Zoo
Der Zoo ist voller Menschen. Der Zoo ist dicht gedrängt voll mit Menschen. Im Zoo sind mehr Menschen als Tiere.
Sie hat ihren Kopf in den Nacken gelegt.
Sie guckt zu den Rodriguez-Flughunden hoch. Ihr blonder Zopf pinselt ihr zwischen den Schulterblättern herum, während sie mit ihren Rehaugen die Tiere ansieht. Feucht glänzende Hundenasen, unverwandt starrende Stecknadelköpfe, große, tote Gummiflügel, wie Decken um die Mausekörper geschlagen. Wie schwarzbraune Früchte hängen sie dicht an dicht im Baum.
»Guck mal, die schämen sich«, sagt er.
»Das ist keine Scham, das ist ihre ganz natürliche Schlafstellung. So ist ihre Natur. Sie entscheiden sich nicht dafür, auf diese Art ihre Schwingen um den Körper zu legen. Flughunde sind so, Benjamin. Ich habe darüber gelesen«, sagt sie und schaut ihn mitleidig an. »Ich weiß, irgendwie wünscht man sich immer, dass wir alle gemeinsam in einem großen Plan des Lebens koexistieren. Dass alle gleich fühlen und reagieren. Aber die Wahrheit ist, das meiste passiert einfach. Flughunde zum Beispiel, die schlafen nun mal einfach so. Da läuft ein Millionen Jahre altes Programm ab. Da ist nichts, was mit Schämen oder sonst welchen menschelnden Regungen zu tun hat, die wir gerne in die Tierwelt hineinprojizieren. Ich weiß, du wolltest das nicht tun, Benjamin, du hast das nicht so gemeint. So bist du nicht. Aber ich habe mal gelesen, wer ein Tier vermenschlicht, vergewaltigt es seelisch.«
Die Affen sind lahm. Sie haben den Affen eine Banane mitgebracht. Er wollte sehen, wie ein Affe mit seinen unheimlichen Menschenhänden eine Banane pellt oder sie von ihm aus auch einfach komplett mit Schale in sein Maul drückt. Er wollte das gemeinsam mit ihr sehen und gemeinsam mit ihr den Affen auslachen. Jetzt steht er still vor einem Gehege voller Affen, die still im Staub hocken und mit ihren braunen Augen ins Nichts schauen. Jetzt findet er, dass die Tiere banal sind. Dass so banale Affen keine Banane wert sind. Er hofft, dass sie die Banane nicht anspricht. Dass die Banane bei diesen Affen kein Thema ist und dass sie das insgeheim genauso sieht. Aber er ist sich nicht sicher.
Das Krokodil liegt träge im Wasser. Hinter ihnen drängelt sich ein steter Strom von Menschen, der ihre Körper hin und her wiegt. Kinder, Eltern, Rentner schieben die beiden nach links und rechts zur Seite, drücken sich zwischen sie, um auch einen Platz am Geländer zu kriegen.
»Was geht wohl in so einem Tier vor, wenn es da schwimmt? Wenn es Stunden und Tage einfach so im Wasser treibt?«, fragt sie. »Warum entscheidet es sich, ein paar Zentimeter nach links zu paddeln, wieder minutenlang rumzutreiben, sich dann so ein bisschen zu drehen? Man denkt ja oft nicht darüber nach. Aber solche Dinge gehören vermutlich zu den großen Mysterien des Universums. Klar, bestimmt gibt es zu so was auch Studien. Es gibt ja zu allem Studien. Aber soll ich dir was sagen: Ich glaube nicht, dass Studien den Kern der Sache berühren. Ich glaube, es gibt Millionen Dinge, die größer sind als Studien.«
»Wenn hier einer reinfällt, ist er auf jeden Fall tot«, sagt er.
»Es gibt eine Studie, in der geklärt wurde, warum Spechte keine Kopfschmerzen bekommen. Wusstest du das?«, sagt sie. »Ist das nicht verrückt, dass sich der Mensch so sehr an den Tieren abarbeitet?«
»Glaubst du, die denken den ganzen Tag ans Töten?«, fragt er.
»Die Spechte?«
»Die Krokodile.«
Sie haucht in ihre Hand und riecht ihren Atem.
»Bist du auch so hungrig?«, fragt sie.
Im Zoorestaurant sitzen die Ausflügler und essen. Eine Familie, Eltern mit ihren zwei Kindern, betet vor Tellern mit Pommes frites.
»Hast du das gesehen? Ich finde das irgendwie schön. Ungewöhnlich, aber schön. Findest du nicht auch?«, fragt sie.
»Krokodile haben ganz schön aggressive Haken auf ihren Rücken. Glaubst du, die wissen das?«, fragt sie und steckt sich eine Pommes in den Mund.
»Die können das ja nicht sehen oder mal dran fühlen«, sagt sie und spuckt, ohne es zu merken, ein Stückchen Pommes auf den Tisch. »Es muss komisch sein, wenn man nicht jeden Zentimeter seines Körpers berühren kann. Manchmal glaube ich, dass der Wunsch nach Erkenntnis damit beginnt, dass man die Fähigkeit hat, seinen Körper vollständig zu ertasten. Und dass man dann auch noch den Rest der Welt ganz und gar erfahren möchte.«
Auf dem Tisch liegt ein Stück ausgespuckte Pommes.
»Es gibt eine Stelle auf deinem Rücken zwischen den Schulterblättern, die du nicht berühren kannst«, sagt er. »Kann keiner. Außer die Gummimenschen aus dem Chinesischen Staatszirkus vielleicht.«
»Echt?« Lachend verbiegt sie die Arme hinter ihrem Rücken. »Oh«, sagt sie. Und dann: »Schau mal.« Sie dreht ihm den Rücken zu und zeigt, wie sich ihre Zeigefinger zwischen den Schulterblättern treffen.
»Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragt sie. »Ich hatte mal eine Zootierpatenschaft. Ich weiß auch nicht, warum mir das gerade jetzt einfällt. Es war keins von den großen Tieren, die jeder sofort mit dem Zoo assoziiert, weil meine Eltern nicht so viel Geld hatten. Zumindest damals noch nicht. Warte mal, wie hieß es denn noch? Es hatte was von einem Biber, aber auch ein bisschen was vor einer Ratte. Also, stell dir eine sehr niedliche Ratte mit großen Hasenzähnen vor. Wenn ich kurz an etwas anderes denke, fällt’s mir wieder ein. Vielleicht sollten wir ... ach ja: Präriehund. Ein Präriehund. Ich durfte mir einen Namen ausdenken und hatte sogar eine Urkunde, in die ich ihn eintragen durfte. Stundenlang habe ich den Namen schönschreiben geübt, bevor ich mich getraut habe, ihn in der Urkunde einzutragen. Du musst mir versprechen, nicht zu lachen, wenn ich dir den Namen verrate. Bist du bereit? Verkneif dir das Lachen. Es ist aber auch wirklich sehr, sehr witzig. Aber du darfst trotzdem nicht lachen. Das ist das Spiel. Bist du bereit? Okay: Ich habe ihn Windi genannt. Windi. Verstehst du? Weil er so schnell wie der Wind war. Immer, wenn wir ihn besucht haben, ist er wie irr durch den Käfig geflitzt und Papa hat gesagt: Schau, er begrüßt dich. Mir war natürlich schon damals klar, dass die den ganzen Tag so herumrennen und ihm, also meinem Vater, vermutlich auch. Aber ich fand es trotzdem nett von meinem Vater, dass er das gesagt hat. Wir sind in der Zeit ziemlich häufig in den Zoo gefahren. Na ja, ich muss zugeben, mein Vater hat mich damals ziemlich bedrängt, dass wir immer zu Windi müssten oder dass ich allein den Bus zu Windi nehmen soll. Dass ich für ein solches Tier auch Verantwortung übernehmen müsse. Wie eine richtige Patentante eben. Obwohl meine Patentante ... aber egal. Er nannte es den Zootag. Ständig war Zootag. Wir sind so oft in den Zoo gefahren, dass ich manchmal auf dem Weg dahin die ganze Fahrt über geweint habe. Irgendwann ging’s dann aber nicht mehr zu Windi. Und ich muss gestehen, dass ich irgendwie insgeheim froh war, als es vorbei war. Ja, so sind Kinder, oder? Ich habe ewig nicht mehr daran gedacht. Eigentlich bis eben.«
»Er ist gestorben«, sagt er.
»Was?«
»Dein Windhund. Er ist gestorben. Und deine Eltern wollten dir den Verlust ersparen.«
Das Krokodil bewegt sich nicht. Er sagt nichts. Sie sagen nichts. Stehen einfach so da und starren auf das Reptil im Wasser. Er spürt, dass sie das nervös macht. Dass sie sich fragt, warum man noch einmal zurück zum Krokodil gehen musste, wo man die Pandabären, die Kängurus und die Pinguine noch gar nicht gesehen hat. Aber sie ist zu rücksichtsvoll, um das zu sagen.
Stattdessen sagt sie: »Das waren ja wirklich gute Pommes frites, oder?«
Stattdessen sagt sie: »Normalerweise bekommt man ja in Parks kaum so auf den Punkt gegartes Frittiergut.«
Stattdessen sagt sie: »Wenn man so viele Tiere um sich hat, kommt man sich ein kleines bisschen vor wie in einer Fabel, oder?«
Stattdessen sagt sie: »Tja, das Krokodil bewegt sich nicht.«
Stattdessen lacht sie: »Warum auch, es gibt ja nicht gerade viel, was es hier zu erledigen hätte, oder?«
Stattdessen sagt sie: »Was glaubst du, warum sich das Krokodil nicht bewegt?«
»Willst du mal was sehen?«, fragt er.
»Gerne, wohin willst du gehen?«
Er sieht sie an. Er zieht die Banane aus der Tasche. Er hebt sie über den Kopf wie einen Schlagstock. Sie schreckt in diesem Moment wirklich zurück, als hätte sie Angst, dass er sie mit einer Banane schlagen würde. Dann holt er aus und schleudert die Banane auf das Krokodil. Es macht ein dumpfes Geräusch. Ein enttäuschter Laut. So als würde in großer Entfernung jemand mit der flachen Hand auf ein Sofakissen schlagen. Die Banane liegt krumm und gelb auf dem Rücken des Reptils. Das Mädchen sieht ihn staunend an. Das Krokodil bewegt sich nicht.
Dann beginnt der Tumult.