Grenoble, Donnerstag, 21. Dezember 2006
Ich betrachtete die Isère von der Hochstraße herab. Das dunkle Wasser floss langsam. Ich stand mit dem Rücken zu den Bergen. Vor mir, auf der anderen Seite des Flusses, lag das alte italienische Viertel mit den Schildern der Restaurants und Pizzerien; es erinnerte an verlassene Orte, an denen man mit leerem Portemonnaie und leerem Magen steht.
Max saß mir gegenüber, den Blick auf die Gipfel gerichtet. Beniamino sprach leise mit Luc und Christine. Die Rettungsmannschaft war komplett. Im Kreise saßen wir versammelt in einer der kleinen Kabinen, Kugeln aus Stahl und Plexiglas, in denen die Touristen hinauf zum Fort de la Bastille transportiert werden, von wo aus man das gesamte Tal überblickt.
Abends zuvor waren wir aus Italien angekommen, nachdem wir uns sorgfältig versichert hatten, nicht verfolgt zu werden. Endziel Chambéry, rund fünfzig Kilometer von Grenoble entfernt. Dort hatten die beiden aus Marseille eine Wohnung in einem alten Haus im Zentrum gemietet. Die Eigentümerin war die Witwe eines Räubers, sie führte das augenscheinlich anständige Leben einer Bäckerei-Angestellten, rundete ihr Salär aber gern damit auf, dass sie an alte Freunde ihres Mannes vermietete. Zwei Zimmer, Küche, Bad.
Luc hatte uns um Punkt acht mit Kaffee und Croissants geweckt. Als ich die Augen aufmachte, sah ich mich einem schmächtigen Typen mit einem Schnurrbart von entschieden altmodischem Schnitt gegenüber, den er mit Sicherheit vor jedem Coup abrasierte. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, obgleich er die vierzig erst kürzlich erreicht hatte. Lederjacke, Jeans, Halbstiefel.
Ich hatte ihm die Hand gegeben, aber da ich kein Wort Französisch sprach, hatte ich es Max und Beniamino überlassen, das Gespräch am Laufen zu halten. Kurz darauf war Christine erschienen, in einer XL-Baumwolljacke, die sie als Nachthemd getragen hatte. Fünfunddreißig, kurzes Haar, markante, aber angenehme Gesichtszüge. Nicht größer als eins sechzig, schmal, kleine, aber dank intensiven Sportstudiobesuchs feste Brüste. Schwarze, entschlossene Augen.
Als sie Rossini gesehen hatte, war sie ihm um den Hals gefallen und hatte seine kahle Stirn mit Küssen bedeckt. Dann hatte sie etwas über Sylvie gesagt, und Stille hatte sich über uns gesenkt. Sie nahm zwei filterlose Zigaretten, steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie an und gab eine Beniamino. Das war Freundschaft und Respekt, nicht nur eine geschäftliche Verbindung. Er hatte sich an die beiden gewandt, weil sie einerseits Profis und in der Lage waren, das Problem zu lösen, und andererseits hatten sie ein Herz und Prinzipien.
Wir waren ihrem Wagen über eine stark befahrene Provinzstraße gefolgt. Die Berge um die Stadt waren von Schnee nur besprenkelt. Wieder ein zu warmes Jahr. Die Touristen, die in den Weihnachtsferien Ski fahren wollten, müssten sich mit Kunstschnee begnügen.
An diesem Morgen hatte die Sonne sich noch nicht gezeigt, und auf dem Gipfel des Mont Rachais, wo das Fort lag, wehte ein eiskalter Wind. Wir gingen in die Bar, um etwas Heißes zu trinken. Dann taten wir so, als wären wir Touristen, und besichtigten das Museum und den restlichen Komplex. Erst am Ende stiegen wir aufs Dach der zentralen Befestigung, genannt Belvédère Vauban, von dem aus man das Panorama bewundern konnte. Luc gab uns ein kräftiges Fernglas und plauderte eine Weile über die Gipfel zur Rechten; er erzählte Anekdoten aus der Résistance, für die Ohren der anderen Besucher bestimmt. Dann sprach er über die Stadt. Dann und wann flüsterte Max mir eine kurze Übersetzung zu.
Endlich gingen wir nach links hinüber. Ein anderes Fort, ein anderer Gipfel, beide desselben Namens: Saint-Eynard. An den Hängen des Berges war das Dorf Corenc zu sehen, kaum mehr als viertausend Seelen, verteilt auf mehrere Ortsteile. Ein diskretes Städtchen voll schöner Villen. In einer davon wurde Sylvie gefangen gehalten. Durch das Fernglas sah ich ein großes, vor dem Krieg gebautes Haus, doch waren wir zu fern, um weitere Einzelheiten zu erkennen.
»Tagsüber kann man euch nicht hinbringen«, erklärte Christine. »Ich bin dreimal zu verschiedenen Zeiten vorbeigegangen, es stand jedes Mal jemand am Fenster, und mir ist aufgefallen, dass sie sogar die Nummernschilder kontrollieren.«
»Ich habe mich nachts angeschlichen«, berichtete Luc. »Die Hunde der anderen Villen haben mich gerochen und angefangen zu bellen, aber keine Christenseele ist aus dem warmen Bett gekommen, um nachzusehen. Im Hof der Villa waren zwei Luxuslimousinen geparkt, die Fensterläden waren verrammelt. Und sonst nichts zu sehen.«
»Für ein Bordell ist es nicht sehr besucht«, meinte die Frau.
»Es ist kein Bordell im üblichen Sinne«, erklärte Max La Memoria, aber ihm erstarb die Stimme, als ihm klar wurde, dass weitere Erläuterungen Rossini schmerzen mussten, der sich aber erneut als tapferer Mann erwies.
»Da drin ist nur Sylvie«, sagte er leise. »Und die Männer dürfen nicht weniger als drei sein. Drei auf einmal.«
Christine streichelte ihm den Arm und ließ einen langen, scharf artikulierten Fluch los.
»Kurzum, wir wissen kaum etwas«, fuhr der Schmuggler fort. »Wir müssen uns auf das verlassen, was das Arschloch Pavle Stojković sagt.«
Als Beniamino die beiden Kurierfahrten hinter sich gebracht hatte, hatte der serbische Gangster geruht mitzuteilen, wo Sylvie steckte, und hinzugefügt, laut ihrem Informanten werde das »Haus« zu Weihnachten seine Türen schließen und die Tänzerin an einen anderen Ort überführt.
»Sobald es dunkel ist, geh ich da rein und hole sie«, verkündete der alte Rossini.
Niemand wandte etwas ein. Luc wies auf eine Straße, die an einem Friedhof am Stadtrand und an einer nahen Brücke entlangführte. »Da fahren wir lang. Hin und zurück.«
»Ihr seid nicht verpflichtet mitzukommen. Ihr habt schon so viel gemacht.«
»Dann bist du uns verpflichtet und musst uns einen schönen Coup in Italien organisieren«, scherzte Christine.
»Max und ich kommen natürlich auch«, sagte ich.
»Ihr habt in eurem Leben noch keine Pistole in der Hand gehalten.«
»Wir können auch unbewaffnet nützlich sein.«
»Als Fahrer zum Beispiel«, schlug der Dicke vor.
»Besser als Ablenkung«, meinte Luc. »Sie können als Vertreter klingeln oder als Sektenwerber, während wir schon im Garten sind, neben dem Eingang.«
Rossini schüttelte den Kopf, er war nicht überzeugt. »Zu aufwendig, das erregt ihre Aufmerksamkeit. Das Einzige, was wir tun können, ist ein Fenster oder eine Tür mit dem Brecheisen aufstemmen, reingehen und schauen, was passiert.«
»Das ist aber auch kein großer Plan«, wandte Christine ein.
»Wir haben noch ein paar Stunden, um ihn zu verbessern. Was können wir tun, um keinen Lärm zu machen?«
»Drei 22er-Karabiner mit Schalldämpfer und Zehnermagazin. Neu, noch verpackt, vor ein paar Tagen in einem Laden in Wien gestohlen«, antwortete Luc. »Hier in Frankreich sind sie legal für die Nachtjagd. Und wenn alles schiefgeht, haben wir noch drei kurze, schwerere Teile.«
»Transportmittel?«
»Zwei Autos. Keine tollen Dinger, aber wir haben die Nummernschilder gegen welche von demselben Modell ausgetauscht. Die müssten gehen.«
Um Punkt achtzehn Uhr kletterten Beniamino, Luc und Christine vermummt und bewaffnet über die hintere Mauer der Villa. Die Hunde der anderen Anwesen bellten los, sobald sie sich näherten. Max und ich an den Steuern der beiden Wagen beobachteten die Fenster entlang der Straße. Keinerlei Bewegung. Die Bewohner mussten an falschen Alarm gewöhnt sein, wahrscheinlich genügte irgendein Tier, um das Gebell auszulösen, außerdem war das keine von Verbrechen heimgesuchte Gegend. Es schien eher der passende Ort, um zum Beispiel einen Flüchtling zu verstecken. Oder eine Gefangene.
Um achtzehn Uhr fünfzehn parkten wir vor der Villa. Ich stieg als Erster aus und spähte durch die Spalte im Metalltor der Einfahrt.
»Ich sehe nur einen Mercedes.«
»Sie sind da schon total lang drin.«
Ein paar Minuten später ging die Tür auf. Kurz erschien Christine, dunkel gekleidet und mit bedecktem Gesicht. Sie winkte uns herein.
»Sylvie ist im ersten Stock eingesperrt, hinter einer Panzertür, wir können den Schlüssel nicht finden. Geht hoch, ich bleibe hier und passe auf.«
Max übersetzte, während wir die Sturmhauben überzogen.
Teure, moderne Einrichtung, kürzlich und mit miserablem Geschmack eingekauft. In der Mitte des Flurs, der zur Treppe führte, stiegen wir über die Leiche eines Mannes, und mir wurde klar, dass niemand mehr hier war, der uns entgegentreten konnte.
Beniamino und Luc versuchten, die Tür aufzustemmen. Wir hörten Sylvies gedämpfte Schreie, die ihren Mann rief.
»Sucht diesen Scheißschlüssel!«, schrie der Schmuggler und wies auf eine Tür.
Wir betraten eine Art Arbeitszimmer, darin zwei Leichen. Die erste auf einem üppigen weißen Teppich, der schlecht zu der sich unter dem Körper ausbreitenden Blutlache passte, die andere auf einem Sessel hinter dem großen Schreibtisch. Drei, vier Schüsse in die Brust.
Ich wies meinen Partner auf ihn hin. »Den kenne ich.«
»Das ist Fatjion Bytyçi. Die Villa gehört der Kosovo-Mafia.«
Ich trat zum Sohn des Paten von Peja und durchsuchte seine Taschen. Nichts. Mir fiel seine Halskette auf, die auf dem Foto in der Zeitung nicht zu sehen gewesen war. An ihr fand ich einen kurzen, flachen Schlüssel in Schmetterlingsform.
»Gefunden!«, rief ich und lief hinüber.
Rossini entriss ihn mir und steckte ihn ins Schloss. Die Tür sprang auf, und es erschien das Gespenst der Frau, die wir kannten.
Er wollte sie umarmen, hielt dann aber inne, aus Angst, dass sie zu zerbrechlich sein könnte. Sie bemerkte es, bedeckte ihr Gesicht und brach in Tränen aus.
Beniamino legte das Gewehr zu Boden. »Amore mio«, flüsterte er und zog sie sanft an sich.
»Wir müssen los«, sagte Luc.
Er hatte recht. Ich sah mich um. Der Dicke war noch draußen. Er durchsuchte im Arbeitszimmer die Schubladen.
»Lass sein. Wir müssen gehen.«
»Warum war Sylvie die Gefangene von Fatjion Bytyçi? Ist das nicht ein unglaubliches Zusammentreffen?«
»Mag sein. Da denke ich drüber nach, wenn ich nicht mehr riskieren muss, den Rest meines Lebens in einem französischen Knast zuzubringen!«
Zwei Autos, zwei Gruppen. Ich fuhr Beniamino und Sylvie, sie ohne Schuhe und in eine Decke gehüllt. Die beiden Marseiller fuhren mit Max.
»Ich bin so glücklich, dich wiederzusehen«, sagte ich zu ihr. »Du glaubst gar nicht, wie sehr.«
Sie streckte die Hand aus und berührte mein Haar. Beniamino beschwor die ganze Zeit seine Liebe, bis wir die anderen Wagen erreichten. Da schlüpfte Christine zu uns herein, küsste Sylvie, fuhr dann mit ihrem Mann weiter. Sie würden die Gewehre in der Isère entsorgen, dann direkt nach Hause fahren.
Sylvie war nicht imstande, bis nach Punta Sabbioni zu reisen. Sie musste sich erst erholen. Beide wollten so lange in der Wohnung in Chambéry bleiben wie nötig. Beniamino trug sie in die Wohnung, als wäre sie ein kleines Kind, und brachte sie im größeren Zimmer zu Bett.
Max und ich wollten uns von ihr verabschieden, aber sie drehte sich ostentativ zur Wand. Begreiflich.
»Sag ihr, dass wir sie lieben.«
»Wenn es passt«, sagte Beniamino etwas ausweichend. Er war zugleich glücklich und am Boden zerstört. Er war nicht darauf gefasst gewesen, sie derart verwüstet zu sehen. Wir auch nicht. Genau bedacht, hätte es uns jedoch nicht überraschen dürfen.
»Eins musst du wissen«, sagte der Dicke. »Der Tote hinterm Schreibtisch, das war Fatjion Bytyçi.«
»Und?«
»Um ihn und die Männer seines Clans aus dem Knast zu holen, war der Drogenraub aus der Rechtsmedizin unternommen worden.«
»Okay, und was soll ich damit?«
»Du sollst verstehen, dass das offene Rechnungen gibt. Wir müssen begreifen, in was für ein Spiel wir geraten sind …«
Der alte Rossini packte ihn bei den Armen. »Hör her. Ich denke jetzt nur an Sylvie, alles andere ist mir scheißegal.«
»Das sieht die Kosovo-Mafia vielleicht anders.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Da liegt die Frau, die ich liebe und die mich braucht, und du gehst mir mit diesem Schwachsinn auf den Sack?«
Max sah mich ratlos an.
»Du hast recht«, sagte ich und schob meinen Partner gen Ausgang. »Melde dich, sobald du magst.«