Weimarer Verhältnisse
Die Europäische Union hat sich ebenso wie die Schweiz bereits sicherheitspolitisch auf ein solches Szenario vorbereitet. Bereits 2006 wurde eine Militärpolizeitruppe für vollständig einsatzfähig erklärt, deren Existenz den wenigsten bekannt sein dürfte. Was eigentlich verwundert, da es sich keinesfalls um eine Geheimtruppe handelt, sondern um eine offizielle Einheit mit eigener Homepage. Die Rede ist von Eurogendfor. Was auf den ersten Blick wie die Abkürzung für »EUROpäische juGEND FORscht« noch ganz erstrebenswert klingt, lässt auf den zweiten Blick ein bedrückendes Gefühl aufkommen: »EUROpean GENDarmerie FORce«. Eine europäische, militärische Polizeitruppe. Während in Deutschland die Vermischung zwischen Polizei und Militär aus leidvoller historischer Erfahrung sofort zu reflexhaftem Zucken führt, ist eine solche Konstellation in anderen europäischen Ländern durchaus üblich. Wir denken an die französische Gendarmerie, die italienischen Carabinieri oder die spanische Guardia Civil.
So verwundert es auch nicht, dass diese europäische Militärpolizeitruppe mit Sitz im italienischen Vicenza von ebenjenen Staaten gegründet wurde. Spanien, Italien, Frankreich, die Niederlande und Portugal sind die Gründungsmitglieder, inzwischen ist auch Rumänien Vollmitglied – man hat ja beste Erfahrungen mit der eigenen Militärpolizei gemacht.
Doch was hat es auf sich mit dieser ominösen Truppe? Ganz unverdächtig soll sie dem »Krisenmanagement« dienen. Laut eigener Website besteht ihre Aufgabe als »schnelle Eingreiftruppe« unter anderem darin, Polizeikräfte eines beliebigen Landes zu unterstützen oder auch ganz zu ersetzen, sollte dies notwendig werden. Dazu gehören alle Formen der bekannten Polizeiarbeit wie: Regelung des Verkehrs, Überwachung öffentlicher Plätze und Straßen, Grenzkontrollen, kriminalpolizeiliche Aufgaben, Verfolgung von Kriminellen, das Beaufsichtigen und Begleiten von lokalen Polizeikräften sowie geheimdienstliche Tätigkeiten aller Art.
Die aktuell 900 Aktiven und 2300 Reservisten können dabei dem Kommando der NATO, der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union unterstellt werden.
Beruhigend zu wissen, dass bei möglichen Eskalationen in Griechenland oder anderswo in Europa paramilitärische Verbände bereitstehen, um helfend einzuschreiten.
Erfahrung hat die Truppe übrigens bereits in Bosnien-Herzegowina, Afghanistan und Haiti gesammelt.
Um es ganz deutlich zu sagen: Man kann die Existenz einer solchen Eingreiftruppe durchaus positiv sehen, und es gibt sicherlich gute Gründe für deren Errichtung. Doch ein flaues Gefühl im Hinblick auf die Entwicklung in Europa bleibt.
Die Situation in Griechenland und bald auch anderen Euro-Staaten wie Spanien ist in vielerlei Hinsicht mit dem Ende der Weimarer Republik in Deutschland vergleichbar, die zum Zusammenbruch der Demokratie und zum Aufblühen des Nationalsozialismus führte. Schauen Sie sich einen kurzen Situationsbericht dieser Weimarer Zeit bei Wikipedia an, und vergleichen Sie das Gelesene mit den aktuellen Bildern aus Griechenland.
Wikipedia: Weimarer Republik
Nachdem sich im Frühjahr 1931 aufkeimende Hoffnungen auf eine konjunkturelle Wiederbelebung zerschlagen hatten und der Kapitalmangel auch für den Staatshaushalt zu immer größeren Defiziten geführt hatte, nahm (Reichskanzler) Brünings Spar- und Deflationspolitik immer härtere Konturen an. Er erließ in seiner Amtszeit insgesamt vier »Notverordnungen zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen«. Darin wurden die Lohn- und Einkommensteuer mehrfach erhöht, ebenso die Umsatzsteuer sowie diverse Verbrauchsteuern; neue Steuerarten wie eine »Krisensteuer« und eine »Bürgersteuer« wurden eingeführt.
Parallel dazu wurde eine rigide Sparpolitik der öffentlichen Hand verordnet mit der Folge, dass sie auch in Ländern und Gemeinden als Abnehmer von Gütern und Dienstleistungen weitgehend ausfiel: Seit Oktober 1931 durften keine öffentlichen Gebäude mehr errichtet werden; Mittel für Reparaturen und Anschaffungen wurden nur freigegeben, wenn Menschenleben unmittelbar gefährdet waren. Mit dieser Politik erreichte die Regierung Brüning zwar erstmals seit 1914 wieder eine aktive deutsche Handelsbilanz, gleichzeitig wurde aber die Konjunktur abgeschnürt. Die weiter ansteigende Massenarbeitslosigkeit verursachte – trotz geminderter Unterstützungsdauer und in der Höhe abgesenkter Leistungsansprüche bei der Arbeitslosenversicherung sowie ständiger Kürzungen bei der nachgelagerten Sozialfürsorge – fortlaufende Deckungslücken im Staatshaushalt, die auch durch eine radikale Zurückführung der Staatsausgaben nicht geschlossen werden konnten.
Dennoch ging Brüning von seinem Kurs nicht ab, den er als alternativlos darstellte, um einerseits eine erneute Inflation zu vermeiden, andererseits um das Ausland davon zu überzeugen, dass Deutschland die Reparationen nicht mehr zu leisten in der Lage sei und dass sie folglich ganz erlassen werden müssten. So brachte auch das Hoover-Moratorium zur Stundung der internationalen Zahlungsverpflichtungen, das im Juli 1931 in Kraft trat und die Aussetzung der Reparationszahlungen sowie der interalliierten Kriegsschulden auf ein Jahr gewährte, keine Wende in seiner Deflationspolitik, wegen der unmittelbar darauf hereinbrechenden Bankenkrise verschärfte sie sich sogar noch …
In der »Vierten Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen« wurden am 8. Dezember 1931 Löhne, Gehälter, Mieten, Kohle- und Kartellpreise sowie Zinssätze abgesenkt und zugleich noch einmal die Steuern erhöht. Die Folge war eine weitere Verschärfung der Depression. Eine aktive Konjunkturpolitik blieb aus … Dabei verhinderte gerade die überproportionale Jugendarbeitslosigkeit die soziale und politische Integration eines beträchtlichen Teils der Nachwachsenden und ließ die gesellschaftliche Militanz insbesondere in KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) und NSDAP schnell anwachsen …
Die aktuelle Situation Griechenlands ähnelt der finalen Phase der Weimarer Republik. Wir waren im Januar 2013 mit einem Cashkurs-Kamerateam vor Ort und haben in zahlreichen Gesprächen vor und abseits der Kamera versucht, die Situation in Griechenland einzuordnen. Viele gebildete Griechen vergleichen selbst ihr Land mit Weimar. Die Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Belebung sind gering. Im Januar 2013 schließen in Nordgriechenland 300 Schulen, weil die Behörden kein Geld für Heizöl haben. Die Verzweiflung der einfachen Menschen ist zum Greifen nahe. Ausschreitungen und Demonstrationen sind eine tägliche Übung. Während ich in der Hotellobby des Radisson Blue in Athen ein Interview mit einem Mitglied der griechischen Nationalbank führe, macht das Hotel die Schotten dicht. Die Stahljalousien werden heruntergelassen, vor dem Hotel ziehen binnen Minuten schwer gerüstete Polizeieinheiten auf. Hubschrauber sind in der Luft, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge rücken an. Einen Straßenzug weiter zieht eine weitere Großdemonstration an uns vorbei. Diesmal bleibt alles friedlich, binnen einer Stunde ist der Spuk vorbei, Demonstranten, Polizei, Hubschrauber sind verschwunden, als wäre nie etwas gewesen. Die Griechen in unserer Nähe nehmen es mit einem Achselzucken und erklären, dass das jeden Tag so gehe. Den internationalen Medien ist das längst keine Berichterstattung mehr wert.
In der Nacht gehen wir in das inzwischen berüchtigte Stadtviertel Exarchia. Hier ist Anarchistenland. Hier wohnen die Anarchos, die »Linksextremisten«. Sämtliche Hausfassaden und zahlreiche Fensterscheiben sind mit Graffiti übersät, bei einem VW-Bus ist von der ursprünglichen Lackierung nichts mehr zu erkennen, die Scheiben sind mit Sprühfarbe verziert. Die ganze Szenerie erinnert an düstere Zukunftsfilme. Schon am Nachmittag ziehen in den umliegenden Straßen schwer gerüstete Polizeieinheiten auf. Jeden Nachmittag in diesen Wochen. Wir werden von allen Seiten gewarnt, dort nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr hinzugehen, längst würde dort kein Recht und Gesetz mehr gelten. Wir wagen es dennoch und mischen uns nachts um ein Uhr unter die Einheimischen. Mitten in der Stadt an einem Denkmal brennen Lagerfeuer. Gerade wird ein alter Tannenbaum nachgelegt. Die Stimmung ist ruhig, aber angespannt. Obdachlose, Jugendliche in Lederjacken, Junkies sitzen in kleinen Gruppen zusammen, diskutieren leise, trinken Bier und wärmen sich an den Feuern. Die Polizei begnügt sich damit, einige Straßenzüge weiter ihre Stellung zu halten und zu hoffen, dass auch diese Nacht friedlich vorübergehen werde. Sie bleibt friedlich. Die Polizei weiß, dass sie hier nichts bewirken kann. Ein Zugriff, Löschen der Lagerfeuer, der Versuch, so etwas wie »öffentliche Ordnung« wiederherzustellen, würde zu einem Aufstand des Viertels und einer kaum zu beherrschenden Eskalation führen. Im Gespräch mit den jungen Menschen hören wir von Hoffnungslosigkeit, Zukunftsängsten und Desillusion. Hass auf die Deutschen? Keine Spur. Aber Resignation gegenüber der etablierten Politik. Die Bereitschaft, die eigene Verzweiflung mit extremen Mitteln zum Ausdruck zu bringen, ist groß. Dass sich solche Menschen, denen jede Hoffnung fehlt, nur zu gerne auf die verheißungsvollen Versprechungen politischer Rattenfänger einlassen, war zu allen Zeiten so.
Im Augenblick scheint es, als würden die Griechen ganz besonders auf die linken Rattenfänger hereinfallen. Ich schreibe ganz bewusst »scheint«, denn mal wieder gibt es einen großen Unterschied zwischen Schein und Sein.
Wenn man die griechische und auch die internationale Presse verfolgt, ist im Zusammenhang mit Krawallen, Ausschreitungen und sogar Attentaten immer von der griechischen »extremen Linken« die Rede. Mal die unparteiischen Anarchisten, mal die Partei Syriza unter ihrem Chef Alexis Tsipras. Die Syriza wird immer wieder zum Schreckgespenst erklärt, vor dem es zu warnen gilt. Wir haben mit einem Abgeordneten und mit Parteimitgliedern gesprochen. Sie sagen von sich selbst: »Ja! Wir sind die extremen Linken.« Aber im Gespräch offenbart sich ganz anderes. Ihre Positionen würden in Deutschland mal eben als gut sozialdemokratisch durchgehen. Offenkundig gibt es einen großen Unterschied zwischen dem, was man in Griechenland unter »extrem links« versteht, und dem, was in Deutschland unter demselben Begriff gesehen wird. Wir stellen uns darunter sofort langhaarige Bombenleger und kommunistische Stalinisten vor. Die gibt es in Griechenland ebenfalls, aber sie spielen eine überschaubare Rolle.
In den offiziellen Verlautbarungen gehen alle Straßengewalt, alle nächtlichen Brandsätze und zuletzt die Schüsse auf ein leerstehendes Büro des Präsidenten Samaras von links aus. Obwohl dazu oft jeglicher Beweis fehlt, keine Täter verhaftet wurden, wird sofort über die extremen Linken spekuliert. In der Tat erzählten uns eher linke Studenten von Ausschreitungen, die an ihrer Universität stattgefunden hätten. Die Rädelsführer hatten sie jedoch noch nie zuvor an der Uni gesehen.
Ich fühle mich immer wieder an den »Gladio-Skandal« erinnert und daran, was damals alles unternommen wurde, um die Gefahr einer erstarkenden Linken in Italien zu verhindern. Dieser Gladio-Skandal ist inzwischen bestens erforscht und belegt, wurde aber von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Daher schiebe ich hier eine kurze Zusammenfassung jener Ereignisse ein, da sie möglicherweise eng mit den heutigen Entwicklungen zusammenhängen. Von Beginn der 1950er Jahre bis mindestens 1990 gab es vor allem in einigen europäischen NATO-Ländern paramilitärische Geheimkommandos unter Führung der NATO, des britischen Geheimdienstes MI6 sowie der amerikanischen CIA. In dieser Zeit des Kalten Kriegs hatte man Angst, dass es jederzeit zu einem Einmarsch der Roten Armee in Westeuropa kommen könnte. Für diesen Fall legten geheime Undercover-Einheiten, die aus Militärangehörigen, Geheimdienstmitarbeitern, aber auch Privatpersonen aus dem rechtsextremen Umfeld rekrutiert wurden, im jeweiligen Land zahlreiche Waffen- und Munitionsdepots in Wäldern an oder vergruben sie im Gelände. Im Falle eines Einmarsches sollten diese Einheiten dann Guerillaaktionen gegen den Feind ausführen.
Die Angst vor dem Kommunismus war zu dieser Zeit sehr groß und führte in den USA zu einer landesweiten Paranoia. Unter Senator Joseph McCarthy kam es zu regelrechten Hexenjagden auf jeden, den man des Kommunismus verdächtigte, was zu Berufsverboten für Künstler und vielen weiteren Auswüchsen führte. Es war die erklärte Doktrin der USA den Kommunismus, wo immer möglich, einzudämmen und zurückzudrängen. Doch zurück nach Italien. Als sich ab den 1960er Jahren in der italienischen Bevölkerung eine Sympathie für die kommunistischen Parteien ausbildete, sah man die Gefahr nicht mehr nur in einem Einmarsch der sowjetischen Armee, sondern auch in einem Erstarken des Kommunismus im eigenen Land, an dessen Ende möglicherweise ein politischer Umschwung stattfinden könnte. Und dies galt es mit aller Entschiedenheit zu verhindern. Ob der Kommunismus über die Grenze komme oder im Land selbst entstehe, sei nicht von Belang. Und allem Anschein nach wurde das Mandat der geheimen Guerillaeinheiten erweitert. Es folgten zahlreiche Entführungen und Terroranschläge zwischen 1969 und 1985, die der Bevölkerung als Anschläge kommunistischer Extremisten verkauft wurden. So schürte man die Angst und förderte die Ablehnung des Kommunismus. Die ausführlichste wissenschaftliche Untersuchung zu all diesen Zusammenhängen hat im Jahr 2005 der Historiker Daniele Ganser im Rahmen einer Forschungsarbeit der Schweizer Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich vorgestellt. Ob und welche Anschläge der angeblichen linken Szene in den letzten Jahrzehnten ihren Ursprung in Wahrheit in jenem heiligen Kampf gegen den Kommunismus hatten, ist bis heute umstritten.
Diese »Stay-Behind«-Netzwerke existierten in faktisch allen westeuropäischen Ländern wie Frankreich, Griechenland, den Niederlanden, Norwegen, Belgien und Deutschland. Ihre jeweiligen Aktivitäten zur Eindämmung des Kommunismus waren mannigfaltig. In Italien ging die juristische Aufarbeitung bislang am weitesten, nachdem der italienische Politiker Giulio Andreotti die Existenz von »Gladio« öffentlich machte. Andreotti erklärte, der italienische Zweig der Untergrundarmee bestehe aus 622 Mitgliedern, die 139 Waffendepots angelegt hätten. Im November 1990 drückte das Europäische Parlament seinen entschiedenen Protest gegenüber der NATO aus. Aufgrund der engen Verflechtungen der westeuropäischen Staaten mit der Nato und der eigenen Sicherheitsinteressen gab es in den meisten Ländern allerdings nur sehr halbherzige Aufarbeitungen all dieser Aktivitäten, die in unterschiedlicher Ausprägung in zahlreichen europäischen Staaten stattfanden. Der »Spiegel« berichtete in seiner Ausgabe 47/1990 über »Das blutige Schwert der CIA«. Die ganzen Zusammenhänge finden sich detailliert aufgearbeitet im Buch des bereits erwähnten Historikers Daniele Ganser: »NATO-Geheimarmeen in Europa: Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung«.
Mit Sicherheit sind die griechischen Linken nicht zu unterschätzen, dennoch sollte man aber immer dann, wenn mal wieder ein Anschlag ohne Beweise einer Gruppierung untergeschoben wird, fragen: Cui bono? So wird in der Bevölkerung eine Angst vor der roten Gefahr geschürt, in deren Windschatten sich die rechte Gegenseite unbemerkt anpirscht.
Die griechische Rechte hat sich geschickt positioniert. Aufgeteilt in drei Parteien, versucht sie eine möglichst breite Wählerschaft zu gewinnen. Da ist zum einen die »Goldene Morgendämmerung«, eine Partei, die keinerlei Zweifel an ihrer Gesinnung aufkommen lässt. Das Parteisymbol besteht aus einem leicht verfremdeten roten Hakenkreuz in einem schwarzen Lorbeerkranz. Der Hitlergruß gehört nach eigener Darstellung als antiker Gruß zu Ehren des Gottes Apollon ebenfalls zur innerparteilichen Selbstverständlichkeit. Die politischen Positionen sind aus vergleichbaren deutschen Parteien der vergangenen 70 Jahre hinlänglich bekannt. Hier sammeln sich all jene, die keinen Hehl aus ihrer braunen Gesinnung machen und lieber heute als morgen einen griechischen Führer installieren würden, der die Probleme Griechenlands samt seiner illegalen Einwanderer mit eisernem Besen lösen soll. Die Partei existiert offiziell seit 1993, spielte aber nie eine große Rolle. Bei den Wahlen 2009 kam sie in ganz Griechenland gerade einmal auf überschaubare 0,29 Prozent oder nicht einmal 20000 Stimmen. Doch das sollte sich schlagartig ändern. Immerhin fast 11 Prozent Stimmanteil ergab die letzte große Wahlumfrage im September 2012.
Da eine solche radikale Positionierung so manch einen Wutbürger verschreckt, wurde Abhilfe geschaffen. Im Februar 2012 gründete ein Aussteiger aus der bürgerlich konservativen Partei Nea Dimokratia die neue rechtspopulistische Partei »Unabhängige Griechen«. Sie ist die Keimzelle, die zum Hass gegen Deutschland bläst. Die Gründung der Partei fand ausgerechnet in Distomo statt, in dem die Waffen-SS 1944 ein Massaker angerichtet hat. Zum Parteiprogramm gehören »nationales Erwachen und Aufstehen« ebenso wie Reparationsforderungen an Deutschland. Hier finden rechtskonservativ orientierte Anwälte, Banker und Selbständige eine politische Heimat. Bei den letzten Wahlen erreichte die Partei ebenfalls knapp 11 Prozent.
Bleibt noch die LA.O.S. (LaÏkós Orthódoxos Synagermós), eine erzkonservative Partei mit streng religiöser Basis. Sie kann als extrem rechts, nationalistisch und ausländerfeindlich eingestuft werden und sammelt die älteren erzkonservativen Gläubigen mit Hang zu rechtem Gedankengut ein. Bei den aktuellen Umfragen liegt sie bei etwa 4 Prozent.
Jede der rechten Parteien für sich stellt keine größere Gefahr da, doch etliche – unpolitische – Griechen, mit denen wir gesprochen haben, treibt die Sorge, dass bei einer der kommenden Wahlen die rechten Parteien jede für sich einen solchen Zulauf erhalten, dass sie sich danach im Parlament vereinigen könnten, womit eine noch schwärzere Zeit für die griechische Demokratie hereinbräche. Dann wäre der Vergleich mit der Weimarer Republik und dem ihm nachfolgenden Nationalsozialismus vollendet.
Mit jeder Horrormeldung über linke Gewalt, mit jedem Bericht über die Gefahr von links werden wieder verunsicherte Wähler auf die rechte Seite getrieben. Extreme Parteien sind stets eine Gefahr für die Gesellschaft, ganz gleich auf welcher Seite diese Übertreibung stattfindet. Die Griechen sind nicht nur die Erfinder der Demokratie, sie lieben sie auch heute noch. Umso schwerer fällt es zu verstehen, warum sich ausgerechnet hier eine solche dramatische Entwicklung an den undemokratischen politischen Rändern entwickelt. Bei all meinen Gesprächen mit jungen, gut ausgebildeten und intelligenten Griechen habe ich stets dieselbe Frage gestellt: Warum entsteht keine politische Partei in der Mitte des Spektrums? Getragen von jenen demokratischen, intelligenten und gebildeten Menschen, die die Schnauze voll haben von den alten Strukturen und das Heft in die Hand nehmen? Die Massen würden doch darauf warten. Und stets habe ich dieselbe Antwort bekommen: »Wir haben dafür keine Zeit, wir sind zu sehr mit unserer Arbeit oder unserer Ausbildung beschäftigt.«
So bleiben nur die wütenden Eiferer rechts wie links, die alten, verbrannten und korrupten Kader in der Mitte und um alle herum die nationalen und internationalen Lobbyisten, die diese explosive Lage für ihre eigenen Interessen nutzen. Sei es mit finanzieller, personeller oder medialer Unterstützung.
Die verhängnisvolle wirtschaftliche Lage Griechenlands beschleunigt diese Entwicklung. Ein politischer Strippenzieher erklärte mir in Athen das, was viele Griechen inzwischen empfinden: »Die etablierten Parteien mit ihren alten Seilschaften können es nicht richten. Die einzige Chance auf eine wirkliche Veränderung in Griechenland kann nur durch einen starken Führer kommen. Gerne auch eine Militärdiktatur.«
Die Leidtragenden sind wie immer am Ende die Bürger, die gar nicht verstehen, in welchem Spiel sie zur Marionette verkommen.
Eine ähnliche Entwicklung ist inzwischen auch in Spanien zu beobachten.
Zur Verschärfung der Situation in den schwächeren Ländern Europas trägt ein verhängnisvoller Fehler bei, den wir seit 2010 zuerst in Griechenland und dann viral in allen weiteren Krisenländern wiederholen und mit dem Gehirnwäschesatz »Sparpakete sind alternativlos« rechtfertigen. Liebe Leser, wenn Sie jemanden treffen, der Ihnen das begründen kann, ohne dass Sie Ahnungslosigkeit oder Böswilligkeit unterstellen müssen, schicken Sie ihn zu mir. Ich habe bis heute nicht verstehen können, warum wir diesen Wahnsinn anrichten.
Wir Deutsche wissen aus eigener Erfahrung und Experimenten der jüngeren Geschichte, wie die wirtschaftlichen Zusammenhänge in diesem Bereich sind.
Denken Sie zurück an das Ende der Weimarer Republik. Reichskanzler Brüning sparte in die 1929 in den USA entstandene Wirtschaftskrise hinein, um den Finanzmärkten zu beweisen, dass Deutschland ein verlässlicher Partner ist – und um einen Schuldenschnitt zu erzwingen, ganz wie Griechenland. Die unmittelbare Folge waren der Zusammenbruch der Wirtschaft, Massenarbeitslosigkeit und Verelendung der Mittelschicht. In der Konsequenz kam es zur Abkehr von der herrschenden demokratischen Politik und zu einem Erstarken der extremen rechten und linken Kräfte in Form der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Die Rechten hatten am Ende die Situation für sich entschieden mit all dem bekannten Wahnsinn, der folgte. Der Zuspruch zu Hitlers Politik nährte sich im Wesentlichen aus der Beendigung der Wirtschaftskrise und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Der verheerende Fehler war, dass er diesen Wirtschaftsaufschwung durch Investitionen in Kriegsvorbereitungen wie Rüstung und Transportinfrastruktur für Kriegsgüter (Schienen, Autobahnen etc.) erzeugt hat. Und so konnte er Millionen hinter sich vereinen, die ihm blind gefolgt sind, weil er ihnen ja eine bessere Zukunft nicht nur versprach, sondern scheinbar auch bot.
Machen wir einen Zeitsprung ins Jahr 2003. Gerhard Schröder erläuterte in seiner Regierungserklärung seine Pläne für seine Reformpolitik »Agenda 2010«. Deutschland galt damals – man mag es heute kaum mehr glauben – als der »kranke Mann Europas«. Wir waren zu wenig wettbewerbsfähig, hatten verkrustete Arbeits- und Sozialstrukturen, so hieß es. Bis zu Schröders Agenda 2010 hat Deutschland all das falsch gemacht, was wir heute von unseren Nachbarn fordern. Der damalige Finanzminister Hans Eichel (wegen seiner Sparpakete der »Eiserne Hans« genannt) hatte den Gürtel immer enger geschnallt, Staatsausgaben reduziert und Steuern und Abgaben angehoben. Die Folge war jedoch keine Haushaltskonsolidierung, sondern eine stagnierende Wirtschaft und drastisch steigende Arbeitslosenzahlen von fünf Millionen Bundesbürgern. Deutschland war in einer Abwärtsspirale gefangen und sollte laut Brüsseler Einschätzung weiter sparen. Doch dann kam Schröder und durchbrach den Teufelskreis. Man kann zu jener Agenda 2010 stehen, wie man möchte. Sie ist zweifellos streitbar und war ein Kotau vor der Industrie, wie wir später noch sehen werden. Sie hat viel Negatives, aber eben auch viel Positives bewirkt. Diese Reformen hier zu diskutieren würden unseren Rahmen sprengen. In jedem Fall hat Schröder für sich erkannt, dass blindes Sparen der falsche Weg war. Er erkannte zudem, dass er Deutschland reformieren musste, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen und zu erhalten. Dazu wollte er die Sozialsysteme modernisieren (Hartz IV etc.) und die Arbeitsmärkte liberalisieren. »Fördern und Fordern« lautete das Motto der Stunde. Wie weit das geglückt ist, dazu hat jeder seine eigene Erfahrung.
Doch nehmen wir einige Elemente seiner Reformpolitik heraus, und bitte denken Sie dabei immer parallel an die Forderungen, die wir momentan an Griechenland stellen:
Schröder |
Forderung an Griechenland |
Aufbrechen der Handwerksordnung Eröffnen von Betrieben auch ohne Meisterbrief |
Aufbrechen diverser Monopole wie Taxilizenzen oder Lkw-Lizenzen, um mehr Selbständige zu ermöglichen |
Lockerung des Kündigungsschutzes |
Lockerung des Kündigungsschutzes |
Senkung der Lohnnebenkosten |
Senkung der Löhne |
Kürzung der Arbeitslosengelder (Hartz IV) |
Kürzung der Arbeitslosengelder |
Kürzung der gesetzlichen Renten (Riester-Konzept) |
Kürzung der Renten |
Und tatsächlich ist es Schröder damit gelungen, Deutschland wieder wettbewerbsfähiger zu machen – auch gegenüber Griechenland und anderen europäischen Staaten.
Das ist doch recht verblüffend. Drängt sich hier nicht die Erkenntnis auf, die Griechen müssten nur endlich auch mal richtig diese Reformen umsetzen, dann klappt es auch mit der Wirtschaft!?
Nicht ganz. Denn dabei würden wir einen wesentlichen Faktor des Schröderschen Handelns übersehen. Ihm war vollkommen klar, dass diese Reformen nur funktionierten, wenn er sie mit Konjunkturpaketen unterstützen würde. Ansonsten würden die Reformen in die Katastrophe führen. Folglich unterstützte er die Reformen mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen. Spezielle Ausbildungsangebote für Jugendliche, Erhöhung der Bildungsausgaben um 25 Prozent innerhalb von fünf Jahren, mehr BAföG für Studenten, vier Milliarden Euro Investitionen im Bildungssystem, Einführung von Steuervergünstigungen für Haushaltshilfen und Kinderbetreuung. Dazu kamen nennenswerte Ausgaben für Infrastruktur und Straßenbau.
Mit den Reformen war die EU-Kommission in Brüssel sehr einverstanden, aber mit den Konjunkturpaketen absolut nicht. Brüssel bestand darauf, dass Schröder weiter die Sparschrauben anziehen und den Haushalt »konsolidieren« solle. Andernfalls drohte ihm ein blauer Mahnbrief aus der europäischen Zentrale. Schröder tippte sich an die Stirn und dachte: Die spinnen, die Brüsseler. Und ignorierte das Gezeter aus Belgiens Hauptstadt. Ihm war völlig klar, dass Einschnitte in den Arbeitsmarkt wie Lockerungen des Kündigungsschutzes, Lohn- und Rentenreformen, Senkung der Sozialleistungen mit gleichzeitigen Sparmaßnahmen des Staates zum Scheitern ebenjener Reformen, zum Zusammenbruch der Wirtschaft und zum Aufstand der Bürger führen würden. Also stand er vor der schwerwiegenden Entscheidung: den falschen Vorstellungen Brüssels nachgeben und Deutschland wie in den vergangenen Jahren weiter in den Keller sparen, womit das Land immer noch nicht zukunftsfähiger wäre, oder den eigenen Überzeugungen folgend die Reformen auf den Weg bringen, die Sparbemühungen in dieser Phase auszusetzen und die Abmahnung seitens der EU zu kassieren.
Wir wissen, wie er sich entschieden hat. Er hat die Reformen umgesetzt und Hans Eichel gegen dessen Überzeugung angewiesen, Geld lockerzumachen und den Blauen Brief aus Brüssel unter »unliebsame Bettelbriefe« abzulegen.
Die Folge war ein wirtschaftlich erstarkendes Deutschland, das die damalige Krise immer besser hinter sich ließ. Die Arbeitslosenzahlen gingen deutlich zurück, auch wenn sie besonders seit 2005 drastisch geschönt werden. (Wie das gemacht wird, vergleichen Sie bitte erneut im Buch »C(r)ashkurs«.) Heute wird Deutschland nicht mehr als der kranke Mann angesehen, sondern als der reiche Onkel, der vor lauter Geld in den Taschen nicht laufen kann und gefälligst den Rest Europas mittels Bürgschaften und Überweisungen zu retten habe. Beide Bezeichnungen waren und sind gleichermaßen lustig wie falsch. Wir sind bestenfalls der Einäugige unter den Blinden, wie ein rascher Blick mit dem einen verbliebenen Auge auf den Zustand unserer Straßen, Schulen, unseres Bildungssystem und den Flughafenneubauten offenbart.
Doch selbst diese leidlich gute Entwicklung war für Deutschland nur möglich, weil Schröder diesen Wahnsinnsmechanismus
Sparpakete/Steuererhöhungen –> Wirtschaftseinbruch –> steigende Arbeitslosigkeit –> geringere Steuereinnahmen –> schwächere Haushaltslage –> Sparpakete/Steuererhöhungen
durchbrochen hat.
Gehen wir noch wenige Jahre weiter zu den Jahren 2008 und 2009. Die weltweite Wirtschaftskrise tobte, und Deutschland wurde aufgrund seiner großen Exportabhängigkeit – für eine starke Binnennachfrage ist die Währung ja bekanntlich zu schwach – besonders hart getroffen. Die Wirtschaftsleistung brach 2009 um 5 Prozent ein, was kurz zuvor noch niemand für möglich gehalten hatte. Gerne zitiere ich an dieser Stelle Peer Steinbrück mit seinen Worten von 2008: »Für 2009 ist natürlich eine Abschwächung zu erwarten, aber bitte nicht wieder die typische deutsche Beschwörung einer Rezession … Wir sind nicht in einer Situation, in der wir schon wieder Krisenszenarien entwickeln müssen.« – Hoffentlich haben nicht allzu viele auf ihn gehört. Die deutsche Wirtschaft tat in dieser Phase sehr gut daran, Krisenszenarien zu entwickeln, ohne die die Lage vermutlich noch dramatischer ausgefallen wäre.
Zu diesen Krisenvorbereitungen gehörte beispielsweise das deutsche Instrument der Kurzarbeit. Hier hat der Staat Milliardensummen in die Hand genommen und den Unternehmen einen Teil der Löhne bezahlt. So war es den Firmen möglich, von Entlassungen abzusehen. Die Mitarbeiterstruktur der Unternehmen blieb erhalten, die Arbeiter und Angestellten erhielten weiter Lohn und mussten den Gürtel nicht allzu eng schnallen. Mit dem ersten Wiederanziehen der Konjunktur konnten die deutschen Unternehmen sofort wieder voll produzieren, da es kein Problem war, die auf Staatskosten geparkten Arbeiter zu reaktivieren. Man musste nicht erst langwierig neue Mitarbeiter einstellen und anlernen. Aber das war nur deshalb möglich, weil der Staat in dieser Situation eben nicht sparte, um den Haushalt zu konsolidieren, sondern Geld in die Hand nahm, um Bürger und Industrie zu entlasten.
Doch damit nicht genug. Unsere Politiker erklärten uns damals, es sei der größte Fehler, wenn wir in diese Krise hineinsparen würden. Wir müssten unbedingt die Konjunktur ankurbeln. Dafür haben wir Konjunkturpakete geschnürt. Erinnern Sie sich noch an die Abwrackprämie? Wir haben funktionierende Autos auf Kosten des Staates zerstört, um neue Autos zu bauen. Kosten: Fünf Milliarden Euro. Wie pervers kann ein Konjunkturpaket noch werden? Nur einen Schritt weiter wäre die Idee gewesen, Fensterscheiben einzuwerfen, um hernach neue einzusetzen. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht sogar irgendwer darüber nachgedacht hat.
Uns war klar: Würde der Staat jetzt nicht massiv Geld ausgeben, wäre das die Katastrophe für die deutsche Wirtschaft und seine Bürger. Dadurch wuchs das deutsche Defizit (Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen) auf 77 Milliarden Euro. Es gab zwei große Konjunkturpakete. Kreativ, wie Beamte sind, nannte man sie … Trommelwirbel … Konjunkturpaket I und Konjunkturpaket II!
In beiden war ein ganzer Blumenstrauß an bunten Maßnahmen aller Art enthalten. Hauptsache, es würde die Wirtschaft ankurbeln. Sonderdarlehen mit Zinsvergünstigung, Befreiung von der Kfz-Steuer bei Neuwagenkäufen, Infrastrukturinvestitionen und Baumaßnahmen aller Art für Kommunen. Da wurden die abenteuerlichsten Projekte finanziert. Legendär war beispielsweise der Umbau des Karl-Liebknecht-Stadions in Babelsberg. Mit 7,2 Millionen Euro aus dem Topf des Konjunkturpakets II wurde die Spielstätte des Viertligisten SV Babelsberg 03 auf Vordermann gebracht. Einige behaupten, das habe daran gelegen, dass der damalige Finanzminister von Brandenburg im Vorstand des Vereines gesessen habe, aber das ist natürlich völliger Unfug. So was gibt es bekanntlich nur in Griechenland, oder?!
Apropos Griechenland: Hier schließt sich der Kreis.
Reichskanzler Brüning 1930, Gerhard Schröder 2004 und Angela Merkel 2009: Wir wissen aus der deutschen Geschichte ganz genau, wie man es richtig macht, und was passiert, wenn man es falsch macht. Brünings unbeirrbares Ansparen gegen die Wirtschaftskrise führte zum Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und Demokratie mit katastrophalen Folgen – für Deutschland und die Welt. Schröders rechtzeitiges Umschwenken vom gleichen verhängnisvollen Sparkurs auf Reformen mit konjunkturunterstützenden Maßnahmen brachte für Deutschland die wirtschaftliche Trendwende. Merkels radikales Investieren gegen die Krise führte Deutschland in sensationeller Weise durch diese Turbulenzen und zu einer Spitzenposition unmittelbar nach selbiger.
Kann mir jetzt bitte irgendwer erklären, warum wir wider besseres Wissen von unseren südlichen Nachbarn das genaue Gegenteil von dem verlangen, von dem wir selbst überzeugt sind, dass es gut und richtig wäre? Warum wir von diesen Staaten verlangen, das Gegenteil von dem zu tun, was wir gemacht haben? Das kann man nur noch mit maßloser Borniertheit oder Boshaftigkeit erklären. Beides würde mir gleichermaßen Sorge bereiten.
Es ist völlig unbestritten, dass sich viele Länder Europas große Reformen vornehmen müssen. Griechenland muss nahezu ein komplettes Staats- und Steuerwesen neu aufbauen, weswegen ihm eine Sonderrolle zukommt. Schauen wir weiter nach Spanien. Die hohe Arbeitslosigkeit von 26 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent hatten wir hier bereits angesprochen. Aber auch schon vor der aktuellen Krisenverschärfung hatte Spanien eine hohe Arbeitslosenquote. Das liegt unter anderem an einem extrem verkrusteten Arbeitsmarkt. Wenn Sie spanischer Unternehmer sind und Sie haben sich irgendwann einmal entschieden, einen Mitarbeiter einzustellen, dann kriegen Sie den nicht mehr los, ganz egal, was die Konjunktur oder Ihre Auftragslage macht. Es sei denn, der Mitarbeiter verstirbt freiwillig. Aber selbst dann zahlt man den Toten noch die Rente weiter. Sorry, das war ja jetzt wieder Griechenland.
Versetzen Sie sich also bitte für einige Zeilen in die Rolle eines spanischen Unternehmers mit sorgenvoller Miene. Jetzt schnüre ich Ihnen ein Reformpaket. Ich breche den Arbeitsmarkt auf, reduziere den Kündigungsschutz, so dass es Ihnen leichter fällt, einmal eingestellte Mitarbeiter bei schlechter Auftragslage auch wieder zu entlassen. Ihr Gesicht hellt sich merklich auf. Aber im selben Atemzug erkläre ich eine großangelegte Sparkampagne für den Staatshaushalt. Ich friere alle Bereiche der Staatsausgaben ein, die mir zur Verfügung stehen. Ich entlasse Zehntausende Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, kürze die Renten und erhöhe die Steuern. Kurzum, ich würge die Wirtschaft mit aller Kraft ab. Was würden Sie nun tun? Würden Sie Ihre neugewonnene Flexibilität tatsächlich einsetzen, um Mitarbeiter einzustellen? Natürlich nicht! Sie würden diese neue Freiheit nutzen, um all die Mitarbeiter rauszuschmeißen, die Ihnen ohnehin schon zu lange auf der Tasche liegen. Sie würden versuchen, Ihr Unternehmen so schlank wie möglich zu machen, um auf die kommenden schwierigen Wirtschaftszeiten vorbereitet zu sein. Sie würden damit zum Abbau der Arbeitsplätze beitragen. Flexibilisierungen der Arbeitsmärkte bei gleichzeitigen Sparpaketen führen zur Massenarbeitslosigkeit und einem unheiligen Teufelskreis.
Würde ich – als spanische Regierung – diese Arbeitsmarktreformen jedoch mit Konjunkturpaketen wie seinerzeit die Investitionen in Infrastruktur in Deutschland unterstützen, dann würden Sie vermutlich schnell versuchen, Mitarbeiter einzustellen, ansonsten wären Sie nicht in der Lage, neue große Aufträge anzunehmen. Ihr Nachbar auf der anderen Straßenseite würde die Aufträge einheimsen, und wenn Sie zu spät kommen, bestraft Sie der Arbeitsmarkt, da die besten Köpfe schon weg sind. Ihr Risiko ist überschaubar, da sich erstens die konjunkturellen Aussichten deutlich verbessert haben und Sie zweitens die neu eingestellten Mitarbeiter auch recht unkompliziert wieder freisetzen können, wenn es doch nicht so prickelnd werden sollte. Nur durch eine solche Unterstützung der Konjunktur gelingt es, die Reformen wirken zu lassen. Der dadurch entstehende Aufschwung ist es am Ende auch, der die Bürger davon überzeugt, die Reformen mitzutragen.
Natürlich muss der spanische Staat seinen öffentlichen Dienst verschlanken. Aber das ist wesentlich einfacher, wenn es in einem Wirtschaftsaufschwung geschieht, in dem die aus dem Staatsdienst Entlassenen eine gute Chance haben, in der aufstrebenden und nach Arbeitskräften suchenden freien Wirtschaft einen Job zu erhalten. Im Wirtschaftsaufschwung hat die Regierung wesentlich mehr Freiheiten, auch unliebsame Entscheidungen durchzusetzen, da sie sich anscheinend bewähren.
Warum ist dann aber Gerhard Schröder 2005 abgewählt worden? Es ist aus seiner Sicht vermutlich fast schon tragisch. Seine Reformen waren verständlicherweise sehr umstritten. Deutschland dümpelte mit Wachstumsraten von 0,8 Prozent (2004) und 1,1 Prozent (2005) vor sich hin – und nun auch noch die harten Einschnitte. Diese wurden diskutiert und angefeindet, bevor die gleichzeitig eingeführten Konjunkturmaßnahmen gegriffen haben. Vielleicht war es Schröders größter Fehler, 2005 aufgrund des harschen Gegenwinds gegen seine Politik vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen. Er fühlte sich offenkundig so sicher, dass er glaubte, mit dieser Wahl die Legitimation für sein Vorgehen zu erhalten. Doch er irrte sich. Er verlor die Wahl und in der Folge auch sein Amt. Angela Merkel übernahm das Ruder.
Sie wiederum hatte beinahe unverschämtes Glück. Die schmerzhaften Reformen wurden ihrem Vorgänger angelastet, aber der unmittelbar nach der Wahl einsetzende Aufschwung wurde in der Wahrnehmung der Menschen nicht als Folge der von Schröder umgesetzten Konjunkturpakete gesehen, sondern der wundertätigen Hand der neuen Kanzlerin zugeschrieben. Was so natürlich nicht ganz korrekt war. Beschlossene Kürzungen, Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen wirken sofort. Wird eine Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen, steigen die Preise am Tag des Inkrafttretens unmittelbar an. Konjunkturpakete wirken aber mit Zeitverzögerung. Werden beispielsweise Milliarden für Bauprojekte zur Verfügung gestellt, müssen solche Projekte erst einmal erdacht, dann geplant, genehmigt und schließlich umgesetzt werden. Es gehen also viele Monate ins Land, bevor aus beschlossenen Konjunkturmaßnahmen ein Wirtschaftsaufschwung und Arbeitsplätze entstehen.
Dieser Zeitversatz war es vermutlich, der Schröder um den Lohn seiner Politik und damit auch um sein Amt gebracht hat. Denn unmittelbar nach dem Regierungswechsel kam es zu dem von ihm angeregten Konjunkturaufschwung. Deutschlands Wirtschaft entwickelte sich prächtig um 2,9 Prozent in 2006 und 2,5 Prozent in 2007. 2008 begann noch fulminanter, bevor die platzende Immobilienblase in den USA zum Wirtschaftseinbruch auch in Deutschland führte. Wenn für Erich Honecker der legendäre Satz Gorbatschows geprägt war »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, muss Schröder für sich anfügen: »Wer zu früh geht, den auch!« Aber er lässt sich in Russland ja gebührend trösten.
Doch an diesem Punkt sind wir noch nicht angekommen. Bislang ist die Notwendigkeit von konjunkturbelebenden Maßnahmen in Europa noch gar nicht erkannt. Wir setzen ausschließlich Reformen und Sparpakete um, und das während der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Die Folge ist eine Entwicklung wie unter Reichskanzler Brüning. Die Staaten saufen förmlich ab. Die griechische Wirtschaft versinkt im Bodenlosen. So schrumpft die Wirtschaftsleistung seit 2009 mit dramatischer Dynamik. 2009: –3,2 Prozent. 2010: –3,5 Prozent. 2011: – 6,9 Prozent. 2012: – 6 Prozent. Das Elend der einfachen Bevölkerung ist dramatisch und einem Land innerhalb des reichen Europa unwürdig.
Ein französischer Politiker sagte einst: »Eine Revolution entsteht nie durch jene, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben. Eine Revolution entsteht, wenn der Mittelstand um seine Existenz fürchtet.« Genau diesen unheilvollen Punkt haben mehrere Länder Europas gerade erreicht. Die Konzepte der etablierten Parteien werden als volksfeindlich eingestuft, es gibt kein Hoffnungslicht am Ende des Tunnels in Form von Konjunkturpaketen, die die Menschen dazu ermutigen könnten, die letzten Meter durch den Tunnel zu marschieren. Sie stolpern nur immer weiter in eine endlose dunkle Röhre und verzweifeln. Da kommen rechte Rattenfänger, die in den Elendsvierteln von Athen Lebensmittelpakete verteilen und eine goldene Zukunft versprechen ohne diese kriminellen Ausländer, die die Jobs wegnehmen, gerade recht. Sie geben wieder diesen Funken Hoffnung. Sie entfachen ein Licht am rechten Tunnelabzweig, und es ist nachvollziehbar und in der Geschichte immer wieder zu beobachten, dass die Menschen nur zu gerne diesem Licht glauben wollen und dieser Abzweigung im Tunnel folgen. Dass es ein böses, flackerndes Irrlicht sein könnte, merken sie meist erst, wenn es zu spät ist.
Es mehren sich die Berichte, dass rechte Sturmtrupps, teilweise unter dem Schutz, aber in jedem Fall unter Duldung der Polizei, Jagd auf Ausländer und sonstige »Schmarotzer« machen. Spätestens bei diesen Berichten müssten doch gerade bei uns Deutschen alle Alarmglocken schrillen. Genau so hat es mit Hitlers Sturmabteilung (SA) vor seiner Machtergreifung begonnen, als sie Hetzjagden auf Linke und politische Gegner veranstaltete und als Macht- und Druckmittel diente. Spätestens jetzt müsste die deutsche Politik erschrocken die Augen aufreißen und sich fragen: »Um Gottes willen, was haben wir angerichtet?«
Versuchen wir doch einmal eine Antwort auf diese Frage zu finden. Was haben wir angerichtet? Und vor allem: warum?
Die Entwicklung, die wir heute in Griechenland und Europa beobachten, war von Beginn an absehbar. Kein Politiker kann mir erzählen, dass er um diese Umstände nicht gewusst hat, gemäß dem Motto: »Das konnte man ja nicht ahnen!« Natürlich konnte man das ahnen. Es gehörte schon eine große Portion Unwissenheit und Planlosigkeit dazu, die folgenden Entwicklungen nicht vorherzusehen.
Ich habe zu Beginn des Jahres 2010, als die ersten »Maßnahmen« für Griechenland getroffen wurden, auf allen Sendern mit Schaum vor dem Mund auf die griechische Tragödie hingewiesen. Auf meiner Internetseite »Cashkurs.de« hatte ich im 8. Februar 2010 folgende Kolumne veröffentlicht, die sich leider allzu sehr bewahrheitete:
»Es ist schon eine faszinierende Finanzwelt. Je mehr man sich mit den Hintergründen beschäftigt, desto offensichtlicher wird, wie an allen Ecken bis in die höchste Politik vor sich hin gestümpert wird. Mal mit heimtückischer Absicht, um die verschiedenen Interessen durchzusetzen, mal aus purem Unverständnis. Man weiß nicht, was schlimmer ist und welches gerade hier wieder der Beweggrund ist.
Schauen wir mal nach Griechenland und lassen den Blick dabei langsam über Portugal, Spanien und Irland gleiten, die gerade so sehr in der Diskussion stehen.
Zum einen erschreckt uns, dass die Sorge um Griechenland, deren Gewicht in der EU gerade einmal 2,6 Prozent ausmacht, zu einem Abverkauf des Euro mit angeblicher Flucht in den Dollar führt. Die Währung der USA, die in zwei Monaten Neuschulden in der Höhe der griechischen Gesamtverschuldung draufpacken. Der Bundesstaat Kalifornien ist de facto bereits pleite (da ist es mit Sorge nicht mehr getan … da würde ich das Wort »Panik« für angemessen halten). Kalifornien hat einen Anteil von 13,6 Prozent (2006) an der amerikanischen Wirtschaftsleistung. Griechenland 2,6 Prozent an der EU. Aber die Anleger »flüchten« aus dem Euro in den Dollar. Ja, ne, is klar!
Kommen wir aber zu den Konsequenzen, die Griechenland (und demnächst den anderen Kandidaten) seitens der EU und gerne auch des IWF auferlegt werden.
Sie sollen ihren Haushalt konsolidieren. Staatsausgaben kürzen, Gehälter reduzieren. Jawoll! So kriegen sie die Staatsfinanzen und die Verschuldung in den Griff.(Achtung: Ironie ! ;-) )
Aber Moment … haben wir nicht gerade mit der genau gegenteiligen Argumentation in Deutschland, Amerika, ach was, weltweit riesige Schulden aufgenommen und die Staatsausgaben hochgefahren? Konjunkturpakete verabschiedet und den Menschen möglichst viel Staatsgeld nachgeworfen (Abwrackprämie, Steuererleichterungen, Steuerschecks in den USA) mit der Argumentation: »Es wäre tödlich, jetzt gegen die Krise ansparen zu wollen! Dann bricht die Wirtschaft endgültig zusammen!«
Und genau das wird den ohnehin schwachen Staaten jetzt aufgezwungen!? Die Griechen kürzen also auf Druck der EU die Staatsausgaben, die Gehälter des öffentlichen Dienstes und erhöhen die Steuern. Was wird die Folge sein? Die Folge wird sein, dass die griechische Wirtschaft aufgrund des entzogenen Geldes erst richtig einbricht, die Staatseinnahmen noch weiter zurückgehen und die Gefahr der Pleite noch größer wird. Von den Gefahren sozialer Unruhen, die bereits begonnen haben, ganz zu schweigen.
Wir machen aktuell mit Griechenland (bei Portugal und weiteren Staaten probieren wir es, die Portugiesen wehren sich noch heftig) genau das Gleiche, was der IWF seit Jahren mit den Drittweltländern macht. Er zwingt sie, dramatische Sparprogramme durchzuziehen, und stürzt diese Staaten damit erst richtig in die Wirtschaftskatastrophe. Sie werden immer abhängiger von den weiteren Krediten des IWF und sind am Ende dessen willenlose Werkzeuge, verschleudern ihre Rohstoffvorkommen zu Spottpreisen an die großen Industrieunternehmen der IWF-Kapitalgeber.
Wenn wir einen Weg suchen, um die EU zum Kollabieren zu bringen, ist das genau der richtige.
Das Grundproblem bestand von Anfang an in einer Währungsunion ohne politische Union. Griechenlands Wirtschaft war schon immer schwach. Solange sie die schwache Drachme hatte, war das kein Problem. Man konnte durch Abwertung die weltweite Konkurrenzfähigkeit halbwegs aufrechterhalten. Jetzt hat die immer noch schwache Wirtschaft aber einen starken Euro, den sie nicht abwerten kann. Also säuft die griechische Wirtschaft immer weiter ab. Den kurzfristigen Vorteil niedriger Euro-Zinsen hat man leider nicht für Investitionen in die Produktivität, sondern für den Konsum und Staatsgeschenke an die Bevölkerung genutzt. Da hätte die EU handeln müssen. Jetzt ist das Kind im Brunnen.
Griechenlands einzig reale Chance besteht in einer Rückkehr zur Drachme, einem per Gesetz erlassenen Umtausch von Euro-Anleihen in Drachmen-Anleihen und folgender Währungsabwertung. Verrückt? Warten wir’s ab. Das Sparprogramm führt jedenfalls direkt in die Katastrophe.«
Ich war sicherlich nur einer von vielen, die bereits damals die katastrophalen Folgen der politischen Fehlentscheidungen abschätzen konnten. Ich hatte eigentlich gehofft, dass die hohe deutsche Politik Berater einsetzt, die in der Lage sind, die elementarsten Grundlagen wirtschaftlicher Zusammenhänge in ihre Konzepte einzubeziehen. Aber offenkundig konnten oder wollten sie das nicht. Letzteres wäre ein bitterböser Vorwurf. Schauen wir uns das also einmal genauer an. Wer waren denn die Berater dieser Zeit?