6. TESTEN SIE IHREN VERSTAND

Im kriminalistischen Alltag müssen wir uns dauernd mit Fällen beschäftigen, die man – würde ein Freund sie erzählen – ins Reich der Sagen und Großstadtlegenden verbannen würde. Doch die Wirklichkeit ist bunter und verrückter als Romane, wie ich im Folgenden noch einmal zeigen möchte.

Ein Gefrorener im Sonnenschein

Es ist etwa sechs Uhr morgens an einem ganz normalen Wochentag in einem friedlichen Einzelhaus-Viertel von West Palm Beach, Florida. Es wird dort selten frischer als milde achtzehn Grad Celsius, meist liegt die Temperatur bei etwa fünfundzwanzig Grad. Auf einmal hört ein Anwohner einen lauten Knall. Eine Schießerei? Um diese Zeit und in dieser Gegend? Unmöglich!

Es dauert einige Zeit, bis die Ursache des Lärms gefunden wird. Vor einer weiß gestrichenen, mit einem Giebeldach gedeckten Hausgarage mit Fensterchen in Form von Sonnenstrahlen und dahinter befindlicher Villa stehen ein Transporter und ein Kleinlaster, mit der Vorderseite zur Garage zeigend. Unter der hinteren Stoßstange des Transporters liegt zum völligen Entsetzen der Anwohner eine eiskalte Leiche. Der Kopf ist zerschmettert, das Gehirn findet sich teils in der Palme auf der anderen Straßenseite, teils auf dem Briefkasten der Nachbarn sowie achtzehn Meter entfernt in einer Straßenkurve. Die Schädelkappe liegt einundzwanzig Meter entfernt von der Villa des anderen Nachbarn. Über dem Seitenspiegel eines anderen Autos hängt ein Stück Muskulatur mit Sehne. Nur die Gesichtshaut ist noch am Rumpf verblieben. Sie blickt in den Himmel.

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Abb. 53: Die Leiche hatte eiskalte Haut, warme Organe und lag halb unter einem Transporter. Im Vordergrund die Aufschlagstelle. (Foto: Jon Thogmartin)

Der Notruf wurde von der Polizei gleich in die Rechtsmedizin weitergeleitet. Die Polizei interessierte vor allem, was eigentlich passiert war, zumal der Tote eine eiskalte Haut hatte. Den Anwohnern ging es allerdings mehr darum, von den für sie widerlichen Körperbestandteilen befreit zu werden. Sie beantragten daher ein emergency clean-up.

Bis die Rechtsmediziner – zweieinhalb Stunden nach dem Knall – eintrafen, wurde der Körper daher mit einer Plane bedeckt. An den beiden Autos vor der Garage fand sich kein Blut. Das konnte nur bedeuten, dass der tote Mann nicht durch einen Verkehrsunfall gestorben war. Sein Körper war derart bizarr zerschmettert, dass er unmöglich ohne Gewebeübertragung von einem Auto mitgeschleift worden sein konnte. Ein Fahrzeug konnte die Leiche aber auch nicht unter den Transporter geschoben haben – erst recht nicht unbemerkt in der friedlichen Villengegend.

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Abb. 54: Teile des Gehirns des Unbekannten fanden sich in einer Palme auf der anderen Straßenseite, die Schädelkappe lag vor dem Nachbarhaus. (Grafik: L. Fuß/M. Benecke nach Jon Thogmartin)

Nur wenige Schritte vom Toten entfernt befand sich auf der Straße ein merkwürdiger Fleck aus Blut und Gewebe. Sollte der noch lebende (oder schon tote) Mann hier von einem sehr schnell fahrenden Auto erfasst und dann unter den parkenden Transporter geschleudert worden sein? Wohl kaum, denn in dieser Kurve und um diese Zeit raste kein Mensch durch West Palm Beach. Trotzdem musste der Fleck die Stelle sein, an dem starke Gewalt auf den Körper eingewirkt hatte. Komisch war nur, dass das Gewebe nicht wie bei einem Unfall in eine, sondern in alle Richtungen verteilt war. Man hätte meinen können, der Tote sei vom Himmel gefallen.

Doch das konnte ja schlecht sein. Andererseits: Nirgendwo fanden sich blutige Reifenspuren auf dem Asphalt. Auch die Flecken auf der Leiche stellten sich bei näherem Hinsehen nur als Fettanhaftungen, nicht aber als Reifenabdrücke heraus. Diese Leiche war nicht überfahren worden. Doch welche andere Kraft hatte dann das Gehirn bis in die Palme auf der anderen Straßenseite geschleudert? Was konnte eine solche Wucht erzeugen?

Vielleicht eine Bombe? Doch abgesehen davon, dass das Villenviertel ein wenig wahrscheinlicher Ort für einen Fremden wäre, sich in die Luft zu sprengen, gab es auch keine Spuren einer Waffe oder eines Sprengsatzes. Zwischen den verstreuten Gewebeteilen und dem Körper fand sich kaum Blut, das normalerweise sternförmig von der Explosionsquelle wegspritzt.

In der Kleidung des Toten fanden sich ebenfalls nur merkwürdige Dinge: Ein ungeöffnetes Kondom und ein halbes Foto. Sonst nichts. Kein Portemonnaie, keine Ausweise, keine Zettel. Mein Kollege Jon Thogmartin war ratlos.

Am merkwürdigsten war, dass die Leiche auch nach drei Stunden in der Wärme Floridas noch eine deutlich kühle Haut hatte. Die inneren Organe waren hingegen warm! »Das konnte ich direkt fühlen«, berichtete der Chief Medical Examiner auf die Frage, wie er das gemessen habe. »Die Verletzungen waren so umfangreich, dass ich gleich am Fundort in die Körperhöhlen und tiefen Wunden hineinfassen konnte. Der Temperaturunterschied war deutlich zu fühlen.«

Die Leiche wurde rasch weggeschafft. Im Institut für Rechtsmedizin stellte man fest, dass der tote Mann etwa dreißig Jahre alt geworden war und nun wortwörtlich alle Knochen gebrochen hatte: Becken, Wirbelsäule, Rippen, Schulterknochen und der Schädel waren zertrümmert. Die Haut war hingegen erstaunlich intakt: Es fanden sich weder Schürfungen noch Ablederungen, wie sie beim Überfahren eines Menschen auftreten. Die Leber und alle übrigen Organe waren hingegen breiig zermahlen. Gift oder Medikamente hatte der Mann nicht zu sich genommen, bevor er starb.

Bei der weiteren Besichtigung der Leiche fand sich ein Tattoo. Es war wappenförmig und enthielt den Schriftzug »Racing« (Rennen). Dieses eigentümliche Wappen wird von zwei Fußballvereinen benutzt, dem argentinischen Club Atletico Racing in der Stadt Avellaneda und einem Verein in Uruguay. Auf dem halben Foto aus der Kleidung des Toten war damit übereinstimmend eine Person mit Fußballtrikot zu erkennen. Das Kondom war allerdings aus der Dominikanischen Republik, sodass nun drei wirtschaftlich schwache Länder als möglicher Herkunftsort des Toten infrage kamen.

Thogmartin dachte nach. Nach der Regel von Arthur Conan Doyle muss nach Ausschluss aller anderen Möglichkeiten diejenige richtig sein, die übrig bleibt – egal, wie unwahrscheinlich sie ist. Waren nicht während des emergency clean-up mehrere Flugzeuge über den Leichenfundort geflogen? Konnte der Mann unbemerkt aus einem Flugzeug gesprungen sein? Ein Passagierflugzeug kam dafür nicht infrage, denn dort ist es unmöglich, während des Flugs ein Fenster oder eine Tür zu öffnen. Aber auch in einem Frachtflugzeug würde eine solche Handlung nicht unbemerkt bleiben. Und zumindest am nächstgelegenen Flughafen von Miami war von keinem derartigen Vorfall berichtet worden.

Die einzig verbleibende Möglichkeit war, dass der Mann sich im Hohlraum verborgen hatte, in den die Räder des Flugzeugs geklappt werden. Hier ist Platz genug für einen blinden Passagier, der aus einem armen Land ins goldene Florida fliegen möchte. Normalerweise stürzen Menschen, die sich dort verstecken, schon beim Start in die Tiefe, weil sie sich bei dem irren Gerüttel nicht festhalten können. Gelingt es ihnen aber doch durch einen Trick oder durch aus der Not geborene Kräfte, dann fallen sie spätestens beim Landeanflug entkräftet aus der Klappe, die bei größeren Maschinen fast einen halben Kilometer über der Erde geöffnet wird. Zu diesem Zeitpunkt ist ein blinder Passagier aber meist schon tot. Bei Temperaturen um minus fünfundvierzig Grad Celsius und einer Sauerstoffknappheit, die selbst Reinhold Messner nicht überleben könnte, ist das auch kein Wunder. Sollten Sie sich jetzt herausgefordert fühlen, so seien Sie trotzdem gewarnt: Auch mit Polarausrüstung und Sauerstoffflasche werden Sie vermutlich sterben: entweder an der Taucherkrankheit (zu schnelle Dekompression) oder durch Zerquetschen mittels der gewaltigen Hydraulikteile, mit denen die Räder eingeklappt werden.

So erklärte sich also der Leichenfundort mit all seinen Eigentümlichkeiten. Der Mann, der bis heute nicht identifiziert werden konnte, muss sich an irgendeinem kleineren Flughafen in Südamerika in die Räderkammer eines großen Passagierflugzeugs geschmuggelt haben.

Allzu lang kann der Flug nicht gedauert haben, da offenbar nur seine Haut richtig durchgekühlt war, während sein Körperinneres noch ein wenig Wärme halten konnte. Beim Landeanflug auf den Flughafen von Miami war er tot und recht steif gefroren aus der Kammer gestürzt, als der Pilot die Klappen öffnete. Eine Anfrage beim Flughafen bestätigte, dass dies etwa zehn Kilometer vom Airport entfernt geschieht, was mit dem Fundort der Leiche übereinstimmte. Der Körper fiel also ungebremst etwa fünfhundert Meter abwärts, genau in Richtung des wie jeden Morgen proper erwachenden West Palm Beach. »Diese Höhe«, erklärt Thogmartin, »reicht aus, um einen Menschen auf ungefähr zweihundertsechzehn Stundenkilometer zu beschleunigen. Durch diese hohe Geschwindigkeit hatte die Leiche auch die typischen Verletzungen, die bei Stürzen aus großer Höhe – also ab ungefähr zwanzig Metern – entstehen: viele Knochenbrüche und schwerste Organzerstörungen.«

So war es also um den bereits toten Fußballfreund auf dem Boden bestellt: Außen gefroren, innen noch halb warm, schlug er mit hoher Geschwindigkeit auf. Das war der Knall, den der Anwohner um sechs Uhr früh gehört hatte. Der Körper wurde auf dem Straßenbelag zerschmettert und dann – nun schon in Stücke zerlegt – in die Luft zurückgeworfen. Dabei wurden das Gehirn und andere Gewebeteile zerfetzt und verteilten sich vom Aufprallort aus in verschiedene Richtungen.

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Abb. 55: Abgesplitterte Teile des Schädelknochens hatten eine derartige Beschleunigung, dass sie sogar kleine Krater in den Asphalt schlugen. (Foto: Jon Thogmartin)

Dass der Körper zuletzt halb unter der Stoßstange des Transporters lag, war reiner Zufall. Sowohl der Aufschlagspunkt als auch die Endlage der Leiche hätten ebenso gut nur wenige Meter entfernt im Schlaf- oder Wohnzimmer der entsetzten Anwohner liegen können. Dass die Wucht des Aufschlags gereicht hätte, um die in den warmen Gegenden der USA meist recht leicht gebauten Wände oder Dächer zu durchschlagen, zeigt eine letzte Beobachtung des Chief Medical Examiners: An mehreren Stellen fanden sich im Asphalt kleine Krater.

Sie enthielten kein Blut, ringsherum waren aber feine Blutspritzer zu erkennen, die von den kleinen Löchern wegführten. »Ich kann mir das nur so erklären«, sagt Thogmartin, »dass noch während des Aufschlags Knochenstückchen, wohl vom Schädel, abgesprungen sind. Sie waren noch so hoch beschleunigt, dass ihre Wucht genügte, um Löcher in den Asphalt zu schlagen.«

Zwei Tote, kein Schuss

Nicht nur Flugzeuge und deren Passagiere, sondern auch Schusswaffen können manchmal ein scheinbares Eigenleben entwickeln. Das gilt natürlich besonders für Gegenden, in denen sie weit verbreitet sind, beispielsweise in den USA. Dort werden jedes Jahr bis zu tausend Menschen unbeabsichtigt erschossen. Zum Vergleich: In Deutschland finden pro Jahr etwa vierhundert vorsätzliche Tötungen statt. Grob gesprochen, sterben in den USA also pro Kopf fast so viele Menschen durch unabsichtlich ausgelöste Schüsse, wie Personen in Deutschland mit Absicht auf irgendeine Weise (Stiche, Hiebe, Schüsse usw.) ermordet werden.

Das liegt nicht nur an den bekanntlich klugen Kindern, die recht schnell den Schlüssel zum Waffenschrank ausfindig machen, sondern auch an Waffen selbst, die so unterschiedlich funktionieren, dass es durch Fehlbedienung leicht zu den verrücktesten Erschießungen kommen kann. Beispielsweise genügt es bei einigen Waffen schon, dass sie herunterfallen, damit sich ein Schuss löst.

Unser Fall begann damit, dass ein Vater mit seinem schon sechsundzwanzig Jahre alten Sohn im Bundesstaat New Mexico im Freien schießen übte. Seine großkalibrige Ruger war daher geladen. Als er sie zur Seite legen wollte, versuchte er, den Hahn aus der gespannten Position in die Ruheposition zu drücken. Dabei löste sich ein Schuss, der nicht nur seine Hand durchschlug, sondern auch die große Baucharterie seines Sohnes traf. Der Sohn wurde schon in der Notaufnahme des Krankenhauses für tot erklärt.

Der Vater, der also seinen eigenen Sohn erschossen hatte, entschied sich, das Unglücksgerät an den Cousin des Sohnes weiterzugeben. Der freute sich und steckte die Waffe in einen offenen Halfter am Gürtel – Cowboy-Stil.

Drei Jahre später fiel dem Cousin die Waffe aus dem Hüftgurt, und es löste sich – erneut ohne erkennbaren Grund – wieder ein Schuss. Der durchschlug aber nur eine Fensterscheibe. Also lud er die Ruger erneut und steckte sie dahin, wo sie hingehörte: an seinen Gürtel. Nur wenige Wochen später, als er gerade in seinen Pick-up einsteigen wollte, entglitt ihm der Revolver erneut. Wieder löste sich ein Schuss, und nun traf er mitten in den Körper – dieses Mal in die Leistengegend des Besitzers. Dabei wurde eine große Vene getroffen. So verstarb auch der Cousin durch einen Schuss aus einer Waffe, die er nicht einmal in der Hand gehalten hatte.

Der Grund für die Unfälle war das altertümliche Design der Waffe. Die verwendete Ruger Blackhawk ähnelt sehr stark den aus Westernfilmen bekannten Armeerevolvern aus dem 19. Jahrhundert. Damals war allerdings bekannt, dass die Waffe ein Eigenleben hatte. Daher lud man häufig nur fünf der sechs Walzenkammern mit Patronen. So eingestellt konnte kein Schuss unbeabsichtigt ausgelöst werden. Denn wo keine Patrone ist, kann auch nichts schießen.

In derartigen Revolvern sitzt der Auslösestift direkt im Rahmen der Waffe. Fällt der Revolver herunter oder wird der Hahn beziehungsweise Daumengriff sonst wie gegen den Stift geschoben, löst sich bei geladener Waffe manchmal ein Schuss. Das ist zwar nicht so vorgesehen, scheint aber auch niemanden wirklich zu bekümmern. Sogar der Originalrevolver der Firma Colt, also das »Wildwestmodell«, ist bis heute in den USA erhältlich – und zwar nicht als Spielzeug oder Ausstellungsstück, sondern als funktionierende Waffe.

Für uns Europäer ist es kaum nachvollziehbar, dass es noch Waffen gibt, bei denen der Hahn nach Benutzung mit dem Daumen in seine Ruheposition geschoben werden muss. Es ist also abzusehen, dass sich dabei, wenn man abrutscht, ein Schuss lösen muss. Befolgt man die erste Schusswaffen-Regel – die Mündung niemals auf jemand anders außer ein gewolltes Ziel richten –, dann kann natürlich nichts passieren – außer Unfällen. Die Firma Smith & Wesson baut als eine der wenigen seit dem Jahr 2000 grundsätzlich eine Sperre in die Waffen. Die meisten anderen Firmen verweisen darauf, dass man eben besser aufpassen soll. O-Ton: »Aber das gilt ja wohl für alle Werkzeuge.«

Ein Toter, sieben Schüsse

Es geht auch andersherum: Nicht eine Waffe tötet zwei Menschen im Verlauf von drei Jahren (wie im vorigen Fall), sondern ein einzelner unbewaffneter, harmloser Mann wird von einem Fremden erschossen – allerdings von neun Projektilen, die in nur zwei Sekunden abgefeuert werden. Das Ganze spielt auf einer Halloween-Feier, und der Schütze ist Polizist. Welcher der beiden Tötungsfälle unwahrscheinlicher ist, lässt sich schwer sagen. Immerhin gab es im folgenden Fall eine Untersuchung, die zumindest mir bislang Unbekanntes erbrachte: Manche Menschen können tatsächlich fast so schnell schießen wie ihr Schatten. Nachdem ich davon zum ersten Mal auf der Jahrestagung der US-Forensiker hörte, besorgte ich mir eine Spielzeugpistole (ich habe noch nie in meinem Leben eine echte Schusswaffe in der Hand gehabt) und versuchte, den Fall nachzustellen – vergeblich. Das lag aber nicht daran, dass der geschilderte Ablauf unmöglich ist, sondern eher daran, dass ich eben nicht schnell genug bin.

Halloween, Drogen und Rock ’n’ Roll

Anthony Lee war ein Schauspieler aus der vierten Reihe Hollywoods. Er hatte aber immerhin bei einigen Filmchen und Serien – darunter auch einmal bei der Polizeiserie LAPD Blues – mitgewirkt. Am Freitagabend vor Halloween besuchte er gut gelaunt eine Gruselparty im schicken Viertel Benedict Canyon in West Los Angeles. Das Haus, in dem die Party stattfand, wurde von den Gästen als »The Castle« bezeichnet. Für deutsche Verhältnisse wirkt es wie ein typisches Bauwerk eines Neureichen. Entsprechend gestaltete sich die Party: laute Musik, teilweise professionell kostümierte Gäste, Alkohol, Kokain und Ecstasy – eben ein Fest unter Freigeistern in Los Angeles.

Obwohl die Nachbarn Bescheid wussten, dass es »ein bisschen« lauter werden könnte, riss ihnen schon um kurz vor zehn das erste Mal der Geduldsfaden. Das Problem war weniger die Musik, sondern die Partygäste, die in Gruppen auf der Straße standen beziehungsweise dort hin und her liefen und Radau machten. Obwohl offiziell eine Streife damit beauftragt wurde, den Krach zu beenden, kümmerte sie sich natürlich nicht darum. Die offizielle Begründung, es sei »zu viel zu tun«, ist in Los Angeles auch vollkommen glaubwürdig. Um 23.53 Uhr ging allerdings der nächste Anruf ein, und um halb ein Uhr nachts erschienen endlich der Polizist Tarriel Hopper und die Polizistin Natalie Humphreys im Yoakum Drive Nummer 9720.

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Abb. 56: In diesem nachgebauten Schlösschen in West Los Angeles wurde der Schauspieler Anthony Lee bei einer Halloween-Party erschossen – von einem Polizisten, der fast so schnell schießt wie sein Schatten. (Foto: AP/Damian Dovarganes)

Am Eingang fragten sie nach den Partyveranstaltern, doch wusste niemand, wo sie waren. Es hätte allerdings auch niemand gesagt. Denn das Verhältnis zur Polizei ist unter »Freigeistern« in Los Angeles oft gespannt, da das LAPD seinerzeit den Ruf hatte, unnötig hart durchzugreifen und zudem Frauen und dunkelhäutige Menschen schlechter zu behandeln als andere. Abgesehen davon war die Stimmung bereits auf einem hohen Fröhlichkeitsniveau angekommen.

Nachdem die Polizisten weitere Gäste angesprochen und immer nur dumme oder unbrauchbare Antworten erhalten hatten, wollte nun auch noch der Security-Mann der Party die beiden warten lassen. Darauf hatten die Polizisten allerdings keine Lust. Es gab Wichtigeres als den Partylärm einer angeheiterten Menge und deren spießige Nachbarn.

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Abb. 57: In diesem engen Gang traf der Polizist Tarriel Hopper eine allzu schnelle Entscheidung. Das Ergebnis war ein toter Partygast. (Foto: District Attorney, County of Los Angeles, Justice System Integrity Division)

Um das Ganze zu beschleunigen, gingen sie einfach um das Haus herum und schauten, was sich auf der Rückseite tat. Dabei gelangten sie in einen recht engen Gang, auf dessen linker Seite sich ein Fenster befand. Es führte zu einem Schlafzimmer, in dem drei Menschen standen. Neben dem Fenster befand sich eine Tür. Vor dem Fenster stand ein Mann und linste hindurch. Doch als Tarriel Hopper ebenfalls durch das Glas schaute, ging auf einmal alles sehr schnell – verdammt schnell sogar.

Polizist Hopper hatte seine Minitaschenlampe angedreht, da man in dem Raum fast nichts sehen konnte – es brannte nur eine funzelige Lampe darin. Die drei verkleideten Menschen im Schlafzimmer schienen sich beim Anblick der Lampe und des Polizisten fürchterlich zu erschrecken. Einer von ihnen hob sofort die Arme, wich einen Schritt zurück und blieb so stehen. Allerdings ließ er seine rechte Hand geschlossen – darin hatte er wohl Drogen, die gerade den Besitzer wechselten oder wechseln sollten. Ein zweiter Mann war weniger geistesgegenwärtig. Es war der oben erwähnte Schauspieler Anthony Lee, an diesem Abend eine eindrucksvolle Erscheinung: einen Meter einundneunzig groß, hundertdreiunddreißig Kilo schwer, bekleidet mit einem schwarzen Kapuzenpullover, einer nach oben gezogenen Teufelsmaske sowie schwarzen Stiefeln. Was in den folgenden Sekunden passierte, beschrieb Polizist Hopper kurz darauf selbst:

»Der Mann schaute durch die Glastür in meine Richtung und sah mir in die Augen. Im selben Moment griff er mit seiner rechten Hand nach einer blauen Halbautomatik-Pistole aus Metall. Ich musste annehmen, dass er auf mich schießen wollte, da er nun auch noch auf mich zielte. Ich zog also meine Dienstwaffe. Die Mündung seiner Pistole zeigte die ganze Zeit auf mich. Während ich schoss, ging ich einen Schritt zurück, um mich in Deckung zu bringen. Da bemerkte ich, dass ich meine Waffe leer geschossen hatte.«

Hopper war aber noch nicht fertig. Er ließ das alte Magazin aus der Waffe fallen und schob ein neues ein. Erst jetzt bemerkte er, dass der Mann mit der Teufelsmaske auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte. Trotzdem setzte Hopper über Funkgerät und Handy je einen Notruf ab. Allerdings nahm diesen niemand entgegen – immer noch »zu viel zu tun« und zudem kein Empfang. Hopper wollte dem Schauspieler nun Handschellen anlegen, doch das erübrigte sich. Vier Projektile hatten ihn in Rücken, Bauch und Kopf getroffen, fünf weitere steckten in der Wand. Es war kein Puls mehr zu fühlen, die Hörner der Teufelsmaske waren beim Sturz abgebrochen. Daneben lag die Pistole. Sie war aus Gummi.

Wenigstens hatten die Polizisten nun einen der Partyveranstalter aufgetrieben. Er stand neben der Leiche und war der eigentliche Bewohner des Schlafzimmers. Bevor die Rettungssanitäter eintrafen, die per Festnetz verständigt worden waren, wurde er aus seinem Zimmer gescheucht. Was genau geschehen war, hatte er nicht mitbekommen, obwohl er sich im selben Raum wie der nun tote Schauspieler befunden hatte. Das lag an den vier Cocktails, die er sich nach eigener Aussage in der Stunde zuvor genehmigt hatte.

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Abb. 58: Die Schüsse durchschlugen den Körper des Partygastes und sind in der Wand, markiert durch Buchstaben-Kärtchen, noch gut zu erkennen. Der Polizist schoss tatsächlich fast schneller als sein Schatten, wie auch Tests mit ihm später ergaben. (Foto: District Attorney, County of Los Angeles, Justice System Integrity Division)

Über eines waren sich alle Augenzeugen des Ereignisses allerdings einig: Lee hatte seine Gummipistole gezogen – und sie sah einer echten Waffe (einer israelischen »Desert Eagle«-Magnum) verdammt ähnlich. Der Schauspieler hatte sie wohl von einem Filmset ausgeliehen. Auch Hoppers Kollegin und ein Mann, der aus dem Gang ins Zimmer geschaut hatte, bestätigten diesen Ablauf: Lee hatte entgegen jeder Vernunft eine Waffe gegen einen Polizisten gerichtet – und das in einem Land, in dem die Polizei zurückschießen muss, da sehr viele Menschen tatsächlich eine Schusswaffe besitzen.

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Abb. 59: Die aus Gummi täuschend nachgebildete Pistole des Schauspielers Anthony Lee (links oben) und das Vorbild, eine echte »Desert Eagle«-Magnum (links unten). Rechts: die Schusslöcher, erzeugt von den Projektilen, welche die Halloween-Party und das Leben von Lee beendeten. (Foto: District Attorney, County of Los Angeles, Justice System Integrity Division)

Erste Zweifel

»Ich verstehe das nicht«, gab der Theaterautor Mitch Hale – noch deutlich unter Schock – zu Protokoll. Er hatte Anthony Lee bei einer gemeinsamen Produktion kennengelernt. »Anthony war Buddhist, er hasste Gewalt. Wie konnte er da bei einer Schießerei sterben? Er war ein wirklich begabter Schauspieler und ein guter Mensch noch dazu. Es ist niederschmetternd. Wie kann man jemanden auf einer Halloween-Party erschießen?«

Genauer gesagt hätte die Frage lauten müssen: Wie konnte jemand auf einer Halloween-Party drei Schüsse in den Rücken und einen in den Hinterkopf erhalten, der dem Schießenden dabei in die Augen gesehen hatte? Doch diese Details wurden von der Polizei noch einige Tage zurückgehalten. Kein Wunder, denn sofort wurde die Frage nach ethnischen Ungleichbehandlungen laut. Anthony Lee war dunkelhäutig, und schnell meldete sich eine Bekannte des Schauspielers mit dem im Nachhinein prophetischen Hinweis, das »Anthonys größte Angst im Leben war, eines Tages von Polizisten erschossen zu werden, nur weil er ein großer, schwarzer Mann ist«.

Andere Freunde von Lee gingen sogar noch weiter. Sein Nachbar, mit dem der Schauspieler seit dreizehn Jahren befreundet war, sagte, dass Lee »mit absoluter Sicherheit« niemals auf irgendjemanden gezielt hätte. Auch der Besitzer des »Schlosses« war verwirrt: »Verstehe ich alles nicht. Wenn Anthony wirklich auf den Polizisten gezielt hat, wieso hat der sich nicht einfach geduckt?«

Ganz so einfach war es wohl nicht. Aber hatte sich Hopper vielleicht trotzdem von Vorurteilen leiten lassen, fühlte er sich vielleicht in dem schmalen Gang in die Ecke gedrängt? Für die Freunde von Anthony Lee war die Sache klar. Sie ließen sich von Gefühlen leiten und erklärten der Presse: »Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass ein Polizist auf so einer Feier drauflosballert. Das war eine ganz exklusive Veranstaltung mit zwei Sicherheitsleuten. Manche der Gäste verdienen im Jahr sechsstellige Summen, und da kommt dieser Polizist und schießt, nur weil jemand eine Spielzeugpistole bei einer Kostümparty trägt!«

Doch warum hatte Lee überhaupt die (Gummi-)Waffe gezogen? Vielleicht glaubte er, dass der siebenundzwanzigjährige Tarriel Hopper ein Gast war, der sich als Polizist verkleidet hatte. Lee hatte daher wohl wirklich auf Hopper gezielt – aber nur, um ein gespieltes Gefecht mit einem anderen Gast anzuzetteln, wie es Kinder und ausgelassene Menschen eben tun.

Die Frage, wie echt seine Gummiwaffe dabei aussah, stellte sich schon bald nicht mehr. Auf der Suche nach dem Hersteller zeigte sich, dass es sich um eine wirklich perfekte Kopie handelte. Der Lieferant berichtete, dass eine derartige Ausstattung nur für Filme verwendet wird. Bei Spielfilmgefechten tauscht man sie gegen die teuren, echten Theaterwaffen aus, damit diese nicht beschädigt werden. Deshalb müssen die Gummirevolver bis ins kleinste Detail so wie das Original aussehen. Das tun sie auch: Es handelt sich um Abgüsse der Originalwaffen. Jeder einzelne Gummihebel liegt daher genau dort, wo er sich auch an der echten Pistole befindet.

Das sah auch der Chef des LAPD so. »Es war ein tragisches Ereignis«, sagte er, »und ich spreche den Angehörigen des Toten mein tiefes Mitgefühl aus. Aber wenn jemand mit einer Polizeiuniform, einem Polizeiwagen und einem Polizeiabzeichen vor Ihnen steht, sollte die Situation klar sein. Sie müssen verstehen, dass wir – egal, ob bei einem Raubüberfall, im normalen Streifendienst oder einer Halloween-Party – nicht immer erst prüfen können, ob es sich um nachgemachte oder echte Waffen handelt.«

Damit hatte er sicher recht. Ein Problem blieb aber: Wie konnte ein Polizist einen Menschen, der mit dem Gesicht zu ihm stand, vier Kugeln in Rücken und Kopf jagen, und wie konnte das Opfer dabei auch noch stehen bleiben?

Ein Taktiker übernimmt

Die Familie von Anthony Lee nahm sich also einen Anwalt. Nicht irgendeinen, sondern Johnnie L. Cochran, gefürchtet wegen seiner zwar oft theaterhaften, aber auf die Jury wirksamen Taktik und ein steter Kämpfer für die Rechte dunkelhäutiger Menschen – unabhängig davon, ob sie Täter oder Opfer sind. In Deutschland wurde er vor allem durch die Verteidigung O. J. Simpsons bekannt. Dort hatte er sehr clever von den eindeutigen Tatortspuren abgelenkt und sich auf die Frage konzentriert, ob nicht einem schwarzen Mann von einem bekanntermaßen rassistischen weißen Polizisten des LAPD Unrecht getan worden war. Das hatte mit dem Fall zwar wenig zu tun, bewirkte im ersten Gerichtsverfahren aber immerhin einen Freispruch für den Sportler (vgl. M. Benecke, Mordmethoden, S. 264–283).

Cochran nahm sich nun der Sache an. Im Dezember reichte er seine Klage auf Zahlung von hundert Millionen Dollar gegen die Stadt Los Angeles ein. Solche Klagen sind bei Anwälten sehr beliebt, da die Städte deep pockets (tiefe Taschen mit viel Geld) haben. Das heißt, dass man von ihnen hohe Summen fordern – und manchmal auch erhalten – kann, weil es ja aus Steuergeldern bezahlt wird. Der Vorwurf lautete auf grobe Fahrlässigkeit und stützte sich vor allem darauf, dass kein Mensch derart viele Schüsse abgeben kann, besonders nicht mit einer Flugkurve, die um den Körper des Opfers herumläuft. »Ich sage nicht«, erklärte Cochran, »dass Hopper sich schon beim morgendlichen Aufstehen vorgenommen hat, jemanden zu erschießen. Aber er handelte fahrlässig und beachtete die polizeilichen Grundregeln nicht. Merkwürdig finde ich vor allem, dass das LAPD auch noch der Meinung ist, dass er so gehandelt haben soll, wie es in dieser Situation angemessen war.«

Im April 2002, also etwa eineinhalb Jahre nach der Erschießung, entschied die Staatsanwaltschaft in Los Angeles, Hopper nicht anzuklagen. »Das Ganze geschah so schnell, dass Hopper durchaus Angst um sein Leben haben musste«, hieß es in der Begründung. »Und er hatte nur einen Sekundenbruchteil, um sich zu überlegen, was er tun sollte. Da entschied er sich, seine Waffe zu ziehen und abzudrücken.«

Das sahen Cochran und die Schwester des Toten allerdings anders. »Die Polizisten haben sich doch selbst in Gefahr gebracht«, erklärten sie. »Und ob Anthony Lee gezielt hat oder nicht, weiß auch niemand. Der Fall erinnert an den der obdachlosen, psychisch kranken Frau, die hier im selben Jahr von einem Polizisten erschossen wurde, nur weil sie mit einem Schraubenzieher auf ihn losging.«

Das Hin und Her führte im Februar 2003 zu folgendem Ergebnis: Hopper wurde nicht angeklagt, sondern in den Innendienst versetzt, und Cochran konnte aus dem Stadtbudget immerhin noch 225 000 Dollar für sich und die Familie loseisen. Trotz der für die USA vergleichsweise niedrigen Summe redeten die Anwälte das Ergebnis schön: »Wenn die Stadt Los Angeles nicht der Meinung wäre, dass Hopper etwas falsch gemacht hätte, dann hätte sie auch nicht gezahlt.« Damit war der Fall juristisch erledigt.

Derweil fragten sich die Forensiker noch immer, wie um alles in der Welt die Lage und Anzahl der Schüsse zu erklären war. Diese zumindest für uns alles entscheidende Frage war, ganz im Stil der rein politischen Auseinandersetzung, unter den Tisch gefallen. Erst im Juli 2003 erfuhren wir die Auflösung. Sie entzieht sich dem gesunden Menschenverstand, wenn man die Experimente nicht mit eigenen Augen sieht.

Tom Streed, ein ehemaliger Ermittler, und die Firma Biodynamics Engineering ließen Hopper antreten und stellten die gesamte Szene nach. Sie gaben Hopper jeweils ein Signal und ließen ihn daraufhin auf ein Ziel schießen. Das Ganze wurde mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgezeichnet. Dabei zeigte sich zur Überraschung aller, dass Hopper höchstens 2,293 Sekunden brauchte, um die Waffe zu ziehen, zu zielen und alle neun Kugeln abzuschießen. In einem der fünf Versuche schaffte er sogar die unvorstellbare Zeit von 1,826 Sekunden für den gesamten Ablauf. Es war also kein Wunder, dass Lee noch im Stehen mehrmals getroffen worden war. Als er erkannte, dass der Polizist echt und alles kein Halloween-Spaß war, hatte er sich zwar noch blitzschnell weggedreht. Doch Hopper hatte ihn schon im Visier und schoss das Magazin in einem Durchgang leer. Sehen konnte er dabei nur wenig, da er durch die berstenden Glasscheiben schoss. Dass Hopper nicht mehr auf den fallenden Lee zielte, erkennt man in Abb. 58. Die Projektile stecken alle auf Höhe des Oberkörpers in der Wand.

Besonders erstaunlich ist die Schussgeschwindigkeit auch noch aus einem anderen Grund. »Eigentlich gibt man erst einmal zwei oder drei Projektile ab«, erklärte Ermittler Streed, »und dann überlegt man, was weiter zu tun ist.« Dass Hopper genau das nicht tat, lag vielleicht daran, dass er einerseits erst seit drei Jahren Polizist war, andererseits wohl wirklich kaum etwas sehen konnte und daher mit so vielen Schüssen wie möglich auf Nummer sicher gehen wollte.

»Polizist Hopper hat in Abwehr von Gefahr, die gegen ihn und andere gerichtet war, gehandelt, als er Anthony Dwayne Lee erschoss«, fassen die Staatsanwälte es noch einmal zusammen. »Wir schließen daher die Akte und werden keine weiteren Maßnahmen ergreifen. Hochachtungsvoll – Der stellvertretende Staatsanwalt.«

Epilog

Der Todesschütze wurde in den polizeilichen Innendienst versetzt. »Disziplinarische Gründe gab es dafür aber nicht«, meldete das LAPD vorsorglich.

Unregelmäßigkeiten im Polizeirevier gab es aber weiterhin. Im Jahr 2001 flog beispielsweise Rafael Perez, einer von Hoppers Kollegen, auf. Er hatte sichergestelltes Kokain aus dem Beweisraum des LAPD gestohlen. Als er daraufhin eine von der Presse als »lächerlich niedrig« bezeichnete Haftstrafe von drei Jahren antrat, begann Perez zu plaudern. Er belastete über siebzig weitere Polizisten, die unschuldigen Menschen Beweise untergeschoben, sie angeschossen und/oder festgenommen hatten. Daraufhin mussten die Gerichte über hundert Kriminalfälle neu aufrollen. Dieses Mal wurden die deep pockets der Stadt Los Angeles wirklich beansprucht: Es wurden mehrere Millionen Dollar als Entschädigungen für die angeblich Überführten fällig.

Es blieb allerdings bei der Entscheidung, dass sowohl Hopper als auch der Polizist, der die geistig kranke Person erschossen hatte, »rechtens und in Übereinstimmung mit den Vorschriften« gehandelt hatten. Das Misstrauen von Lees Angehörigen gegenüber der Polizei war angesichts solcher Wirrungen durchaus verständlich.

Der Schauspieler hatte Partys und Partydrogen gemocht und war ein großer, schwerer, dunkelhäutiger Mann gewesen, der einem ängstlichen Menschen vielleicht Furcht einflößen konnte. Trotzdem war Anthony Lee völlig harmlos. Getötet hatten ihn weniger die Vorurteile, die ein einfältiger Mensch gegen ihn gehabt haben mochte, sondern der Halloween-Suff, sein Dummejungenstreich mit einer entliehenen Gummiwaffe – und der schnellste Schütze des LAPD, der an diesem Abend für alle Beteiligten unglücklicherweise am friedlichen Yoakum Drive in West Los Angeles Streifendienst schob.

Ein unmöglicher Verkehrsunfall

Der folgende Fall, den Erich Fritz im Jahr 1939 schilderte, zeigt, dass auch scheinbar »perfekte« Morde nicht nur durch Zufall, sondern auch durch Hartnäckigkeit, Sachbeweise und eine Portion Fingerspitzengefühl aufgeklärt werden können. Wie schon angedeutet, scheint dieses Thema viele Menschen zu faszinieren, zumindest werde ich sehr oft danach gefragt. Daher also noch einmal meine Mahnung: Perfekte Morde werden von Fachleuten durchgeführt, nämlich von Auftragskillern. Laien sollten sich nicht auf ihr Glück verlassen und stattdessen lieber eine unblutige Lösung ihres Anliegens angehen. Erstens ist das besser für die karmischen Schwingungen, und zweitens weiß man nie, ob die Tat nicht doch auffliegt. Damit zum Fall, wie er von Erich Fritz in der Zeitschrift für die gesamte Gerichtliche Medizin (Bd. 31, 1939, S. 162–173) dargestellt wurde:

»Beabsichtigte Verschleierungen eines Verbrechens durch mehr oder weniger geschickte Vortäuschung eines Unfalls oder Selbstmordes gehören nach gerichtsmedizinischer Erfahrung keineswegs zu den größten Seltenheiten. Nahezu jedem Gerichtsarzt mit größerer Leichentätigkeit dürften solche, allerdings etwas ausgefallenen Fälle untergekommen sein. Vor allem finden wir Vortäuschungen bei erhängten oder im Wasser aufgefundenen Leichen und bei Eisenbahnüberfahrungen, insbesondere wiederum am häufigsten bei Schwangeren, wenn sich der Schwängerer der Alimentenzahlung entziehen will und dabei mit dem Kind auch gleichzeitig die Mutter opfert.

Bei Auffindung von Leichen mit geringen oder groben Verletzungen ist daher stets die Leichenöffnung zu fordern, da durch die äußere Besichtigung allein nur in den allerseltensten Fällen beziehungsweise niemals – wie jeder Erfahrene weiß – die Todesursache festgestellt werden kann. Abgesehen von plötzlichen Todesfällen aus natürlicher Ursache erleben wir es nur allzu häufig, besonders bei Jugendlichen, dass trotz Einwirkung schwerster Gewalten die äußeren Hautbedeckungen nahezu unbeschädigt sind, während die inneren Organe umfängliche Zerreißungen aufweisen.

So konnte zum Beispiel in einem Falle ein wegen der Haltung und Lage der Leiche vermutetes Verbrechen erst durch die Leichenöffnung als reiner Verkehrsunfall geklärt werden: Eine weibliche Leiche wurde mitten auf der Straße aufgefunden, mit gespreizten, in den Knien gebeugten Beinen, die Kleider weit nach oben gerutscht, die Geschlechtsteile vollkommen entblößt. Die Stellung musste zuerst auf ein Sexualdelikt hinweisen, doch deutete eine Reihe von Abschürfungen und die nachher festgestellten schweren inneren Verletzungen auf einen reinen Verkehrsunfall hin.

Noch viel schwieriger zu beurteilen sind Verschleierungen von Verbrechen mit nachfolgendem Herabstürzen der Opfer aus der Höhe, insbesondere im Gebirge, oder durch Zugüberfahrung. Da die durch die Verletzungs- oder Tötungsabsicht gesetzten Verletzungen in den nachträglichen umfänglichen Zertrümmerungen und Gewebszerreißungen sehr häufig mit einbezogen sind, werden sie gelegentlich nicht weiter beachtet, da sie durch die meist mehrfachen und groben Gewalteinwirkungen ihre Erklärung finden oder aber letzten Endes überhaupt übersehen werden.

Im Gegensatz zu diesen Mordverschleierungen sind vorsätzliche und mit Überlegung ausgeführte Tötungen unter nachträglicher Vortäuschung eines Verkehrsunfalls auf der Straße doch etwas ganz außerordentlich Seltenes.

Einem Zeitungsbericht konnte ich entnehmen, dass im Allgäu ein Fahrradunglück als Mordversuch an der Geliebten aufgeklärt wurde, doch war es mir bis jetzt noch nicht möglich, die diesbezüglichen staatsanwaltschaftlichen Akten zur Einsichtnahme zu erhalten. Nach dem Bericht wurde die Frau am Rand einer wenig befahrenen Landstraße neben ihrem Fahrrad schwer verletzt, in bewusstlosem Zustand aufgefunden. Den Umständen nach musste zuerst mit einem Sturz vom Fahrrad gerechnet werden, doch ergab die weitere Untersuchung, dass die schwangere Frau vom Vater [des Kindes; M. B.] unter dem Vorwand, sie dem Arzt zuzuführen, an die einsame Stelle gelockt wurde, wo er ihr mit der Fahrradpumpe zweimal so heftig auf den Kopf schlug, dass sie zusammenbrach. Darauf demolierte er das Fahrrad der Frau derart, dass man annehmen konnte, die Beschädigungen rührten von einem Sturz her.

Einen in gewisser Beziehung ähnlichen Fall, der gleichfalls vorerst von den Sachbearbeitern als reiner Verkehrsunfall bewertet wurde und erst durch die nachträglich aufgrund der Exhumierung durchgeführte Leichenöffnung als Mordfall durch Erschießen geklärt werden konnte, hatte ich während meiner Assistentenzeit in Münster zu beobachten und zu begutachten Gelegenheit. Wegen seiner besonderen Umstände und der äußerst raffiniert ausgeführten Tat und Tatverschleierung, nicht aber zuletzt wegen der gleichfalls unzulänglichen ersten Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sachverständigen scheint mir der Fall auch im Hinblick auf die Seltenheit derartiger Verkehrsunfallvortäuschungen der eingehenden Mitteilung wert.

Nach dem ersten Gendarmeriebericht wurde am 24. November 1936 gegen neunzehn Uhr auf einer nicht sehr verkehrsreichen, etwas abschüssigen Straße eine weibliche Leiche aufgefunden. Sie lag schräg mit dem Kopf gegen den Straßenrand, mit den Beinen gegen die Straßenmitte zu, mehr auf der rechten Seite. Drei Meter von der Leiche entfernt, fand sich ein Damenrad, dessen Vorderrad einen Achter aufwies und auf dessen Speichen Blutspritzer und Blut- und Erdauflagerungen zu sehen waren.

Von den die Straße umsäumenden Prellsteinen zeigte der gegenüber der Leiche eingerammte knapp oberhalb des Bodens deutliche Blutspritzer, die aber eine deutliche Spritzrichtung von unten nach oben aufwiesen. Der in der Fahrtrichtung nächstfolgende Prellstein fehlte und lag etwa drei Meter entfernt im Dorngebüsch der Böschung. Er wies an zwei Seiten Blutflecken auf, von denen es den Anschein hatte, als wäre das Blut aufgeschmiert. Auf der schwarzen Wollmütze sowie im Kopfhaar der Leiche und in nächster Umgebung des Kopfes waren weiße Kalkplättchen zu sehen und am Boden um den Kopf herum eine größere Blutlache.

Bei seiner ersten Einvernahme gab der Ehemann an, er sei seit etwa neun Jahren verheiratet und habe zwei Kinder. Irgendwelche Differenzen in der Ehe seien nicht vorgekommen, außer kleinen Zänkereien, die in jeder Ehe zu verzeichnen wären. Am 24. November gegen dreizehn Uhr seien er und seine Frau mit den Fahrrädern von zu Hause weggefahren, um Hagebutten zu suchen. Gegen sechzehn Uhr dreißig seien sie zur Heimfahrt aufgebrochen. Am Ausgang des Dorfes L. habe er seiner Frau noch zugerufen – es herrschte zu dieser Zeit starker Nebel –, ob sie wohl komme, worauf seine Frau geantwortet habe: ›Ja, fahre nur zu!‹ Sie seien nämlich übereingekommen, dass er vorausfahren solle, um noch den Gerichtsvollzieher in S. aufzusuchen. Er sei dann auch vorausgefahren und habe seit dieser Zeit von seiner Frau nichts mehr gesehen und nichts mehr gehört, insbesondere auch keinen Schrei und kein Geräusch, die auf einen Zusammenstoß hindeuten konnten.

Zu Hause angekommen, habe er mit seinen Kindern die Hagebutten ausgesucht. Warum er nicht sogleich zum Gerichtsvollzieher gegangen sei, könne er nicht erklären. Auf die Frage der Kinder, wo denn die Mutter sei, habe er geantwortet, dass sie gleich nachkommen werde. Als sie nun doch längere Zeit nicht erschien, habe er beschlossen, seiner Frau entgegenzufahren.

Unterwegs habe er mehrere Kraftwagen angehalten und gefragt, ob sie nicht eine Frau gesehen hätten, worauf ihm ein Bekannter zurief, eine Frau liege da oben, aber es sei nicht so schlimm. Mit dem Ausruf: ›Es wird doch nicht etwa meine Frau sein!‹ sei er weitergefahren und habe dann seine Frau in der bereits geschilderten Lage aufgefunden. An die Leiche selbst sei er von den anwesenden Leuten nicht mehr gelassen worden, da es hieß, es müsse erst die Kommission kommen. Er habe keine Erklärung dafür, wie der Unfall geschehen sein konnte. Das zerstörte Fahrrad deute seines Erachtens darauf hin, dass die Frau von einem Kraftwagen überfahren worden sei. Wenn ihm vorgehalten werde, dass er trotz des Nebels seine Frau zurückgelassen hätte, so müsse er sagen, dass seine Frau immer sehr vorsichtig gefahren sei. Er selbst habe eine elektrische Beleuchtung an seinem Rad, seine Frau sei ohne Licht gefahren.

Der Ehemann wurde vorerst wegen dieses doch von vornherein recht merkwürdigen Verhaltens in Untersuchungshaft genommen, jedoch schon nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß gestellt, da sich Blutspuren an seinen Kleidungsstücken nicht nachweisen ließen.

Auf Ersuchen des Untersuchungsrichters, insbesondere aus dem Umstand, dass die Todesursache nicht sicher feststand, wurde die Mordkommission mit der weiteren Untersuchung des Falles beauftragt. Die Leiche war bereits in die Leichenkammer überführt. Die Bekleidungsstücke wiesen keinerlei Beschädigung auf, waren auch nicht beschmutzt, lediglich ein Handschuh zeigte Straßenbeschmierungen.

Nach Entkleiden der Leiche und Waschen derselben zeigte der Körper keinerlei Verletzungen oder Schürfungen. Lediglich am Kopf fand sich eine Reihe von Verletzungen: an der rechten Kopfseite eine zehn Zentimeter lange und breit klaffende, fetzige Wunde im Haarbereich, unter welcher der Knochen mehrfach gebrochen und gegen das Schädelinnere zu eingedrückt war. Zudem fanden sich am Haarwirbel eine kleinere Wunde, durch die ein Knochenstück durchgespießt war, kleine Schürfungen am Ohr sowie in der linken Schläfenseite eine erbsengroße, runde Hautdurchtrennung mit unregelmäßigen Hauträndern und mit geringer Straßenverunreinigung in der Umgebung.

Durch Untersuchung eines hinzugezogenen Arztes der städtischen Krankenanstalten wurde festgestellt, dass der Knochen unter dieser Hautwunde nicht beschädigt war, da der betreffende Arzt bei der Sondierung auf Widerstand stieß und daher nicht in das Schädelinnere eindringen konnte. Nach Ansicht der Beamten der Mordkommission waren die Verletzungen derart, wie man sie in der Praxis sehr oft bei Verkehrsunfällen, bei einem Sturz entstanden, sieht.

Das zusammenfassende Gutachten der Mordkommission lautete: ›Der objektive Befund gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass an dem Tode der Frau ein Zweiter schuld ist, vielmehr lässt der objektive Befund darauf schließen, dass Frau R. durch einen Unglücksfall zu Tode gekommen ist, indem sie auf der abschüssigen Straße mit dem Fahrrad zu Fall gekommen und hierbei mit dem Kopf gegen den Prellstein geflogen ist.‹

Aufgrund dieses Gutachtens der Mordkommission wurde die Leiche vom Untersuchungsrichter zur Beerdigung freigegeben und am 27. November erdbestattet.

Der Ehemann ließ nachstehende Traueranzeige in der Zeitung veröffentlichen:

›Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten, was man hat, muss scheiden.‹ – Der Herr über Leben und Tod nahm Dienstagabend um sechzehn Uhr durch Unglücksfall meine liebe Frau und treu sorgende Mutter ihrer Kinder, Frau R., zu sich.

Somit hätte dieser ›Unglücksfall‹ sicher niemals mehr seine Klärung gefunden, wenn nicht einem Polizeiwachtmeister nach nochmaliger gründlicher Untersuchung der Unfallstelle der Gedanke aufgestiegen wäre, dass doch eine zweite Person am Tod der Frau die Hand im Spiel gehabt haben musste. Dieser Verdacht wurde noch dadurch bestärkt, dass dem Wachtmeister von zuverlässiger Seite mitgeteilt wurde, das Familienleben der beiden sei kein gutes gewesen, im Gegensatz zur Angabe des Ehemanns, der sich als treu sorgender Familienvater hingestellt hatte.

Aufgrund dieses durch einige weitere Beweise gestützten Verdachtes wurde nach einer neuerlichen Begutachtung durch einen Herrn der Mordkommission von D., die sich in der Hauptsache nur auf die bereits erhobenen Befunde stützen musste, am 4. November die Exhumierung der Leiche beantragt und von der Staatsanwaltschaft auch angeordnet, worauf ich gemeinsam mit dem Amtsarzt zehn Tage nach dem Tod die Leichenöffnung vornahm. Die Leiche war, da sie nur sieben Tage im Erdgrabe lag und noch dazu zur kalten Jahreszeit beerdigt gewesen war, in vollkommen frischem Zustand.

Schon bei der äußeren Besichtigung der Leiche fiel der völlige Mangel von Verletzungen und Abschürfungen an den Gliedmaßen und am Körper auf, während der Schädel umfangreiche Zertrümmerungen und die Kopfschwarte mehrfache Wunden aufwies. Letztere war im Haarbereich der rechten Scheitelgegend, wo auch kleinste Kalkplättchen zu sehen waren, auf eine Länge von zehn Zentimeter breit klaffend aufgerissen, der darunterliegende Knochen mehrfach gesplittert und gegen das Schädelinnere zu eingedrückt.

Wenn auch diese Befunde noch keineswegs einen Verkehrsunfall ausschließen ließen – gerade bei Überfahren durch schwere Lastkraftwagen sehen wir derartige schwere Schädelzertrümmerungen nicht so selten –, so musste doch die Beschaffenheit der kleinen Wunde an der linken Schläfe mit dem geschürften Wundsaum und mehreren kleinen Einrissen des Wundrandes zumindest den Verdacht einer Schussverletzung erwecken. Dieser wurde dann auch durch die weitere Leichenöffnung bestätigt.

Abbildung

Abb. 60: Ein Gattinnenmord – raffiniert, aber nicht raffiniert genug. Was wie ein Verkehrsunfall aussah, war eine Erschießung aus nächster Nähe. Hier die Einschusswunde (links) und der Ausschuss (rechts) am von den Rechtsmedizinern ausgekochten und zusammengeklammerten Schädel der Leiche. (Repro: M. Benecke)

Bei Gegenüberstellung des Ehemanns mit der noch nicht sezierten Leiche und bei dem Hinweis, die Leiche weise ja einen Schuss durch den Kopf auf, äußerte er, davon wisse er nichts, da er ja nicht dabei gewesen sei.

Dem Arzt des Krankenhauses, der die Leichenbesichtigung vorgenommen hatte und diese Wunde nicht gleich als Schusswunde erkannte oder wenigstens den Verdacht einer solchen aussprach, darf dabei nicht einmal ein Vorwurf gemacht werden, da er ja in der Beurteilung von Schussverletzungen sicherlich gar keine oder eben nicht genügend Erfahrung besaß und durch das Misslingen der Wundsondierung infolge der hochgradigen Knochenverschiebung in seiner Vermutung der Entstehung durch stumpfe Gewalt bestärkt worden sein konnte.

Die weitere Untersuchung der Leiche ergab eine sechs Millimeter durchmessende, kreisrunde Schussverletzung in der linken Schläfenbeinschuppe mit Schwärzung des Knochenrandes, eine geschwärzte Tasche unter dem Einschuss sowie zahlreiche Brüche des Kiefers.

Auffallenderweise ließ sich zunächst der Ausschuss in der Kopfschwarte nicht nachweisen. Erst die genaue Untersuchung der Ränder der großen rechtsseitigen Platzwunde deckte sowohl am oberen wie am unteren Rande je einen kleinen, zackigen Einriss auf.

Nach diesem Befund war sichergestellt, dass die große, klaffende Platzwunde erst nach dem Durchtritt des Projektils erzeugt wurde, sonst hätte sich ja nicht sowohl am oberen wie am unteren Rande je ein Einriss zeigen können! (Der Schädel wurde zum genauen Studium der Verletzungen mazeriert [vom weichen Gewebe befreit; M. B.] und wieder zusammengesetzt.)

Dass der Schuss nicht etwa erst nach Entstehung der Platzwunde ausgeführt wurde, zeigte sich dadurch, dass es zu Bluteinatmung und Verschlucken von Blut sowie, bedingt durch die weiteren Verletzungen, zu einer mäßigen Fetteinschwemmung in die Lungen gekommen war. Die Verletzungen mussten also zu Lebzeiten erfolgt sein.

Was die Schussentfernung anlangt, so konnte aus dem schon erwähnten Befund einer pulvergeschwärzten Gewebetasche unter der Einschusswunde mit positivem Nitritnachweis sowie anhand der strahlenartigen Form der Einrisse an den Wundrändern auf einen absoluten Nahschuss beziehungsweise auf eine Entfernung von nur einigen wenigen Zentimetern geschlossen werden. Vielleicht hatte es sich auch bei den ›Straßenschmutzauflagerungen‹ um die kleine Wunde herum um Pulverschmauch gehandelt, der aber durch das Wischen und Waschen bei der Sektion entfernt wurde.

Aus der Größe des Einschusslochs im Knochen und aus der Tatsache, dass es sich um einen Durchschuss gehandelt hatte, ließ sich ableiten, dass das Geschoss das Kaliber 6,35 Millimeter (Mantelgeschoss) hatte.

Im von mir erstellten Gutachten wurde ausgeführt, dass die schwere Schädelzertrümmerung keineswegs von der Durchschussverletzung allein herrühren konnte. Wenn wir auch bei Schüssen aus größeren Kalibern mit rasanten Geschossen gelegentlich umfängliche Schädelzertrümmerungen sehen, so waren doch die schweren Brüche im Bereich des Gesichtsschädels mit der Schussverletzung allein nicht in Einklang zu bringen, ebenso wenig auch eine dachgiebelförmige Aufrichtung der gebrochenen Scheitelbeine und die große Platzwunde an der rechten Kopfseite.

Diese Verletzungen konnten nur dadurch entstanden sein, dass auf den auf einer festen Unterlage – vermutlich der Straße – ruhenden Kopf eine heftige Gewalt mit breiter Angriffsfläche eingewirkt haben musste.

Dass der Kopf nach der Schussverletzung etwa von einem breiten Lastwagenrad überfahren und breit gequetscht wurde, konnte bei dem Mangel von erheblicheren Abschürfungen ausgeschlossen werden. Dagegen schien der bei der Tatortbesichtigung im Straßengraben aufgefundene Prellstein von fast fünfundsechzig Kilogramm Gewicht zur Erzeugung dieser schweren Zertrümmerungen bestens geeignet.

Verschiedene Umstände sprachen für die Richtigkeit dieser Annahme: Vor allem der Nachweis kleinster, vom Prellstein abgebröckelter Kalkteilchen in den Kopfhaaren der Leiche, auf der Straße in der nächsten Umgebung des Kopfes und auf der schwarzen Wollmütze – Befunde, die bereits am Tage der Leichenauffindung erhoben, jedoch nicht richtig bewertet wurden.

Am Prellstein sollen sogar an zwei Seiten Blutspuren gesehen worden sein, die naturgemäß zehn Tage später wegen des in der Zwischenzeit niedergegangenen Regens an dem im Freien gelegenen Prellstein auch mit empfindlichen Proben von uns nicht mehr nachzuweisen waren. Der Befund von Blut an diesem Stein hätte schon bei der Tatortbesichtigung den Verdacht einer gewaltsamen Tötung erwecken müssen. Wie hatte man sich denn die Anwesenheit von Blut an diesem Stein, der vier bis fünf Meter von der Leiche entfernt im Graben lag, zu erklären versucht?

Wenn der Stein auch durch einen anfahrenden Kraftwagen in den Graben geschleudert worden sein konnte, dann hätten sich jedoch zum Mindesten irgendwelche Radspuren finden müssen. Die Anwesenheit von Blut wäre aber auch dadurch noch nicht erklärt gewesen. Oder hatte man sich etwa vorgestellt, dass die Frau bei dem Sturz vom Rad an diesen Stein angestoßen und denselben mit ihrem geringen Körpergewicht und der geringen Wucht aus dem Straßenbett heraus und in den Graben geschleudert hätte?

Der Stein soll übrigens, wie der Straßenmeister angegeben hatte, bereits mehrere Tage vor dem »Unfall« umgelegt neben seiner Einbaugrube gelegen sein. Unverständlich bleibt weiter, dass den Blutspuren an dem neben der Leiche stehenden Straßenschutzstein, die als Spritzer beschrieben und in ihrer Anordnung als von unten nach oben verlaufend bezeichnet wurden, keine weitere Beachtung geschenkt wurde. Durch bloßes Anschlagen des Kopfes konnten diese schon wegen ihrer Anordnung nicht entstanden sein, wohl aber, wenn auf den auf der Straße aufruhenden Kopf der im Straßengraben aufgefundene Prellstein fallen gelassen wurde.

Nach dem Leichenöffnungsbefund und der aufgenommenen Tatortbesichtigung konnte man nur zu dem Schluss kommen, dass die Frau erschossen und nachträglich auf die noch Lebende, jedoch bewusstlos am Boden Liegende zur Herbeiführung des Todes der Stein geworfen beziehungsweise fallen gelassen wurde. Diese Reihenfolge der Tathandlungen konnte – abgesehen von der Lebensnähe dieses Ablaufes – auch aus dem Vorhandensein der Blutunterlaufungen an der Leiche erschlossen werden.

Während nämlich der linke Schläfenmuskel mit der Schusslücke ausgedehnte Blutdurchtränkung aufwies, fehlte eine solche im Bereich der rechtsseitigen Schädelsprünge nahezu vollständig. Zugleich musste die schwere Schädelzertrümmerung zu Lebzeiten erfolgt sein, da bei der Leichenöffnung ja festgestellt worden war, dass die nun tote Person Blut eingeatmet und während der Schädelzertrümmerung also noch gelebt hatte.

Besondere Erwähnung zur Aufklärung des ganzen Falles verdient meiner Ansicht nach auch noch das hinter der Leiche aufgefundene Fahrrad, dessen Vorderrad einen Achter aufwies und an dessen Speichen Straßenschmutz mit Blut vermischt in ziemlich dicken Krusten haftete. Bei einem Verkehrsunfall allein konnten diese Spuren nicht an diese Stelle in der Nähe der Nabe gelangt sein! Ihr Vorhandensein konnte einzig und allein nur den Schluss zulassen, dass sie, wenn vermutlich auch unbeabsichtigt, bei der künstlichen Erzeugung des Achters etwa durch Hineintreten mit einem blutbefleckten Schuh an die Speichen gelangten. Ein solches Vorgehen aber konnte letzten Endes wiederum nur dem Zweck dienen, die Tathandlung durch Vortäuschen eines Verkehrsunfalls zu verschleiern, was auch beinahe geglückt wäre.

Unter dem Verdacht, seine eigene Frau getötet und den Verkehrsunfall nur vorgetäuscht zu haben, wurde der Ehemann nun erneut in Haft genommen. In zahlreichen Vernehmungen blieb er jedoch stets dabei, bei dem ›Unfall seiner Frau‹ nicht zugegen gewesen zu sein.

Inzwischen wurde jedoch in Erfahrung gebracht, dass er in Beziehungen zu einer Hausangestellten gestanden, ihr Briefe geschrieben und auch ein Nähkästchen geschenkt hatte, das sich denn auch in ihrer Wohnung fand.

Außerdem hatte sich auch ein Waffenhändler gemeldet, der angab, der Ehemann habe bei ihm Pistolenmunition kaufen wollen. Bei der Gegenüberstellung erkannte er ihn als diejenige Person, die am fraglichen Tage bei ihm Munition für eine Pistole mit dem Kaliber 6,35 Millimeter gefordert hatte.

Aus diesem Verdacht heraus wurden uns noch die Kleider des Mannes, die er am fraglichen Tage getragen hatte, zur Untersuchung auf Blutspuren übermittelt. Dabei konnten neben Flecken auch kleine Blutspritzer an der Joppe und an der langen Hose festgestellt werden, die von menschlichem Blut der Gruppe A1 herrührten. Die Untersuchungen wurden an mehreren Flecken ausgeführt und ergaben stets dasselbe eindeutige Ergebnis. Der Ehemann gehörte nun der Blutgruppe 0 an, die Ehefrau besaß die Gruppe A1.

Auf Vorhalt dieses Ergebnisses erklärte der Mann nun, er lege Wert darauf, dass ihm das Gutachten des Sachverständigen vorgelegt werde. Es sei ausgeschlossen, dass sich Blut an der Hose fände.

Bei neuerlicher Gegenüberstellung mit dem Waffenhändler gab der Beschuldigte nun plötzlich und ganz unbegründet an, er habe nicht nur die Munition, sondern auch die Waffe bei ihm gekauft.

Tatsächlich wurde sie mit seiner Hilfe in einem Gebüsch, etwa dreihundert Meter von der Fundstelle der Toten entfernt, aufgefunden. Nun schüttete er dem Staatsanwalt sein Herz aus: Er habe an einem Tag vor dem Unfall seiner Frau, an dem eine Treibjagd war, die Waffe in das Gebüsch geworfen. Der Waffenhändler blieb aber trotz dieser Aussage dabei, dass sie nicht bei ihm gekauft worden sein konnte.

Am 11. Dezember legte der Mann in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses endlich nachstehendes Geständnis schriftlich nieder: ›Fräulein E. (die Haushaltshilfe) ist schwanger. Da ich Fräulein E. gern hatte, habe ich meine Frau erschossen und ihr den Stein auf den Kopf fallen lassen.‹

Am nächsten Tag bat er dann, das Geständnis selbst ausführlich aufschreiben zu dürfen, da er sich dann besser ausdrücken könne:

›Meine Braut (die Haushaltshilfe) war von mir geschwängert. Dieses hat sie mir schon vor zwei Monaten gesagt. In der Folgezeit haben wir öfters gesprochen, was nun werden sollte, und da habe ich ihr versprochen, sie in meinen Haushalt aufzunehmen.

Am 22. Dezember sagte sie zu mir im Hansa-Café, entweder musst du etwas machen oder ich. Ich habe daraus geschlossen, dass sie etwa Selbstmord begehen wolle oder aber dass ich meine Frau beseitigen sollte. Sie hat mir das nicht direkt gesagt, aber ich habe es so aufgefasst.

Ich habe mir jetzt gedacht, dass eine der beiden Frauen beseitigt werden müsste, und weil ich die E. lieber hatte, habe ich mir vorgenommen, meine Frau zu beseitigen. Die Patronen wollte ich mir aber nicht deshalb kaufen. Ich hatte vor, Kaninchen zu schießen. Am 24. November habe ich meine Frau veranlasst, mit in die Hagebutten zu fahren. Ich hatte hier schon den Gedanken der Tötung meiner Frau gefasst. Als wir von L. zurückfuhren, war ich vielleicht achtzig bis neunzig Meter vor meiner Frau, als sie rief: ›Walter, ich habe hinten wenig Luft darauf!‹

Ich bin dann abgestiegen und habe den Reifen aufgepumpt. Meine Frau hielt die beiden Fahrräder und stand zwischen denselben. Nun hielt ich den Augenblick für gekommen und nahm meine Schusswaffe aus der Tasche. Ich habe aus etwa einem dreiviertel Meter Entfernung (nach dem Befund unglaubhaft!; Anm. Erich Fritz) geschossen. Als meine Frau nun auf dem Boden lag, kam mir der Gedanke, den schweren Stein, der abgebrochen war, auf den Kopf zu werfen. Ich habe das getan, weil ich damit rechnete, dass meine Frau vielleicht nicht tödlich getroffen sei und ich weitere Patronen nicht hatte; denn wenn meine Frau am Leben geblieben wäre, wäre meine Tat sofort herausgekommen.

Um dies zu vermeiden, wollte ich sichergehen. Ich wusste wohl, dass meine Frau nun tot war. Ich habe dann einen Verkehrsunfall vortäuschen wollen und habe das Fahrrad dorthin gelegt, wo es aufgefunden wurde. Mit dem Fuß habe ich auf die untere Hälfte des Vorderrades getreten und das Vorderrad verbogen. Den Stein habe ich die Böschung hinuntergeschmissen. Ich habe mich dann schnell mit meinem Fahrrad entfernt bis zu der Stelle, wo gestern der Revolver gefunden wurde. Ich muss mich berichtigen, ich hatte zuerst die Waffe weggeworfen und bin dann zur Tatstelle zurückgefahren, um mich zu überzeugen, ob meine Frau auch tot war. Ich habe auch angenommen, dass sie noch lebte, und weiß jetzt, wie ich anhand des vorliegenden Beweismaterials einsehe, dass ein weiteres Leugnen zwecklos ist. Ich will besonders erwähnen, dass ich während der ganzen Verhandlung anständig behandelt wurde und dass man mich nicht erpresst hat…‹

So weit das wörtliche Geständnis des Täters, dessen Tatausführung durch die Leichenöffnung und die Tatortbesichtigung in völligem Gleichklang stand.

Mitte Dezember hat sich R. dann in einer Zelle des Untersuchungsgefängnisses mit herausgerissenen Streifen eines Leinentuches erhängt. Damit hat ein verabscheuungswürdiges Verbrechen, das in raffinierter Weise durchdacht und ausgeführt wurde, seine wenn auch nicht gesetzliche Sühne gefunden.

Die Mitteilung zeigt, wie wichtig es ist, selbst bei anscheinend ›klar liegenden Verkehrsunfällen‹ – wenigstens bei Leichenfunden auf einsamen Straßen – einen erfahrenen, ärztlich und kriminalistisch geschulten Sachverständigen schon gleich zu den ersten Erhebungen und zur Tatortbesichtigung zuzuziehen, der äußere Leichenbefunde richtig zu werten weiß und sie mit den sonstigen Einzelfeststellungen am Tatort in positivem oder negativem Sinne in Beziehung zu stellen versteht.

Die Sektion konnte die mit Überlegung ausgeführte Mordtat durch Erschießen und nachträgliches Auffallenlassen des schweren Prellsteines auf den Kopf aufdecken und dadurch eine Tat klären, die in ganz raffinierter Vortäuschung eines Verkehrsunfalls infolge unzulänglicher Zusammenarbeit der ersten Erhebungsorgane mit dem ärztlichen Sachverständigen bereits als ›Verkehrsunfall‹ registriert und nur durch die umsichtigen Nachforschungen eines Polizeiwachtmeisters neuerdings aufgenommen worden war!

Der Fall zeigt überdies mit überzeugender Eindringlichkeit, dass Leichen mit festgestellten Verletzungen ohne vorangegangene Leichenöffnung keinesfalls zur Einäscherung freigegeben werden dürften. Gerade im vorliegenden Falle wäre jede Beweisführung durch die Leichenverbrennung unmöglich gemacht worden.«

Der Präparator ist immer der Mörder

Da Sie nun schon darin gestärkt sind, auch den unglaublichsten Ermittlungen zu folgen, möchte ich Ihnen nun einen Fall vorstellen, der wohl selbst erprobte Krimizuschauer erstaunen dürfte. In diesem Fall ist nämlich tatsächlich derjenige der Täter, dem man es als Laie am ehesten zutraut. Das ist diesmal nicht der Gärtner oder der Kriminalbiologe, sondern – wie die Überschrift schon verrät – der Präparator. Der Bericht stammt vom Rechtsmediziner Wolfgang Huckenbeck, der viele Auslandseinsätze durchgeführt hat, darunter auch die Arbeit vor Ort beim Tsunami (2004) und im Kosovo (ab 1999). Darüber hinaus war er Herausgeber der inzwischen eingestellten Zeitschrift SeroNews von und für Forensiker, die wegen ihrer guten Lesbarkeit und der vielen Fallbeispiele auch gern von Feuerwehrleuten, Bestattern und Richtern gelesen wurde. Das folgende Beispiel aus dem Juni 2000 ist eines der vielleicht besten Beispiele für seine spannende Arbeit. Huckenbeck erinnert sich in seinem Tagebuch:

»Mitten während einer Sektion der Leiche eines vier Wochen alten Tauchunfalls aus Ägypten klingelte das Telefon. Frau Salzmann vom Bundeskriminalamt fragte an, ob es möglich wäre, ad hoc einen Einsatz, eventuell erst einmal als Vorhut, in den Jemen zu unternehmen. Von Serienmorden, Leichen und Leichenteilen, von Organhandel, vom geplanten Sturz des Innenministers war die Rede. Insgesamt alles etwas unklar, aber es lag erst ein Fax der dortigen deutschen Botschaft mit ebendiesem Inhalt vor.

Das Auswärtige Amt befürwortete die Entsendung eines deutschen Rechtsmediziners, der ausdrücklich vom Jemen gewünscht wurde. Dann ging es ganz schnell. Freitag war Abflugtag, abends in Paris Treffen mit Toralf Kahl, einem alten Kosovo-Kameraden vom BKA, dann Weiterflug nach Sanaa (Hauptstadt des Jemen).

Wir treffen morgens um acht Uhr ein und werden von Oberst Al Hamdani, Chef der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle, empfangen. Er schleust uns gleich am Zoll vorbei, sodass wir das Visum sparen. Dafür sind die Dienstpässe vier Tage lang verschwunden. Die Tatort-›Koffer‹ (in Wirklichkeit eine große Kiste) müssen wir nicht schleppen: Das erledigen zum Glück Träger. In Polizeibegleitung geht es dann zur Staatsanwaltschaft.

Dort sammeln sich immer mehr Leute an, und der Raum ist schnell voll. Es folgt eine freundliche Begrüßung bei Tee und Limonensaft. Aber was ist mit dem Tatort?

Darüber muss erst noch der Richter entscheiden, der das laufende Verfahren betreut. Er muss aber noch geholt werden. Derweil folgt die Vereidigung als Sachverständige, die wir auch ohne Schwur auf den Koran durchführen dürfen. Plötzlich taucht eine Fotomappe auf: Leichen und Leichenteile, aufgenommen in der dortigen Rechtsmedizin. Mittlerweile hören wir, dass Adam – so heißt der Präparator und Mörder – erst zwei Morde gestanden hat.

Er hat die Polizei aber mittlerweile zu den Verstecken der Leichen geführt: Sie lagen im Obduktionssaal. Später erinnert er sich an mehr, und mittlerweile will er zwanzig bis dreißig Menschen umgebracht haben. Ein präparierter Fötus im Labor sei sein Kind, er habe es der Mutter eigenhändig herausgeschnitten.

Wieder hören wir nebenbei Gerüchte von Hintermännern und vom Organhandel nach Saudi-Arabien. Der Fall passt der politischen Opposition ins Bild. Der Koran verbietet nämlich Obduktionen, im Jemen wird aber obduziert. Kein Wunder, sagen die Regierungsgegner: Eine Politik, die sich so gegen den Koran stellt, muss Geschehnisse wie Serienmorde zur Folge haben.

Der Täter ist Sudanese. Sudanesen werden im Jemen als Zigeuner bezeichnet und bilden einen Teil der Unterschicht. ›Wenn du nicht gehorchst, kommt der Sudanese und holt dich‹, sollen manche Eltern in Sanaa zu ihren ungehorsamen Kindern sagen.

Wirklich sehr befremdend, in was wir da reingerutscht sind. Aber es kommt noch besser: In einer Stunde ist Audienz beim Innenminister. Dem muss ja das Wasser bis zum Hals stehen, wenn er uns extra empfangen möchte.

Das Gespräch läuft über einen Dolmetscher, Herrn Soori von der deutschen Botschaft, der uns die nächsten Tage begleiten wird. Anwesend sind alle wichtigen Männer der Innenpolitik, der stellvertretende Innenminister, der Polizeichef, der Chef von Interpol und wer weiß wer noch alles.

Aus dieser Runde dürfen keinerlei Informationen über den Fall nach außen dringen, ermahnt der Innenminister mehrmals. Er scheint den Fall ja wirklich sehr ernst zu nehmen! Aber wo ist denn nun der Tatort?

Willkommen in der Hölle

Endlich, nach einem Besuch in der örtlichen Polizeidirektion, geht es zur Universität. Die Polizeifahrzeuge halten vor der medizinischen Fakultät. Erst einmal müssen die Schlüssel geholt werden. Vom Empfangssaal gehen einzelne Flure ab, einer führt zum Department of Pathology and Forensic Medicine. Wieder eine Zwangspause, denn man muss den Schlüssel suchen. Dann können wir den Ort der Geschehnisse betreten.

Wir gelangen in einen großen Saal mit rollfähigen Tischen und vielen barhockerähnlichen Schemeln: Hier wird der Anatomieunterricht durchgeführt, erfahren wir später.

Auf einem Tisch finden sich menschliche Überreste: abgetrennte Füße und Hände, mehrere Schädelkalotten, Körperstümpfe und Knochen. Ich wende meine Aufmerksamkeit erst einmal diesen Exponaten zu: offensichtlich Anatomiepräparate, teilweise präpariert, mumifiziert und mit Formalin haltbar gemacht.

Im Nebenraum wartet wirklich das Grauen: Sechs schmutzige Becken mit verrosteten Deckeln enthalten teilweise Formalin und sind mit Leichenteilen und Leichen gefüllt. Aus vom Formaldehyd zu Tränen gereizten Augen kann ich erkennen, dass es sich wohl auch um vorpräparierte Leichen handelt, wenn der Vergleich mit europäischen Anatomieleichen auch schwerfällt.

Etwas merkwürdig auch: Teilweise sind die Körper in der Mitte durchgetrennt. Das letzte Becken rechts ist trocken, dennoch gefüllt mit Leichenteilen. Ich erkenne das Unterteil einer menschlichen Leiche, ein halb präpariertes Gesicht, Arme, Beine, dazwischen schmutzige Kittel und Plastikabfälle. Unglaublich, wie hier mit sterblichen Überresten umgegangen wird.

Ich treffe Toralf im Mittelsaal. ›Dahinten geht das Grauen weiter‹, zeigt er mit der Hand in die andere Richtung. Sechs kleine Räume schließen sich hier an den Saal an: Labor zur Herstellung und Untersuchung von dünnen Gewebeschnitten, Büroräume, eine Präparatesammlung, teilweise trocken im Glas, ein Lagerraum in absoluter Unordnung. Dahinter findet sich die Tür zum Obduktionssaal der forensischen Medizin: das Reich von Adam.

Sieben Kühlschränke, die Aggregate brummen laut. Zwei Obduktionstische, völlig verdreckt. Der Boden voller Bauschutt, am Rand des Raumes zwei Löcher in den Boden gestemmt: Hier fand man die beiden Mädchenleichen beziehungsweise ihre Überreste. In den Kühlfächern mehrere wie Mumien in Leinen verpackte Leichen, offensichtlich Männer, völlig ausgetrocknet, zwei zerstückelte Frauenkörper, zwei Plastiksäcke mit mumifizierten Leichenteilen.

Toralf ist sichtlich angegriffen. Wir sitzen in der Sonne auf einer Treppe vor der medizinischen Fakultät und rauchen eine Zigarette. ›Der Kosovo war nichts dagegen‹, entweicht es ihm. Klar, Anatomieleichen sind etwas Neues für ihn. Der Anblick muss beim ersten Mal wirklich grauslich sein.

Mir scheint aber, dass sich vielleicht doch eine grobe Untersuchung und Aufteilung des Tatorts vornehmen lässt. Aber eins ist auch klar: So wie geplant – rechtsmedizinische Untersuchung durch mich, Dokumentation durch Toralf –, kann der Einsatz nicht ablaufen. Der Fall kann, wenn überhaupt, nur durch rechtsmedizinische und kriminalistische Zusammenarbeit aufgeklärt werden. Folglich müssen wir uns arbeitstechnisch trennen. Aber wie soll bei dieser Menge an Leichen die Dokumentation erfolgen?

Toralf verbringt den Rest des Nachmittags damit, den Tatort sorgfältig fotografisch zu dokumentieren. Ich versuche, eine vorläufige Ordnung in die Leichenteile zu bringen und bereits jetzt alles Interessante auf Video aufzunehmen. Wer weiß, was morgen kommt?

Beim Öffnen der Kühlboxen und Hervorziehen einer Bahre (mit der linken Hand, in der rechten läuft ja die Videokamera) ziehe ich zu weit, die Bahre fällt nach unten, und die Leichenteile fallen mir in den Schoß und dann auf die Füße. Nicht zu viele Sachen gleichzeitig machen, hat man mir ja schon öfter gesagt. Aber hier stört es mich nicht so besonders, der allgegenwärtige Formalingestank macht offensichtlich alles steril, auch den Geist.

Deutsche Ordnung im Leichenmeer

Der Verdacht beziehungsweise die Hoffnung verstärkt sich, dass das Arbeitspensum vielleicht doch geringer ausfällt und in der knappen Zeit noch zu schaffen ist. Dazu müssen wir nur herausfinden, welche Leichen zu Lehrzwecken als Anatomieleichen hier liegen. Diese brauchen wir dann nicht weiter zu untersuchen. Die Polizisten werden also gebeten, die Leichen und Leichenteile aus den Becken zu schaffen und auf die Rollwagen zu legen. Nun hält man es vor Formalingestank allerdings wirklich nicht mehr aus.

Die lieben Kollegen von der einheimischen Polizei, die sich offensichtlich für den Empfang der beiden Experten aus dem fernen Deutschland extra schick gemacht hatten, erledigten die Arbeit, um die sie nicht zu beneiden waren, mit Bravour.

Am Abend sind wir beim Botschaftskanzler eingeladen. Bayerische Speisen, Jever-Bier, ein Obstler: Das wird der letzte Alkohol für die nächsten Tage. (Ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas noch gibt: Tatsächlich gibt es selbst im Hotel keinen Alkohol.)

Wir schaffen es, dem Kanzler sein Diktiergerät abzuschwatzen. Zudem will er dafür sorgen, dass alles Diktierte von einer Sekretärin der Botschaft geschrieben wird. Es sieht schon besser aus. So können wir doch sinnvoll arbeiten.

Die Nacht ist kurz, gegen halb neun Uhr morgens werden wir von der Polizei abgeholt. Auf einem anderen Weg – die Anfahrtswege wechseln von nun an täglich – geht es zur Universität.

Toralf beginnt mit seinen Befragungen. Er ist nicht zu beneiden. Nach minutenlangem Gerede (Herr Ali Soori übersetzt) stellt sich immer wieder heraus, das der jeweils Betreffende alles nur vom Hörensagen weiß, womöglich noch über mehrere Stationen. Immer wenn ich an Toralfs Menschenauflauf vorbeikomme, merke ich, wie schnell er sich in die arabische Welt einarbeitet. Die Frage, woher die Erkenntnisse denn stammen, stellt er immer früher – am Ende fast immer als Erstes. Was er beim BKA gelernt hat, kann er hier in Minutenfrist aufgeben und eigene Vernehmungstheorien entwickeln, denke ich. Er tut mir fast leid, wenn ich sehe, wie seine Kladde Seite um Seite per Hand beschrieben wird.

Da habe ich es eigentlich einfacher. Die Anatomieleichen sind fürchterlich zugerichtet, Präparation kann man es kaum nennen, aber ich muss ja nur eine Bestandsaufnahme machen und kann (muss) meinen eigenen Augen glauben – ob ich will oder nicht…

Falls das Video einmal geschnitten werden sollte, muss der Titel ›Körperwelten, der Antifilm‹ heißen, schießt es mir durch den Kopf.

Man hält es vor Formalingestank wirklich kaum noch aus. Die Augen brennen, Tränen kullern, die Brille beschlägt.

Die einheimischen Beamten sind erstaunlich schnell. Jetzt, wo sie zum Handeln angeleitet werden, klappt plötzlich einiges mehr. Offensichtlich sind sie vor vier Wochen, als ihr Einsatz hier erfolgte, durch das Bild, das sich ihnen bot, einfach völlig überfordert gewesen. In meinem mittlerweile fast formalinfixierten Hirn stelle ich mir vor, wie sie alle schreiend hinausgerannt sind, als hätten sie Scheijtan persönlich getroffen. Nein, so war es sicherlich nicht, aber Tatortarbeit oder Ähnliches, zumindest eine Bestandsaufnahme, war offensichtlich nicht möglich gewesen.

Nun stehen sie uns aber hilfreich zur Seite und transportieren die besichtigten Leichen wieder zurück in die Becken. Sie drehen und wenden die Leichen, sodass ich fließend meine Befunde diktieren kann. Tatsächlich handelt es sich um Anatomieleichen. Keine artfremden Verletzungen.

Und wenn Adam sie nun alle erwürgt hat und sich nachher die Mühe gegeben hat, sie zu präparieren, als Anatomieleichen zu tarnen? Dann kann ich das natürlich nicht aufklären. Rechtsmedizin allein hilft hier gar nichts.

Krummsäbeliger Besuch

Der Plan, einen BKA-Beamten mitzuschicken, war schon genial, wenn auch sein Einsatz anders geplant war. ›Prof. Bach from the Institute of Forensic Medicine in Düsseldorf and his assistant Prof. Kal‹, stand heute morgen nicht ganz korrekt in der Jemen Tribune, einer englischsprachigen Tageszeitung…

Toralf muss die Anatomiedozenten verhören. Als ich ihn darauf aufmerksam machen will, merke ich, dass er auf diese Idee natürlich schon längst gekommen ist. Die Herren sind für morgen einbestellt.

Es sind aber auch jetzt schon genug von ihnen da. Der Dekan der Universität kommt mit krummsäbelbewehrten Männern und besichtigt den Ort des Geschehens, dann kommt der Rektor mit Gefolge. Gut, den Besuch dieser beiden kann man ja noch einsehen. Dann folgen aber weitere Störungen: Prof. X und Prof. Y und so weiter, die alle die Arbeit der ausländischen Experten besichtigen wollen. Der rührige Übersetzer, Herr Soori, stellt sie einzeln vor – jedes Mal das Diktat unterbrechend. Zu allem Überfluss hat eine Reihe der Herren auch noch in der ehemaligen DDR studiert und will nun beweisen, dass sie immer noch Deutsch sprechen können. Ich hoffe, sie haben Verständnis dafür, dass ich so kurz angebunden bin, denn zu einer Konversation über Dresden und Leipzig bin ich zurzeit überhaupt nicht aufgelegt.

Hier hat es Toralf jetzt einfacher. Da er pausenlos reden und Fragen stellen muss, traut sich kaum einer der Herren, ihn zu stören.

Mittags bin ich mit den formalinfixierten Leichen fertig, ebenso mit den vertrockneten Leichenteilen aus dem leeren Becken des Anatomietrakts.

Mohammed, wie wir mittlerweile Oberst Al Hamdani nennen, lädt in die Mensa zum Mittagessen ein. Fröhlich wird mit den Fingern gegessen, es gibt Cola und Sprite. Der Tee ist mir zu süß.

Nach dem Mittagessen kommen die restlichen Leichenteile dran, wieder formalinfixiert: eine ganze Reihe von Knochen, von denen die Weichteile bereits größtenteils entfernt sind. Als wenn sie für die Mazeration vorbereitet wären.

Langsam versagen meine Stimmbänder den Dienst beim Diktieren. Nicht nur, dass bereits fünf Bänder in Eiltempo besprochen sind, auch der Formalingestank fordert seinen Tribut. Hoffentlich versteht Frau Rabe in der Botschaft – die wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennen – überhaupt ein Wort.

Dann hat unser guter Herr Soori eine fantastische Idee: Wir sollten Feierabend machen und uns mit ihm die Altstadt von Sanaa ansehen.

Zwei Mädchen im Kühlschrank

Wir werfen verzweifelte Blicke auf die übrig gebliebenen Leichenteile. Aber eigentlich ist es ja wirklich Wahnsinn, der weite Flug und keine Sehenswürdigkeit ansehen! Ich lege noch eine Geschwindigkeitsstufe höher ein. Wenn ich die Leichenteile hier schaffe, ist die letzte Kassette sowieso voll. Vielleicht klappt ja morgen alles genauso schnell, dann könnte es funktionieren. Das Diktieren müsste eigentlich schnell gehen.

Gemeinsam schaffen es Toralf und ich, auch noch die Büro- und Laborräume an diesem Nachmittag zu untersuchen. Tatsächlich finden wir Blutspuren sowie Färbelösung für mikroskopisch dünne Schnitte auf dem Boden. Letzteres kennt Toralf vom Hörensagen – Protokolle gibt es offenbar nicht – aus den Geständnissen von Adam.

Ab siebzehn Uhr wandeln wir tatsächlich durch die Altstadt. Wirklich beeindruckend, die Gebäude. Allein hätten wir uns in viele Ecken wahrscheinlich gar nicht hineingetraut. Hier werden Nägel von Hand geschmiedet, Hämmer und Beile in Handarbeit gefertigt. Wir kaufen Gewürze, Weihrauch und Myrrhe. Kollege Freudenstein daheim bat mich darum, ihm einen Krummsäbel mitzubringen.

Ich schaue mir in einem Laden einige Säbel an: zu teuer, bei schlechter Verarbeitung. Der jagt mich damit daheim durchs Institut, befürchte ich und sehe den Jambia bereits in meinem Rücken stecken. Ich nehme vom Kauf also lieber Abstand.

Der nächste Tag beginnt wieder sehr früh. Toralf hat Befragungstermine (›feste Einbestellungen‹), ich nehme mir die Kühlschränke im rechtsmedizinischen Trakt vor. Die einheimischen Polizisten unterstützen mich wiederum hervorragend.

In Plastiksäcken finden wir die Überreste von zwei weiblichen Leichen. Ob sie als Anatomieobjekte gedient haben, ist sehr fraglich. Formalinfixierung ist nicht zu erkennen, die Austrocknung verdeckt alles. Die Knochen zerbröseln unter fester Berührung. Wie lange mögen diese Leichen schon hier liegen? Warum im Kühlschrank?

Ordnung müsste sein

Keine Leicheneingangsbücher, keine Leichenausgangsbücher! Wie oft schimpft man zu Hause über die Bürokratie, über doppelt und dreifaches Ein- und Austragen im Geschäftszimmer. Hier erkennt man die Vorteile.

Adam hatte wirklich freies Walten in allen Räumen. Nachvollziehen lässt sich nichts mehr. Aber sehr alt sind die Mumien, das steht fest. Zu alt für Adam.

Toralf kommt und erklärt mir, dass sich die Anatomiedozenten geweigert haben, die gestern Nachmittag zuletzt beschriebenen Leichenteile als die ihren anzuerkennen. Sie hätten diese Knochen et cetera noch nie gesehen.

Vielleicht haben sie einfach Angst, in diesen Fall hineingezogen zu werden. Hätte ich auch, wenn ich in so einem Saustall erwischt würde.

Wir bleiben bei unserer Meinung, dass diese Knochen und Leichenteile am ehesten auch Anatomiepräparate sind.

Meine Polizeihelfer haben inzwischen einen der vorhandenen Obduktionstische von Schutt und Dreck freigemacht, sogar der Wasseranschluss funktioniert, der Abfluss allerdings weniger. Soll mir egal sein!

Die nächsten Leichen aus den Kühlschränken sind – wie auch Toralf in seinen Verhören bereits ermittelt hat – Unfallopfer. Angeblich Sudanesen, die bei einem Autounfall ums Leben kamen und die nie jemand abgeholt hat. Wie Mumien liegen sie vertrocknet in Leinentüchern. An ihnen finden sich Spuren äußerer Gewalteinwirkung, wie es bei Autounfällen typisch ist. Diese Leichen sind wohl auch kaum unserem Präparator Adam zuzuordnen.

Ich denke an unseren Präparator Uli Schmidt in Düsseldorf. Wie gerne wäre er mitgefahren in den Jemen. Dieser Anblick muss ein Höhepunkt in jedem Präparatorenleben sein. Danach sofort in Rente! Leider wird Uli mit dem Video vorliebnehmen müssen.

Die Kassetten von gestern sind schon abgeschrieben. Herr Soori hat die Disketten gleich mitgebracht. Doch es ist Mittag, wir gehen erst einmal wieder zur Kantine. Nach dem Essen diktiere ich am Nebentisch die noch fehlenden Einzelheiten ins Gerät.

Toralf ist mit seinen Verhören erst einmal wieder fertig. Ihm müssen so langsam die Ohren klingeln. Beim nächsten Mal will er das halbe BKA mitbringen, kündigt er an. Anstatt sich etwas auszuruhen, will er bei den nun noch anstehenden Obduktionen weiblicher Leichenteile zur Dokumentation dabei sein.

Die beiden Leichen sind ebenfalls mumifiziert. Die eine in sieben, die andere in drei Teile zergliedert. Überraschend ist die Frische der inneren Organe beim Eröffnen des Brustkorbs der ersten Frauenleiche. Wie lässt sich das mit dem äußeren Zustand vereinbaren?

Das ist schwer zu sagen. Denn wie verhalten sich tote Körper in dieser trockenen, warmen Luft? Europäische Experten in einem Land mit einem völlig anderen Klima… toll! Aber selbst schlaue Institutsdirektoren würden sich die gleichen Fragen stellen, tröste ich mich.

Dennoch, wir sind zufrieden, die Todesursachen noch ermitteln zu können: im einen Fall Schlag gegen den Kopf, gefolgt von Erwürgen, im zweiten Fall Einschlagen des Schädels. Mühselig ist die Feststellung schon, denn die vertrocknete Haut lässt sich kaum abpräparieren. Um die vermuteten Einblutungen in tieferen Körperbereichen aber sicher beurteilen zu können, muss ich an einer ganzen Reihe von Stellen ins Gewebe hinein.

Die Ausrüstung des Tatortkoffers des BKA lässt für diese Zwecke zu wünschen übrig. Er wurde ja auch nicht für einen solchen Einsatz geplant. Die Handsäge ist kaum brauchbar, das Sägeblatt schlägt Wellen. Die abgetrennten Köpfe lassen sich kaum halten. Ich drücke sie gegen meinen Bauch und säge mit der anderen Hand.

Minutenlang sägen und der Toten dabei ins Gesicht schauen: ein weiteres Highlight in der Berufslaufbahn.

Augen starren mich an

Eine der Leichen hat der Täter im Stadium der ausgeprägten Totenstarre zersägt, das ist noch ermittelbar. Denn alle seine anatomischen Kenntnisse haben bei der starren Stellung der Beine nichts genutzt. An der einen Seite wurde durchs Becken, an der anderen durch den Oberschenkel gesägt. Der Genitalbereich wurde dabei zerstört.

Weil Mohammed nachfragt, berichte ich von meinen Beobachtungen. Seine Deutschkenntnisse führen dabei zu einem Lapsus: ›Wie heißt es in Deutsch, wenn Mann mit Frau schläft und Frau hat wenig Spaß?‹, fragt er mich. Dass er damit das Wort ›Vergewaltigung‹ umschreiben möchte, wird mir erst im zweiten Anlauf klar.

Nachdem die Leichen fertig obduziert, Proben genommen, alle Befunde katalogisiert und fotografiert sind, kommt die Belohnung: Die Polizeibeamten möchten uns einen Felsenpalast ganz in der Nähe zeigen. Wir sind nur zu gerne bereit zu diesem sicherlich netten Ausflug.

Wir fahren etwa eine halbe Stunde, erst über Asphaltstraßen, dann kommen Feldwege. Beeindruckende Felsmassive, in der Tiefe ein fruchtbares Wadi mit Qat-Plantagen. Alle Reisebegleiter haben natürlich schon längst wieder mit Qat gefüllte dicke Backen, fällt mir auf.

Natürlich hat man uns das Zeug auch angeboten. Nach kürzester Zeit versuchten wir aber, die Blätter wieder unauffällig loszuwerden, ich fand den Geschmack scheußlich.

Der Felsenpalast ist wirklich sehenswert, auf dem Rückweg können wir noch im Polizei-Shop einkaufen: Gürtel, Polizeihemden. An das notwendige Herunterhandeln der Preise haben wir uns schon gewöhnt.

Später kommen noch einmal Mohammed und der Polizeichef in die Halle unseres Hotels. Morgen wollen sie alle ermittlungstechnischen Versäumnisse der letzten vier Wochen nachholen. Der Innenminister sei überhaupt nicht glücklich über unsere Abreise morgen, er sei sogar dagegen. Wir sehen uns an: Unsere Pässe sind immer noch weg. Mal schauen!

Die Nacht wird schrecklich: Beim Versuch einzuschlafen, säge ich immer wieder den an meinen Bauch gepressten Kopf auf. Die aufgerissenen Augen starren mich an. So etwas ist mir schon lange nicht mehr passiert.

Am nächsten Morgen nehme ich mir noch einmal die von den Anatomen als unbekannt abgelehnten Knochen und Leichenteile vor.

Toralf hat wieder Einbestellungen zum Verhör, und alle Beteiligten werden zur Speichelprobenentnahme vorgeführt. Ich bitte Toralf auch um die Entnahme bei Adam im Gefängnis. Frau Rabe in der Botschaft hat wieder hervorragend und schnell getippt. Das ist gut, denn ich muss den vorläufigen Bericht für den Innenminister fertigstellen.

Toralf hat die Herrschaften auch auf einen blutigen Fingerabdruck im Labor aufmerksam gemacht, der vorher offensichtlich nicht aufgefallen ist. Plötzlich entsteht Hektik, an Qat-Kauen ist nicht mehr zu denken.

Von mir möchte man eine Untersuchung des Vaginalabstrichs des einen Opfers. Zu meinem Schrecken hat man tatsächlich Objektträger und ein Mikroskop aufgetrieben. Nun ist es an mir, die Labore nach irgendetwas Farbigem zu durchsuchen, um die möglichen Spermien und Hautzellen anzufärben. Ich finde Gentian-Violett. Die medizinisch-technischen Assistentinnen zu Hause würden sich wahrscheinlich kringelig lachen, wie ich mich mit den Objektträgern abgebe. ›Hitzefixation‹ – also das kurze Erwärmen der Objektträger zum Befestigen der Zellen – fällt mir plötzlich nach den ersten vergeblichen Färbeversuchen wieder ein.

Mittags hat Mohammed Fisch und Gemüse bestellt. Wir haben zwar keine Zeit, denn der Innenminister wartet, aber die Höflichkeit gebietet es, dennoch zu essen. Wir setzen uns auf den Boden und essen den fantastisch schmeckenden Fisch mit den Fingern. Das Fladenbrot wird ins Gemüse gedippt.

Nun aber auf zur Botschaft. Der Bericht muss noch ausgedruckt werden. Doch die Offiziellen kommen uns schon auf der Straße entgegen. Wir beschließen, dass Toralf versucht, den Bericht in der Botschaft auszudrucken, und dann nachkommt. Ich fahre schon mal zum Innenminister vor.

Wir kommen aber nicht weit, denn im selben Moment kehrt der Präsident ins Land zurück. Man hat für den Empfang die Hauptstraße gesperrt, und nichts läuft mehr. Gott sei Dank ist der alte BMW nicht nur gepanzert, sondern auch voll klimatisiert. Wir sehen den Präsidenten im Korso die Strecke entlangfahren und gehen letztendlich zu Fuß ins Innenministerium.

Der Minister ist auch gerade erst angekommen. Er erwartet einen längeren Bericht und stellt gezielt Nachfragen. Mittlerweile stößt auch Toralf wieder zu uns. Der fünfundsechzigseitige Bericht (auf Deutsch) beeindruckt die anwesenden Herren sichtlich. (Wir hatten ihn mit einigen Formatierungstricks noch einmal um zehn Seiten gestreckt.) ›So etwas steht hierzulande für mindestens ein Jahr Arbeit‹, raunt ein Botschaftsangehöriger uns zu. Nun, der Innenminister bedankt sich sehr herzlich, übergibt Gastgeschenke und wünscht eine baldige Wiederkehr für die Fortsetzung der Untersuchung.

Die Aussage, dass unserer Meinung nach von den zwanzig bis dreißig Leichen ›nur‹ zwei als Opfer von Adam infrage kommen, beruhigt ihn und stärkt seine Position. Es handelt sich also nicht um einen Serienmörder.

Zum Abschied erscheint noch einmal Mohammed, in Gala-Uniform und mit dem dazugehörigen Krummdolch. Als uns in letzter Minute eine Limousine zum Flugzeug aufs Rollfeld fährt, umarmen wir uns.

Beim Nachtflug gelingt es mir zum ersten Mal in meinem Leben, im Sitzen zwei Stunden zu schlafen. Man wird wirklich langsam älter. Nach einer Zwischenlandung in Beirut staune ich: Beginnt bei mir ein Delirium infolge tagelangem Alkoholentzug? Ich sehe ein Wölkchen im Flugzeug! Doch Toralf beruhigt mich. Bei der Fluggesellschaft Jemenia darf noch geraucht werden.

Umsteigen in Frankfurt, morgens um acht Landung in Düsseldorf. Von meiner früheren panischen Flugangst ist wirklich nichts geblieben. Ausschlaggebend war sicher der Flug mit der Transall in den Kosovo, der alles Vorige und Folgende in den Schatten stellte.

Mittlerweile sind einige Wochen vergangen. Toralf hat die mitgebrachten Proben zu mir nach Düsseldorf gebracht, und die DNA-Untersuchungen laufen. Der Innenminister des Jemen hat seine Bitte um erneuten Besuch tatsächlich offiziell wiederholt. Was kommt, bleibt abzuwarten. Der Einsatz, so anstrengend er auch war, hat Spaß gemacht, und die erledigte Arbeit hat befriedigt, vergleichbar mit den Anfangszeiten des Kosovo-Einsatzes.

Die Teamkombination Kriminalist plus Rechtsmediziner hat sich bei diesem Einsatz bewährt und sollte als Minimalbesetzung beibehalten werden. Zweiundzwanzig Leichen und über hundert Leichenteile in der kurzen Zeit sollten bei gleichzeitig anfallender Ermittlungstätigkeit zwar nicht das Regelprogramm für zwei Personen werden, aber es war zu schaffen.

Ich wäre jedenfalls und jederzeit zu einem weiteren derartigen Einsatz bereit.«

Schluss

Mit diesen wahren Worten, die für alle Forensiker gelten, endet die wilde und vielfältige Fahrt durch die Welt der Kriminalistik, wie sie sich in der echten Arbeit darstellt. Der Alltag sieht zwar oft weniger spannend aus, als es hier scheinen mag, und viele Kollegen beschäftigen sich nur selten mit derart extremen Fällen. Doch wer sich, egal, in welchem kriminalistischen Arbeitsbereich, den kindlich-neugierigen Blick für das Ungewöhnliche bewahrt und hin und wieder an den im Vorwort angesprochenen Rand des Randes vorwagt, wird zu der schönen Einsicht kommen, dass die Wirklichkeit nicht nur spannender als jeder Roman ist, sondern auch deutlich zeigt, dass wir zwar vieles wissen, aber noch lange nicht alles verstanden haben, was Menschen zu dem macht, was sie sind: eine Laune der Evolution, die wir oft genug nur beschreiben, aber nicht begreifen können.