Australien

Ich übe wochenlang für diesen Tag. Ich wiederhole den Trick endlos. Ich wünsche mir zum Geburtstag nichts als einen Tisch im Garten. Einen Tisch im Sommergarten und zwanzig Klappstühle für die Gäste der Vorstellung. Ich bekomme natürlich trotzdem noch andere Sachen. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, was.

 

Andere Familien haben auch Probleme.

Andere Familien haben auch Dreck am Stecken.

Andere Familien haben auch Leichen im Keller.

Manche Familien haben sogar echt eine Leiche im Keller.

Das liest man immer wieder.

Nichts ist unmöglich. In Familien.

Mit zwei Tiefkühltruhen.

Eine für die Tiefkühlkost.

Dagegen, also gegen Familien, die wirklich Tote im Keller aufbewahren, ging es uns noch ganz gut.

 

Ich komme in den Garten, und alles ist falsch. Es ist alles da. Aber die Sachen stehen völlig falsch. Die Stühle stehen um den Tisch herum, wie ein Stuhlkreis. Ein bescheuerter Babystuhlkreis. In diesem Moment wird mir klar, dass auch genauso gut alles schieflaufen kann, dass man üben und üben kann, dass man etwas perfekt beherrschen kann, und am Ende ruiniert ein Zufall alles. Auf einmal ist alles hin. Ich verstehe das da noch nicht, aber an diesem Geburtstag vor diesem Stuhlkreis wird mir klar, dass so was absolut eine Möglichkeit ist.

 

Hauke ist weg, als ich fünf bin.

»Wo ist Hauke?«

»Der ist nach Australien«, erklärt mir mein Vater.

Meine Mutter liegt nebenan auf dem Bett und weint.

»Was ist Australien?«

»Ein Land, das ganz weit weg ist. Auf der anderen Seite der Welt.«

Meine Mutter vermisst Hauke schon jetzt.

»Können wir ihn anrufen?«

»Nein, da ist es jetzt Nacht.«

Meine Mutter zieht die schweren Vorhänge im Schlafzimmer zu und schließt die Tür.

»Können wir ihn nachher anrufen?«

»Nein, dann ist es auch Nacht.«

Sie schließt die Tür ab.

»Und morgen? Können wir morgen anrufen?«

»Nein, Benjamin, in Australien ist es immer Nacht.«

 

Ich wünsche mir außerdem eine große, rote Decke. Eine Decke, die vorne bis runter zum Rasen reicht. Damit niemand dem Magier in die Tricks linsen kann. Da sitzen meine Tanten und Onkel, meine Großeltern, die damals noch alle leben. Ich ärgere mich, weil sie sich unterhalten. Ich bin richtig sauer, weil sie nicht zu mir rüberschauen. Ich ärgere mich, weil sie sich unterhalten und Kuchenteller auf ihren Schößen balancieren, anstatt herzugucken, wie ich den großen Trick vorbereite.

Sie sollten sich nur auf mich konzentrieren. Es ist mein Geburtstag. Sie sollten neugierig sein. Ich bin der Anlass. Was macht denn unser kleiner Junge da? Was bereitet er wohl vor? Ich sollte wichtiger sein als Kuchen.

 

Mein Vater sitzt zwischen seinen Büchern. Er hat ein kleines Bürozimmer, in das er früher nie gegangen ist. Einmal im Jahr vielleicht. Um die Steuererklärung zu machen vielleicht. Seit Hauke weg ist, stopft er es mit Büchern über Australien voll. Er verbringt Abende und Wochenenden damit, diese ganzen Reiseführer, Aufzeichnungen der Entdecker, das alles zu lesen. Die Bücher stapelt er zu einer großen, muffigen Papierpyramide.

Andere Familien haben auch Probleme.

Da liegt dann auf einmal das Kind unten im Keller in der Tiefkühltruhe.

 

Es ist wirklich nicht leicht, ein Ei verschwinden zu lassen. Ich trainiere wochenlang dafür. Endlos. Packungen voller roher Eier. Man stülpt den Becher darüber. Und dann muss alles ganz schnell gehen. So gehen, als würde es gar nicht passieren. Erst will ich einen roten Gummiball nehmen, weil er lustig aussieht. Aber dann finde ich eine rote Decke wichtiger. Auf einer roten Decke sieht man einen roten Ball nicht. Im Nachhinein finde ich Eier auch aus anderen Gründen besser. Damals denke ich noch nicht so über Dinge nach.

 

»Können wir jetzt los, Papa?«

»Ich muss das hier noch eben zu Ende lesen.«

»Du hast versprochen, dass wir gehen.«

»Wir gehen ja. Aber jetzt muss ich das hier eben noch zu Ende lesen.«

»Aber es geht schon gleich los. Wir kommen zu spät.«

»Noch eine Sekunde.«

»Eigentlich sind wir schon zu spät.«

»Sei ein lieber Junge und lass deinen Vater noch diese Seite lesen.«

»Okay, wir machen es so«, sage ich, »ich zähle runter von wie alt ich bin, und wenn ich fertig bin, dann kommst du mit. Können wir es bitte so machen?«

»Ja, still jetzt kurz.«

»Sieben, sechs, ... Dad?«

»Sekunde.«

»Sechs, fünf, vier, drei, ... soll ich dir vielleicht schon mal deine Schuhe holen?«

»Scht jetzt.«

»Zwei, eins, null.«

»...«

»Minus eins, minus zwei, ...«

 

»Du kannst ihn nicht immer da lassen auf diesem Gefängnisplaneten. Es ist genug. Du musst das jetzt aufklären. Der Junge ist zehn. Wie lange willst du ihn noch anlügen?«

Alle drehen sich zu den beiden um, als mein Onkel Jochen das zu meinem Vater sagt. Niemand sieht mir bei den Vorbereitungen für mein Zauberkunststück zu. Keiner versucht das Geheimnis rauszukriegen. Keiner ist gespannt auf meinen Trick.

»Was meinst du?«, fragt mein Vater. »Was glaubst du, hier für eine großartige Wahrheit aufzudecken?«

Die Verwandten sollen mich angucken.

 

Ich weiß noch heute, wie man jede Art Eierfleck aus allen möglichen Sachen verschwinden lassen kann.

– Frische Eiweißflecken lassen sich leicht mit kaltem Wasser oder einer Salzwasserlösung auswaschen.

– Frische Eigelbflecken entfernt man am einfachsten mit lauwarmem Wasser oder einer Spülmittellösung.

– Sind die Flecken bereits eingetrocknet, ist die Fleckentfernung nicht mehr so einfach. Deshalb sollte man einen Fleck, den man nicht sofort behandeln kann, erst einmal mit einem feuchten Tuch abdecken. Ist das Ei bereits eingetrocknet, muss zuerst der überschüssige Dotter vorsichtig mit einem Messer abgekratzt werden. Anschließend behandelt man den Eierfleck mit einem speziellen Lösungsmittel aus der Drogerie.

 

In meiner linken Hand habe ich einen blauen Trinkbecher. In meiner rechten Hand habe ich ein ganz normales Ei. Daran ist nichts ungewöhnlich.

So will ich meinen Zaubertrick ankündigen. Mit diesen Worten. Aber mein Vater wirft gerade meinen Onkel Jochen raus, und meine Mutter ist weinend von ihrem Klappstuhl gefallen. Zwei Tanten versuchen sie vom Rasen aufzuheben, während sie sich zusammenkrampft, den Kopf an die Knie, als hätte sie Bauchschmerzen. Sie kreischt und weint und schneidet die schlimmsten Grimassen. Dabei wirft sie drei Klappstühle um.

Ein Becher und ein Ei. Daran ist nichts Ungewöhnliches.

 

Lieber Hauke

morgen komme ich in die vierte Klasse. Schade das du nicht hier bist. Ich habe ein Buch über Australien aus Papas Zimmer genommen. Ich habe es heimlich genommen. Papa mag nicht wenn ich in die Bücher reingucke. Es gibt in Australien sehr viele giftige und gefährliche Tiere. Es gibt sehr große Krokodile. Die heißen Salty. Die können doppelt so lang werden wie ein Auto und ziehen die Menschen unters Wasser. Dann ertrinkst du. Es gibt auch Haifische. Diese greifen die Menschen im Meer an. Sehr viele Schlangen in Australien sind sehr giftig. Von 25 kann man sterben. Die gefährlichste Schlange heißt Taipan. Sie ist braun und kann zwei Meter und dreißig Zentimeter groß sein. Taipan ich finde das klingt lustig. Vielleicht findest du das ja auch. Es ist aber nicht lustig. Es gibt auch giftige Kröten und Frösche und sogar eine Qualle welche Menschen töten kann. Sie heißt auch sehr lustig. Box Jelly Fish. Sie ist aber das giftigste Meerestier der Welt. In dem Buch steht man soll bei den ganzen Tieren die man sieht besser schnell weglaufen weil man sich nicht sicher sein kann. Ich weiß nicht warum sie den Tieren so lustige Namen geben wenn diese den Menschen dann umbringen. Australien ist ein sehr gefährliches Land. Ich kann mir gar nicht vorstellen das dort überhaupt eine Menschenseele lebt die nicht immerzu wegläuft. Ich dachte das müsstest du wissen. Pass also sehr stark auf. Ich hoffe sehr stark du wirst von niemand gebissen. Manchmal fände ich es besser wenn du hier wärst.

Dein Benjamin

 

Papa kommt zurück und brüllt meine Mutter an, dass sie sich zusammenreißen soll, wenigstens am Geburtstag ihres Sohnes. Er packt sie fest am Handgelenk. Stellt sie auf die Füße wie eine Puppe. Sie versucht, sich wieder hinfallen zu lassen. Ihr gelbes Blumenkleid ist voller Grasflecken. Er stellt sie auf die Füße wie eine Puppe und schleppt sie ins Haus.

Bis jetzt sehen Sie nichts Ungewöhnliches, meine Damen und Herren. Doch jetzt nehme ich das Ei, lege es auf den Tisch und stülpe den Becher darüber.

»Komm her, mein Junge«, sagt eine Tante, »das sollst du nicht sehen.« Sie packt mich und drückt meinen Kopf zwischen ihre großen Brüste. Es knackt. Die Tante schubst mich weg.

»Was ist das denn für eine blöde Sauerei? Warum zum Teufel hältst du denn ein Ei in der Hand?«

Doch wenn ich jetzt den Zauberspruch aufsage und den Becher wieder hochhebe, dann werden Sie sich wundern, meine Damen und Herren.

Die Tante hat einen gelben Glibberfleck auf ihrem Kleid.

»Frische Eigelbflecken entfernt man am besten mit einer Spülmittellösung«, höre ich mich sagen, »man darf es bloß nicht trocknen lassen.«

Abrakadabra. Und das Ei ... ist weg.

Tosender Applaus.