Benjamin

»Weißt du, es gibt Geschichten, die muss sich das Leben ausdenken. Da gibt es keine Spannungsbögen und keine Moral. Es gibt einfach diese Geschichten, die kann man sich nicht selbst ausdenken. Das muss das Leben übernehmen. Macht es ja auch. Zum Beispiel das Mädchen, das eine Zahnspange hat und alle in der Schule hassen sie, also das Mädchen. Und eine Brille hat sie auch noch. Und dann bekommt sie auf einmal die Zahnspange raus, und die Eltern kaufen ihr Kontaktlinsen, und plötzlich finden alle sie gut. Das sind so Geschichten, da gibt es keinen Sinn. Das sind so Geschichten, die passieren einfach so mir nichts, dir nichts. Weil eben alles irgendwann passieren muss. Denk mal an die Milliarden Menschen. Und die machen was. Ständig. Alle. Den ganzen Tag. Irgendwas und noch was und noch was. Deshalb stehen die Chancen eben auch nicht schlecht, dass alles ständig passiert. Oder irgendwann zumindest. Auch die Sache mit diesem Typen. Ich weiß nicht mehr, wo ich das neulich gelesen habe. Der bekommt eine Million oder noch mehr oder weniger, wenn er den Reichen mit seiner Frau rummachen lässt. Da geht’s dann vorher natürlich hin und her. Aber so was lässt sich ja keiner einfallen. So was passiert eben einfach. Ständig passiert alles. Trotzdem denkt man ja manchmal, dass es niemand anderen gibt. Wenn man mal darüber nachdenkt, wird einem klar, dass es einem die meiste Zeit vorkommt, als würde man nur selbst was machen, was denken, das Ganze, und alle anderen wären nur Schatten. Als hätte sich einer alle nur ausgedacht. Eigentlich weiß man ja, also vom Kopf her zumindest weiß man ja, die gibt es eben alle. Hier. Im Dorf. In New York. In China, Indien, Afrika. Einfach überall. Gott! Allein diese ganzen Länder. Da könnte einem direkt schwindlig werden. So viele Leute. Was die machen, was in denen vorgeht. In jedem so viel wie in dir selbst. So viel Kram. Darüber denkt man besser nicht zu lange nach, oder? So eine Masse an Leuten sind ja wie die Geschichten. Die kann sich keiner ausdenken. Diese Geschichte zum Beispiel: Von dem Mann, der todkrank ist. Krebs. Wie ja die meisten Krebs haben oder kriegen. Erinnerst du dich eigentlich noch an Tschernobyl? Kommt einem so vor, als sei das schon Ewigkeiten her, als der ganze Dreck in die Luft ist. Also die Stoffe. Dreck war es ja nicht. Die Strahlung, unsichtbares Zeug. Wie ja Geschichten auch unsichtbar sind. Wie viele Menschen da auf lange Sicht gestorben sind. Aber ein paar Regenwürmer zum Beispiel haben über die Strahlung gelernt sich zu paaren, anstatt sich selbst zu befruchten. Auch cool irgendwie. Unsichtbare Strahlung. Unsichtbarkeit überhaupt. Aber dieser Mann hat eben den Krebs, oder war es was anderes? Und dann lernt er seinen Bettnachbarn kennen, der auch nicht mehr lange hat. Wie war das noch mal? Weil die beiden genau gleich lachen oder ihre Stimmen klingen genau gleich, glaube ich. Und am Anfang können die sich nicht leiden, aber dann doch und dann wieder nicht, und dann wird’s am Ende noch mal dramatisch. Mit Tränen und allem. Aber dazwischen gehen die beiden noch mal Fallschirmspringen. Und beim Fallen mit dem neu gewonnenen Freund überdenken die noch mal ihr ganzes Leben. Ich habe ganz vergessen, wo ich das gelesen habe. Macht ja aber jeder. Egal, ob todkrank oder normalsterblich. Wenn man aber ehrlich ist, kann das keiner, so ein ganzes Leben überdenken. Passiert ja viel zu viel, ist viel zu kompliziert so ein Leben. Kann alles passieren oder auch nichts. Oder es kommt einem nur vor wie nichts. Nur eins passiert nicht. Habe ich zumindest noch nicht erlebt. Ich habe noch nie erlebt, dass, wenn eine Serie heißt wie der Held, dass der abkratzt. Heißt eine Serie wie der Held, schafft der es immer. Klar kriegt der auch am meisten ab. Also leicht ist es nie, aber ist es ja auch so nie. Oder fast nie. Wobei es vielleicht ja auch öfter leicht ist, als man denkt. Findest du das nicht auch beruhigend? Etwas, auf das man vertrauen kann. Viele haben ihr Vertrauen ja längst verloren. Vielleicht ist es auch einfach egal, ob andere auf was vertrauen oder überhaupt was finden. Genauso egal, ob die sich was ausdenken. Müssen sie ja auch gar nicht. Das macht ja das Leben. Auf diese Geschichte würde ja wohl auch keiner von selbst kommen: Wo ein Mann jahrelang über die unterschiedlichen Meere fährt, in seinem Boot, und jagt einen einzigen Fisch. Der ist kein Wissenschaftler und fischt auch nicht nach einer ganzen Art, sondern nach einem einzelnen Fisch. Einfach so. Oder hat er den an der Angel und lässt einfach nicht mehr los? Ich hab’s vergessen. Ich habe auch vergessen, auf welchem Sender ich das gesehen habe. Welche Doku das war. Auf jeden Fall lässt er sich Tage aufs Meer hinausschleppen, bis die Hände bluten. Ich glaube nicht mal aus Hunger oder wegen des Geldes, sondern einfach so. Ist ja im Prinzip auch dasselbe. Aber so was gibt es eben, weil es eben alles gibt. Kann sich keiner ausdenken. Keine Moral, keine Handlung. Wenn man ehrlich ist, eigentlich keine echte Geschichte. Nur der Typ und sein Fisch. Oder diese andere Story, von der ich gehört habe: Da ist einer Truckfahrer, und dessen Frau ist aber Tochter von Millionären, und die wollen nicht, dass der Trucker und die Tochter aus dem guten Haus miteinander ... klar. Und dann stirbt sie aber, und der Vater und der gemeinsame Sohn finden auf einer Truckfahrt durchs halbe Land zueinander. Passiert alles. Aber ist jetzt halt auch keine richtige, richtige Geschichte. Streng genommen gar keine Geschichte. Ist eben einfach nur passiert. Passiert eben alles. Was passiert, passiert. Passiert, passiert und passiert. So geht’s immer. Ich ... na ja ... Auch so eine Sache: Denken viele, ist aber gar nicht so, dass nur, weil es die ganze Zeit um dieselben Leute geht, etwas schon eine Geschichte ist. Das können ja genauso gut einfach Sachen sein, die wem passieren. Zusammenhangloses Zeug. Ist es ja meistens auch. Na ja. Dein Leben ist ja auch keine Geschichte. Eher so eine Sache, die nach der anderen passiert. So ist es immer. Sachen, die man macht, und Sachen, die einem passieren. Also, nicht dass du das in den falschen Hals kriegst, meins ja auch nicht. Manchmal lacht man eben oder denkt Glück gehabt, und andere Tage, da weinst du. Die wenigsten Leben sind ja eine Geschichte. Nimmt man zum Beispiel Lebensläufe. Die auf Papier. Macht ja alles mehr Sinn auf Papier. Oder tut so. Auch gefährlich, nebenbei. Und der Lebenslauf sieht aus, als würde eins auf das andere kommen. Dann Schule. Dann noch ’ne andere Schule. Dann was studieren, Ausbildung meinetwegen. Dann was arbeiten. Und noch was anderes arbeiten. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Dann schreibt einer noch die Kinder und Fremdsprachen rein oder was man für Führerscheine hat. Dann das, dann das und dann noch irgendwas. Eben auch wieder so eine Geschichtensache, tut so, als wäre das eine Geschichte, ist aber nur Quatsch mit Soße. Eher ’ne Serie. Im besten Fall ’ne Serie, oder? Da darf und soll dann ja wohl auch alles passieren. In der Serie steckt ja schon drin, dass irgendwann irgendwem alles passieren kann. Na ja, alles eben, was einer sich ausdenken kann. Wie in meinem Leben eigentlich nur passiert, was ich mir ausdenken kann. Ja gut. Und dann noch das, was mir zustößt. Die Schrecken. Können sich die Leute ganz einfach abgucken. Von mir, von Truckerfahrern, Anglern, allen. So kann dann ja eben in einer Serie auch alles passieren. Alles, außer dass der Held stirbt, nach dem die Serie benannt ist. Der Held schafft’s immer, klar? Und das hier. Das ist ja keine Geschichte, keine Serie, kein sonst was. Und ich werd’s ja auch nicht schaffen. Aber du eben auch nicht.«