Pla Cerdà
Casa de les Punxes. Allein der Name klang wie ein Geheimnis.
Am Canal de Girona senkte sich der Flickenfetzen in die Tiefe. Unter ihnen tauchte ein kleiner Platz mit einem Mosaikboden auf. Palmen säumten seinen Rand und eine Laterne leuchtete einsam. Bernsteinkäfer krabbelten in den Blumenbeeten und Glühwürmchen schwirrten in der Luft.
»Warum bringt er uns ausgerechnet hierher?«
Sie hatte El Cuento gefragt und Jordi die Antwort sogleich übersetzt. »Irgendwo in dieser Gegend befindet sich ein Haus namens Casa de les Punxes.« Und höchst bedeutungsschwanger hatte sie hinzugefügt: »Das Haus der Nadeln.«
»Hört sich nicht gut an.«
Sie musste plötzlich lachen, aber noch war es ein trauriges Lachen. Eben nur ein erster Versuch, nach allem, was geschehen war. Ihre Zöpfe wippten dabei auf und ab. »Das Haus der Nadeln ist eine Bibliothek«, erklärte sie. Natürlich verschwieg sie dem Jungen, dass sie selbst ebenfalls noch nie davon gehört hatte, bis El Cuento ihr vor wenigen Augenblicken schmunzelnd erklärt hatte, was die Casa de les Punxes war. Sie wollte einfach nicht dumm dastehen vor Jordi, das war alles.
»Was tun wir da?«, hatte Catalina den Wind gefragt.
»Du kannst dich dort verstecken.« Er hatte gelächelt, nur mit seiner Stimme; so, wie Winde es eben zu tun pflegen, wenn sie Dinge sehen, die anderen Augen verborgen bleiben. Dann hatte er hinzugefügt: »Ihr beide könnt euch dort verstecken.« Wieder das wissende Lächeln. »Außerdem willst du doch bestimmt herausfinden, was hier passiert.« Eine Frage war das nicht gewesen und folglich hatte El Cuento weitergesprochen, ohne eine Antwort abzuwarten. »Die Casa de les Punxes ist ein alter Ort der Bücher und Schriften. Wenn man etwas über die Welt erfahren will, dann sucht man in Büchern danach und fragt die Buchstaben. Das hat man immer schon getan. Und ich denke, dass du genau das tun willst.«
Antworten. Ja, danach suchte sie.
»Folgt uns jemand?« Jordi suchte den Himmel und die dunklen Ecken ab.
Sie schüttelte den Kopf und ihr fiel auf, dass der Junge andauernd ihre Zöpfe anstarrte.
»Nein«, sagte sie nur. Das mit den Zöpfen sprach sie gar nicht erst an. »Bisher nicht.«
Sie warf einen Blick zurück. Die weißen Häuser von Montjuic waren ganz klein geworden. Wenn man genau hinschaute, dann sah man noch die Windmühle.
Sie konnte nicht glauben, wie sorglos sie heute Nachmittag dorthin zurückgekehrt war, nicht ahnend, was passieren würde. Doch dann hatte Márquez ihr die Zeichnung gezeigt und alles war anders geworden.
Ihre Mutter hatte vorausgesehen, was passieren würde. Die Frage blieb, warum.
Warum gerade ich?
Darauf lief es immer wieder hinaus. Weil ihre Mutter eine Hexe war? Herrje, noch immer konnte sie kaum glauben, dass dies die Wahrheit sein sollte. Wenn sie an Hexen dachte, dann dachte sie an Märchen. An uralte Weiber mit krummen Nasen und Kopftüchern und Warzen im Gesicht.
Sarita Soleado war eine hübsche Frau. Nein, unmöglich, dass sie eine Hexe war!
Und wenn die Wirklichkeit anders aussah als die Märchen, was dann?
Die Karte war jedenfalls keine Einbildung gewesen. Der alte Márquez hatte sie ihr vor die Nase gehalten und sie hatte selbst sehen können, wie sich die Karte zu ändern vermochte. Vor ihren eigenen Augen waren die säuberlich gezeichneten Linien zerflossen, waren neue Wege, Straßen und Plätze entstanden, hatte die singende Stadt ihre alten Kleider abgeworfen und im Ablauf der Jahrhunderte neue übergestreift. Dabei war es doch nur eine Karte gewesen, eine Zeichnung, angefertigt mit Tusche und Farbe, auf einem gewöhnlichem Pergament.
Wie auch immer – Sarita Soleado hatte eine Karte angefertigt, die sich verändern konnte. Da biss die Maus keinen einzigen Faden ab.
Plötzlich kam Catalina ein Gedanke, so unvermittelt, dass sie zusammenzuckte und sich zu der nagenden Ungewissheit kreischende Furcht gesellte.
Hatte ihre Mutter deswegen die Cala Silencio verlassen? Hatte sie am Ende gar von den Schatten gewusst und war vor ihnen geflohen?
Was, wenn die Schatten sie sogar schon in ihre Gewalt gebracht hatten? Das würde zumindest erklären, wie sie von der Windmühle und dem Kartenmacher erfahren hatten. Denn nur Sarita Soleado hatte gewusst, wo sich ihre Tochter aufhielt.
Wenn dies wirklich so war, dann… wurden neue Fragen geboren, wieder und wieder und immer, immer wieder. Warum waren die Schatten hinter ihrer Mutter her? Wegen der Gabe, die lebendigen Karten zu zeichnen? Vielleicht – sogar ganz bestimmt. Aber was hatten die Harlekins davon, jemanden wie Sarita Soleado in ihre Gewalt zu bringen? Es musste mehr dahinterstecken, so viel war sicher.
»Wir sind da!«, sagte Jordi.
Catalina blinzelte und spürte, wie der Flickenfetzen sanft aufsetzte. Gleich darauf hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen.
Jordi stand bereits neben dem Flickenfetzen. Die verletzte Hand drückte er fest gegen den Körper.
»Wir müssen auf der Hut sein.« Jordi sah sich sichernd um.
»Jordi… du musst nicht mitkommen«, sagte Catalina zögernd und wusste gleichzeitig, dass sie eigentlich das Gegenteil meinte. Aber er hatte sich seine Hand verbrannt, weil er ihr das Leben gerettet hatte. Sie wollte einfach nicht, dass noch mal ein Mensch ihretwegen so leiden musste. »Ich meine, wenn diese Harlekins und ihre Schatten erneut auftauchen, dann bist auch du in Gefahr…«, stammelte sie. »Ich kann dir jetzt nicht alles erklären, aber sie werden sich ganz sicher nicht damit zufriedengeben, dass ich ihnen entwischt bin. Und wenn sie uns finden, dann…«
Er sah ihr direkt in die Augen, kurz nur. »Erinnerst du dich an den Leuchtturm, vorhin am Port Vell?«
Verdutzt hielt sie inne und sah ihn fragend an.
»Das war einmal mein Zuhause.« Plötzlich huschte etwas wie Trauer über seine Miene. »Ich bin weggelaufen«, sagte er. »Und jetzt sind wir hier, und wie es aussieht, kannst auch du nicht mehr zurück.« Er machte einen tiefen Atemzug. »Wäre es nicht besser, wenn wir zusammenbleiben? Ich meine nur, dass…« Er schwieg betreten und schaute schnell woandershin. Dann hob er wieder den Blick. »Du weißt schon, was ich meine.«
Sie lächelte. »Weiß ich das?«
Die Menschen, die geschäftig ihres Weges gingen, beachteten den Jungen und das Mädchen nicht. Männer gingen eifrig diskutierend und mit Pfeifen in den Mündern in die Cafès, die sich drüben beim Palau Montaner befanden. Vornehme Frauen mit sonderbaren Hüten flanierten gelangweilt und ziellos herum und rümpften die Nasen, wenn sie den Geruch des Kanals bemerkten. Spitze Boote bevölkerten den Kanal, und wenn die Kapitäne wütend waren, dann schlugen sie nach den Fischen, die sich an manchen Stellen wie Mücken in der Luft sammelten. Das Leben war, wie es immer war. Von den Harlekins war nichts zu sehen, und das war gut so.
»Ich muss jemanden finden«, sagte Catalina leise. »Du könntest mir suchen helfen.«
Jordi lächelte, was mehr sagte, als Worte es hätten tun können.
El Cuento wehte von einer Hauswand zur nächsten. Nach der Flucht durch die Straßen und über die Dächer ruhte er sich ein wenig aus, schwebte wie ein Hauch herum und fühlte sich erleichtert wie ein Lüftchen, das gerade erst aus den Wolken geklettert war.
»Warum bist du von zu Hause weggelaufen?«, fragte Catalina vorsichtig.
»Das ist nicht wichtig«, sagte Jordi, viel zu schnell. Seine Augen aber erzählten eine Geschichte, die sie verstand. Unsicher schlug er den Blick nieder und Catalina dachte, dass er das oft hatte tun müssen, dort, wo er herkam.
»Wollen wir die anderen Flickenfetzen befreien?«
Sie nickte. Beide knieten sich auf den Boden und beendeten das, was sie hoch oben in der Luft begonnen hatten.
Gewissenhaft konzentrierte sich Catalina auf die Nähte. Jordi sollte nicht merken, dass sie es ihm angesehen hatte. Manche Dinge mussten eben nicht ausgesprochen werden, um gesagt zu werden.
Es dauerte nicht lange, und als sie fertig waren und inmitten all der losen Flicken und Fetzen saßen, da rief El Cuento die verbliebenen jungen Wildwinde herbei. Wie ein einziger Sturm, so kamen sie nach Pla Cerdà. Ihr Klang war trauriger als zuvor.
Aber die Flicken und Fetzen, die überlebt hatten, fanden zu den Wildwinden. Gemeinsam wirbelten sie in den Nachthimmel hinauf und wieder hinunter zum Canal de Girona. Sie tänzelten um Catalina und Jordi herum, setzten sich auf ihre Schultern und ins Haar, sprangen wieder auf und flogen weiter.
»Sie sind frei«, hauchte El Cuento an ihrer Seite und Catalina gab seine Worte an Jordi weiter.
»Danke«, flüsterte sie den Flicken und Fetzen hinterher.
Und für einen kurzen Augenblick, der nichts als verborgene Magie und neue Freundschaft war, hatten sie die Schatten vergessen. Die fliegenden Flicken und flatternden Fetzen entschwanden nach und nach im Nachthimmel und nach einiger Zeit konnte man gar nicht mehr erkennen, ob es ein flimmernder Stern war, der am Firmament über der Stadt erstrahlte, oder ein wehender Wildwind, der sich auf die Reise in die Welt begab und endlich jemanden an seiner Seite wusste.
El Cuento schwieg und Catalina warf Jordi einen heimlichen Blick zu, von dem sie selbst nicht wusste, was genau er zu bedeuten hatte.