Zwei Leben

Jordi kannte Catalina doch erst seit wenigen Stunden. Sie war in sein Leben gepoltert und jetzt war sie da, einfach so.

Komisch, wie Dinge manchmal passieren.

Reverte hatte sie in die Küche mit den gelben Kacheln und den grün lackierten Möbeln aus warmem Holz geführt und ihnen süße dunkle Schokolade gekocht. Nun holte er Brot und Käse herbei und richtete ihnen ein einfaches Mahl.

»Stärkt euch«, sagte er und ging zur Tür. »Wenn ihr fertig seid, bringe ich euch nach oben in den Nadelturm. Dort könnt ihr euch ausruhen.«

Eine Weile aßen sie schweigend, doch schließlich legte Catalina ihr Messer beiseite und wischte sich über den Mund.

Erinnerst du dich, was du mich gefragt hast, als ich mit dem Flickenfetzen in dich hineingeprallt bin?«, begann sie.

Jordi starrte sie unsicher an.

»Ich glaube, ich habe dich gefragt, wo du herkommst«, sagte er und musste lächeln. »In Anbetracht der Situation keine schlechte Frage, oder?«

Sie nickte. »Ich habe geantwortet: ›Das ist eine sehr lange Geschichte. Oder auch nicht, je nachdem.‹« Sie blickte ihn an. »Willst du sie hören?«

Jordi nickte. Aber es war nicht die Länge der Geschichte, die ihn in Staunen versetzte.

Sie begann damit, ihm von ihrer Heimat zu erzählen, eine kleinen Bucht nahe Talamanga, ein ruhiges Plätzchen im Südwesten, mit klarem Wasser und weißem Sand. Jordi hörte ihr an, wie sehr sie ihr Leben in der Cala Silencio geliebt hatte.

»Später in der Windmühle…«, sagte sie zögernd. »Da kam es mir manchmal so vor, als sei es nur ein schöner Traum gewesen. Ein Bild von einer Welt, die warm und sorglos war.« Sie schwieg in Gedanken versunken.

»Und wie bist du nach Barcelona gekommen?«, fragte Jordi.

Catalina sah ihn an. »Meine Mutter wollte, dass ich die Kunst der Kartografie erlerne. Sie hat hier gelebt, als sie noch ein Mädchen war. Bevor sie geheiratet und mich gekriegt hat.«

Sie hob den Kopf und blickte zum Fenster herüber, wo gerade eine steinerne Taube gegen das feine Maschennetz pickte. »Sie versprach mir, dass ich eines Tages wunderschöne Karten zeichnen könnte. Solche, die Seeleute durch Untiefen lenken und Reisenden den Weg weisen. Sie selbst hatte von Márquez die Kunst des Kartenmachens gelernt.«

Catalina räusperte sich. »Aber ich glaube, das war nicht der einzige Grund, warum wir nach Barcelona gekommen sind.«

Und während Jordis Augen immer größer wurden, erzählte Catalina ihm eine unglaubliche Geschichte. Sie erzählte von ihrem überstürzten Aufbruch in die Stadt, von ihrer Mutter, die sie seit jenem Tag, als sie von ihr in der Windmühle Abschied genommen hatte, nie wiedergesehen hatte, von einer Karte, die lebendig wurde, von dem Harlekin und den Schattenaugenmenschen und dem alten Márquez.

»Deine Mutter hat vorhergesagt, was passieren würde.« Jordi stützte sein Kinn nachdenklich auf die gesunde Hand.

»Sie ist eine Hexe.«

Catalinas Stimme hatte einen harten Klang angenommen.

»Was hast du da gesagt?«, fragte Jordi. Plötzlich war ihm, als ob ihm die Kehle zugeschnürt würde. Catalinas Fragen an Firnis kamen ihm wieder in den Sinn – und das, worauf die Meduza seit alten Zeiten Jagd machte. Also war es wirklich wahr.

Catalina funkelte ihn an. »Ja, sie ist eine Hexe. Und frag mich bloß nicht, was das bedeutet – mehr weiß ich auch nicht«, fauchte sie. »Ich weiß nur, dass sie mich ohne ein Wort der Erklärung einfach zurückgelassen hat. Ich weiß, dass sie vielleicht gerade in diesem Moment in Gefahr ist, wenn nicht schon in der Gewalt der Schatten. Und ich weiß, dass es meine Schuld ist, dass Márquez jetzt…« Sie holte tief Luft. »… das ist, was er ist.«

Jordi hob seine unverletzte Hand und strich ihr hilflos über den Arm.

Catalina blickte zu Boden. »Es ist so ungerecht«, flüsterte sie. »Márquez war für mich so etwas wie… wie ein Großvater. Es waren Kleinigkeiten, weißt du. Ich kann furchtbar unordentlich sein, aber irgendwie habe ich immer wiedergefunden, was ich brauchte. Erst ganz spät ist mir klar geworden, dass er einfach hinter mir hergeräumt hat. Still und heimlich und nie hat er etwas gesagt.«

Sie sah auf. »Du hättest ihn sehen sollen«, sagte sie verzweifelt. »Es war, als hätte ein Dämon Besitz von ihm ergriffen.«

Jordi, der ganz genau wusste, wozu ein Dämon in der Lage war, starrte nur seine Hand an.

»Das kenne ich auch. Wie Dämonen einen Mensch verändern können, meine ich. Ich habe es bei meinem Vater gesehen«, erwiderte er leise. »Er hat mir nie gesagt, warum er trinkt. Er hat es einfach getan.«

In wenigen Worten nur erzählte er ihr von seiner Zeit im Leuchtturm. Von den wirklich schönen Dingen und den bösen Dingen – und den Träumen, die aus den schönen Dingen geboren worden waren. »Ich werde nicht mehr zurückgehen. Ich kann es nicht.« Es tat weh. Auch die Hand.

»Vermisst du ihn?«

Er senkte den Blick. »Wir haben nie geredet, nie richtig. Nicht über die Dinge, über die wir hätten reden sollen.«

Die beiden schwiegen.

»Mein Vater ist tot.« So wie sie es sagte, hörte es sich fast unspektakulär an. »Ertrunken, einfach so.«

»Das tut mir leid.«

»Mir auch.« Für einen Moment schien sie nicht zu wissen, was sie sagen sollte. »Ich vermisse ihn. Und meine Mutter genauso.« Ruhig saß sie da und plötzlich begann sie abermals zu sprechen, und Jordi war es, als könnte sie es selbst nicht fassen, was da aus ihr herausbrach.

Sie erzählte von einem Fischer namens Antonio, der vor zwei Jahren zusammen mit ihr und ihrem Vater an einem sonnigen Tag aufs Meer hinausgefahren war. Draußen vor der Küste, wo das Wasser kälter und dunkler wurde, war ihr Vater in die Tiefe hinabgestiegen. Geflochtene Reusen und Käfige hatte er dort unten ausgelegt, während Antonio und Catalina selbst an der Luftpumpe kurbeln mussten. Über einen langen Schlauch wurde die Luft dann bis in die Tiefe gepumpt, wo sie in dem hölzernen Helm, der mit Teer abgedichtet worden war, eine Blase bildete, die es ihrem Vater zu atmen und am Meeresboden entlangzuwandern erlaubte.

»Ich habe die Leute im Hafen von Talamanga davon reden hören. Davon, dass sich das Seil oder der Luftschlauch in Felsspalten verklemmen und reißen kann. Dass das Gewicht des Tauchhelms und das der schweren Schuhe den Taucher in der dunklen Tiefe hält und ihn niemals mehr freigibt«, sagte sie. »Aber als mein Vater nicht mehr auftauchte…«, sie stockte. »Da wusste ich, dass ich genau in einer dieser Geschichten war. Sie endeten meist damit, dass der Fischer eine Frau und ein Kind hinterließ.«

Sie verstummte.

Jordi saß neben ihr und dachte an seinen eigenen Vater, den er auch verloren hatte, irgendwie.

Lange dauerte es, bis sie ihr Schweigen brach. Doch dann blickte Catalina hoch. Ihr Mund war zu einem feinen Lächeln verzogen. »Ich hätte das nicht gedacht«, sagte sie. Wieder musste Jordi beim Klang ihrer Stimme an das Geräusch der Eidechsenplättchen denken, die gegeneinanderstießen. »Aber es macht es einfacher. Es macht es leichter, wenn man darüber spricht.«

Plötzlich öffnete sich die Tür und Reverte kam zurück. Er trug ein Tablett mit einigen Tiegeln und Verbandszeug. »Zeig mal deine Hand, Junge«, sagte er und machte sich daran, Jordis Wunden zu verbinden. Behutsam strich er eine helle Salbe auf das verbrannte Fleisch, bevor er die Leinenbinden mit großer Sorgfalt um Handgelenk und Finger wickelte.

»Bleibt doch beide noch ein paar Tage hier«, schlug er vor, als er fertig war. »Bücher können sehr heilsam sein.« Er drehte die Hand des Jungen, um zu sehen, ob die Binden auch wirklich fest waren. »Die Salbe und der Verband lindern die Schmerzen. Bücher können das auch, wenn man ihnen vertraut.«

»Nicht die Salbe und der Verband lindern die Schmerzen.« Catalina berührte die Hand des Jungen. »Die reine Luft und die Zeit werden dafür sorgen, dass es bald nicht mehr wehtut.«

»Trotzdem. Ohne Verband…« Reverte schaute sie an und sagte nach einer Pause: »Denkt einfach darüber nach. Das Haus der Nadeln ist freundlich zu seinen Gästen.«

Das Mädchen nickte nur. Dann schaute sie Jordi in die Augen und sagte einfach nur Danke.

Nichts sonst und doch so viel.

Die Küche mit den gelben Kacheln war auf einmal die ganze Welt geworden. Hier gab es keine bösen Schatten. Nur warmes Licht, das draußen in einer Straßenlaterne geboren wurde, durch ein blaues Fenster eindrang und unscharfe Muster auf den Boden malte. Es roch nach gebratenen Kartoffeln und frischem Brot, Gewürztee und getrockneten Kräutern.

Es war ein Moment, in dem es Catalina und Jordi vergönnt war, tief Luft zu holen.

»Machst du das öfter?«

Catalina wusste im ersten Moment gar nicht, was er meinte.

»Zeichnen«, gab Jordi ihr zur Antwort.

Dann sah sie es und erschrak. »Das… ich…«

Auf dem Küchentisch hatte ein Bleistift gelegen und ganz gedankenlos hatte sie einfach damit zu zeichnen begonnen. Jordi hatte sie die ganze Zeit über dabei beobachtet, aber nichts gesagt. Ihre Hand war über den Tisch getanzt und hatte Striche gemalt und die Flächen schraffiert, bis ein Bild entstanden war, das fast aussah wie die Wirklichkeit.

»Das tut mir leid«, entschuldigte sie sich bei Reverte. »Ich…«

»Du hast die Tischplatte bekritzelt, das ist alles.« Plötzlich musste Jordi lachen. Es war ihr unglaublich peinlich, das sah man ihr an.

»Das ist unser Haus«, stellte Reverte fest. »Die Casa de les Punxes, du hast sie gezeichnet.«

»Ich wollte das nicht tun, ehrlich«, sagte Catalina hastig. Und schnell fügte sie hinzu: »Das kann man doch abwischen, oder?«

Reverte betrachtete die Zeichnung. »Du hast Talent«, stellte er fest. »Selbst die gewundene Straße vor dem Haus und der enge Kanal sehen echt aus. Nein, Mädchen, wir sollten diese Zeichnung so belassen, wie sie ist. Im Gegenteil, du kannst sie sogar morgen fertig zeichnen. Dann haben wir immer eine Erinnerung an dich. Der Küchentisch wird dann ein Teil deiner Geschichte sein, und wenn wir hier sitzen, werden wir uns jedes Mal fragen, was aus euch beiden geworden ist. Das, mein Kind, ist Unsterblichkeit.« Dann deutete er auf einen Teil des schmalen Weges, der neben dem Kanal entlangführte. »Siehst du, da musst du noch einige Striche ausführen.«

Sie nickte nur und betrachtete die Zeichnung erneut.

»Es sieht wirklich echt aus«, bemerkte Jordi.

Sie hatte das Haus der Nadeln aus der Perspektive gezeichnet, aus der sie es zum ersten Mal erblickt hatte, einfach so. Den gewundenen Weg waren sie entlanggegangen und dann war das Haus vor ihnen aufgetaucht.

»Beim alten Márquez habe ich niemals aus dem Kopf heraus zeichnen dürfen. Du verdirbst dir dann den Zeichenstil, hat er immer betont.« Catalina schien noch immer verwirrt.

»Du hast es einfach getan«, stellte Jordi fest. Ihre Hand hatte den Bleistift geführt und sie hatte nicht so ausgesehen, als würde sie sich über das, was sie tat, Gedanken machen.

»Warum hast du nichts gesagt?«

Er sah sie nur an. Weshalb hätte ich das tun sollen?«

Jordi betrachtete abermals die Zeichnung auf dem Tisch. Die Casa de les Punxes war so wirklichkeitsgetreu wiedergegeben, mit all ihren spitzen Türmchen und den Buntglasfenstern – sogar die Papierklingel konnte man erkennen.

»Vielleicht sollte ich wirklich schlafen«, meinte Catalina nur. »Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, dass ich das alles getan habe.« Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe und starrte die Tischplatte an.

»Ich muss Makris de los Santos finden«, murmelte sie und rieb sich die Augen. »Ich habe nur keine Ahnung, wo wir…« Sie verstummte ratlos.

Jordi musterte sie nachdenklich. »Hast du schon einmal daran gedacht, dass deine Mutter einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort auf dem Zettel mit dem fliegenden Schiff versteckt haben könnte?«, fragte er. »Immerhin hat sie Márquez ja aufgetragen, dir den Namen zu nennen.«

Catalina schüttelte den Kopf. »Da war nichts«, sagte sie. Und doch sah sie unsicher aus.

»Was, wenn der entscheidende Hinweis in der Windmühle ist?«

»Du meinst, wir müssten dorthin zurückkehren?«

Jordi zögerte. »Glaub mir, ich reiße mich auch nicht darum. Aber wenn wir dort den entscheidenden Hinweis finden würden…«

Reverte sagte: »Ihr beiden solltet euch ausruhen. Mit gähnender Müdigkeit in den Augen haben es die Gedanken schwer.« Er stand auf und ging zur Tür.

Er wartete.

Und wartete.

Bis…

Catalina und Jordi standen fast gleichzeitig auf. Das Mädchen gähnte und hielt sich beide Hände vor den Mund.

So folgten sie Reverte am Ende dann doch.

Durch die Bibliothek führte er sie und dann zu einer Wendeltreppe, die sich eng und steil an einer Säule, die wie ein Skelett aussah, aufwärtsringelte. Catalina beklagte sich, dass ihr ganz schwindlig vom Aufstieg würde, aber Jordi fühlte sich von dem rostig klapperigen Treppengerüst an den Leuchtturm erinnert.

Hin und wieder sah man Buchstaben, die sich schnell unter den schmalen Stufen versteckten. Sie schwebten in der Luft und huschten rasch davon, wenn sie Schritte hörten.

Reverte griff behände nach der Nadel, die er wohl immer mit sich führte, und spießte die flinken Fs und Hs und Zs und wie sie alle hießen auf. »Abgehauen wird nicht«, murmelte er, grinste dabei und erklärte seinen Begleitern: »Sie wollen immerzu von ganz allein neue Wörter bilden, aber das gelingt ihnen nur äußerst selten. Meist sind sie noch viel zu klein und enden als Wortfetzen, die kein Mensch versteht.« Er schüttelte gespielt missbilligend und gleichsam besorgt den Kopf. »Außerdem gibt es jede Menge Wesen da draußen, die unseren Kleinen hier alles andere als wohlgesinnt sind. Nein, nein, die Buchstaben und Wörter sind bei uns gut aufgehoben. Nur muss man es ihnen hin und wieder auch sagen.«

Die Buchstaben, die er unterwegs fand, steckte er in einen Beutel, den er am Gürtel trug.

Jordi seufzte. Die singende Stadt war bunter und verrückter, als er es sich gedacht hatte.

Reverte hatte die oberste Stufe erreicht. »Wir sind da!« Er öffnete ihnen eine kreisrunde Tür, die den Blick auf ein ebenso kreisrundes Turmzimmer freigab. Das einzige Fenster war verschlossen. Den Mond umrahmte es, einen schimmernden vollen Mond, der silbernes Licht über der Stadt vergoss. Nur ein altersschwaches Bett stand mitten im Raum, sonst war da nichts.

Reverte hatte sie nach oben in einen der Spitztürme geführt. »Ich wünsche euch eine geruhsame Nacht.«

Jordi kratzte sich am Kopf. »Das ist…«

Catalina und Reverte sahen ihn an.

». . . nur ein einziges Bett.«

Er fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und ärgerte sich über seine plötzliche Verlegenheit. Herrje – nur weil er sein Leben lang nichts anderes als den Leuchtturm gesehen hatte, musste er sich doch nicht gleich bei der ersten Gelegenheit vor Catalina blamieren.

Reverte antwortete: »Wir haben nur das eine.« Er zuckte die Achseln. Dann verließ er das Turmzimmer und ließ einen etwas ratlosen Jungen und ein müdes Mädchen zurück.

»Ich kann auf dem Boden schlafen«, schlug Jordi vor.

Catalina starrte ihn an. »Warum solltest du das tun?«

Der Boden sah alles andere als bequem aus.

»Na ja, du bist ein Mädchen.«

Sie grinste. Zeigte deutlich, was sie dachte. Jungs!

»Ich bin kein Floh, ich beiße nicht«, erwiderte sie lachend. Dann sprang sie aufs Bett und rollte sich am Fußende zusammen wie eine Katze. »Das Kopfende gehört dir allein.«

Jordi stand ein wenig tatenlos vor dem Fenster und lugte nach draußen. »Die Stadt sieht so friedlich aus«, bemerkte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Ein Meer von Dächern erstreckte sich vor ihm bis hin zum Horizont. Das Mondlicht zauberte Formen in die Welt, die am Morgen wieder vergessen sein würden.

Als er sich zum Bett umdrehte, stellte er fest, dass Catalina bereits tief und fest schlief. Ihr Atem ging ruhig.

Jordi setzte sich am anderen Ende des Bettes auf die Kante und fragte sich, was ihnen der nächste Tag wohl bringen würde. Er betrachtete den Verband, den Reverte ihm um die Hand gewickelt hatte. Die Verbrennung tat noch immer weh, doch wenn er Catalina anschaute, dann war er froh über das, was er getan hatte. Was wäre geschehen, wenn der Fledermausschatten ihr ins Gesicht geflogen wäre? Wäre sie auch zu einem der Schattenaugenmenschen geworden? Oder Schlimmeres?

»Meine Mutter ist eine Hexe«, hallte es in seinem Kopf nach. Aber wer oder was war Catalina?

Eine Weile saß Jordi nur da und sah zu, wie das Mädchen schlief. Sie hatte sich noch nicht einmal Zeit genommen, die Zöpfe zu lösen. Ganz tief waren ihre Atemzüge, aber ihre Augenlider flatterten, als ob sie träumte.

Am Kopfende des Bettes war genügend Platz für ihn. Auch er hätte sich zusammenrollen und ein wenig schlafen können. Aber er war zu unruhig.

Nein, er würde kein Auge zumachen können in dieser Nacht. Dafür war zu viel passiert. So viele Fragen gab es, die nach Antworten verlangten.

Ein plötzliches Lächeln erhellte sein Gesicht. Antworten, dachte er, findet man in Büchern. Hatte Firnis nicht genau das gesagt?

Jordi fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schloss kurz die Augen, atmete durch. Es wäre einen Versuch wert.

Abertausende von Geschichten lebten unten in der Bibliothek. Er musste sie einfach nur suchen. Und am Ende würde er vielleicht sogar über Antworten stolpern.

Er stand auf. Leise, behutsam, trat er zur Tür. Er hörte, wie Catalina sich zur Seite wälzte, und fragte sich zögerlich, ob er wohl in ihrem Traum vorkäme. Nein, er wollte die Antwort darauf gar nicht wissen. Aber es war schön, darüber nachzudenken. Es war ein wunderbarer Gedanke – einer von der Sorte, die Mut machen und gleichzeitig das Herz erwärmen. Genau das, was man brauchte, wenn draußen die Finsternis lauerte.