Siebtes Kapitel

Carina stahl sich leise aus dem Stadthaus ihre Schwester Minerva am St. James-Square und atmete auf.

Der Boden war dünn mit Schnee überzuckert. Es war ein kalter, feuchter Tag; die schweren, tiefhängenden Wolken versprachen noch mehr Schnee.

Die Ereignisse der vergangenen Woche waren Carina ein Rätsel. Sie mußte sich nicht mehr darum bemühen, Lord Harry aus dem Weg zu gehen. Sie hatte im Gegenteil kaum Gelegenheit, ihn zu sehen. Minerva nahm sie überallhin mit, oft unter den fadenscheinigsten Vorwänden. Und gestern abend hatten Lord Sylvester und Minerva sie in die Oper ausgeführt; Lord Harry war nicht dabei, dafür zwei äußerst ansprechende junge Männer. Als Carina nach dem Verbleib ihres Verlobten fragte, antwortete Minerva ganz untypisch ausweichend, daß sie vergessen habe, ihn einzuladen.

Und wenn es nicht Minerva war, die dafür sorgte, daß sie nicht mit ihrem Verlobten zusammentraf, dann waren es ihr Vater und Squire Radford. Der Vikar, der wieder ganz wie früher aussah, ließ eine plötzliche Begeisterung für die Londoner Kaufhäuser und Geschäfte erkennen, die ganz ungewöhnlich war, und bestand darauf, daß sie bestimmt noch Bänder und Spitzen für ihre Aussteuer brauchte. Carina fand das neue ruhige Wesen ihres Vaters sehr viel angenehmer, wenn sie ihn auch immer noch nicht mochte. Aber der Squire war wie eh und je der vollendete Gentleman, und Carina liebte es, mit ihm zusammen zu sein.

Einmal sah sie, als sie die Bond Street entlangschlenderten, Lord Harry auf sich zukommen, und sie machte ihren Vater daraufaufmerksam. Er und der Squire verhielten sich äußerst seltsam. Sie ergriffen sie am Arm und zerrten sie schnell in das nächste Geschäft.

Auch die Unterhaltungen waren merkwürdig. Minerva sprach von tragischen Ehen, in denen die Partner gar nicht zueinander paßten. Der Vikar erzählte ihr von Fällen, wo die Hochzeit im letzten Moment abgesagt und die betroffenen Paare ihr Leben lang dankbar dafür waren.

Offenbar hatten alle erraten, daß sie Lord Harry in Wirklichkeit nicht heiraten wollte, und ermutigten sie mit allzu offensichtlichem Takt, die Verlobung aufzulösen.

Aber wenn sie Lord Harry sagte, daß sie ihn nicht heiraten wolle, dann wäre er wahrscheinlich sehr zornig und würde womöglich seine Drohung wahrmachen und sie wegen Vertragsbruchs verklagen.

Aber nein, so schnell schlossen sich die Gefängnistore doch nicht hinter ihr. Sicherlich würde sich Lord Harry nicht vor Gericht lächerlich machen, indem er sie strafrechtlich verfolgte!

Es war eher so, daß Carina sich jetzt, wo sie von ihrem Verlobten ferngehalten wurde, paradoxerweise ein kleines bißchen nach ihm sehnte, wenn auch nur ganz kurze Zeit.

Manchmal war seine Gesellschaft doch wirklich angenehm gewesen. Er war nicht intelligent, aber er hatte ausgezeichnete Manieren. Die Damen schienen von seiner Schönheit fasziniert zu sein, und Carina war Weibchen genug, um ihre Eifersucht zu genießen. Und vor kurzem war sie einem sehr intelligenten Abgeordneten des Oberhauses vorgestellt worden, der berühmt für seinen Verstand war. Er hatte Carina ganz schrecklich bevormundet, etwas, was Lord Harry nicht im Traum täte.

Wenn sie mit ihrem großen, gutaussehenden Verlobten auftrat, dann war es ihr – ja, sie konnte es nicht leugnen – eine Genugtuung, daß man sie neiderfüllt anschaute. Jetzt, wo die Familie Armitage sie wieder unter die Fittiche nahm, fühlte sie sich in ihre Kindertage zurückversetzt.

Minerva hatte ihr sogar angeboten, ihr vorzulesen, und gab ihr immerzu gräßliche Gläschen mit Stärkungsmitteln, weil sie »auf gepäppelt« werden müsse.

Carina wäre gerne wenigstens einen Abend in der Woche zu Hause geblieben, um mit Baby Julian zu spielen, aber man sagte ihr, daß junge Damen wie sie sich amüsieren und nicht wie alte verheiratete Damen zu Hause herumsitzen sollten.

Und je interessanter Lord Harry durch seine Abwesenheit wurde, desto öfter dachte Carina über die seltsame und aufregende Reaktion ihres Körpers auf seine Küsse nach. Gehörte zur Liebe auch Lust?

An diesem Morgen war sie mit dem Verlangen erwacht, mit ihren Gedanken allein zu sein, und deshalb hatte sie sich aus dem Haus geschlichen und wollte einen weiten Spaziergang bis zum Green Park machen. Sie hatte weder ihre Zofe noch einen Diener dabei, aber es war früh am Morgen, und alle die stürmischen jungen Männer, die eine Frau belästigen könnten, lagen garantiert noch mindestens fünf Stunden im Bett.

Ein kleiner, schmächtiger Mann mit einer riesigen Nase starrte sie so intensiv an, daß er fast sein Gesicht unter ihren Hut steckte. Carina schrak mit einem kleinen Aufschrei zurück, und der Mann eilte, eine Entschuldigung murmelnd, davon.

Es war neun Uhr. Vor zehn Uhr gab es im West End so gut wie kein Leben. Wie still und weiß und verlassen die Straßen dalagen!

Da war dieser seltsame kleine Mann wieder!

Carina war sich sicher, daß sie ihn über die Straße hatte eilen sehen. Sie blieb bewegungslos stehen. Die Sache hatte etwas Gespenstisches an sich.

Da war er! Aber es war nur die schwankende Gestalt des Wächters. Er tippte an seinen Hut, als sie vorbeiging. Carina war drauf und dran, wieder nach Hause zu gehen. Aber da tat sich der Piccadilly schon vor ihr auf. Und nach Hause gehen bedeutete, daß Minerva sie fand und sofort Pläne für den Tag machte.

Sie hielt den Kopf gesenkt und eilte auf den Piccadilly zu. Da gab es Menschen. Ladenbesitzer, die ihre Rolläden geschlossen ließen; Ladenbesitzer, die die Reichen bedienten und sich deshalb nach deren Zeiten richteten.

Straßenkehrer kehrten eifrig den Platz. Ein Kind trieb einen großen Metallreifen vor sich her und bewunderte das Muster, das er im Schnee hinterließ. Ein anderes kratzte mit einem Stöckchen am Geländer herum. Carina betrat den Green Park und ging nur ein kleines Stück hinein, um sich nicht zu weit von der Straße zu entfernen. Sie wischte die dünne Schneeschicht von einer Bank und setzte sich, um etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

Endlich kam sie zu dem Ergebnis, daß sie Lord Harry unfair behandelt hatte. Sie hatte ihn schließlich gebeten, sie zu heiraten. Es war nur fair, ihm von ihren Ängsten und Zweifeln zu berichten. Auf dem Land war es ihr glaubhaft erschienen, daß er sie wegen Vertragsbruch anzeigen würde, da er ja das Geld seines Onkels nicht erbte, wenn er nicht heiratete.

Aber hier in der Stadt war es ihr klargeworden, daß jede Menge Damen allzu gerne Lord Harry heiraten würden, wenn er sie nur fragte. Und warum fürchtete sie sich überhaupt vor ihm? Er war die Freundlichkeit und Anständigkeit selbst. Seine Familie war schrecklich, aber da brauchte sie schließlich nur ihren eigenen Vater anzusehen!

Carina stand auf und fühlte sich zum erstenmal seit langer Zeit besser. Sie war fest entschlossen, mit Lord Harry zu reden. Es war oft schwer, ihm einfache Dinge verständlich zu machen, aber sie konnte es wenigstens versuchen.

Sie ging auf das Parktor zu.

Eine große Gestalt stand ihr im Weg.

Carina scheute wie ein erschrecktes Pferd und schlug die Augen nieder, bereit, an dem Mann vorbeizulaufen, falls dieser darauf bestand, ihr den Weg zu verstellen.

»Carina? Bist du's?«

Carina schaute verblüfft zu Guy Wentwater auf.

»Sie!« rief sie voller Abscheu.

Sie gab ihm einen heftigen Stoß und eilte so schnell an ihm vorbei, daß die Eisenringe an ihren Schuhsohlen Funken aus den Kieseln schlugen.

Er lief ihr nach, packte sie mit festem Griff und drehte sie um, so daß sie ihn anschauen mußte. Sein Blick war flehend und voller Angst.

»Du mußt mich anhören«, sagte er eindringlich.

Guy war gerade erst von Silas Dubois aus dem Bett geholt worden mit dem Befehl, »es anzupacken«.

Er war wahnsinnig vor Angst. Er war des Herumvagabundierens und des unsteten, von den Schatten der Vergangenheit eingeholten Lebens so überdrüssig, und er hätte sich so gerne als Landedelmann niedergelassen. Die Heirat mit Emily Armitage würde den Vikar in Wut versetzen und seinen eigenen Zwecken dienen. Guy, mit einer respektablen Frau und einer respektablen Mitgift! Jetzt mußte er sich ein anderes Mädchen suchen. Denn wenn es herauskam, daß er Carina Armitage verführt hatte, mußte er sich in einem anderen Teil des Landes verborgen halten und hoffen, daß der Vikar am Schlagfluß starb. Auf der anderen Seite gab es noch Hoffnung, wenn er sie nicht wirklich verführte, sondern nur so weit brachte, daß sie irgend etwas Dummes anstellte, damit sie ihre Hochzeit absagte.

Aber er mußte ihre Zuneigung ganz schnell zurückgewinnen, sonst verbreitete Silas überall das furchtbare Geheimnis seiner Geburt.

»Lassen Sie mich in Frieden«, wütete Carina, »oder ich schreie nach der Wache.«

»Du mußt mich anhören«, bat Guy, der sie immer noch festhielt. »Du wirst mich anhören. Ich liebe dich noch genauso wie immer. Ja, ich habe dich schändlich behandelt. Aber es geschah nur zu deinem Besten.«

»Wirklich?« fragte Carina und blieb jetzt bereitwillig stehen.

»Ja«, fuhr er eifrig fort. »Du mußt wissen, daß ich Angst hatte, daß unsere Ehe schiefgehen würde, deine Familie würde niemals mehr mit dir reden. Ich fürchtete, du würdest der Entfremdung von ihnen nicht gewachsen sein. Ich war wahnsinnig vor Schmerz, als du bei meiner Tante auftauchtest. Ich mußte grausam sein, und ich hatte das Gefühl, daß ich dir regelrechten Widerwillen gegen mich einflößen mußte, um dich loszuwerden. Zugegeben, ich war betrunken. Das leugne ich gar nicht. Aber ich habe seit damals nichteine Nacht geschlafen. Bitte, sieh mich an und sag, daß du mir vergibst.«

Carina hielt den Kopf gesenkt.

»Soviel ich sehen konnte, hast du Emily den Hof gemacht«, sagte sie schließlich.

»Ach, das war nur, um jedermann Sand in die Augen zu streuen. Ich habe mich so geschämt, als ich hörte, daß du dich mit Desire verlobt hast. Ich fühlte mich dafür verantwortlich, daß du dich weggeworfen hast.«

Carina blickte schließlich doch zu ihm auf, aber ihre Augen waren so grün und kalt wie die Nordsee. »Ich werfe mich wohl kaum weg, wenn ich mich mit einem freundlichen und gutaussehenden Edelmann verlobe.«

»Natürlich bist du wütend auf mich«, sagte er einschmeichelnd. »Ich verdiene nichts Besseres. Was kann ich tun, damit du mir verzeihst?«

Carina fühlte sich plötzlich unendlich müde. Es war ihr auf einmal alles zuviel. In ihrem Kopf drehte sich alles: Ihre Furcht vor Lord Harry, ihr Haß auf ihren Vater, ihre geringe Selbstachtung, all das begrub sie unter einer großen, nicht zu beherrschenden Woge von Abscheu gegen sich selbst. Sie wollte die ganze weite Welt bestrafen – und bei sich selbst anfangen.

»Mit mir davonlaufen«, sagte sie ganz ruhig, nachdem sie tief Atem geholt hatte.

Guys Gedanken arbeiteten blitzschnell. Dahin waren seine Hoffnungen auf eine Hochzeit mit Emily. Er brauchte Carina natürlich nicht zu heiraten. Vielleicht konnte er sie irgendwo verbergen und sie ihrer Familie unberührt übergeben. Vielleicht erzählte sie ihnen aus Scham gar nicht, wo sie gewesen war. Offensichtlich hatte sie auch von ihrem letzten Versuch, mit ihm durchzubrennen, niemandem etwas erzählt.

Aber da war noch Harry Desire. Er würde allerdings mit einem Mädchen nichts zu tun haben wollen, das ihn unmittelbar vor der Hochzeit sitzenließ.

»Einverstanden«, nickte Guy und fühlte ihren durchdringenden Blick auf seinem Gesicht. »Wann?«

»Morgen«, antwortete Carina. »Ich meine, heute nacht um zwei Uhr. Warte hier auf mich.«

»Bist du sicher, daß du unbemerkt entwischen kannst?« fragte Guy besorgt.

»O ja«, sagte Carina einfach. »Laß mich jetzt gehen. Ich muß zurück. Es ist kalt.«

Guy versuchte sie zu umarmen, aber sie stieß ihn entschieden weg. »Nicht hier in der Öffentlichkeit.«

Sie machte sich von ihm los und eilte über die schneebedeckten Wege. Dabei ging sie so schnell, daß sich ihr Mantel über ihrer zierlichen Figur bauschte.

Guy beobachtete sie mit heftigem Herzklopfen. Er mußte überlegen, wohin er sie bringen sollte. Er mußte beten, daß sie niemandem von ihrem Plan erzählte.

Carina war von einer wilden Genugtuung erfüllt. Sie machte sich keine romantischen Illusionen mehr über Guy Wentwater. Sie hielt ihn jetzt für oberflächlich und gemein. Und gerade deshalb wollte sie ihn heiraten.

Wir alle haben den Todeswunsch in uns, und immer dann erhebt er seine häßliche Fratze, wenn wir uns selbst nicht mehr lieben. Die Depressiven begehen Selbstmord. Aber das ist nicht die feine Art. Der richtige Gentleman begeht Selbstmord, indem er sich regelmäßig harte Schnäpse einverleibt oder sich unbewaffnet in verrufene Stadtteile begibt. Junge Damen aber suchen einen Mann, der sie ruiniert.

Wenn sie Guy Wentwater heiratete, konnte Carina sich selbst bestrafen und obendrein noch ihren Vater im höchsten Grad unglücklich machen. Das Schicksal schien ihr bei ihrem Vorhaben zur Seite zu stehen, denn der Vikar war kurz nach Hopeworth gereist wegen dringender Gemeindeangelegenheiten – sprich gutes Jagdwetter – und ließ Squire Radford zurück, um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen. Der Squire hatte jedoch einen akuten Rheumaanfall und war ans Bett gefesselt.

Minerva war sich plötzlich bewußt geworden, daß sie sehr vielZeit ohne ihr geliebtes Kind verbracht hatte, während sie versuchte, Carina von Lord Harry fernzuhalten. Aber Lord Harry hielt sich auch ohne Bemühungen fern, und so war Minerva entschlossen, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben und sich nach Herzenslust mit ihrem Baby zu beschäftigen.

Lord Harry Desire stattete seinem Onkel, Mr. Jeremy Blewett, einen Besuch ab.

Mr. Jeremy Blewett sah in der Tat sehr alt aus. Er war in Wirklichkeit erst zweiundfünfzig, aber ein Leben unter der heißen Sonne Indiens in Verbindung mit unmäßigem Alkoholgenuß hatte ihn vorzeitig altern lassen, so daß er schließlich einer ausgetrockneten Schrumpfmumie glich.

Er hatte schon so lange über seinen Tod gesprochen, daß jeder es als überraschend empfand, daß er immer noch lebte. Abgesehen von seinen Augen, die lebhaft und leuchtend waren, sah er auch wie ein Toter aus und roch auch oft so, was allerdings eher auf seine Abneigung gegen Bäder zurückzuführen war.

»Was führt dich her? Als ob ich fragen müßte!« gackerte Mr. Blewett, als Lord Harry in sein Schlafzimmer geschlendert kam. »Du bist gekommen, um zu sehen, ob ich mein Testament schon geschrieben habe, hmmm? Und ich sage dir, ich schreibe es erst, wenn die Hochzeit vorbei ist.«

»Du brauchst dir dein niedliches kleines Köpfchen weder so noch so über mein Junggesellendasein zu zerbrechen«, sagte Lord Harry liebenswürdig. »Ich brauch' deine Geldsäcke nicht.«

»Aber freilich brauchst du sie«, spöttelte Mr. Blewett. »Die Carchesters haben ihr Geld doch noch nie zusammenhalten können.«

»Sie haben auch nie Geld machen können«, erwiderte Lord Harry fröhlich, »bis ich daherkam.«

»Erzähl mir ja nicht, daß du arbeitest, um dir deinen Lebensunterhalt zu verdienen!« rief Mr. Blewett aus.

»Nein, so was Furchtbares doch nicht. Spielen ist meine Rettung.«

»Ah, das hätte ich mir denken können. White's und Brook's sind schon für manch ein Vermögen zur Grabstätte geworden.«

»Ich spiele nicht dort. Ich spiele an der Börse. Ich habe einen sechsten Sinn fürs Spekulieren. Ich bin der Besitzer eines beachtlichen Vermögens, Onkel. Plötzlich ist der Reichtum über mich hereingebrochen. Du siehst, du wirst dich darauf konzentrieren müssen, Silas Dubois zu piesacken.«

Mr. Blewett sah sehr enttäuscht aus. »Ich wollte ihm nie auch nur einen Penny hinterlassen. Er mag mich nicht und hat nicht einmal genug Anstand, das vor mir zu verheimlichen.«

»Das geschieht dir recht, du elender alter Sünder. Wie dem auch sei, mir brauchst du kein Geld zu hinterlassen, und ich brauche nicht zu heiraten.«

»Du liebst das Mädchen wohl nicht, was?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe lediglich betont, daß ich dank meines außerordentlichen Talents zum Herumjonglieren von Aktien und Dividenden die Freiheit genieße, zu heiraten, wen ich will und wann ich will. Nichtsdestoweniger kannst du deinen Rollstuhl für die Hochzeit schon einmal in Gang setzen und deine Verwünschungen wie die böse Fee im Märchen beizeiten ausstoßen. Aber hol bitte den schrecklichen Silas aus seinem elendigen Zustand. Er ist glatt imstande und bringt dich um, nur um an dein Geld zu kommen, wenn du ihn weiter tratzt.«

»Der Zwerg Nase! Niemals! Fall nicht beim Hinausgehen über die anderen Verwandten. Sie warten wie die Aasgeier auf meinen Tod.«

»Behaupte bloß nicht, du genießt das nicht. Das ist es doch, was dich aufrechthält, lieber Onkel, die Intrigen und Fäden, die du überall spinnst.«

Mr. Blewett ließ wieder sein mißtönendes, gackerndes Gelächter hören. »Vielleicht hast du recht, Harry. Wahrscheinlich hinterlasse ich dir mein Geld sowieso. Du hast dich nie einen Deut darum geschert, daß ich dich damit tyrannisieren wollte, und du bist nie um mich herumgekrochen wie dieser speichelleckerische Dubois.«

»Oh, ich mag dich auf meine Art«, sagte Lord Harry liebenswürdig.

»Wo gehst du jetzt hin?«

»Ich treffe mich mit der Frau, die ich liebe. Etwas, was ich zur Zeit selten tue. Wenn ich ihr vorm Altar begegne, werde ich ganz vergessen haben, wie sie aussieht.«

Lord Harry ging beschwingt hinaus und wäre beinahe mit Silas Dubois zusammengestoßen, der draußen stand.

»Ich würde hier nicht lauschen, mein lieber Junge«, sagte Lord Harry ernst. »Die Tür ist so dick, daß Sie kein Wort verstehen; Sie bekommen höchstens fürchterlich Ohrenweh, wenn Sie Ihr Ohr an das Schlüsselloch pressen.«

Und damit ging er schnell die Treppe hinunter, bevor sich Mr. Dubois eine Antwort überlegt hatte.

Mr. Dubois ging in das Schlafzimmer.

»Ach, du bist es«, schnauzte Mr. Blewett mürrisch. »Wartest du immer noch darauf, daß ich sterbe, Silas?«

»Natürlich nicht«, sagte Mr. Dubois und verzog seinen schmalen, von seiner Nase beschatteten Mund zu etwas, von dem er hoffte, es sei ein liebevolles Lächeln. »Ich bin Desire auf der Treppe begegnet. Es geht das Gerücht, daß er vielleicht doch nicht heiratet.«

»Unsinn«, sagte Mr. Blewett und schaute Mr. Dubois verschlagen aus den Augenwinkeln an. »Er muß heiraten.«

»Ich habe aber gehört, daß er mit einigem Erfolg an der Börse spekuliert«, sagte Mr. Dubois.

»Ach was, das ist doch alles Humbug«, sagte Jeremy plötzlich gutgelaunt. »Die Bedingung in meinem Testament gilt immer noch. Wenn Desire heiratet, kriegt er das Geld. Wenn nicht, kriegst du es.«

Silas grinste. Morgen früh würde jeder, einschließlich dieses alten Wracks von einem Mann, wissen, daß Lord Harrys Braut mit Guy Wentwater weggelaufen war.

»Was macht dich denn plötzlich so glücklich?« herrschte Mr. Blewett ihn an.

»Ich bin nur glücklich, dich in so guter Verfassung anzutreffen«, antwortete Silas Dubois und kam näher, um Mr. Blewett die Kissen liebevoll aufzuschütteln.

Den Bruchteil eines Augenblicks standen seine Hände still. Wie einfach wäre es, dachte er, dieses Spitzenkissen zu ergreifen und es dem alten Mann aufs Gesicht zu pressen!

Silas merkte, daß Mr. Blewett mit geradezu teuflischer Freude zu ihm aufschaute, als ob er seine Gedanken lesen könnte. Er ließ das Kissenaufschütteln sein und stahl sich ans Fußende des Bettes.

Warum einen Mord begehen? Der morgige Tag würde die Gedanken des alten Mannes in andere Bahnen bringen. Und sehr lange konnte er ohnehin nicht mehr leben.

Als Carina das Frühstückszimmer betrat, traf sie dort auf Minerva, die gerade einen Brief an Mrs. Armitage schrieb, die mit den jüngeren Mädchen in Hopeworth geblieben war.

»Wo ist Seine Lordschaft, das Baby?« fragte Carina.

»Er schläft«, lächelte Minerva. »Ach, es ist so wunderbar, einmal nichts vorzuhaben! Ich werde es mir heute ganz gemütlich machen. Du meine Güte! Da ist jemand gekommen. Ich sage einfach, daß wir nicht zu Hause sind.«

»Lord Harry Desire«, meldete der Butler der Comfreys. »Sagen Sie Seiner Lordschaft, wir sind nicht zu Hause«, sagte Minerva schnell.

»Sagen Sie Seiner Lordschaft, wir sind zu Hause«, verbesserte Carina ärgerlich. Jetzt, wo sie sich auf den gesellschaftlichen Ruin und die persönliche Erniedrigung eingestellt hatte, hatte sie plötzlich keine Angst mehr vor Lord Harry. Außerdem spürte sie die alte Auflehnung gegen Minervas bestimmende Art.

»Nun, wenn du ihn wirklich sehen willst...?« begann Minerva. Aber Carina hatte das Zimmer bereits verlassen. Minerva zögerte – sie wäre ihr gerne nachgegangen. Aber dann entspannte sie sich wieder. Sylvester hatte versprochen, in der nächsten Zeit mit Lord Harry zu reden, und Carina wäre nicht so eifrig weggeeilt, wenn sie sich so sehr fürchten würde.

»Sind Sie gekommen, um mit mir auszufahren?« fragte Carina, als sie in der Halle auf Lord Harry traf.

»Nein«, lächelte er. »Ich bin gekommen, meine Liebe, um mit Ihnen ein paar wichtige und ernste Dinge zu besprechen.«

»Oh«, machte Carina ängstlich. Dann faßte sie sich wieder. Esspielte keine Rolle, was er sagte; sie sah ihn heute sowieso zum letztenmal. Es kam ihr kein einziges Mal in den Sinn, daß Lord Harry in irgendeiner Weise gekränkt sein könnte, wenn sie ihn sitzenließ. So ein Dummkopf hatte ungefähr soviel Gefühl wie ein Rindvieh, das auch nichts begreift. Eigentlich ist er so eine Art aristokratischer Bauer, dachte sie, und amüsierte sich kurz über diesen geistreichen Einfall.

»Gut, wohin gehen wir?« fragte er und machte Carina damit bewußt, daß sie beide immer noch in der Halle standen.

Sie ging voraus zur Bibliothek.

Lord Harry stellte sich vor den Kamin und sah ihr Gesicht mit seinen ruhigen, blauen Augen forschend an. Sie ist so angespannt wie eine Geigensaite, dachte er, sie sieht aus wie jemand, der im nächsten Augenblick von der Westminster Bridge springt ... oder mit Guy Wentwater durchbrennt.

»Haben Sie eigentlich Ihren Bekannten, der in Waterloo gekämpft hat, wieder einmal gesehen?« fragte er. »Wie hieß er noch ... Wentwater?«

»Nein«, sagte Carina nach Luft ringend. »Warum fragen Sie?«

»Ich weiß es nicht. Ich mache Konversation, merken Sie das nicht?«

»Was für wichtige und ernste Dinge wollten Sie mit mir besprechen?« fragte Carina.

»Sie sollten Braun nicht tragen«, sagte er streng. »Es steht Ihnen überhaupt nicht. Es ist so eine schlammige Farbe. Nicht das Wahre.«

Er klemmte sein Monokel ein und starrte Carinas einfaches weites Gewand mit einem schrecklich vergrößerten Auge an.

»Ist das eine von den ernsten Angelegenheiten?« fragte Carina scharf.

»Nein, das heißt, ja, in gewisser Weise schon. Kleider sind sehr wichtig. Ich zum Beispiel sehe gut in Blau aus. Damit wirke ich zugänglicher.«

Carina schaute auf seinen makellosen Ausgehrock, seine wunderschönen Rüschchen am Hemd, seine harmlosen großen Augen, und ihre Lippen kräuselten sich vor Verachtung.

»Um aber auf die ernsten Dinge zu kommen«, sagte er. »Können wir uns nicht setzen?«

»Natürlich.« Carina setzte sich steif auf ein kleines Sofa vor dem Feuer, und er ließ sich elegant neben ihr nieder.

Er schaute sie besorgt an; seine schwarzen Locken fielen ihm in die Stirn. Carina bemerkte zum erstenmal, daß seine Wimpern außergewöhnlich lang und dicht waren.

»Wissen Sie was« fing er an, »ich brauche nicht zu heiraten. Ich habe unheimlich viel Geld an der Börse gemacht.«

»Sie wollen mich also nicht heiraten?« fragte Carina schwach. »Nun, um es geradeheraus zu sagen – nein.«

»Oh.«

»Sehen Sie, wir passen nicht zusammen. Ich fürchte, ich habe Ihren Vater in die Irre geführt. Ich habe mich insgeheim lustig über ihn gemacht. Ich habe ihm gesagt, daß ich intelligente Frauen nicht ausstehen kann, aber ich habe gelogen. Ich verehre intelligente Frauen geradezu.«

»Wollen Sie damit etwa sagen«, fragte Carina langsam und vorsichtig, »daß Sie mich nicht für intelligent halten?«

»Sie sind schön und charmant«, sagte er und sah sie um Verzeihung bittend an, »aber eine intelligente Frau weiß, was sie will, und Sie ... nun ... ›Tu nihil invita dices faciesve Minerva.‹«

»Ich fürchte, ich ...«

»Nein, natürlich nicht, ich habe ganz vergessen, daß Sie vermutlich nicht Latein können.«

»Im Gegenteil«, log Carina, »ich kann Latein ...«

»Ich habe Horaz zitiert ...«

»Es ist nicht nötig, das Zitat zu übersetzen ...«

»Und ich habe gesagt: ›Sie werden weder etwas tun noch etwas sagen, was Minerva nicht gutheißt.‹«

»Ich weiß sehr wohl, was Sie gesagt haben«, gab Carina, die ganz rot geworden war, zurück. »Wie können Sie es wagen, mich als unintelligent zu bezeichnen. Woher wollen Sie das denn wissen? Sie sprechen die ganze Zeit über belangloses Zeug. Ich dagegen sehne mich nach jemandem, der mit mir über Politik spricht, zumBeispiel.«

»Aber gewiß doch«, sagte er. »Ich würde so gerne Ihre Meinung zur Parlamentsreform hören. Ich bin der Ansicht, daß Lord Liverpool und Lord Sidmouth die radikale Fraktion ermutigen, so daß eine aufgeschreckte Mittelklasse alle möglichen repressiven Maßnahmen unterstützen wird. Die Folge wird sein, daß die Vormachtstellung der Konservativen bestehenbleibt. Was meinen Sie?«

»Ich glaube nicht, daß Sie meine Ansichten dazu verstehen würden«, sagte Carina und versuchte, Zeit zu gewinnen. Denn sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach.

»Aber jemand, der intelligent und gut informiert ist, wird doch wohl fähig sein, seine Ideen mitzuteilen. Bitte, reden Sie.«

»Was soll das Ganze!« rief Carina aus und sprang auf. »Sie wollen mich sowieso nicht heiraten.« Und überwältigt von der plötzlichen Erkenntnis ihrer selbstmörderischen Torheit, mit einem Mann, der sie wahrscheinlich mißbrauchen würde, zu entfliehen, brach Carina in Tränen aus und ließ sich wieder neben Lord Harry nieder.

Guy hatte sich in dieser schrecklichen Nacht genüßlich im Sessel zurückgelehnt und es zugelassen, daß seine Freunde sie belästigten. Gott allein wußte, was er ihr antun würde, wenn sie erst einmal verheiratet waren. Niemals zuvor hatte sich Carina so klein und so dumm gefühlt.

Ein tröstender Arm stahl sich um ihre Schultern, und ein großes Taschentuch tauchte vor ihrer Nase auf.

Carina nahm es dankbar, putzte sich die Nase und trocknete ihre Augen.

»Ich dachte, ich mache Ihnen eine Freude«, hörte sie Lord Harrys Stimme an ihrem Ohr, »wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht zu heiraten brauche. Wissen Sie, es blieb mir nichts anderes übrig als festzustellen, daß Sie nicht gerne mit mir zusammen sind. Ich habe auch einen Besuch Ihres Vaters über mich ergehen lassen, bevor er zurück aufs Land ging. Der arme Mann! Er war hin- und hergerissen zwischen der Reue, daß er Sie zu dieser Verlobung gezwungen hat, und den Freuden der Jagd. John Summer hatte ihm geschrieben, daß das Wetter herrlich sei und daß sich ein neugieriger Fuchs nur ein paar Meilen vom Pfarrhaus entfernt herumtreibe. Ich habe ihn aus seiner Verlegenheit befreit und ihm gesagt, daß ich Sie nicht heiraten werde. Dann folgte ihm Lord Sylvester direkt auf den Fersen. Er sagte, Sie haben solche Angst vor mir und er und seine Frau hätten ihr Bestes getan, um Sie von mir fernzuhalten, da sie wußten, daß Sie sich dagegen wehren würden, wenn Sie sich auch nur das geringste aus mir machen würden. Aber Sie haben sich nicht dagegen gewehrt. Also mögen Sie mich nicht. Also habe ich auch ihm gesagt, daß ich Sie nicht heiraten werde.«

»Oh«, hauchte Carina jämmerlich und fragte sich, warum sie jetzt nicht glücklich war.

»Ich habe mir um Mr. Armitage Sorgen gemacht. Er erzählte mir, Sie würden ihn hassen und verabscheuen, und er sei selbst schuld daran. Er war ganz außer sich, ein Shylock, der von der Jagdleidenschaft besessen war; er rannte immer wieder zum Fenster, um zu sehen, ob die Kutsche schon da war, rang dazwischen seine Hände und rief: ›Oh, meine Tochter – oh, die Jagd – oh, meine Tochter – oh, bitte, Gott der Füchse, gib uns Jagdglück.‹

In was für eine mißliche Lage ich euch alle gebracht habe! Jetzt brauchen Sie nur noch mit dem Kopf zu nicken, und ich lasse eine Anzeige an die Zeitungen schicken, die die Auflösung unserer Verlobung bekanntgibt.«

Er nahm ihre beiden Hände in die seinen.

»Ich weiß, daß Sie mit Guy Wentwater durchbrennen wollten«, sagte er sanft.

Bis zu diesem Augenblick hatte Carina gedacht, sie hätte die Demütigungen bis zum letzten Tropfen ausgekostet, aber diese Feststellung bewies, daß sie im Unrecht war.

»Woher wissen Sie es?« flüsterte sie.

»Ach, Kleinigkeiten, aus denen ich mir schließlich ein Bild gemacht habe«, sagte er leichthin. »So ging ich hin und habe Ihre Hutschachteln geholt. Dabei hatte ich ein äußerst interessantes Gespräch mit Mr. Wentwater. Nachdem ich gehört hatte, wie empörend er sich benommen hat, war ich überzeugt, daß Sie ihn nie wiedersehen wollten. Wissen Sie, ich habe gedacht, daß Sie michmit der Zeit ein bißchen liebgewinnen würden.«

»Und Mr. Wentwater hat Ihnen alles erzählt ... einfach so?« murmelte Carina.

»Na ja, nachdem ich etwas ... äh ... Druck ausgeübt hatte. Machen Sie sich keine Sorgen. Er wird Sie nie mehr wieder belästigen.«

Carina schlug die zitternden Hände vor ihr erhitztes Gesicht. Schon allein die bloße Vorstellung, mit Guy wegzulaufen, erschien ihr jetzt vollkommen verrückt. Eine Verrückte hatte dieses Abkommen getroffen.

»Also«, fuhr er fort, als sie nichts sagte, »habe ich Ihrem Vater versprochen, Sie morgen nach Hopeworth zu bringen, und dann sind alle Ihre Sorgen vorbei. Ich weiß, daß Sie nicht gerne in der Stadt sind. Doch vielleicht sehe ich Sie während der Saison wieder.«

»Es tut mir leid ... Ich möchte mich entschuldigen ... für alles«, flüsterte Carina.

»Sie sind nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten?« fragte er. »Ist da nichts, was Sie mir sagen wollen?«

Carina dachte an ihre Verabredung mit Guy Wentwater. Es schauderte sie. Die ganze Zeit, seitdem sie in der Bibliothek waren, hatte dieser Mann, Lord Harry Desire, den als sie Dummkopf angesehen hatte, sie fühlen lassen, daß sie dümmer als der schlimmste Idiot war. Sie konnte ihm ihren Kummer unmöglich beichten.

Sie schüttelte trübselig den Kopf.

»Dann, meine ich, sollten Sie Mr. Radford die erfreuliche Nachricht von der Auflösung unserer Verlobung bringen«, sagte Lord Harry. »Er ist nur in die Stadt gekommen, weil Ihr Vater ihn um Hilfe bat. Es wäre sehr gütig von Ihnen, wenn Sie sich dazu entschließen könnten, Ihrem Vater zu vergeben.«

»Ich muß mir zuerst selbst vergeben«, flüsterte Carina gebrochen. »Ich bin die Ursache für all diesen Kummer. Jetzt müssen Geschenke zurückgegeben werden und ...«

»Ich bin überzeugt davon, daß Ihre Schwester, Lady Sylvester, alles aufs beste regeln wird. Ich wollte Sie eigentlich heute abend zu einem Ball bei Lord und Lady Brothers ausführen. Lady Godolphin wird mit uns kommen. Wenn Ihnen jedoch nicht danach ...«

»Ich komme mit«, sagte Carina zerknirscht. Es war ihr auf einmal bewußt, daß es sie sehr beunruhigen würde zu wissen, daß Mr. Wentwater sie im Green Park erwartete, und sie hatte Angst davor, daß er womöglich ins Haus käme.

»Dann hole ich Sie heute abend ab. Vielleicht können wir Freunde werden, jetzt, wo Sie keine Angst mehr vor einer Heirat mit mir zu haben brauchen.«

»Ja«, sagte Carina leise.

»Gut«, lächelte er. »Sie könnten mir eine Braut aussuchen.«

Carina schaute auf den mit Saphiren und Granaten besetzten Ring an ihrem Finger, zog ihn ab und hielt ihn Lord Harry stumm hin. Er nahm ihn und tat ihn in seine Westentasche.

»Sie sind immer noch überdreht«, sagte Lord Harry. »Erlauben Sie mir, Ihrer Schwester, Ihrem Schwager und Squire Radford die Auflösung unserer Verlobung mitzuteilen.« Er stand auf und zog sie hoch.

Sie blickte zu ihm auf. Er blickte ernst und forschend auf sie herab. Er zog ihre Hände an seine Lippen und küßte sie sanft.

»Leben Sie wohl, Carina. Wir werden uns wiedersehen, aber als Freunde.«

Er drehte sich um und ging aus dem Zimmer, während auf die zutiefst erschütterte Carina die verschiedensten Empfindungen einstürmten: Demütigung, Scham und Verlust.

Eine Stunde später betrat Lord Harry seine Wohnung und schaute seinen Schweizer Diener nachdenklich an.

»Was gibt es heute Neues, Bruno?« fragte er, während er seine Reithandschuhe abstreifte.

»Mylord«, seufzte der Diener, »ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Ich ließ Miss Armitage verfolgen, wie Sie es gewünscht haben. Der Mann, der das Haus St. James' Square beobachtet hat, um zu melden, wenn die Lady allein ausgeht, ist zu mir gekommen und hat gesagt, daß er ihr in den Green Park gefolgt ist, und da hat sie einen Mann getroffen, der sie umarmt hat, so«, fügte er hinzu und umarmte sich selbst, um seinen Worten mehr Nachdruck zuverleihen. »Unser Mann hat sich hinter dem Baum versteckt, und er hat nicht alles hören können, aber er hat gehört, daß die Mademoiselle ›zwei Uhr morgens im Park‹ gesagt hat.«

»Danke, Bruno. Du kannst dem Wachhund absagen«, sagte Lord Harry und betrachtete intensiv den Faltenwurf seines Jabots im Spiegel.

»Mylord«, sagte sein Diener voller Bedauern, »unser Mann sagt, daß die Miss, meint er, durchbrennen will.«

»So ist es. Bezahl ihn gut.«

»Sehr wohl.«

Bruno verließ den Raum unter Verbeugungen und schüttelte den Kopf über die eigenartigen Engländer.