurückkommen? Vielleicht nur zu Besuch?«

»Nein. Sie verabscheut das Gefühl, dass sie die Möglichkeit dazu hat, aber so viele andere nicht. Sie sagt, dass sie Glück hatte, weil sie meinen Vater getroffen hat, einen großen weißen Kanadier, der sie mit in ein besseres Leben nahm. Aber ich glaube, insgeheim vermisst sie das alles.«

Emma gefiel seine Art sehr. Nicht viele Männer wären so offen zu einer Frau, die sie erst vor wenigen Minuten kennengelernt hatten. Andererseits waren dies auch keine gewöhnlichen Umstände, und sie konnte schon jetzt sagen, dass Greg kein gewöhnlicher Mann war.

Das gelbe Schild, auf dem in fetten schwarzen Lettern die Aufschrift Bodeguita del Medio aufgemalt war, stach in der Calle Emperado hervor wie eine Vision.

»Hier hat sich Hemingway gern den ersten Mojito des Tages genehmigt«, erklärte Greg und öffnete die Lamellentüren, die zu der beengten Bar führten, in der sich die Touristen drängten.

Zuerst dachte Emma, die leuchtend blauen Wände wären mit Schreibschrifttapete tapeziert, doch bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass die mit dunkelblauem Filzschreiber hingekritzelten Unterschriften von den Restaurantgästen stammten.

»Kommen Sie«, sagte Greg und führte sie in den Essbereich im hinteren Teil des Gebäudes. »Unterschreiben können Sie später, eh?«

Der Essbereich schien aus mehreren kleinen Räumen zu bestehen, die durch große Arkaden verbunden waren. Selbst an den allerhöchsten Stellen der Wände hatten Gäste unterschrieben. Miguel aus Venezuela war 2001 dort gewesen, Maria Cruz aus Madrid 2004 und viele andere Namen waren in so vielen Sprachen und Schichten dort hinterlegt worden, dass sie an der Wand zu unregelmäßigen Mustern verschmolzen.

Sie setzten sich an den einzigen freien Zweiertisch, und der Kellner stürzte sich sofort auf sie.

»Buenas tardes. Zu trinken?«

»Dos mojitos, por favor«, sagte Greg.

Emma senkte den Blick auf ihr Papier-Set, das auch als Speisekarte diente. Oben waren die Buchstaben B del M aufgedruckt, in demselben naiven Stil, in dem sie auch über die Theke gemalt waren, an der sie auf dem Weg hinein vorbeigekommen waren. Die Einrichtung war in einer Mischung aus dunklem Holz und leuchtend blauer Farbe gehalten, und von den gewölbeartigen Decken hingen Kronleuchter.

»Hier gefällt’s mir«, rief Emma aus, als in der Ecke ein Trio zu musizieren begann.

»Bevor wir gehen, müssen wir noch auf die Wand schreiben.«

»Wenn wir eine freie Stelle finden.« Emma fuhr mit den Fingern über die unzähligen Unterschriften an der Wand, an der sie saß. »Die Leute müssen Leitern benutzt haben, um bis ganz oben unter die Decke zu kommen!«

Greg nahm einen blauen Marker aus dem Topf auf dem Tisch.

»Ich wette, Emma aus Irland lässt sich noch irgendwo hinquetschen.«

»Danke«, antwortete sie, nahm den Markierstift in die Hand und suchte nach einer freien Stelle. »So was hab ich noch nie gesehen. Ich bin froh, dass ich Ihnen über den Weg gelaufen bin.«

»Kuba ist ein fantastisches Land«, schwärmte Greg. »Die Menschen sind so freundlich. In Kanada würde ich niemals eine Fremde zum Mittagessen einladen, und sie würde die Einladung wahrscheinlich auch nicht annehmen, so wie Sie, aber wenn ich in Havanna bin, werde ich von seltsamen Schwingungen ergriffen.«

Emma wusste, was er meinte, konnte sich aber nicht vorstellen, dass irgendeine Frau eine Einladung von Greg zum Mittagessen oder zu sonst etwas ablehnen würde. Sie hatte das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen – wenn auch an einem anderen als dem, an dem sie sich in den vergangenen sieben Monaten verzweifelt festgeklammert hatte.

Während sie ihren Namen in Druckschrift über die Lagen aus Buchstaben schrieb, betrachtete Greg ihr hübsches Gesicht.

»Und wo ist Mr Emma aus Irland? Wenn es denn einen gibt?«

»Der ist in Irland«, antwortete sie. Tja. Das stimmte so halb. Aber sie kannte Greg ja kaum. Da würde sie ihm nicht auf die Nase binden, dass Paul auf dem Friedhof in Balgriffin lag.

Greg verzog keine Miene. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie einen Ehemann hatte.

»Und was ist mit Mrs Greg aus Kanada?«

»Die sind beide in Kanada, und sie sind beide meine Ex-frauen. Als Freund bin ich großartig. Mit den Frauen in meinem Leben läuft alles gut, bis wir heiraten. Aber dann …«

»Haben Sie Kinder?«

»Eine Tochter aus meiner ersten Ehe. Mit meiner zweiten Frau hatte ich keine Kinder. Und Sie?«

»Ich habe einen Sohn, Finn. Er ist neun.«

»Schöner Name.«

Emma nickte. Es war der einzige, auf den sie und Paul sich damals hatten einigen können.

»Mögen Sie kreolisches Essen?«, fragte er.

»Ich hab es noch nie so richtig probiert. Das Hotel in Varadero hatte alle möglichen Restaurants, aber bis auf eine Mahlzeit in Matanzas haben wir nicht viel multikulturelle Küche gekostet.«

»Wir? Sie meinen, es gibt zwei Emmas aus Irland?«

Emma lächelte. »Gewissermaßen. Es gibt noch eine Sophie aus Irland. Sie ist meine Schwester.«

»Sieht sie Ihnen ähnlich?«, fragte er und lächelte frech.

»Nicht im Geringsten. Sie hat rotblonde Haare und grüne Augen – sehr irisch.«

»Aber Sie haben dieses tolle keltische Aussehen, Emma aus Irland. Ich war vor vielen Jahren in Dublin und habe mein Herz mehrfach verloren, immer an Frauen mit blauen Augen und schwarzem Haar.«

Emma errötete. Das war ein offenes Kompliment, und sie fühlte sich geschmeichelt, dass es von so einem göttlichen Mann kam.

»Wie lange waren Sie in Varadero?«, fragte er.

»Sieben Tage, und wir haben drei in Havanna.«

»Ich glaube, ich hätte es andersrum gemacht. Verstehen Sie mich nicht falsch, Varadero ist cool, aber es könnte überall in der Karibik sein. Aber Havanna ist anders. Es gibt auf der Welt keinen Ort wie diesen.«

Emma war jetzt schon so weit, ihm zuzustimmen. »Erzählen Sie mir mehr über karibische Kunst.«

»Ja. Jeder auf der Welt kennt Kubas berühmte Musiker, aber seine bildenden Künstler sind genauso außergewöhnlich. Ich koordiniere überall in Europa und in den USA Ausstellungen mit kubanischer Kunst. Sie ist billig, und die Kubaner sind Meister der gegenständlichen Malerei. Eine gute Nachricht, jetzt, wo die Leute den ganzen Konzept-Nonsens durchschauen. Das war viel zu lange en vogue.«

»Stimmt. Ich assoziiere Kuba immer mit Musik und Tanz.«

»Es ist ein Schmelztiegel für Künstler. Und schauen Sie sich die Schriftsteller an, die Kuba inspiriert hat – insbesondere unseren Freund Hemingway, eh?«

»Woher wissen Sie, dass ich Hemingway-Fan bin?«

»Warum sollten Sie sonst allein im Ambos Mundos Hotel sitzen, wenn Sie dort kein Gast sind?«

»Vielleicht bin ich dort ja Gast.«

»Ich habe dort gefrühstückt, und wenn Sie einer wären, wären Sie mir mit Sicherheit aufgefallen!«

Emma fächelte sich mit ihrem Stadtplan Luft zu. Erleichtert nahm sie den Mojito entgegen, den der Kellner ihr hinstellte. Sie brauchte eine Abkühlung. Mit seinen indirekten Komplimenten ließ er keinen Zweifel an seinen Absichten.

Gregs Gesichtszüge waren fein und wie gemeißelt – mehr europäisch als afrikanisch. Er wäre perfekt als Model für Armani. Aber das war das Sympathische an ihm – er selbst schien es gar nicht zu merken.

»Wie lange bleiben Sie denn noch?«

»Nur noch zwei Tage, dann ist meine Arbeit getan. Ich betreue Künstler, die zwischen meinen Reisen hierher Auftragsmalereien für mich anfertigen, aber ich halte immer auch Ausschau nach neuen Talenten.«

»Auf dem Weg hierher bin ich in der Calle Obispo an einer Galerie vorbeigekommen, aber die sah eher aus wie ein privates Wohnzimmer, in dem ein paar Gemälde an den Wänden hängen.«

»Das ist praktisch, finden Sie nicht?«, lächelte Greg. »Denken Sie nur, diese vielen Talente, und alles für nur wenige Dollars erhältlich. Wenn Sie mögen, können wir nach dem Mittagessen zu dem Kunstmarkt gehen. Er ist an der Plaza de la Catedral.«

Emma nippte an ihrem Mojito. »Okay, das wäre schön.«

Sophie setzte sich im Bett auf und sah durch die riesigen Fenster zum Regen hinaus, der in Strömen vom Himmel fiel. Sie öffnete die Fenster und sah zu, wie die Habaneros wie Ameisen ausschwärmten, um Schutz vor dem Regenguss zu suchen. Solange sie nicht auf den Balkon trat, würde sie trocken bleiben, weil der Regen schnurgerade fiel.

Ein Bicitaxi mit Fahrgästen fuhr durch die Pfützen vorbei, der Fahrer patschnass vom Spritzwasser eines überholenden Cadillac. Fußgänger hielten sich Plastiktüten als behelfsmäßige Regenschirme über die Köpfe. Ein paar Habaneros schien der Schauer nichts auszumachen, denn sie standen vergnügt unter den Palmen mitten auf dem Platz.

Sie fragte sich, wo Emma abgeblieben war. Sie könnte sie jederzeit auf dem Handy erreichen, aber ein anderer Teil von ihr war froh über die Ruhe. Es war nervig gewesen, jeden Tag am Pool mit ihr in Varadero. Manchmal hatte Emma sie mit ihrem Gelaber darüber verärgert, wie perfekt ihr verstorbener Ehemann doch gewesen wäre. Sie hatte sich so sehr danach gesehnt, ihr zu sagen, dass sie ihn auch geliebt hatte, aber sie wusste, dass Louise sie umbringen würde, wenn sie je die Wahrheit sagte. Ganz zu schweigen davon, was Emma mit ihr machen würde.

Die schwüle Hitze des Tages wurde durch den Regen für einen Augenblick angenehmer. Sie beschloss, noch rasch zu duschen, bevor sie sich nach draußen wagte.

Als sie sich abtrocknete, hatte der Regen aufgehört, und die Hitze und der Staub von Havanna waren so schlimm wie vorher. Sie stieg die Treppe hinab zur Rezeption und nahm sich einen Stadtplan. Sie hatte nur wenig dabei: eine Schultertasche mit ein paar CUC und ihrem Handy darin. Mitten auf dem Platz vor dem Hotel parkten in Reihen staatliche Taxis wie das von Felipe.

Sie verspürte leichtes Unbehagen, als sie den Parque Central überquerte und die Altstadt betrat. Die engen Straßen waren schmutzig und in schlechtem Zustand, und Sophie gefiel es nicht, wie die Einheimischen sie anstarrten. Sie hielt ihre Handtasche fest umklammert, damit sie ihr niemand entriss. Sie spürte jetzt schon, wie ihre Achseln wieder feucht wurden. Bei einem kleinen Café an einer Ecke, wo eine Gruppe Touristen etwas trank, blieb sie stehen. In Gesellschaft von Menschen, die ihr vertraut vorkamen, erschien es ihr sicherer, ihr Handy herauszukramen.

Sie wählte Emmas Nummer und wartete.

»Hallo?«

»Emma, ich bin’s. Ich bin jetzt in der Altstadt.«

Emma warf Greg einen wehmütigen Blick zu. Von nun an war es mit ihrer trauten Zweisamkeit vorbei.

»Ich auch. In welcher Straße bist du?«

»Gott, keine Ahnung. Hier sind viele von diesen schrecklichen rosa und blauen Gebäuden. Das scheint alles kurz vorm Einstürzen zu sein.«

»Weißt du, wo die Plaza de la Catedral ist?«

Sophie entfaltete den kleinen Stadtplan, den die Empfangsdame im Hotel ihr gegeben hatte.

»Ich hab’s. Cristóbal-Kirche.«

»Ja. Okay, geh an der äußersten Ecke rechts von der Kathedrale raus zur Calle Tacón. Überquer die Straße in Richtung Meer. Da ist ein Park mit vielen Ständen, an denen Kunstwerke verkauft werden. Ich bin mitten auf diesem Markt.«

»Ich tue mein Bestes.«

Eine alte Frau blieb stehen und sah sie an. Sie bewegte sich, als würde sie tanzen, und lächelte die Fremde mit den ungewöhnlichen Rottönen im Haar freundlich an. Sophie lief achtlos an ihr vorbei.

Sie fand die Kathedrale problemlos und bog nach rechts ab, wie Emma es ihr beschrieben hatte. Sie lief weiter, bis sie ein Straßenschild fand, auf dem Calle Tacón stand. Dort fand sie es weniger beängstigend als in den Seitenstraßen, durch die sie gekommen war.

Als sie die Straße überquerte, kamen die Marktstände in Sicht, und sie verrenkte sich fast den Hals, um ihre Schwester zu finden. Es war dann auch nicht Emmas Gestalt, die sie als Erstes entdeckte, sondern ein großer, blendend aussehender Mann mit kaffeebrauner Haut, der Barack Obama ähnelte. Er war fantastisch, und sie sah sich dazu veranlasst, in seine Richtung zu laufen, um ihn aus der Nähe zu betrachten.

Als sie näher kam, war sie mehr als geschockt, als sie ihre Schwester neben ihm herschlendern sah. Die beiden lachten, und ihre Arme berührten sich beim Laufen leicht.

Dieser Anblick passte so gar nicht zu Sophies Bild von Emma, dass sie am liebsten laut losgelacht hätte. Sie beschleunigte ihre Schritte und holte sie ein.

»Emma!«, rief sie.

Das Paar blieb stehen und sah sich um.

»Hallo, Sophie! Das ist Greg. Greg, das ist Sophie.«

Greg hielt ihr die Hand hin. »Sei gegrüßt, Sophie aus Irland.«

Emma und Greg lachten.

Sophie gefiel es gar nicht, Gegenstand eines Witzes zu sein, den sie nicht verstand. »Also, Greg, woher kennen Sie meine Schwester?«

»Ich habe sie in meinem Hotel getroffen. Wenn ich zurückkomme, muss ich dem Personal dort ein Trinkgeld geben. Ihre Schwester ist eine äußerst angenehme Gesellschaft. Wir haben hervorragend zu Mittag gegessen.«

Sophie runzelte die Stirn. Im Mittelpunkt zu stehen war doch ihre Rolle.

Emma strahlte, und Sophie entging nicht, dass es sie erwischt hatte.

»Wo sind die Damen denn abgestiegen?«

»El Telégrafo«, antwortete Emma.

»Ich muss jetzt noch ein bisschen arbeiten, aber dürfte ich mit Ihnen zu Abend essen? Ich esse nur ungern allein, und ich kenne in Havanna ein paar gute Restaurants.«

»Das klingt toll, Greg«, sagte Emma. »Wir sind gerade erst dabei, uns zurechtzufinden, und es wäre gut, von jemandem herumgeführt zu werden, der sich auskennt.«

»Wie wär’s um halb acht? Ich komme vorbei und hole Sie ab, eh?«

»Okay«, willigte Emma mit einem fragenden Blick zu Sophie ein, die gleichgültig mit den Achseln zuckte.

»Noch einen schönen Nachmittag, die Damen«, verabschiedete er sich und zwinkerte Emma zu, während er davonschlenderte.

Emma war sichtlich rot im Gesicht, während sie ihm nachsah.

»Mein Gott, Emma, geht’s noch offensichtlicher?«

»Was meinst du damit?«

»Du hast dich ihm förmlich an den Hals geworfen! Dabei ist dein Mann erst seit wenigen Monaten tot!«

Emma schnappte nach Luft. »Verpiss dich, Sophie!« Sie fühlte sich, als hätte man ihr einen körperlichen Schlag versetzt. »Ich hab mich nur mit ihm unterhalten.«

Sophie warf ihr einen Blick zu, der besagte, dass sie genau wusste, was ihre Schwester wirklich im Sinn hatte. Der fantastische Fremde hatte bei ihr dieselben Fantasien ausgelöst.

Mit den Tränen kämpfend stapfte Emma in Richtung Plaza de la Catedral davon. Sie war völlig durcheinander. Zuerst aufgrund der liebenswürdigen Aufmerksamkeit, die Felipe ihr hatte zuteilwerden lassen, und jetzt durch die Schmeicheleien das Kanadiers. Sie beide hatten ihr dabei geholfen, den Schmerz der vergangenen sieben Monate zu vergessen, und sie konnte gut darauf verzichten, sich von ihrer jüngsten Schwester Schuldgefühle einreden zu lassen.

Sophie lief mit genügend Abstand hinter ihr her, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, aber auch nicht zu nahe. Sie fand alles so ungerecht. Emma durfte die trauernde Witwe spielen, während sie nur im Stillen trauern durfte, und jetzt erlaubte sich Emma auch noch einen Flirt!

Greg gab dem Kurier ein großzügiges Trinkgeld. Zwei CUC waren viel Geld für den Jungen.

Greg hatte ein paar clevere Käufe getätigt und war sehr zufrieden mit dem Verlauf seiner Reise. Es war ein besonderes Highlight, dass er der faszinierenden Irin und ihrer Schwester über den Weg gelaufen war. Vielleicht konnte er heute Abend ein bisschen Spaß mit ihnen haben. Das Leben könnte nicht schöner sein. Er hatte wirklich das Beste aus beiden Welten.