Samstag, 16. Mai 2009
Natalija Dinić, alias Greta Gardner, alias Ivana Biserka, war sehr schön. Auf der Fotokopie des Passes hatte sie wie eine etwas fade Blonde gewirkt, dabei war sie eine Frau der Art, die mein Freund, der Saxophonist Maurizio Camardi, der einzige wahre Frauenkenner, als »Knaller« bezeichnete. Auffällig, provozierend, ausgesprochen faszinierend. Nach meiner Berechnung musste sie genau vierzig sein. Das sah man ihr auch an, und in gewisser Weise trug sie es zur Schau. Natürlich lagen ihr auch viel jüngere Männer zu Füßen.
Als wir sie das erste Mal sahen, erstarrten wir. Beniamino sperrte den Mund auf und brachte keinen Ton heraus: Sie sah Sylvie bestürzend ähnlich. Und ganz offenbar war das gewollt, erwünscht und auf chirurgischem Wege befördert.
Ich traute mich, Beniamino zu fragen: »Was ist wirklich passiert?«
Er kniff die Augen zusammen, als würde ein Schmerz durch seinen Leib schneiden. »Bevor sie sie Fatjion übergaben, war sie bei diesem Schwein zur Vorbereitung zu ›Gast‹. Sie hat ihr Gewalt angetan, hat sie gedemütigt, hat sie gezwungen zu tanzen, in lächerlichen Kostümen.«
»Hat Sylvie dir das erzählt?«
Rossini schüttelte den Kopf. »Mit mir redet sie nicht über das, was da passiert ist.«
»Und woher weißt du es dann?«
»Ihr Tagebuch. Ein kariertes Schulheft, auf dem Umschlag sind zwei Eichhörnchen, aber wenn du es aufschlägst, betrittst du die Hölle. Ich glaube, das war eine Idee von ihrem Seelenklempner.«
Nach ein paar Tagen vorsichtiger Beschattung wussten wir, dass Greta, wohin sie auch ging, von zwei Frauen begleitet wurde. Die eine fuhr die große schwarze Limousine mit getönten Scheiben, die andere blieb stets dicht an ihrer Seite, wie eine Leibwächterin; manchmal aber benahm sie sich wie eine Sekretärin oder eine nahe Freundin.
Die Fahrerin war die Jüngste. Sie war klein, trug kurzes, blondes Haar und fuhr, als wäre sie am Lenkrad geboren und aufgewachsen. Vielleicht war es ja tatsächlich so. Die andere war die typische slawische Schönheit, möglicherweise Russin: hohe Wangenknochen, lange Haare, ein im Sportstudio und wahrscheinlich in der Kaserne gestählter Körper. Sie besaß jene Gewandtheit, wie sie für professionelle Gewalttäter charakteristisch ist. Anders als Greta, die stets hohe Absätze trug, gingen die beiden anderen in flachen Schuhen mit Gummisohlen.
An einem Abend bekniete ich Beniamino, dass er Sylvie in meiner Anwesenheit anrief und sie nach den beiden fragte.
»Das ist nichts als unnötige Quälerei.«
»Wir müssen es aber wissen.«
Nach ein paar Minuten griff er zu seinem Handy. »War Greta Gardner allein, oder hatte sie zwei Frauen bei sich?«
Sylvie hatte sofort furchtbar losgeschluchzt. Rossini hielt mir das Telefon ans Ohr, damit ich es hören konnte. Es war herzzerreißend.
»Zufrieden?«
Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, aber ich hatte erfahren wollen, ob diese beiden Komplizinnen waren oder nicht, das erforderte die Situation. An den beiden folgenden Tagen richtete der alte Schmuggler kaum ein Wort an mich, was ich nutzte, um abends auszugehen. Ich spazierte durchs Viertel und stand auf einmal vor einem Theater, an dem große Plakate ein Konzert von Mauro Palmas ankündigten, in dem er die Farben des Mistrals beschwören würde. Mich vom König der Winde ablenken zu lassen würde mir guttun, und ich kaufte eine Karte. Gut angelegtes Geld. Zwei Stunden lang ließen mich die Klänge von Laute und Mandoline vergessen, dass ich nicht zum Vergnügen in Paris war.
Die drei Frauen lebten gemeinsam in einer luxuriösen Wohnung nahe der Madeleine, doch Greta suchte regelmäßig eine andere Kirche auf, Saint-Sava, ein serbisch-orthodoxes Gotteshaus. Es befand sich im achtzehnten Arrondissement, in der Rue du Simplon 23, und dort wollte Greta an jenem Tag im Mai heiraten. Oder besser, sie hätte heiraten sollen, einen gewissen Vule Lez, einen achtundvierzigjährigen Belgrader. Man brauchte seinen Namen nur in eine Suchmaschine einzugeben, um zu erfahren, dass er ein bekannter nationalistischer Gangster war.
Mehr hatten wir allerdings nicht herausfinden können, und so wussten wir herzlich wenig über sein Leben und seine Aktivitäten. Er reiste sehr viel, bisweilen verschwand er für zwei, drei Tage. Ihn zu verfolgen war schwierig und extrem gefährlich, Paris ist von speziell ausgebildeten, heimtückischen Bullen durchsetzt, und wer allzu lange vor einem Haustor oder an einer Ecke herumlungert, bleibt keinesfalls unbemerkt. Wenn du jemanden um die Ecke bringen willst, wäre aufzufallen der dümmste Fehler.
Beniamino und ich wohnten in einem Rattenloch in der Nähe der Gare de Lyon. Tag um Tag hinter einer Frau her zu sein, die aussah wie ein Klon von Sylvie, zermürbte uns seelisch.
Es war Beniaminos Idee, sie an ihrem Hochzeitstag zu töten. Ich war dagegen. Mir wäre es lieber gewesen, er würde sie vor der Haustür erschießen, und wenn die beiden anderen mit daran glauben müssten, wäre das auch kein großer Verlust für die Menschheit. Doch Rossini wollte sie exemplarisch bestrafen. Mitten in der Zeremonie würde er hinter dem Priester auftauchen und erst Vule und dann sie töten.
So sah der Plan aus. Wir hatten dafür die Kirche detailliert ausgeforscht. In ihr fanden häufig Konzerte mit byzantinischer, serbischer und russischer geistlicher Chormusik statt, dann bezogen wir ganz hinten Aufstellung, mit abgelenkten Ohren und spähenden Augen.
Am Morgen des 15. stahlen wir erst einmal am anderen Ende der Stadt einen Wagen. Raub im Fluge, man könnte auch sagen, ein Meisterstück an Gewandtheit. Der Fahrer hatte seinen Kleinwagen neben dem Zeitungskiosk abgestellt, den Schlüssel im Zündschloss, mit laufendem Motor, und war nur schnell ein halbes Minütchen ausgestiegen, um die Zeitung zu kaufen. Beim Zahlen sah er noch schemenhaft, wie zwei Gestalten in seinen Wagen stiegen. Aber zu spät.
Dann waren wir zur Kirche gefahren und hatten den Fluchtweg geprobt. Am nächsten Tag würde Beniamino mich anrufen und sagen: »Ich gehe jetzt rein.«
Ich sollte dann vom Parkplatz in der Rue du Mont Cenis kommend rechts in die Rue du Simplon einbiegen, den fliehenden Beniamino einsammeln und links die Rue des Poissonniers nehmen, dann abermals links in die Rue des Amiraux, dann endlich rechts in den Boulevard Ornano und diesen hinunter bis zur Metrostation Porte de Clignancourt, wo wir im unendlichen Untergrund von Paris verschwinden würden.
Das war der Teil des Plans, der wunderbar funktionierte. Alles Übrige vermasselte Beniamino großartig.
Ich erwartete ihn vor der Kirche, ein paar Sekunden zu früh, und hörte einen einzigen, deutlich vernehmbaren Schuss, dann kam er mit gezückten Pistolen herausgelaufen. Die Sonnenbrille war das einzig Dunkle an ihm, ansonsten trug er von Kopf bis Fuß Weiß. Er schlüpfte auf die Rückbank, ich gab Gummi.
»Was ist passiert, verdammt?«
»Ich habe nur ihn abgeschossen«, sagte er und fing an, sich umzuziehen. »Sofort nach der Trauung.«
»Und Greta?«
»Hat sich auf die Knie geworfen und das Gesicht mit dem Schleier bedeckt.«
»Und du?«
»Ich hab es nicht übers Herz gebracht zu schießen.«
»Warum, Beniamino? Warum hast du dich von dieser Sau verarschen lassen?«
Mein Blick vernebelte sich, fast wäre ich auf ein Taxi aufgefahren. »Dir ist doch klar, was jetzt passiert? Jetzt wird sie uns wieder jagen. Wir stehen wieder ganz am Anfang, wir sind genau da, wo wir 2006 auch schon waren.«
»Mir war, als würde Sylvie vor mir knien«, gestand er mir flüsternd.
Wir ließen den Wagen stehen, warfen Kleidung und Pistolen in einen Müllcontainer und tauchten in die Eingeweide der Untergrundbahn ein.
Fernsehen und Zeitungen machten ein gewisses Aufheben um den Mord am Altar, doch weder die Witwe noch die wenigen Gäste gaben Interviews, so dass der Medienzirkus rasch nachließ; man stellte den Vorfall als Angelegenheit zwischen verschiedenen serbischen Gruppierungen hin. Die Reden, die der Tote geschwungen hatte, ließen diese Version glaubwürdig erscheinen.
Ich rief Max an und berichtete ihm. »Wenigstens scheint die Sonne.«
»Hier auch. Schön warm.«
»Wo bist du?«
»Am Imbissstand, mit Pape, Giorgio und Walter aus Cagliari.«
»Ah, da hast du heute wohl ordentlich reingehauen?«
»Ja, Marzia hat gekocht.«
»Es ist so laut. Wie viele seid ihr?«
»So um die fünfzig. Das jährliche Mittagessen der Atheistisch-Agnostisch-Rationalistischen Vereinigung.«
Von der hatte ich noch nie gehört, aber ich wollte keine Fragen stellen, sondern wartete schweigend.
Der Dicke räusperte sich. »Ich weiß nicht, was ich mehr bin, angeschissen oder besorgt. Zufrieden bin ich jedenfalls nicht.«
»Beniamino sagt, es gebe eine Rechtfertigung dafür.«
Er seufzte laut. »Wenn du mich fragst, sieht es so aus: Er hat sie zweimal zur Witwe gemacht, jetzt ist sie in ihrem Schmerz und ihrer Wut wahnsinnig gefährlich. Wir wissen zur Genüge, wozu sie imstande ist …«
»Und?«
»Das musste der Alte doch wissen, als sie in der Kirche vor ihm kniete.«
Statt Paris zu verlassen, blieben wir weiter Greta auf den Fersen. Auch die Beerdigung beobachteten wir aus der Entfernung, und ich konnte nicht anders, als die schlichte Eleganz ihres Mantels zu bewundern. Genau so einen hatte die Witwe von Arkan getragen, Ceca, bei dessen Begräbnis.
Einige Tage darauf beobachteten wir, wie sie in der Rue de Reine ein Restaurant betrat. Trauer trug sie nicht mehr. Die Fahrerin blieb im Wagen, die andere setzte sich drinnen neben Greta. Es war ein kleines Lokal, der Tisch blickte auf die Straße. Bei ihnen saß auch ein Mann mit dem typischen Äußeren und Verhalten des Berufsmilitärs.
Mir lief es kalt über den Rücken. »Den engagiert sie jetzt, damit er uns fertigmacht.«
Beniamino zuckte mit den Schultern. »Ich wette, das ist derselbe, der Sylvie entführt hat.«
Der Ton, in dem er das sagte, weckte bei mir einen früheren Verdacht. »Apropos, was hat eigentlich Sylvie dazu gesagt, dass du die Frau verschont hast, die sie hat entführen und in ein Bordell für Gruppenvergewaltigungen sperren lassen?«
»Sie hat mich nicht beschimpft, anders als du … Sie hat gesagt, alles Schlechte hat auch sein Gutes, auf diese Weise könnte man ja die Organisation zerschlagen und alle Frauen befreien, die sie festhält.«
Ich schlug mir aufs Bein. »Hätte ich mir doch gleich denken können.«
»Was?«
»Dass Sylvie dich gebeten hat, sie nicht zu erschießen.«
»Sagen wir, das war ihre Haltung.«
»Und du hast dich nicht getraut, ihr zu widersprechen, obwohl du weißt, dass das eine Riesenidiotie ist, weil du denkst, wenn du tust, was sie sagt, wird sie vielleicht doch wieder dieselbe wie früher.«
»Habe ich da so unrecht?«
Banditenliebe …
»Nein. Ich hätte wohl dasselbe getan, aber diese Frau ist grausam, gewalttätig, skrupellos. Sie wird uns jagen und massakrieren.«
Er schlug mir auf die Schulter. »Nein. Im Gegenteil, wir werden sie nicht in Ruhe lassen und ihr kleines Imperium zertrümmern.«
Das also war der Plan. »Du hättest mich ruhig fragen können, ob ich mich deinem Krieg anschließen will.«
»Warum? Würdest du dich weigern?«
»Es ist Wahnsinn, Beniamino.«
»Es gilt, einen Tumor auszuschneiden.«
Ich seufzte. »Und wer sagt, dass wir die richtigen Chirurgen sind?«
»Klar sind wir das. Und diesmal lassen wir alle Bullen und Mafiosi außen vor. Diesmal machen wir es auf unsere Art.«
»Wir sind veraltetes Werkzeug aus der Vergangenheit. Die wischen uns mit einer Handbewegung beiseite.«
»Dann geh eben nach Lugano zurück und gib den Rentner, während ich saubermache.«
»Nein, Scheiße, ich bring’s nicht fertig, dich alleinzulassen, wer weiß, in was für einen Schlamassel du dich diesmal reinreitest.«
Im Augenwinkel sah ich, dass Rossini verstohlen grinste. Der Hurensohn. Max hatte richtiggelegen.
Der Typ drinnen stand auf und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Handkuss von Greta. Er verließ das Lokal und ging zu Fuß davon. Wir ließen ihm fünfzig Meter Vorsprung und folgten ihm dann.
Er war ein Profi, der nicht lange brauchen würde, um uns zu bemerken. Er würde uns für Laien halten, die ihm die Arbeit erleichterten. Vielleicht würde er lächeln und denken, das sei ein guter Tag.
Ein Gedanke jedoch würde ihn nie auch nur streifen, nämlich dass dieser alte Schmuggler und Räuber an meiner Seite ihm nur begreiflich machen wollte, dass er sich nie wieder verstecken würde und dass er, um ein Versprechen an seine Liebste zu erfüllen, sein Leben nach Regeln aufs Spiel setzen würde, die keiner seiner Feinde kannte. Banditenliebe eben. Und ich würde bei ihm sein, denn ich hatte keine ebenso starke Liebe, die mich an eine Person oder einen Ort band. Außerdem ist Rossini mein Freund. Einer der beiden, die ich noch habe. Und in einer Welt, in der jeder jeden bescheißt, will das wirklich etwas heißen.
ENDE