3. SERIENMORD: JÜRGEN BARTSCH VS. LUIS ALFREDO GARAVITO
»Everything we can imagine does exist.«
Da in diesem Buch, wie bereits angedeutet, nicht so sehr von Ermittlungen, sondern von der gesellschaftlichen Einordnung der Taten und den Eigenheiten der Täter die Rede sein soll, möchte ich im Folgenden die Taten und Denkweise zweier ungewöhnlicher Täter beschreiben.
Sie wuchsen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern auf, waren verschieden alt, kannten sich nicht, wussten nicht mehr von anderen Serienmördern als jeder durchschnittliche Mensch, konnten ihre eigenen Taten nie verstehen und waren doch beide gleich: homosexuelle pädophile Sadisten.
Der erste Täter ist Jürgen Bartsch, und manch einer von Ihnen wird sich noch an ihn erinnern.
Lassen Sie sich trotzdem überraschen – ich habe versucht, der Forderung von Bartschs väterlichem Freund Paul Moor nachzukommen, erstens etwas Neues und zweitens etwas Weiterführendes zu diesem Fall zu berichten. Ich glaube, dass das am besten durch die bislang noch nicht veröffentlichten Briefe Bartschs möglich ist, die ich weitgehend unkommentiert hier abdrucken möchte. Sie geben meiner Meinung nach einen besseren Einblick in die Seele des Täters als langes Nachgrübeln.
Etwas Ähnliches versuche ich mit einem Bericht über Bartschs Entsprechung, den Kolumbianer Luis Alfredo Garavito, der über dreihundert Kinder totgefoltert hat.
Bitte bedenken Sie beim Lesen der Texte, besonders der Briefe von Jürgen Bartsch, Folgendes: Paraphile – also an unheilbaren Zwängen leidende – Menschen sind in ihren Taten weder gut noch böse. Sie als Leser sollen die Täter weder lieben noch bemitleiden, und jeder kann Ihren Wunsch verstehen, hoffentlich niemals einem pädophilen Sadisten zu begegnen. Versuchen Sie aber trotzdem, Ihren Hass auf die Taten eine Zeit lang beiseitezuschieben. Vielleicht können Sie dann die pechschwarze Schicht aufkratzen, die jeden Serienmord umgibt und bedingt. Das erlaubt Ihnen einen Blick auf denjenigen Teil der Psyche, den niemand von uns steuern kann und der bei paraphilen Serientätern leider ein mörderischer Zwang ist.
Verstehen müssen und können wir die Taten ohnehin nicht. Kein Kriminalist, Psychiater, Rechtsmediziner, Journalist oder Priester, aber auch keiner der paraphilen Serienmörder selbst weiß, wie und warum aus einer befruchteten Eizelle eine Kinder zu Tode folternde Bestie wird. Einig sind wir uns aber immerhin darin, dass pädophile Sadisten wirklich Bestien sind – das sagen die Täter oft genug über sich selbst. Doch ob sie für ihre Taten verantwortlich sind, das ist eine ganz andere Frage. Denn wer unter einem Zwang steht, den niemand begreift und der größer und stärker ist als jeder Wille, ist doch ganz offensichtlich kein gesunder, sondern ein kranker Mensch.
Jürgen Bartsch
Fallübersicht
Um die Briefe, die Jürgen Bartsch am Ende seines Lebens geschrieben hat, besser einordnen zu können, folgt zunächst eine kurze Fallübersicht. Die Ermittlungen waren nicht schwierig, weil das letzte Kind fliehen und den Täter beschreiben konnte. In dem Stollen, aus dem der Junge geflohen war, fanden sich zudem alle Leichen der übrigen verschwundenen Kinder. Aus polizeilicher Sicht war der Fall zwar unbegreiflich, aber schnell aufgeklärt. Die Probleme traten erst an anderer Stelle auf: vor Gericht, als es darum ging zu entscheiden, ob Bartsch sich hätte gegen seine Taten entscheiden können. Die folgenden Details schildere ich übrigens nicht aus Freude am Grausigen, sondern weil sie im Fall Garavito und zum Vergleich der Taten von überraschender Bedeutung sind.
Die Taten
Jürgen Bartsch war gerade einmal neunzehn Jahre alt, als er 1966 festgenommen wurde. Die Täterbeschreibung des letzten Opfers hatte, wie schon gesagt, die Ermittlungen einfach gemacht. Bei der Befragung gab Bartsch zu, dass er das überlebende Kind durch Schläge foltern, häuten und zerstückeln wollte. Dem Opfer war es aber gelungen, sich mit der Flamme einer Kerze (eine weitere Kerze war beim Befreiungsversuch erloschen) die Fesseln durchzubrennen, als Bartsch bei seinen Eltern pflichtgemäß zu Abend aß und fernsah, wie er es jeden Tag ab neunzehn Uhr musste.
Zwischen 1962 und 1966 hatte Bartsch allerdings schon vier Jungen umgebracht, genau in dem für Pädophile interessanten Alter zwischen acht und zwölf Jahren: Klaus Jung (8), Rudolf Fuchs und Ulrich Kahlweiß (12) sowie Manfred Graßmann (11). Die niedrige Opferzahl täuscht über die vielen hundert Versuche hinweg, die Bartsch unternommen hatte, um Kinder zu überreden, mit ihm in einen etwas abgelegenen Stollen im Ruhrgebiet zu fahren. Er war vorsichtig genug, um Kinder, die misstrauisch waren oder auf der Kirmes behaupteten, dass ihre Eltern in der Nähe seien, sofort gehen zu lassen.
Der Tatablauf war danach immer sehr ähnlich. Bartsch lockte die Kinder mit einer Geschichte und dem Auto seiner Eltern (oder Taxis) zu einem alten Stolleneingang, der direkt an der Straße lag und offen stand, weil er im Krieg als Schutzbunker gegen Luftangriffe gedient hatte (Fotos vom Stollen im Buch Mordmethoden, Abb. 18–23). Das Geld für die vielen Taxifahrten stahl Bartsch aus der Ladenkasse der Eltern.
Bartsch fesselte die Kinder dann (teils schon im Auto), schlug sie, berührte ihren Penis, onanierte während und nach den Taten und tötete die Kinder zuletzt durch Schläge und Würgen.
Dann zerstückelte er die Leichen und schnitt dabei teils auch ihren Kopf ab. Die inneren Organe zog Bartsch aus Bauch und Brust, bohrte die Augen heraus, kastrierte die Leichen, versuchte in mindestens einem Fall auch eine Vergewaltigung und verscharrte die Körperreste zuletzt lustlos an Ort und Stelle im Stollen. Zuvor nahm er sexuelle Handlungen an den Leichenteilen vor, was ihm Orgasmen bereitete.
Ob er Teile des herausgeschnittenen Fleisches aß oder nicht, war nicht zu klären. Das ist erstaunlich, weil Bartsch als einziger Serienmörder in der Geschichte ein nicht nur volles, sondern auch detailliertes Geständnis ablegte. Nur zur Frage, ob er Fleischstücke seiner Opfer gegessen hatte, sagte er nichts – Bartsch sprach nur davon, die Leichenteile »mit dem Mund berührt« und »eingehend von innen und außen befühlt und auch berochen« zu haben.
Mit zunehmender Opferzahl wurde Bartsch in der Tatausführung erfahrener und quälte die Kinder nun stärker, ohne sie gleich zu töten. Sein letzter Mord macht das deutlich. Hier kam er seiner Zielvorstellung schon recht nahe: das Kind bei lebendigem Leib zu schlachten. Am Muttertag 1966 fesselte Bartsch sein Opfer Manfred Graßmann zunächst im Stollen, um dann mit einem vorbestellten (!) Taxi nach Hause zu fahren. Vom Taxifahrer lieh er sich noch eine Bürste zum Reinigen seiner Kleidung und Schuhe.
Gegen Mitternacht schlich sich Bartsch zurück zum Stollen, nahm dem Jungen die Fesseln ab und trat ihn dann möglichst fest, um ihn zum Schreien zu bringen. Dann zerschnitt Bartsch ihm die Sehnen des linken Knies, stach ihm in die Niere und befahl ihm, in der Höhle umherzulaufen. Die letzten Worte des Kindes waren nach Bartschs eigener Aussage: »Kommst du jetzt hinter Gitter?«
Seine eigentliche Zielfantasie erreichte Bartsch nie, weil er die Kinder nach seiner Vorstellung stets zu schnell tötete. Er berichtete dazu:
»Ich will immer Kerzen (in die Höhle) mitnehmen, zum Beispiel keine Taschenlampe. Das ist bei mir so wie bei manchen Eheleuten, die brauchen rotes Licht, das gibt es. Das ist wegen der Stimmung, die durch die Wärme des Lichtes kommt. Außerdem sieht jemand, der ausgezogen ist, bei Taschenlampenlicht verhältnismäßig unappetitlicher aus als bei Kerzen…
Ich würd’ (zu dem Kind) schon sagen, halt schön still, sonst hau ich dir eine, weil ich es immer schön empfunden habe, das Kind selbst auszuziehen, auch wenn sie es aus Angst schon lieber selber getan hätten. Es müsste schon schreien…
Dann würde ich anfangen zu schneiden, knebeln würde ich nicht, denn das Schreien würde ich gern hören. Ich würde also wahrscheinlich oben mit dem Schlachtermesser anfangen, am Brustbein bis ziemlich unten hin. Schneiden würde ich nur so tief, dass das Bauchfell und das Zwerchfell durch ist. Blut stört nicht. Die Därme dürfen nicht kaputt sein. Dann würde ich es so lassen und erst das Geschlechtsteil abschneiden.
Dann würde ich das Messer weglegen und, so weit es geht, die Därme herausnehmen. Jetzt weiß ich nicht, lebt das Kind noch oder nicht? Ich könnte mir vorstellen, dass das Kind dann noch lebte. Die Därme würde ich hinten abreißen, nicht schneiden. Dann wird das Kind ja höchstwahrscheinlich noch schreien.«
Bei der Auswahl seiner Opfer war Bartsch zwar vorsichtig, aber er hatte sehr genaue Vorstellungen davon, wie die Kinder auszusehen hatten: weiche Haut, kaum behaart, sanftmütig. Um ihnen Vertrauen einzuflößen, lud er sie beispielsweise in die Stadtschänke Neviges ein, wo er ihnen Apfelsaft spendierte.
Um die Kinder dazu zu bewegen, ihm in den Stollen zu folgen, erzählte er ihnen nicht nur eine Räuberpistole, sondern schenkte ihnen auch fünfzig DM, ein damals nicht nur für das arme Nachkriegs-Ruhrgebiet hoher Geldbetrag.
Ähnlich ging Bartsch auf den Kirmessen vor, wenn er die Kinder zu Gratisfahrten, beispielsweise im Autoskooter, einlud. So konnte er – auch für die Eltern der Kinder unauffällig – mit seinen möglichen Opfern in Kontakt kommen, da man ihn für den Ordner des jeweiligen Fahrgeschäfts halten konnte.
Die Taten wären mehrmals beinahe aufgeflogen. Besonders knapp war es, als Bartsch nach der Tötung von Klaus Jung im März 1962 der Meinung war, man müsste ihm die Taten ansehen, und daher einen Priester zu Hause aufsuchte, um zu beichten. Der Beichtvater meldete sich nicht bei der Polizei, riet Bartsch aber immerhin, sich zu stellen.
Das tat Bartsch nicht, verriet aber einem befreundeten Jungen namens Volker seine Tat. Der glaubte kein Wort, erzählte aber wiederum einem Freund die Geschichte. Nun wurde Bartsch die Sache doch zu heiß, und er brachte Volker in den Stollen. Zuvor hatte er die Leiche von Klaus Jung rasch begraben, sodass er nun »beweisen« konnte, dass sein Geständnis nur ein Märchen gewesen war.
In einem anderen Fall (Frühjahr 1962) zwang er ein Kind am helllichten Tag mit vorgehaltener Schreckschusspistole, mit ihm im Bus bis 1,6 Kilometer an den Stollen heranzufahren. Der entführte Junge traute sich nicht, im voll besetzten Bus etwas zu sagen, da er fürchtete, dass Bartsch ihn dann vor allen Leuten erschießen würde. Auch auf dem anschließenden Fußweg zum Stollen traute sich der Junge nicht zu fliehen. Bartsch war aber trotzdem so in Panik, dass er dem Jungen schließlich Fahrgeld in die Hand drückte und ihn unversehrt ziehen ließ.
Auch bei der Tötung von Ulrich Kahlweiß gab es Spuren, die Bartsch leicht hätten in die Enge treiben können, wäre er nicht so geistesgegenwärtig gewesen. Sein Freund Volker entdeckte im Wagen, in dem er Kahlweiß entführt und geschlagen hatte, Blutflecken an den Scheiben und am Wagendach. Bartsch behauptete, es handle sich dabei um Reste vom letzten Schlachttag, die »der Lehrling nicht gesäubert« habe.
Bartsch erklärte später, er habe seine Opfer durchaus gemocht, ja auf seine Art sogar geliebt und sie keineswegs aus Hass umgebracht. Diese Aussage ist heute etwas verständlicher, da uns die Idee der »Bindung durch Einverleiben« mittlerweile vertraut ist.
Allerdings hatte Bartsch auch weniger stark von Gewalt geprägte Beziehungen, besonders zu dem schon erwähnten Volker. Von Anfang bis Mitte 1966 bezahlte Bartsch ihm je fünfzig bis hundertzwanzig DM aus der elterlichen Kasse für nächtliche Besuche mit Geschlechtsverkehr.
Im Internat hatte er zuvor allerdings schon grenzwertige Gefühle erlebt: Als er mit seinem Freund Detlef aus dem Heim abgehauen war, versuchte Bartsch, ihn vor einen Zug zu stoßen, der gerade vorbeifuhr. Detlef wertete dies als zufälliges Anrempeln, Bartsch gab aber später zu, dass er den Penis seines Freundes hatte berühren wollen. Da er aber fürchtete, zurückgewiesen zu werden, wollte er den Freund erst töten.
Bartschs Familie
Bartsch war ein uneheliches, adoptiertes Kind. Seine genetische Mutter hatte »sexuell bedingte Erziehungsschwierigkeiten« und war im Heim gewesen. Da ihr Ehemann nicht vom Russland-Feldzug heimkehrte, hatte sie eine Beziehung mit einem Bergmann begonnen, aus der Jürgen Bartsch hervorging. Seine leibliche Mutter litt an offener Tuberkulose und hatte das Krankenhaus nach der Geburt ihres Sohnes kommentarlos verlassen. Fünf Monate später war sie tot.
Im Krankenhaus kümmerten sich insgesamt sechs Schwestern abwechselnd um das Baby, bis im Frühsommer 1947 Bartschs spätere Mutter ins Krankenhaus kam. Allerdings war sie nicht auf der Suche nach einem Adoptivkind, sondern musste sich einer Unterleibsoperation unterziehen. Da sie nun keine Kinder mehr haben konnte, hatte sie sich mit ihrem dreiunddreißig Jahre alten Ehemann geeinigt, ein Kind zu adoptieren. Der kleine Karl-Heinz (später Jürgen) hatte auf der Babystation und beim Umhertragen durch die Schwestern niedlich ausgesehen, sodass sie ihn auswählte: »Mein Goldkind«, nannte sie den kleinen Karl-Heinz damals. Im Alter von elf Monaten wurde Karl-Heinz Sadrozinski zu Jürgen Bartsch (formell wurde die Adoption allerdings erst 1952 bestätigt).
Der Charakter von Mutter Bartsch ist aus heutiger Sicht schwer einzuschätzen. Der damals gegen Bartsch ermittelnde Polizist Armin Mätzler beschrieb Frau Bartsch als »streng, liebevoll und behütend«, während Bartschs Freund, der Journalist Paul Moor, sie für »gluckenhaft und gefühlskalt« hielt. Sicher ist, dass Frau Bartsch in der Metzgerei, die sie mit ihrem Mann betrieb, hart arbeitete, was in einem kleinen Familienbetrieb aber normal ist. Sicher ist auch, dass sie den Sohn schlug und übertrieben zur Sauberkeit anhielt, was damals zwar ebenfalls nicht unüblich war, aber durch Frau Bartschs Ekel vor Unreinheit noch gesteigert wurde.
Weil Frau Bartsch verhindern wollte, dass die uneheliche Herkunft ihres Adoptivsohnes bekannt wurde, schirmte sie ihn stark von anderen Kindern ab und hatte bis zuletzt Vorsorge getroffen, dass ihr Sohn nachts nicht herumstromern konnte: Er musste im Schlafanzug mit den Eltern fernsehen und dann ins Bett gehen; seine Tageskleidung lag anderswo in der Wohnung. Bartsch war aber klug genug, sich Reservekleidung in einer Betonröhre am Haus bereitzulegen.
Bartschs Adoptivvater Gerhard spielte in dem gesamten Verfahren kaum eine Rolle. Er ließ die Taten seines Sohnes nie ganz an sich heran und konzentrierte sich vor allem auf die Metzgerei. Bezeichnend war seine Anfrage bei Gericht, ob er wirklich eine Aussage machen müsse, da er an dem betreffenden Tag sein Geschäft schließen müsse. In der zweiten Verhandlung sagte er zwar offen und selbstkritisch aus, belastete aber auch seine Frau. »Sie wollte eine Puppe haben, kein Kind«, erklärte er dem Richter.
Im Gefängnis und später in der Psychiatrie kümmerten sich vor allem seine Adoptivmutter und seine Tante um Bartsch. Das Gericht war recht großzügig und erlaubte den beiden Damen, »ihren« Jürgen mit Krimis, Micky-Maus-Heften und kleinen Zaubertricks sowie der Zeitschrift für Illusionskunst Magische Welt zu versorgen. Bartsch war seit Oktober 1965 auch Mitglied im Magischen Zirkel. Er wurde aber ausgeschlossen, als seine Taten bekannt wurden.
Die Zauberkunststücke Bartschs sind im Nachhinein recht interessant. Es handelt sich dabei oft um mentale und um Kartentricks sowie sogenannte Selbstläufer. Diese Tricks funktionieren auch ohne große Begabung und verblüffen immer, weil das Trickprinzip nicht zu erkennen ist. Mehrere der Kunststücke erforderten allerdings Übung und Merkvermögen, wie beispielsweise der Q.E.D.-Zylinder, mit dem man laut Anleitung »jeden Wochentag vom Jahr 1900 bis 1999 schnell und zuverlässig berechnen« kann. Solche Tricks zu lernen war für Bartsch kein Problem: Er hatte einen Intelligenzquotienten von 107, obwohl er nur ein mittelmäßiger Schüler war.
Dass er Illusionstricks so mochte, mag daran liegen, dass Bartsch als Kind kaum Kontakt zu Gleichaltrigen hatte und vielleicht davon träumte, mit den Kunststücken ein wenig Aufmerksamkeit und auch Überlegenheit zu gewinnen. Das gelang ihm aber nicht, denn einen der wenigen Jungen, mit denen sich Bartsch anfreundete, verprügelte er bei gemeinsamen Sexspielchen so sehr, dass dies ihre Freundschaft überschattete. Bartsch konnte sich in solchen Momenten selbst nicht erklären, was über ihn gekommen war.
Mutter Bartsch
Während der Zusammenarbeit mit seinem Verteidiger Rolf Bossi veränderte sich Bartschs bis dahin freundliche Haltung gegenüber seiner Mutter. Er berichtete, dass sie im Laden einmal ein Messer nach ihm geworfen hätte – in einer Metzgerei sicher ein eindrückliches Erlebnis. Zudem gab er an, dass seine Eltern niemals mit ihm gespielt hätten, weil sie im Laden so beschäftigt waren.
Stattdessen wurde er auf Ordnung gedrillt. Seine Kleidung musste Bartsch penibel falten, und bis zu seiner Verhaftung wurde er noch von seiner Mutter gebadet. Es ist aus heutiger Sicht schwer zu entscheiden, was davon schlicht den biederen Geist der 1960er-Jahre widerspiegelt. Tatsache ist, dass Bartsch immer dem typischen Bild des sehr stark an seine Umgebung angepassten, äußerst stillen Jungen entsprach, dem niemand etwas Böses zutraut und der zu allen Menschen höflich ist. Das war nicht aufgesetzt: Beim Schlachten im Metzgerladen wollte er nicht helfen, weil die Tiere »so treuherzig« schauten, und im katholischen Internat, in das ihn die Eltern von 1958 bis 1960 gesteckt hatten, las er am liebsten Mädchenbücher von Johanna Spyri.
Nach der ersten Gerichtsverhandlung berichtete Jürgen Bartsch, dass er im katholischen Internat von einem Priester nicht nur geschlagen, sondern im Jahr 1960 auch sexuell missbraucht worden sei, während er erkältet das Bett gehütet hatte. Obwohl diese Geschichte für jeden, der die damaligen Verhältnisse in katholischen Internaten kennt, sofort glaubhaft ist, meldet Polizist Mätzler bis heute Bedenken an und verweist darauf, dass sich Bartschs Persönlichkeit durch das große Interesse der Öffentlichkeit wandelte und vielleicht auch zu Erfindungen führte. Es ist aber nach der Aussage anderer Schüler erwiesen, dass der betreffende Lehrer, Priester und Chorleiter seine Schützlinge schlug, »bis ihm der Schaum vor dem Mund stand«.
In der Psychiatrie
Tiefer gehende psychiatrische Untersuchungen lieferten keine anderen Ergebnisse als die, die man auch heute noch vor Gericht bei besonders schweren Taten hört: Die eine Partei war überzeugt, dass der Junge die Morde nicht hätte begehen müssen, wenn er nicht gewollt hätte. Die andere Seite meinte, dass ein Mensch, der an kaum etwas anderes als das Totfoltern von Kindern denken kann, wohl keinen freien Willen haben könne.
Die Gerichte sahen es ebenso widersprüchlich. In der ersten Verhandlung im Jahr 1967 wurde entschieden, dass Bartsch – da er ja unbestritten wusste, dass er Unrecht tat – seine Impulse auch hätte kontrollieren können. In einem Satz: Bartsch war zwar vom Bösen beseelt, hätte sich davon aber durch Standhaftigkeit befreien können.
Zum Ende der zweiten Verhandlung (1971) vertrat man die Gegenposition: Seine sadistischen Fantasien hätten alle moralischen Grenzen in ihm zerstört. Dadurch sei jeder möglicherweise vorhandene gute Wille untergraben worden – seine Taten waren unausweichlich. Das bedeutete nun, dass Bartsch psychisch verändert und nicht absichtlich böse war. Also wurde er im Oktober 1972 aus dem Gefängnis in Köln-Ossendorf in die Psychiatrie Eickelborn überführt. Aus dieser Zeit stammen auch die hier erstveröffentlichten Briefe, die Sie weiter unten finden.
Die Behandlung Bartschs in der Psychiatrie war allerdings nicht so, wie sie hätte sein sollen. Man hatte erstens nicht genügend Personal und versuchte daher, den auch mit heutigen Mitteln unheilbaren Täter zusammen mit den anderen psychisch veränderten Menschen in Gruppengesprächen zu behandeln. Bartschs Verbrechen sprengten jedoch völlig den Rahmen, sodass er unzufrieden war und den Sitzungen oft fernblieb.
Zweitens war er räumlich in der Psychiatrie stärker eingekerkert als im Gefängnis, da man einen Selbstmord fürchtete. Anders als in der Kölner Haftanstalt gab es auch keine Weiterbildungsmöglichkeiten vor Ort, sodass Bartsch sich verstärkt langweilte. Umso glücklicher konnte er über die Versorgung mit Heftchen und Tricks durch seine Mutter und Tante sein.
Bartsch war ein anstrengender Mensch, der Aufmerksamkeit verlangte. Wollte man ihm als Briefpartner nahe sein und helfen, so sollte man auch Taten folgen lassen – das forderte Bartsch sehr direkt ein. Den damaligen Sexualkundler Hans Giese, der während des Verfahrens starb, brachte Bartsch dadurch derart in Bedrängnis, dass Giese vom Gericht beinahe die notwendige Objektivität als Sachverständiger abgesprochen worden wäre.
Auch von seinen anderen Briefpartnern forderte Bartsch immer wieder Hilfe, Unterstützung und Aufmerksamkeit. Dabei zwang schon seine winzige Handschrift zur höchsten Konzentration; viel mehr forderte aber noch der intensive Inhalt der Briefe.
Einige Beispiele sollen dies im Folgenden zeigen. Wie schon gesagt, handelt es sich um unveröffentlichte Dokumente, und die Person, mit der Bartsch hier korrespondierte, möchte derzeit ungenannt bleiben. Daher sind die Textstellen, die sich auf das Leben der Person beziehen, gestrichen; Bartsch nahm aber sehr wohl Anteil an den Berichten seiner Briefpartner. Man kann sich aber auch ohne diese persönlichen Bezüge ausmalen, welche Wirkung die Briefe damals auf die Empfänger gehabt haben müssen.
Damals gab es keinerlei Orientierung für die Briefpartner – das Wissen um unheilbare Wesenszüge (Paraphilien) gab es damals schlichtweg nicht. Umso mehr ist ihnen anzurechnen, dass sie versuchten, Bartsch ein aufrichtiges Gegenüber zu sein, auch als er den von fast allen Menschen als sinnlos empfundenen und gesetzlich problematischen Vorstoß zur Kastration wagte.
Die Kastration war damals längst verboten und stand besonders in Deutschland immer noch im Ruch des nationalsozialistischen Missbrauchs – Bartsch nimmt darauf auch Bezug (vgl. S. 213).
Ich habe bewusst Briefe aus den letzten beiden Jahren seines Lebens gewählt, weil sie zeigen, mit welchem Ernst und Stolz Bartsch daran glaubte, geheilt werden zu können. Er mimte keineswegs den kaltblütigen Täter wie später Charles Manson oder Nico Claux (vgl. S. 117–120), sondern bemühte sich verzweifelt darum, ein normaler Mensch zu werden. Dass es weder damals noch heute ein Heilmittel gegen Paraphilien gibt, konnte er nicht ahnen. Darum hoffte er auch auf die Hypnosebehandlung, von der gleich die Rede ist, und darum erfocht er sich auch die Erlaubnis zur Kastration, die er zuvor mit Händen und Füßen abgelehnt hatte. Sie war für ihn nach fast zehn Jahren erfolgloser Behandlung (abgesehen von den dämpfenden Medikamenten) die letzte Hoffnung.
Ob sich seine Fantasien in der Psychiatrie wandelten, weiß niemand. Vor seiner Verhaftung war Bartsch mehrfach in Bordellen gewesen, hatte sich dort im Wesentlichen aber nur mit den Prostituierten unterhalten und ihnen einige Aktfotos abgekauft. Sexuell empfand er Frauen als unbefriedigend, und ob er wirklich eine geschlechtliche Beziehung zu seiner Ehefrau (die Schwesternhelferin Gisela Deike heiratete ihn am 2. Januar 1974 in der Psychiatrie) hätte aufbauen können, ist fraglich. Sicher ist, dass Bartsch mit Tricks versuchte, an eine »Sexualgeschichte« zu gelangen. Als der Richter das Buch kassierte, behauptete Bartsch, er habe den Buchtitel missverstanden und gedacht, es handle sich um ein Geschichtsbuch. Zu seinen sadistischen Fantasien machte Bartsch zuletzt keine Angaben mehr, was aber angesichts seines Wunsches, wieder freizukommen, verständlich ist.
Unabhängig davon argumentierte Bartsch aber vollkommen zu Recht, dass man ihm zumindest die Chance auf Heilung und Rückkehr in die Freiheit geben müsse, da dies ein grundsätzliches Recht aller Menschen sei. So abwegig sich das für manche Leser anhören mag: Bartsch folgte hier einem rechtlichen Grundsatz, der es verbietet, einen Menschen in Deutschland wirklich ein Leben lang in Haft zu belassen: Niemandem darf in Aussicht gestellt werden, das Gefängnis nie mehr verlassen zu können. Erst mit vermehrter Anwendung der Sicherheitsverwahrung in den letzten Jahren änderte sich das teilweise. Juristisch und vielleicht auch ethisch folgte Bartsch also einer anerkannten Linie und war keineswegs größenwahnsinnig, wie man sonst meinen könnte.
Das letzte Gefecht
Dass die folgenden Briefe einen stark drängenden Unterton haben, ist nicht verwunderlich. Bartsch und seine Briefpartner wussten erstens, dass ihnen die Zeit davonlief, und zweitens, dass das Gericht alles gegenlas. Daher enthielt jeder Brief auch immer versteckte Aufrufe und Beschwerden, die sich an die Behörden richteten.
Bartschs Briefpartner und Kontaktpersonen sind dabei sehr interessant. Dazu gehörten unter anderem der Journalist und Krimiautor Friedhelm Werremeier (er veröffentlichte 1968 das Buch über den Fall Bin ich ein Mensch für den Zoo?), der Sexualforscher Hans Giese sowie der deutschsprachige amerikanische Journalist Paul Moor (Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch, 1972) und noch weitere Personen, die den Mut hatten zu versuchen, eine Bestie zu verstehen. Selbst Kriminaloberrat Günther Bauer aus Recklinghausen fand, dass »Bartsch mit Sicherheit nicht nur eine Episode, sondern ein Symptom unserer Zeit ist, das der Menschheit ihr eigenes, unbewachtes Antlitz zeigt«. Ein solcher Satz von einem Mann des Rechts – das will schon etwas heißen.
Bitte urteilen Sie selbst, ob Bartschs Texten nicht eine tiefe Wahrheit zugrunde liegt, auch wenn wir sie gesellschaftlich vielleicht nicht annehmen wollen oder können. Meiner Meinung nach ist es jedenfalls keinem paraphilen Täter vor Bartsch gelungen, derart schlüssig zu begründen, warum man ihm eigentlich unbedingt und mit allen Mitteln helfen sollte.
Stilistisch fällt einerseits die Sachlichkeit auf, mit der Bartsch die Tötungen schildert, gleichzeitig aber die Inbrunst, mit der er in seinen Briefen für seine eigene Sache kämpft. Meiner Erfahrung nach ist das ein typisches Kennzeichen von paraphilen Tätern: Echtes Mitleid mit anderen kennen sie nicht; sie haben aber einen stark ausgeprägten Sinn für Ungerechtigkeit sich selbst gegenüber.
Wenn Sie sich angesichts von Bartschs fürchterlichen Taten darüber ärgern, dass er in den Briefen über Kartentricks, seinen Namensvetter beim Amt und das Abnehmen plaudert und zudem unbedingt freikommen will, dann stellen Sie sich einfach vor, seine Forderungen nach Menschlichkeit würden von einer anderen Person gestellt, beispielsweise dem Papst, dem Bundespräsidenten oder dem Dalai Lama. Ändern sich dadurch die ethischen Maßstäbe – oder ist es nicht völlig egal, wer sie formuliert?
Die Briefe beginnen, nachdem Bartschs Verteidiger Bossi im Jahr 1973 die Zerstörung der Triebregionen im Gehirn seines Mandanten durchfechten wollte. »Ich lief von Hölzchen zu Stöckchen«, erinnert sich der Strafverteidiger. »Manche Ärzte sagten zunächst zu, schreckten dann aber offenbar doch vor der Verantwortung zurück, die dieser triebhemmende ›weiße Schnitt‹ ins Gehirn mit sich bringt – gerade bei einem solchen Patienten.«
Doch nach Bartschs Hochzeit im Januar 1974 legte sich der Anwalt erneut ins Zeug und fand an der Uniklinik in Homburg (Saar) ein Team, das die Verantwortung auf sich nehmen wollte.
»Das war einer jener euphorischen Momente, in denen auch ein Anwalt den Hoffnungsschimmer zu sehen glaubt, es könne für seinen Mandanten am Ende doch noch eine anonyme, fernab vom Schauplatz aller Ereignisse anzusiedelnde, möglichst allseitig unbeachtete Zukunft geben.
Aber kurz vor Weihnachten 1974 teilte das Ärzteteam mit, Jürgen Bartsch sei ›inoperabel‹. Es müsste durch eine Hirnoperation nicht wie in anderen Fällen nur das Erotisierungszentrum ausgeschaltet werden, sondern zusätzlich das Zentrum für den allgemeinen Antrieb und für die tätige Gedankenbildung, das heißt für die Fantasie.«
Mit anderen Worten: Aus dem nach Besserung lechzenden Serientäter Bartsch wäre wirklich eine Puppe geworden, allerdings nicht die von Mutter Bartsch gewünschte Version, sondern ein hirnloses Abbild. Eine solche Zombifizierung lehnten die Ärzte zu Recht ab, und die von Bartsch im Brief vom 5. April zitierte Äußerung »Wollen Sie sich im Gehirn rumrühren lassen?« wirkt völlig nachvollziehbar. Denn Bartsch hätte durch die OP nicht nur seine Zwänge, sondern auch seine übrige Persönlichkeit verloren.
25. Juni 1974
Vielen Dank für Ihren letzten lieben Brief mit dem Bild. Keine Angst, dass ich Sie nicht erkannt hätte. Dazu käme es nie, wenn man sich so oft gesehen hat. Kennen Sie überhaupt noch, können Sie überhaupt noch die paar Kartenkunststücke, die ich Ihnen damals beibrachte? Oder haben Sie sie inzwischen vergessen? Damals beherrschte ich fünf gute Kunststücke. Heute ungefähr zweihundert. Darf ich stolz auf mich sein?
Meine Liebe gehört heute mentalen Kunststücken. Was heißt, Pseudohellsehen. Gedachte Karten finden, die Gesamtsumme einer erst momentanen Addierung von Zahlen (beliebige) Voraussagen unter fünf Zetteln, ohne hinzuschauen (jeder Zettel ein Vorname, ein Zettel mit dem Vornamen einer verstorbenen Person), den Totenzettel herausfinden, Fortune-Telling mit Spielkarten, die Zuschauer auf Karten Symbole ≈, △, ○, × usw. sehen lassen, wählen lassen, die bei Prüfung im Spiel gar nicht vorhanden sind, sondern sich in einem Umschlag schon vorher (!) in des Zuschauers Tasche befanden, aus einem Buch (oder drei Büchern) ein beliebiges Wort wählen lassen, auf einer Tafel ein gezeichnetes Zuschauerbild duplizieren (obwohl ich das Bild nie gesehen habe) und so weiter. Es ist heute die Art der Zauberei, die Art der Zauberei, die von den Zuschauern am allerhöchsten anerkannt wird. Darum habe ich mich ganz darauf spezialisiert. Es bringt den meisten Erfolg, und je intelligenter das Publikum, je größer die Reaktion.
Ihr Bild wird einen Ehrenplatz erhalten. Ich bin da noch am Überlegen. Was sagt Ihre Frau zu uns? Akzeptiert sie unseren Briefverkehr? Entschuldigen Sie, es fällt mir gerade momentan ein.
Lassen Sie mich nun Ihre Fragen beantworten, vielleicht sehen Sie dann auch, dass nicht alles, nicht alle Welt so human ist wie Sie. Sie können sich nicht vorstellen, dass das negative Gefühl mir gegenüber (von wegen Fall) auch bei einem Arzt mal durchschlagen kann. Tun Sie es! Stellen Sie es sich vor. Sie werden sehen, das geht. Damit will ich nicht sagen, dass dies hier geschieht. Und der Betreffende hätte auch seinen Beruf verfehlt. Verantwortung, sagen Sie. Gut. Aber Verantwortung darf nicht in lediglich reiner Angst ausarten. Sie darf auch nicht in Gar-nichts-tun ausarten, aber eben das geschieht, und das ist Ihnen bekannt. Darum nichts mehr davon. Verantwortung gekoppelt mit Hilfe – müsste es nicht so sein? Da bin ich sachlich und rede mich, steigere mich in nichts rein.
Aber zu Ihren Fragen endlich: Eine Hoffnung nach der anderen zerplatzt wie eine Seifenblase. Ihre Worte. Warum wollte von drei Operateuren keiner? Aus Angst vor Verantwortung. Es könnte einen Rückfall geben. (Theoretisch), es könnte etwas schiefgehen (ein Patient blind, einer tot.) 2. Es geht diesen Fachleuten um irgendein Risiko, das sie eingehen müssten. Aber eben das wollen sie nicht eingehen. Die Pflicht zu helfen tritt dann zurück. Sie… vermuten pro Ablehnung eine detaillierte Begründung. Die gibt es nicht. Jedes Mal nur einen Wisch, wo vom zu großen Risiko die Rede ist. Sie werden sagen »kein Rückfall, medizinisch anerkannte Methode, wo ist da dieses horrende Risiko?« Sie haben recht. Ein großes Risiko betreffs Erfolg besteht gar nicht. Man denkt »da oben« mehr an sich selber, punktum. Beweisen Sie mir das Gegenteil.
Die Anstalt ist u. bleibt hundert Prozent für diese Operation. Da ist es sehr gut, dass es nun wohl doch noch geschehen wird. Meine Eltern haben drei (!) neue Fachleute gefunden. Bossi hat sie schon angeschrieben (nein, er besucht mich nicht persönlich), und es wird privat bezahlt. So (schade, dass es so sein muss) werden wir doch wohl jetzt noch einen guten Fachmann finden, sodass es dieses Jahr noch so weit sein kann. Ja, ich habe wieder ein wenig Hoffnung. Wie sollte man sonst auch leben? Aber diese Hoffnung ist in keiner Weise Verdienst der Anstalt. Meine Frau hat extra dafür einen Kredit aufgenommen! Hätten Sie das erwartet? Ich nicht! Ich dachte, mich tritt ein Pferd.
Ersehen Sie bitte, wie sehr meine Frau mich liebt. Es muss die Hölle für sie sein. Ich war ehrlich erschüttert ob dieses Liebesbeweises. Ich habe auch allen Grund dazu. Sie versorgt mich so gut, fast als ob ich bei ihr sei.
Ihre Sorge: Ob ich, falls ich jemals frei sein würde, weiter zu ihr stehen würde. Diese Sorge ist unnütz, da ich sie nicht weniger liebe als sie mich (außerdem wäre ich dann ein Schwein, und das bin ich nicht).
So, nun möchte ich… langsam für heute Schluss machen. Seien Sie bis zum nächsten Mal vielmals gegrüßt von Ihrem
ANIMAL Jürgen
∗ ∗ ∗
12. September 1974
Wie geht es Ihnen? Bei der Beschreibung Ihres Ausflugs ins Bergland könnte man ja neidisch werden.
Die ganze Zeit danach habe ich sehr gut ausgehalten, da muss ich mir ein Lob ausstellen. Unter den strengen Bedingungen hier, zweiundzwanzig Monate in diesem Haus, bedeutet das schon was. Den Haftkoller bekomme ich nur periodisch, etwa jedes halbe Jahr. Bei den meisten anderen wirkt Unterbringung sich seelisch als Aggression aus. Bei mir wirkt es sich als vegetativer Zusammenbruch aus (immer noch besser als Mobiliar zu zerschlagen). Platzangst, damit fängt es an. Als Nächstes kommen die Wände auf mich zu, zittern, kann weder sitzen noch liegen, nicht mehr sprechen, der Kehlkopf schließt sich immer wieder, Vernichtungsgefühl, Todesangst (unmotiviert) u. das Gefühl des Erstickens, durch die Kehlkopf-Lähmung. (Die Psychiater haben ein sicher zutreffendes Spezialwort dafür: Globohysterikus.)
Irgendwie scheine ich dabei unbewusst auch Rache an mir selber zu üben. Das erste Mal, dass es auftrat, dachte ich: »Vielleicht gut, dass du selbst einmal erfährst, wie es ist, keine Luft zu bekommen.« – Beruhigungsmittel, Schlafspritzen – es muss dann sein – und nach anderthalb Wochen habe ich wieder für ein halbes Jahr Ruhe. Dann geht’s prima. Ein halbes Jahr. Aber sorgen Sie sich deswegen bitte nicht. In der Beziehung bin ich hier in besten Händen.
Mit meiner Frau entwickelt sich alles bestens. Genau noch so, wie ich es Ihnen schrieb.
Operation: Wann, wo, wie, das darf ich laut meinen Ärzten nicht schreiben, obwohl ich es für Sie tun würde. »Auch dem besten Freund nicht.« Warum? Die Gründe der Ärzte respektiere ich. Darum nur: Ein Hoffnungsschimmer, nach viel zu vielem Nein. Dieses Jahr noch? Kann sein. Nicht viel mehr als eine Hoffnung, aber ich klammere mich natürlich daran. Drücken Sie mir bitte die Daumen. Es muss noch sehr viel gut gehen, wenn es überhaupt gut gehen soll. Bei Gelingen des Eingriffes ist mir Förderung und mehr zugesagt worden. Natürlich nach Vor- + Nachuntersuchungen. Wissen Sie, was solche Hoffnung in meiner Lage bedeutet? Man kann es kaum mit Worten sagen.
Unser Hauptablenkungsmittel hier ist das Fernsehen. Wir stellen fest, dass das Programm jeden Tag mieser wird. Aber auch im Strafvollzug, da stinkt wohl was. Es hat mich erschreckt. Vor ein paar Tagen ein Bericht in der Zeitung über das feste Haus in Düren (nach Aufdeckung will man sich ja um einen völlig neuen Umbau der Anstalt »bemühen«). Die vom Gericht eingewiesenen Patienten müssen zu zweit teilweise in Badewannen (!) schlafen, Besuch nur halbe Stunde mit Glastrennscheibe, sodass der Patient seiner Mutter nicht die Hand geben kann, Päckchenempfang verboten, um neunzehn Uhr ins Bett (Personalmangel), schlafen bis zu acht Mann in einer Zelle, aus den unglaublichen Verhältnissen herrührende sexuell mehr als abartige Praktiken (psychologisch verständlich), keinerlei Therapie, daraus resultierende Festhalte-Haft zw. zehn und zwanzig Jahren (!!), auch bei harmlosen Fällen, usw. usw. Es ist zum Kotzen. Zeigt sich da unser demokratischer, humaner Staat? Doch wohl kaum. Aber immer wieder: Das Geld – das Geld – das Geld. – Da geht’s uns in Eickelborn doch besser?
Über Ihre Lehrgänge habe ich etwas gelesen. Es soll sehr anstrengend sein u. sich bei Einzelnen als Stress auswirken. Etliche Anwärter hätten schon aufgegeben. Aus psychischen Gründen, nicht aus physischen. Ein relativ geringer Prozentsatz werde nur bestehen, es sei ein unheimlich starkes Fordern des Einzelnen. Nun, Sie hängen da ja in der Mühle drin. Ist es wirklich so arg? Das würde mich mal interessieren. Hoffentlich muten Sie sich körperlich nicht zu viel zu. Aber das werden Sie ja zu steuern wissen. Sie wissen wohl genau, wie viel Sie sich auch psychisch zumuten können. So kenne ich Sie jedenfalls.
So, nun muss ich für heute aber langsam schließen. Es gibt auch gute Neuigkeiten: viermal Eis in den letzten Wochen, gutes Essen, viel Besuch (meine geliebte Tante Maria kommt am zwanzigsten, am Tag, wo meine Frau Geburtstag hat. Da ist dann wieder eine magische Vorstellung erster Klasse fällig. SCHADE, dass Sie nie was davon sehen könnten), Sonntage wie heute, an denen man sich erfreuen kann, Tischtennis, einmal pro Woche, Sport zweimal die Woche, Dr. med. Marcus Welby im Fernsehen usw. Morgen wird endlich wieder ein Zauberpäckchen mit neuen Tricks bei mir ankommen (klasse!!).
Wussten Sie, dass ich einen Namensvetter im Justizministerium habe? Ja, Bartsch heißt der gute Mann. So möchte ich schließen (es fällt mir schwer, wie Sie sehen) mit einigen Scherzworten, die ich letzte Woche gelernt habe: »Einfach nicht ignorieren« – »She has one in the crown« (Lübke über Elizabeth von England), »God shave the queen«, »Was Sie nicht will, das ich ihr tu, das führ ich einer anderen zu« usw.
1000 Grüße bis zum nächsten Mal
Ihr Jürgen
∗ ∗ ∗
Ohne Datum [Herbst 1974; M. B.]
Wie geht es Ihnen heute? Danke für Ihren letzten lieben Brief. Ohne Sensationen zu verraten, möchte ich Ihnen mitteilen, wie es um meine Op. steht. Sehr schlecht. Von zwei möglichen Städten eine Absage, die zweite reagiert nicht und wird nicht reagieren. Alles sieht danach aus, dass diese Operation nie geschehen wird.
Was das für mich bedeutet, bei strikter Weigerung zur Kastration (»lieber tot« – es bleibt meine Ansicht, über die ich nicht mit mir reden lasse. Ich bin zu allem bereit, ausgenommen dies. Für mich ist es psychologisch RACHE, auch wenn dieser Gedanke falsch ist. Er ist mit Sicherheit falsch. Meine Gründe: 1. Nazizeit, 2. Angst vor körperlichem Chaos, 3. Wenn man mir die Hoden nimmt, tut man IN FAKTUM genau das, was ich tat). Verstehen Sie mich bitte ganz realistisch: abschneiden = abschneiden. Ein Messer – dasselbe Werkzeug), können Sie nicht ermessen. Ich bliebe bei bestem Willen auf unabsehbare Zeit auf dieser Station, einer Selbstmordverhinderungsstation. Ich bliebe in der Lage, unglaublich scheinendes Vertrauen geben zu sollen und nicht das Geringste davon selbst zu behalten. Ich erwarte, ist die Op. durch die Chirurgen unmöglich geworden, nichts als Kaltherzigkeit. Das ist keine Schwarzmalerei. Für jeden Patienten existiert ein Behandlungsplan. Für mich existiert keiner.
Was ist für mich Kaltherzigkeit? 1. Sinnloses Festhalten in solcher Station bei Besserung des Krankheitsbildes, 2. zu sagen, »auch wenn keine möglich ist, werden wir Sie ohne Op. nie verlegen«, 3. Meine Bitte um eine Spritzenkur (Hormonmittel, alle zwei Wochen, Einnahme jederzeit, auch nach Entlassung, nachprüfbar), die besser als die Tabletten ist, ohne Begründung abschlägt. 4. Nichts weiter als einen Show-Versuch zur Förderung zu machen.
Nach der Aufbauabteilung sollte ich. Alle Leute wurden befragt. Keiner wollte mich, kein Pfleger. Nie wieder geschah etwas nach diesem halbherzigen Versuch. Es wird auch nichts mehr geschehen. Es soll nicht weinerlich klingen, es ist tatsächlich, keine Abtlg. will sich mit mir »belasten«.
Da es keine Hochzeitsnacht gab, wurde uns fest versprochen, es möglich zu machen, sie unauffällig nachzuholen. Versprochen, wie gesagt. Aber auch dies Versprechen wurde gebrochen (übrigens – Dämpfung bedeutet nicht Unmöglichkeit eines normalen Verkehrs. Es »kommt« nur eben nichts). Dass es bei Verliebten echte sexuelle Not gibt, bestreitet heute niemand mehr. Aber tut man was? Natürlich nicht. – Es tut mir weh zu sehen, wie meine Frau darunter leidet.
Die Toten sind nicht vergessen. Mancher Laie glaubt das ja. Ich stehe mit einem Pfarrer in Essen in Verbindung. Er ist ein selten humaner Mensch. Er hat Verbindung mit den Eltern der Kinder aufgenommen. Er warb um Vergebung für mich. Das konnten die Eltern nicht, es ist auch noch zu früh. Er sagte ihnen, dass er die Namen der Kinder in Weiß in den Kirchenboden einzeichnen lasse. Er tat es, und sandte mir ein Bild davon. Vater Kahlweiß [der Vater eines der getöteten Kinder; M. B.] schrieb, dass es selten sei, von so was zu hören, die Opfer seien stets schnell vergessen. Ist er nicht zu verbittert?
Nichts ist vergessen, bei meinen schockierten Eltern nicht, bei Richter Fischer nicht, bei meiner geliebten Tante Maria nicht (erste Äußerung von ihr: »Oh, JÜRGEN – NEIN, NEIN, NEIN!!!«) und, nicht zuletzt, bei mir nicht. Ich kann nicht vergessen, ich muss unter großer Last leben. Darum empfinde ich es auch als gedankenlos, wenn gewisse Leute stets Angst zu haben scheinen, ich könne vergessen. Ich kann niemals vergessen, was ich getan habe. Erinnerung, bittere, kommt jeden Tag.
Soll ich im Bewusstsein meiner Schuld auf Hoffnung für mich verzichten, in Sack und Asche gehüllt? Nein, finde ich. Es entspricht der menschlichen Natur, wieder gutzumachen (das hoffe ich später beruflich zu tun) und um ein menschenwürdiges Leben zu kämpfen. Darum halte ich meine Kritik am quasi Nichtstun auch für berechtigt.
Schließlich dürfen Sie nicht vergessen, dass die Ärzte mir Anordnungen gegeben haben (Arbeit, gute Führung, Wohlverhalten, Medizin, auch hormonelle), denen ich mich füge. In dem Moment ist meine Kritik berechtigt.
Um Ihre Fragen zu beantworten: Einmal in der Woche ist Fußball. Da gehe ich nicht mit, ich kann kein Fußball spielen. Einmal in der Woche ist Tischtennis im Keller. Da gehe ich mit. Alle paar Wochen ist Gymnastikstunde. Auch da gehe ich mit. Eine Chance, sich (mit behördlicher Hilfe, staatlich anerkannt, sonst hat es ja keinen Sinn, da ich meinen Beruf wechseln muss) weiterzubilden, mithilfe der Anstalt, gibt es in diesem Strafbau überhaupt nicht.
Ein Bild von mir will ich Ihnen senden. Wahrscheinlich wird auch das verboten, weil Sie, so der übertriebene Pressehorror hier, damit sofort zur Presse laufen könnten. Man traut das Ihnen wie jedem zu. Bin gespannt, ob Sie es erhalten. Eines machen lassen darf ich nicht. Ich hätte übrigens gerne auch eines von Ihnen. So, nun habe ich mir für heute alles von der Seele geredet.
Hoffentlich nicht zu viel für Sie. Doch, um zu beurteilen, wie man mit mir umgeht, müssen Sie noch eines wissen: Ein Rückfall williger Täter, den man natürlich fördert, sagte zu mir: »Dreimal entwichen. Trotzdem müssen sie mich fördern.« – »Ist in der Zeit nichts vorgekommen?« – »Ich bin nicht erwischt worden.« SO ist es hier.
1000 Grüße
Ihr Jürgen Bartsch
∗ ∗ ∗
Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, gut. Es war natürlich nach meinem letzten Brief eine Frage, ob Sie mir überhaupt noch antworten würden, weiter als Schützling akzeptieren würden. Eine bange Frage, denn ich nehme unsere Freundschaft genauso ernst wie Sie. Aber es bleibt wohl auch nicht aus, dass man mal richtig durchgerüttelt wird. Es ist gut, dass Sie mir verziehen haben. Mir waren sämtliche Pferde durchgegangen.
Auch dass Sie »immer wieder« erschreckt waren, haben Sie sehr gut erklärt. Eine Gefahr liegt für Sie darin: Ein falsches Wort, nur eines, und schon schrillt die Alarmglocke im Hinterkopf à la »Wie hat er das Wort gemeint?« – »War dieser Satz nicht aggressiv?« – »Dieser Satz klingt, als ob er es sich zu leicht mache.« – »Also dieses Wort – wo bleibt da das Verständnis für die anderen?« – Ich möchte wetten, dass solche Missverständnisse schon oft vorgekommen sind. Die Gefahr für Sie liegt darin, wortwörtlich aufzufassen. Das dürfen Sie um Gottes willen nicht tun! Man kann sich brieflich nicht so erklären wie mündlich! Ich habe manchmal Aggressionen. Sie sind aber weder anlage- noch sexbedingt, sondern Folge der Haft. Der Haft, die ich als solche akzeptiere.
Den gewesenen Dingen stehe ich heute ganz anders gegenüber als früher. Es wäre nicht mehr möglich. Auch aus Einsicht. Auch aus sexueller Nachreife. Auch aus dem Grunde, dass ich (Gott sei Dank) gänzlich auf meine Frau fixiert bin. Zwei Wochen lang konnte sie nicht kommen. Kein einziger verdammter Gedanke an Kinder – ich habe lediglich geweint, abends, als meine Frau wieder nicht kam. – Aggressionen, JA, aber auf einer ganz anderen Ebene. Das war es, was ich Ihnen verständlich machen wollte.
Das (auch ärztlich) missverstehen, heißt alles (auch ärztlich) falsch machen. Warum? Darum: Reichte man mir den kleinen Finger, sagte: »Gut, Ihr liebt Euch, wir geben Euch hier im Haus ein Zimmer« (wie es im fortschrittlichen Strafvollzug getan wird), Ihre Eltern dürfen Sie unter Bewachung mal spazieren fahren, Ihre Frau darf Sie mal mitnehmen«, dann wären auch die letzten Aggressionen fort. Könnte man? Ja, man könnte, eine Fluchtgefahr besteht bei mir insofern nicht, als man ganz sachlich sagen muss: Flucht wäre mein Tod. Echt durchdacht, fällt dieses Problem flach. Das ist eine Tatsache, keine Frage vom Glauben oder Nichtglauben.
Aber wenn Sie völlig anderer Ansicht sind, dann sagen Sie es ruhig. Aber es würde schwer sein. Auch, ob Sie mir glauben, dass ich mich sexuell normalisiert habe, dass es fast kein Problem mehr ist, ist Ihre Sache. Ich werde Ihnen nicht böse sein. Geben Sie Ihren persönlichen Eindruck. (Die Zeit der Aggression ist wieder für lange vorbei. Nichts zu befürchten…)
Zur Operation: Zwar darf ich nichts Direktes darüber sagen, aber ich kann Ihnen… sagen, dass ich einen Durchschlag erhielt, Fazit: es tut sich was, und das gut. Nach so vielen Jahren! Drücken Sie mir die Daumen, wenn Sie glauben, dass JEDER seine Chance verdient hat (das schien mir Ihre Einstellung). Ich habe das Papier an meine Psychologin gegeben, weil ich mich mit ihr am besten verstehe und bei ihr ein wenig das Gefühl der Geborgenheit habe. Sie würde mich viel eher verstehen als ein Direktor oder so. »Helfen« in dem Sinne wird sie mir nicht können. (Ich habe nun die Hierarchie durchschaut.) So wenig wie Sie. Weiterhelfen ist gemeint. Im Moment sieht nichts danach aus, dass ich eine drängende Ungeduld haben müsste. Aber gerade dann sind wir Menschen ja so nervös…
Menschliche Schwächen. Habe ich sie? Nein. Aber bei mir wird alles mit anderer Elle gemessen. Sie sagen, dass sei angemessene Vorsicht. Ich, das akzeptierend, bedauere aber, dass mein Gehirn nicht offenliegt. Das, was man mit allzu strenger Vorsicht sucht, existiert dort nicht mehr. – Ab nächster Woche geht die Gruppentherapie wieder los. Natürlich brenne ich darauf, wieder mit zu diskutieren.
Gestern ein Phallograph-Test. Dem Opfer (man empfindet das so, sorry) wird eine Gummischlinge um den Penis gelegt, ein Pulsmesser an den Zeigefinger. Ein Seismograph zeichnet alle Regungen (während Pornofilme vorgeführt werden) auf. Zuerst ein »normaler« Film. Frau und Neger. Keine körperliche Regung (Puls weiß ich nicht). Zweiter Film: zwei vierzehnjährige Jungen, unter sich. Keine körperliche Regung, die ich hätte bemerken können. (Puls weiß ich nicht.) Zwei Filme, keine Versteifung, rein gar nichts! Das war letztes Mal viel schlechter. Und vor zweieinhalb Jahren noch schlechter. Da zersprang nämlich das Gummi (!).
Die Medikamente wirken genau richtig! Ich habe bewiesen (keine Reaktion), sozusagen wissenschaftlich, dass meine Worte wahr sind. Nur meine Frau kann mich im Moment sexuell erregen, das ist nicht seltsam, das ist Liebe. Aber halt! – Wir beide denken als Laien. Ich glaube, dass es einem »Fachmann« gelingen wird, überzeugend darzulegen, wie schlecht der Test ausgefallen sei. Vier Wochen, bis zur Jahresüberprüfung, reichen dazu mehr als genug. Psychosexuelle Stimulierbarkeit…
Mit meinen Eltern – ja. Nächstes oder übernächstes Jahr werden sie verkaufen. Das Geschäft kann nicht bestehen. Wirtschaftsflaute… Mein Vater tut mir da am meisten leid. Er wird ein Testament machen. Da aber alles fort wäre, ginge es auf meinen Namen, müssen wir anders denken, eine Klausel besonderer Art.
Schützling – ist das nicht eine Verantwortung? Denken Sie mal darüber nach. Später – meine Tante in Neuss hält eine Wohnung frei. Neuss-Düsseldorf. Das Gericht würde mir Aufsicht (richtig) verordnen. Darf man auch jemand vorschlagen? Wenn er will?… Aber Sie müssten noch mehr Vertrauen zu mir finden. Mit meiner Frau ist alles wieder in Ordnung. Man glaubte, dass wir uns zu verliebt benähmen… Aber unsere Liebe überwand auch diese Hürde. Es gibt ja ein Später…
1000 Grüße Ihr Jürgen
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Wie geht es Ihnen? Haben Sie herzlichen Dank für Ihren lieben letzten Brief, über den ich mich wieder sehr gefreut habe. Ich will ihn auch sofort beantworten. Es gäbe viel mehr zu beantworten, als ich im Moment kann, durch verständlichen Rat der Ärzte. Ich habe in der Vergangenheit ein- oder zweimal… an die falsche Stelle geantwortet – und stand in der Zeitung. Das hatte ich in keiner Weise gewollt.
Geschrieben wird sowieso, auch ohne mein Zutun, das ist etwas, das hundert Prozent feststeht, aber seltsamerweise hier nicht recht begriffen wird. Davon abgesehen ist es natürlich richtig, dass ich nichts dazutun soll, in der Zeitung zu stehen. »So können die Menschen nicht vergessen, – Sie müssen aber, Sie müssen von der Masse vergessen werden, nur so kann man Ihnen helfen.« Diese Äußerung ist richtig, aber was ist Ihre Meinung dazu?
So wird nun jeder meiner Briefkontakte als mögliche Presseäußerung gesehen. Etwas übertrieben, da ich dann, streng genommen, an niemanden mehr schreiben könnte, aber aus schlechter Erfahrung geboren. Das muss man zugeben. Aber auf der anderen Seite bin ich nicht gewillt, jedes Vertrauen in meine wenigen Freunde zu verlieren. Ich muss also »kavieren« [von lat. cave: »Vorsicht!«; M. B.],… Haben Sie bitte Verständnis dafür.
Aber heute habe ich es leichter. Gestern haben meine Eltern mich besucht. Es war wieder sehr schön. Zu Weihnachten bekomme ich von Eltern u. Gisela [seine Frau Gisela Deike; M. B.] zwei Sendungen (England, da sind die größten u. besten Zaubergeräte-Fabriken, in Deutschland ist nichts so Gutes) von Magie bezahlt. Gisela bekommt von mir zweimal Parfüm, zwei Musikkassetten, eine Geschenktruhe. Da muss man schon schön für sparen. So gleicht sich die Schenkerei wieder aus. Es ist ja jedes Weihnachten so.
Auch letzten Montag war Gisela schon bei mir. Zweimal die Woche. Obwohl sie z. Zt. Urlaub macht. Wo die Liebe hinfällt… Nur Glück auf Liebeswegen. Da kann man sich nicht beklagen.
Medizin, die beruhigende, die die Nerven zur Ruhe zwingt, wir haben es versucht, sie zu mindern. Leider – es ging nicht. Ich gerate dann sofort in Unruhezustände, Angstzustände, Platzangst, ja, panikartige Angst. Haftpsychose. Das kommt von der psychischen Anspannungssituation. Wir müssten dann die Medizin wieder heraufsetzen. Es hatte im Moment noch keinen Sinn. Erst, wenn die Situation sich gebessert hat. Dann bin ich davon nicht mehr abhängig. Schlucken Sie mal einen Tag meine Medizin. Es ist nicht gerade wenig. Sie würden wohl einen ganzen Tag durchschlafen…
Neu: Die Hormontabletten sind so lange abgesetzt, bis die Tests, Voruntersuchungen, beginnen, da man dort mich mit Sicherheit als »naturrein« testen möchte. Interessant: Setzt man diese Tabletten ab, müsste ich, logisch gedacht, wieder so »bösartig« sein wie früher. Das trifft aber nicht zu. Ich habe es nicht schwerer, Fantasien oder dergl. fortzuschieben, die »böse« sind, und es ist leicht. Es tritt ja fast nicht mehr auf, ob mit, ob ohne Tabletten.
»Ändern« können die Tabletten nichts, nur dämpfen. Logischer Schluss: Also muss ich mich selber geändert haben, gebessert haben. Ich werde Sie nicht fragen, ob Sie mir glauben. Das war mein Fehler. Sie können es ja gar nicht beurteilen, ergo kann ich es von Ihnen nicht erwarten. Sie haben recht!
Über unseren Arzt kann ich nur wenig sagen; allein darum: krank, Urlaub, wieder krank. Bei allem Streit, den wir manchmal hatten: Ich mag ihn trotzdem, er tut mir leid, und bei seinem Aussehen (Einfallen des Gesichtes) habe ich die Befürchtung, dass es etwas Ernstes ist. Wir hatten also wenig Gelegenheit, miteinander zu reden. Fast keine.
Die Psychologin unseres Hauses macht die Einzeltherapie weiter. Gesagt werden darf nichts darüber, aber ich bin fast glücklich, dass es sich so gut anlässt. Eine gute Nachricht, oder?
Ja, die Operation. Eine Zusage, ja, endlich. Fest steht sogar schon, dass ich dorthin verlegt werde. Wann, ist ein Geheimnis. Aber wie lange haben wir darauf gewartet! Es ist Glück im Unglück. Aber Sie kennen ja die Justiz. Das geht alles recht langsam. Freuen Sie sich mit mir über die Zusage? Die Ärzte hier würden nicht so drängen, wenn sie nicht viel Hoffnung darauf setzen würden, oder? In diesem Jahr, das ja praktisch vorbei ist, aber wohl noch nicht. Okay? Okay.
Ihren letzten Brief habe ich an meine Eltern gesandt, wie stets. Sie werden sich sicherlich sehr freuen.
So, nun muss ich für heute langsam Schluss machen.
Viele Grüße bis demnächst
Ihr Jürgen
∗ ∗ ∗
18. Dezember 1974
Mit viel Freude habe ich Ihren letzten Brief gelesen. Ich habe mir überlegt: Soll man so kurz vor Weihnachten noch schreiben? Umwerfende Neuigkeiten gibt es um diese Jahreszeit nie. Aber einen guten Freund über Weihnachten ohne Weihnachtsbrief lassen? Für mich haut das einfach nicht hin. Weihnachten ist zwar das Fest der Familie, aber Freunde sollten doch auch dann voneinander wissen. (Karte gibt’s natürlich extra!)
Ich habe viel über Ihre Formulierung nachgedacht, von wegen der Freiwilligkeit. Sie haben recht. »Einzusehen?« – Ja, würde ich sagen. Das Wort freiwillig sollte von der Anstalt zwar nicht gebraucht werden. Es ist Augenwischerei.
Sie sehen, es ist mir Ernst mit dem Auseinandersetzen mit der Sache. Ich präpariere mich. Ich versuche, so sachlich wie möglich zu sein. Einen depressiven »Knall« wird es zwar geben, das ist nicht zu verhindern, es liegt in der Natur der Sache. Aber es wird nicht so arg sein, wie es sein könnte. Allerdings muss ich sagen, dass ich von unserem Arzt bei dieser Auseinandersetzung nicht die geringste Hilfe erfahren habe. KEIN WORT. Es müsste jetzt sein, nicht nach Weihnachten.
Es geht um Vorbereitung. Meine Eltern sagten, ich solle um ein sachliches Gespräch bitten. Ich schrieb es dem Arzt. Kein Wort. Im Fachbuch, das ich gelesen habe, stand, dass wegen der seelischen Folgen nach der Operation der Kontakt mit dem Arzt besonders »eng« sein solle. Da würde ich mir wohl einen anderen Arzt suchen müssen. Ich kann wirklich im Moment gar nichts Gutes über dieses Verhältnis sagen. Dr. Teuber ist mir gegenüber derart kühl, dass er wie eine kalte Dusche, wie ein emotionaler Eisschrank wirkt. Wir wollen beide echt nichts voneinander wissen. Grund? Ich weiß keinen. Ich weiß aber, dass ich dieses Mal nicht der einlenkende Teil sein muss.
Viele Grüße von meinen Eltern. Sie waren vor einer Woche da. – Gisela hat ihr Versprechen wahr gemacht. Von ihrem Urlaub kommt sie jeden zweiten Tag. Das ist in dieser Woche Vor-Weihnacht-Zeit eine ganz große Hilfe. Und dass sie es tut. Das beweist ja wohl genug, oder!? Gisela, endlich, ist vor zwei Wochen vom Kastrations-Ausschuss per Brief vernommen worden. So weiß ich Weihnachten doch wenigstens, dass alles läuft.
Vor Weihnachten wird der Ausschuss nicht an mich selbst schreiben. Aus, na was für Gründen? Irgendeine sinnlose Rücksichtnahme, nehme ich an. Quatsch. Denn wenn ich den Eingriff akzeptiere, ihn will, dann würde ich mich auch am 24.12. auf den Tisch legen. Logisch.
Traurig bin ich, dass Gisela evtl. Weihnachten nicht kommen kann. Dienst. Alle zwei Tage (Heiligabend ist Besuchsverbot). Scheiße. Aber vielleicht kann sie tauschen. Mit Brigitte oder Elvira…
Gerade habe ich mir ein Adventsabendessen gemacht. Die Zusammenstellung ist interessant: Zwiebelsuppe, Clementinen, Christstollen und feine Schmierwurst. Ich hoffe, Ihnen fehlen die Worte…
Ja, was wird aus dem, was ich schreibe? Zuerst mal gar nichts. Bis heute ist die Einleitung (es soll eine Sammlung von Kurzgeschichten und Erzählungen sein, als BUCH zusammengefasst) fertig und zirka hundert oder mehr DIN-A4-Seiten (eine DIN-A4-Seite wenigstens anderthalb Schreibmaschinenseiten). Das ist mir zu WENIG. Da ich nicht um des Schreibens willen schreiben will, gibt es Pausen, ein bis zwei Wochen. Zweihundert DIN-A4-Seiten finde ich das Mindeste. Ich will Ihnen sagen, wer zurzeit etwas liest. Meine Frau. Sonst niemand. Wenn ich genug für ein Buch geschrieben habe, wird meine Frau alles fertig zusammenstellen, mit Seitenzahlen, korrigiert usw., vier Exemplare. Dann bekommen alle meine Freunde alles zu lesen, die Fachleute. Finden die meisten es okay (es kann ja auch Mist sein), gehe ich die Verlage an.
Ihr Wort, es gilt schon etwas, bei den Verlagen. An Verlagen würden sich Fischer, Rowohlt, Limes, Diogenes usw. anbieten. Entweder klappt’s dann, oder nicht. Wenn nicht, stürzt für mich auch nicht die Welt ein.
Für heute 1000 Grüße bis nach Weihnachten
Ihr Schützling Jürgen
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29. Dezember 1974
Wir sitzen vor dem Fernseher, essen Schokolade, rauchen Lord Extra, ich studiere dabei Anleitungen für »sensationelle« Hellseh-Wunder (meist mit Karten, Symbolkarten usw.), und es sieht aus, alles sei für uns unproblematisch.
»Die haben’s doch so gut da, viel zu gut.« Dummes Geschwätz. Jeder hat eine seelische Krankheit, der eine kann nicht aufhören zu saufen, der Nächste ist psychisch zerbrochen an Einzelzellen-Haft, einer kann nur im Raum herumlaufen, er ist zu nervös, sich zu setzen. Er kann sich nicht setzen. Der Nächste ist verblödet u. trägt alles auf seiner Nase (Bonbonpapier, Kronenkorken usw., steht minutenlang auf einem Bein), der Nächste leidet unter »Redezwang«, wenn man so einem drei Stunden lang zuhören muss, hat man das Gefühl, man müsse mit dem Kopf vor die Wand laufen. Es sieht so »gut« aus, das ist aber rein äußerlich.
Es ist wirklich nicht leicht, zweieinhalb Jahre dort auszuhalten. Aber was will ich, ich bin ja auch krank. Mein halbjährlicher Haftkoller, Verlieren der Nerven, beweist es. Aber es darf nicht ewig so weitergehen. Sonst klinke ich eines Tages auch noch aus.
Aber Gott sei Dank ist im Moment schon Licht zu sehen. Etwas Neues weiß ich noch nicht, von den Fachleuten. Letzte Woche wollten sich die Leute schon entscheiden. Ihr letzter lieber Brief hat mich deshalb so gefreut, weil Sie wenigstens etwas Vertrauen für mich nun empfinden. Es konnte doch auch nicht ewig ausbleiben, bei meiner Offenheit. Ihre Argumente verstehe ich. Die »Justiz« als solche kennt den Menschen nicht. Und da liegt der Hund begraben.
Aber auch das wird nicht so bleiben, wenn die Operation glückt (wenn!) und alle Fachleute u. die Ärzte von hier mich dann unterstützen. Und das tun sie dann, ohne jeden Zweifel! Da ist momentan kein Grund zu verzweifeln. – Wahrlich nicht.
Bis heute ist mir immer noch geholfen worden, wenn ich in großer Not war (zum Beispiel die Einzelzelle geistig nicht mehr verkraftete, oder auch Revision, oder auch 2ter Prozess usw.), allerdings, ich sagte es Ihnen schon, stets in letzter Minute… Na ja, Sie drücken mir ja die Daumen…
In letzter Zeit habe ich ein wenig unter Albträumen zu leiden. Der schlimmste war, als mich die Eltern der Kinder töten wollten. »Nenn uns einen Grund, dich zu verschonen!« Ich fand keinen. Nein, es braucht wirklich niemand zu »befürchten«, etwas Derartiges könne man »vergessen«. Man muss es lebenslang tragen…
Sehr gefreut habe ich mich auch, als Sie andeuteten, mich besuchen zu wollen. Ich warte gern…
Um Ihre Frage zu beantworten, nein, man lässt uns immer noch nicht allein. Hausordnung… Ganz unbewusst, weil das Thema mich bedrückt und quält. Ich kann Ihre Argumente nicht entkräften. Ich habe keine Gegenargumente. Für meine Gisela ist dies Thema noch schwerer. Schwerer zu ertragen. Ganz ohne Kinder? Da sage auch ich ein hartes NEIN! Zurzeit versuche ich meiner Frau klarzumachen, dass es so viele arme Kinder gibt, die niemand will und die später nicht sagen müssten: »Mein eigener Vater hat…« Hoffentlich ist Ihnen klar, was ich meine. Ich kann nicht anders. Ich habe auf der normalen Seite meines Charakters eine sehr starke (normale) Neigung, mit Kindern umzugehen, mit ihnen zu spielen, sie lachen zu sehen… Niemand kann mir diese positive Neigung nehmen. Ich lasse sie mir auch nicht nehmen. Aber es ist sehr schwer, meine Frau dafür zu begeistern, Frauen denken anders…
Aber sicher wird sie mich auch mit Glatze lieben. Das glaube ich auch. Vor der Glatze habe ich nicht solche Angst, aber – nein, Angst ist es nicht, aber jeder hat vor einer OP wohl ein etwas mulmiges Gefühl.
So… nun muss ich für heute aber langsam schließen. Seien Sie aufs Herzlichste gegrüßt bis zum nächsten Mal
von Ihrem
ANIMAL Jürgen
∗ ∗ ∗
Weihnachten 1974
Meine Weihnachtswünsche haben Sie ja schon. Darum zuerst herzlichen Dank für Ihren letzten lieben Brief. Zu Weihnachten macht es besondere Freude. Es könnte ein sehr schönes Weihnachten geben. Falls endgültig »Ja« gesagt wird…
Ihre Fragen bezogen sich alle auf mich, also will ich sie gewissenhaft beantworten. Einen Punkt haben Sie falsch verstanden. In der Uni war ich aufgrund eines wissenschaftlichen Freibettes. Für die Unterbringung u. Untersuchungen keinen Pfennig! Aber vorher war es schrecklich. (Zu Ihrer Frage: Die Operation kostet sieben- bis zehntausend DM. Sie wird als dringend notwendig bezeichnet u. vom Landschaftsverband Münster bezahlt. Ob ich es meinen Eltern hätte zumuten können? Von mir aus nicht, aber meine ELTERN hätten Ihre Frage, so gestellt, nicht recht verstanden. Meine Eltern wollen mich um jeden »Preis« gesund haben. Und ich kann es ihnen nur mit Liebe danken.)
Die Justiz steht mir auch heute noch derart misstrauisch gegenüber wie seit achteinhalb Jahren. Man weigerte sich, mich zur Uni zu transportieren. Der Richter: »Obwohl ich den von Ihnen eingeschlagenen Weg als RICHTIG empfinde…« Sie werden diese Haltung wohl verstehen. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. »Helft ihm, aber geht um Gottes willen nicht das geringste Risiko ein.« »Helft ihm, aber ich? – Keine Verantwortung!«
Man weigert sich bei der Justiz, dass sich nach achteinhalb Jahren Nachdenken u. fast totaler Triebdämpfung (Androkur) sich etwas, ein Mensch, ändern kann. Hier hat man mehr Vertrauen. Viel mehr. (Mit Trauer habe ich erkannt, dass Sie im Denken sein müssen wie die obigen Zitate. Sie können nicht anders. Sie erleben mich nicht. Und doch, da ich ja weiß, zwingt es mir Tränen ab, kein Raubtier zu sein, aber von der Justiz als solches behandelt zu werden.)
Von Anstaltsseite wäre mir so viel Vertrauen entgegengebracht worden (von den Ärzten), dass wir in normalem Pkw, ein Fahrer, ein Pfleger, gefahren wären. Der Arzt sagte mir: »Hier haben Sie Ihren echten Vertrauensbeweis.« Ich habe ihn nicht missbraucht. Hätte ich nie. Ich kenne meine Chancen. Dr. Teuber war recht verstört über die Haltung der Justiz. Auch er hatte das (Unmöglichmachung von Hilfe) nicht erwartet. Man einigte sich: zwei Justizfahrer, vier Pfleger, Justiz-Minna usw. Die vier Pfleger waren für mich (Betreuung) auch in der Uni verantwortlich. Tag + Nacht. Sie mussten hart arbeiten, ohne Pause. Mit dem anderen Personal hatten wir nichts zu tun. Es gab Kalorienessen, nie wurde man satt. Mein Einzelzimmer war wie ein Bärenkäfig, so eng. Keine Freistunde, nichts. Keine Toilette, nichts. Fenster ohne Gitter, aber Panzerglas. Die Unipfleger wollten mit den »Irrenwärtern« nichts zu tun haben. Kein Kontakt. So hockten wir oft zusammen in meinem Zimmer.
Eine Woche vorher hatte ich alle Medizin, schwere, abgesetzt bekommen. Ich bekam Entziehungserscheinungen. Das gönne ich meinem ärgsten Feind nicht! Zittern, Schwitzen, Frieren, innere Unruhe, die sich zu totaler Angst steigert, kalter Schweiß usw. Ich war gar nicht ganz klar im Kopf. Ich musste was haben und bekam auch etwas. Sechs Nächte kein Auge zugetan.
Vor Entziehungserscheinungen hätte ich schreien können. Aber ich habe mich prima zusammengerissen bei den Gesprächen. Wie es mit meiner Frau sei. Sie schrieb es Ihnen. Wirkung der Androkur, wie gut es hilft (sehr gut!) usw. usw. Die beiden Operateure hatten sehr viel Verständnis u. sind jetzt schon hundert Prozent dafür. Alle lobten meine Ehrlichkeit.
Der Psychiater ist neunundneunzig Prozent dafür. Alles sieht bestens aus. Auch jeder Eickelborner Arzt ist dafür! [Die Psychiatrie, in der Bartsch lebte, liegt in Eickelborn; M. B.]
Ich bin hundert Prozent überzeugt, dass es klappt. Ist die Operation erfolgreich, besteht aller Grund zur Hoffnung. Die Triebstärke (damit die Fantasie) wird so sehr gedämpft, dass der ehemalige Täter in solchen Dingen keinen Sinn mehr sieht. Also lässt er’s. Das hört sich simpel an, ist aber ein großer Pluspunkt (Sicherheit der Öffentlichkeit). Psychologische Behandlung, Bewährung in der Anstalt, kommt dann ins Spiel. Ich werde niemanden enttäuschen.
Stets wird dann, so man es verantworten kann, die Zügel zur Freiheit etwas gelockert. Und dabei wird man beurteilt. Gut, dass mir Besserung schon bescheinigt worden ist. Keiner braucht Befürchtungen zu haben, auch Sie nicht. Bewähre ich mich immer gut, werden meine Ärzte bei Gericht anregen…
Untersuchungen in der UNI: Bluttest, Urintest, Schlaf-EEG (Narkose), Schreibdruck, Psychotests, ein furchtbarer Stress. Aber alles 1 a durchgehalten.
1000 Grüße Ihr
ANIMAL JÜRGEN
∗ ∗ ∗
18. März 1975
Vielen Dank für Ihren letzten lieben Brief. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich hatte schon darauf gewartet. Und nun der angekündigte Besuch – klasse.
Übrigens haben Sie völlig recht. Jeder Operateur muss mich aufklären. Eine unübliche (das haben Sie im letzten Brief falsch verstanden) Operation, bei der die Gefahr der Debilität besteht, lehne ich ab.
Klar, dass ich mir in den letzten Monaten manchmal gewünscht habe, Erwin Hagedorn1 zu heißen. Das ist verständlich. Das ständige Leben hier ist kein Leben. Man fragt sich, ob all der Absagen, ob einem überhaupt geholfen werden soll, ob das einer der zuständigen Operateure überhaupt will. Man wird mutlos, verzweifelt, zieht sich in sich selbst zurück.
Hilft wirklich niemand, keiner, so werde ich den Weg gehen müssen, von dem ich immer sagte »lieber tot«. Auch verständlich. Als allerletzter Ausweg. Meine Ehe wird dadurch wohl zerstört, denn Gisela ist eine ganz normale Frau (sexuell). Wie gesagt, allerletzter Ausweg.
Meine MEINUNG über diese Art von Hilfe (die so oft schiefläuft irgendwie, dass man sie wirklich nicht »Hilfe« nennen kann) hat sich kein Jota geändert. Niemals werde ich etwas Hilfe nennen, das ganz eindeutig vom Optischen her eine Strafe ist. Aber als allerletzter Ausweg… Was bleibt mir? Mein Einverständnis liegt vor. Und wenn es schiefgeht, kein Bart, fünfzig bis hundert Pfd. dazu, Brüste bis zu den Schuhen, weiß ich, was ich zu tun habe… Aber ich will Sie nicht belasten.
Was geht sonst vor? Mein Vater wird in diesem Sommer endlich operiert. Gott sei Dank! Die Sache hatte mir große Sorge gemacht. Aber er hat es endlich eingesehen. Meine Mutter hat eine erfolgreiche Abmagerungskur gemacht, u. bald werden meine Eltern wieder mit unserem Arzt sprechen dürfen. So um Ostern. Unser Geselle zu Hause hat eine Schlägerei gehabt mit der Polizei u. feiert krank. Mit dem Personal wird’s immer schlimmer.
Im Moment freue ich mich auf meine Tante, Maria. Sie kennen sie ja. Sie bringt immer viel Freude mit. Sie kommt übermorgen. Und auch auf Ihren Besuch freue ich mich heute schon. Bringen Sie etwas gute Laune mit.
Dies wünscht
Ihr Jürgen Bartsch
∗ ∗ ∗
5. April 1975
Haben Sie vielen Dank für Ihre zwei letzten Briefe. Ich habe mich wieder sehr gefreut. Lassen Sie mich zuerst zwei Dinge klarstellen. Ich möchte die Einzeltherapie, Gruppentherapie usw. nicht schlechtmachen. Sie sind nicht schlecht. Sie haben aber einen großen Fehler. Sie sind auf keinerlei Art oder Weise Förderungstherapien (wie es einem kranken Patienten eigentlich zukäme – oder?), sie sind lediglich Überlebens-Therapien. Eben damit man nicht »Amok« läuft, wie Sie selber sagen. Eine einzige, gut gemeinte riesenhafte Beruhigungspille.
Als mir das aufging, es mir auf schmerzliche Weise klargemacht wurde (trotz guten Willens keinerlei Förderung durch die Therapie, wozu auch die Sextabletten gehören, sachlicher Stand 15/11/1972, aus drei werden vier Jahre ohne Förderung), musste ich die Konsequenzen ziehen. Jede Valium 0,10 ist da genauso gut.
Logisch. Ich bin niemandem böse, man kann wohl nicht anders. Ich bin als Ungeheuer, als Animal, aufgebaut worden, und was man mit anderen Patienten machen kann, kann man mit mir eben nicht machen. Spritzentherapie mit Entlassung u. Kontrolle ist out, da die Produktion der Spritzen eingestellt wird. Da werden wohl Nebenwirkungen (Knochen) schuld sein.
Man hat mir vorletzte Woche gesagt, dass man schon schwere Fälle mit Tabletten entlassen hat. Auf meine entsetzte Frage wurde mir gesagt, dass es eine sehr gute Kontrolle gebe. Überlegen Sie sich das mal, das ist ein echter Hammer. Wenn das stimmt, ist kein vernünftiger Grund zu sehen, auch einen Fall wie mich mit Tabletten (als totale chemische Kastration) und einer ständigen Kontrolle (von der man mir versichert hat, dass sie praktiziert wird), nicht zu fördern u. zu entlassen. Alle Bedingungen, hundert Prozent Sicherheit der Bevölkerung, Unfähigkeit des GV [Geschlechtsverkehr; M. B.] usw. wären erfüllt.
Verstehen… werden Sie solche Verweigerung auch nicht, aber Sie werden sagen, dass man ärztlicherseits sicher andere Gründe hat. Ja, man hat sie wohl, aber ich kenne sie nicht. »Amok« bin ich nicht gelaufen, aber ich habe… alle »Überlebens«-Therapien abgebrochen, da sinnlos. Letztlich ist es meine Entscheidung, ob ich solche Behandlung als Hilfe ansehe oder als etwas, das man einem sehr ungeliebten Gast widerwillig gewährt, da man Therapieschein aufrechterhalten, aber nichts tun will (oder kann). Ob gut gemeint oder anders, ist nicht wichtig für die Wirkung, da beides denselben Effekt hat.
Der Patient ist Objekt, Mensch nur dann, wenn die Kriminalpolitik es erlaubt. Es ist naiv anzunehmen, dass nur ans Wohl des Patienten gedacht werde. Also hoffen wir auf die Wissenschaft. Zu Ihrem Wort: Mit Hormongaben ist nichts zu machen. Wenn männliche Hormone zugeführt werden, wächst natürlich in gleichem Maße die Fähigkeit zum GV (ohne Samen). Ein lediglich Sterilisationseffekt träte ein.
Zum Thema Sadismus ohne Sexualität. Dr. Bresser u. Dr. Lauber [zwei psychiatrische Gutachter im Verfahren, die Bartsch für schuldfähig hielten; M. B.] sind wohl auf der Welt die Einzigsten (sic!), die Sadismus von Sexualität trennen. Hunderte von Fachbüchern gibt es, ich kann es durch Empfindung bestätigen, dort steht: Es gibt keinen Sadismus ohne Sexualität. Selbst im Lexikon steht es.
Haben Sie keine Angst um mich. Ich leide an Resignation, nicht an Wut. Ich mache niemandem Vorwürfe, der Angst vor der eigenen Courage hat. Ich habe Verständnis dafür.
Natürlich werde ich auch Ihre letzten beiden lieben Briefe meinen Eltern übergeben.
So, nun muss ich aber langsam schließen.
Seien Sie bis zum nächsten Mal aufs Herzlichste gegrüßt
von Ihrem Schützling Jürgen
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15. April 1975
Ihnen zuliebe unterbreche ich gerne mein Bücherstudium (Magie), ein Hobby, ohne das ich, hätte ich es in den letzten neun Jahren nicht gehabt, mit Sicherheit bereits tot wäre. Das ist die schlichte Wahrheit, und schockierend materialistisch, sicher. Aber es ist nichts als die Wahrheit. Ohne diese ideale Ablenkung… (Schließlich hatte ich nicht immer meine Frau…)
Sie betonen… zu Recht oft den Passus Sicherheit. Ja, ich will nicht raus, bevor ich nicht in Ordnung bin. Aber der Punkt Sicherheit im neuen StGB ist zugunsten der Besserung auf den 2ten Platz gerückt. Das verpflichtet, oder?
Und, bei aller sachlichen Würdigung der Öffentlichkeit gilt doch eines, das Sie vergessen haben, und das genauso wichtig ist: Solange bei mir (oder anderen) nicht weitergeholfen wird, solange Verantwortung gescheut wird (ich darf das sagen, da die Lockerungen in acht bis neun Stufen vor sich gehen, wobei keine Öffentlichkeit gefährdet wird, zum Beispiel halbgeschlossene Station, Ausgang nur mit drei Pflegern usw.), die keine Gefahr brächte (durch Kontrolle), solange man mir nicht gleichzeitig menschlich helfen will, solange gibt es auch keine Sicherheit für die Öffentlichkeit!
Ich bin einfach zu sensibel. Tatsache ist, dass die Stimmen, die früher von Fortschritt sprachen, tatsächlich eiskalt und klirrend geworden waren. Ich schlief erst um zwölf Uhr ein, lag heulend im Bett, nicht mehr an Hilfe glaubend, verlor die seelische Orientierung an Bezugspersonen (das sind Arzt und Psychologin schließlich) und wurde krank. Wer nicht kam, war der Arzt. Überall nur Ablehnung.
Ich war in verzweifelter Stimmung. Wurde ich gerufen, fing ich an zu zittern. Pure Angst, wo etwas helfende Hand sein sollte. Wo war die Zeit (Anfang 1973), als der Arzt zu meiner Mutter am Telefon sagte: »Um Ihren Jungen braucht man sich gar keine Sorgen zu machen. Er arbeitet gut mit, auch in der Therapie, und man braucht gar nicht auf ihn aufzupassen. Er wird es schon schaffen.«
Was bewirkte die Wendung zu dem Nicht- oder Nicht-mehr-helfen-wollen? Als Nächstes bekam ich zu hören, dass Leute mit Tabletten entlassen worden seien. Es gebe KONTROLLE. Meine Frau wäre die idealste Kontrollperson.
Nun auch fort mit den Trieb dämpfenden Mitteln (weil sie offensichtlich nicht als zu Heilung beitragend angesehen werden, also sinnlos). Die Mittel waren schon mal fort, und ich fühlte mich geplagt. Ich bat um Wiedereinsetzung. Dieses Mal bin ich gar nicht beeinträchtigt, genauso impotent wie sonst. Wer in meiner Stimmung (Depression) lebt, denkt nicht an Sex, ob mit oder ohne Tabletten. Gestern zufällig beim Arzt.
Mein Verhalten ist zurzeit so falsch, dass es wehtut, aber sehr, sehr wohl begründet. Natürlich fühle ich mich hilflos und einsam, aber es hat gute Gründe. Es ist ja keine Änderung (Hilfe) zu sehen, nicht der geringste Vertrauensbeweis. Ich kann um nichts bitten, das sich nicht bewährt hat. Also – keine Brücke – Vereinsamung, Selbstisolierung.
In der letzten Woche waren Herren vom Kastrationsausschuss bei mir. Es ging um Entweder – Oder. Knallhart, nicht im Geringsten therapeutisch. Diese Herren sind mit Sicherheit auf eines fixiert. Die denken, dass ein Triebtäter keine Kinder haben darf. Bei denen wäre es lächerlich, etwas anderes anzunehmen. Kein Wort von meiner Frau. Logisch. Für sie ist sie ein kriminalpolitisch störender Faktor. Tendenziös bis zum Äußersten. Sex sei nicht das Wichtigste. Okay! Aber ganz ohne ist es genauso extrem schlecht!
Es wurde fast beleidigend argumentiert. (»Wollen Sie sich im Gehirn rumrühren lassen?«) usw. Nun ist eingestellt.
So viel für heute.
Viele Grüße bis zu Ihrem nächsten Brief
von Ihrem »verstockten«
Animal Jürgen
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11. Mai 1975
Haben Sie vielen Dank für Ihren letzten lieben Brief. Ich habe mich wieder sehr gefreut. Schön, dass Sie Ihr Versprechen zum Besuch wahr machen. Da Sie hier als »sehr vernünftig« angesehen werden, habe ich keinen Zweifel, dass es glatt geht.
Um es Ihnen gleich zu sagen, unter der Last der Isolierung wollte ich zurück zur Gruppen- + Einzeltherapie. Ich konnte es aber nicht allein. Mir fehlte der Mut. Auf Drängen meiner Frau u. meiner Eltern schaffte ich es schließlich. Unsere Psychologin hatte mir schon vor vier Wochen mal eine »Eselsbrücke« gebaut, aber ich hatte, wie gesagt, nicht den Mut. Die Einsamkeit, Hölle für einen sensiblen Menschen, trieb mich zurück. Zweifel sind nicht ausgeräumt. Ich hoffe, das nun Frau Meffke mir klarmachen kann, dass die Therapie ein Endziel, ein psychologisches, hat, dass sie nicht »Kastrations-ausgerichtet« ist (klarmachen: es gibt nur eines – das!), und wenn sie wirklich auf psychische Umstrukturierung ausgerichtet ist, bin ich voll dabei.
Schauen Sie, was meine Bezugspersonen angeht, bin ich fast krankhaft schüchtern (Grund: Ich habe oft das Gefühl, immer noch als Tier, als Bestie, als Ungeheuer angesehen zu werden, zu Unrecht. Denn es ist einfach nicht mehr so. »Die müssen mich doch eigentlich hassen. Sie werden mich keinen Schritt vorwärts kommen lassen. Sie wollen gar nicht.«). Habe ich ein Problem, ich melde mich nicht. Geht es mir schlecht – ich melde mich nicht. Kann ein Termin nicht eingehalten werden – ich melde mich nicht. Ich bringe es nicht fertig.
Sachlich betrachtet, ist nicht alles auf Kastration ausgerichtet, aber diese verdammten Gefühle, das verdammte Zweifeln. Es ist beschissen, so was, wirklich. Ich reagiere (einer meiner Fehler) viel zu sehr gefühlsmäßig. Die Isolierung hätte nicht zu sein brauchen, hätte ich nicht einen Ausdruck völlig in den falschen Hals bekommen. Ein Missverständnis, nicht mehr. Verdammte Mimose.
Schade, dass ich Ihre Ansicht (die in diesem Punkt keiner hier teilt) nicht teile. Getrennter Tötungstrieb – von sadistischer Sexualität. Meine Meinung: Man kann es nicht trennen. Aber Sie haben jedes Recht, auf Ihrer Meinung zu bestehen. Außerdem macht es mir Sie nur sympathischer, dass Sie mich nicht gerne kastriert sehen würden…
Auf »Schlimmes« muss ich Sie vorbereiten… Früher wog ich dreiundsechzig Kilogramm, heute fünfundsiebzig. Ich bin richtig dick geworden. Und etwas aufgeschwemmt (Sextabletten). Aber sonst – alles klar. Mittlerweile trage ich auch eine Brille. Man wird nicht jünger…
Gestern war meine Frau hier – heute kommen meine Eltern. Mit meinem Vater – hoffentlich bringt er den Mut auf. Das Bett ist schon bestellt. Ansonsten können mich meine Eltern bald nicht mehr besuchen… [da sie zu gebrechlich wurden; M. B.].
Schreiben Sie mir doch bitte, ob Sie eine kleine Gratiszaubervorstellung (Karten) haben wollen. Ich bereite dann etwas vor.
So,… gleich kommt das Mittagessen u. danach schlafe ich.
So muss ich jetzt langsam Schluss machen.
Bis zum nächsten Mal bin u. bleibe ich
Ihr schwarzes Schaf Jürgen
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18. Juni 1975
Sie werden sicher eine gute Begründung dafür finden, dass in Bezug Resozialisierung dieselbe vorrangig Kurzstraflern zugute kommt. Wahre Resozialisierungsbereitschaft zeigt sich nicht in relativ leichten Fällen. Angst vor der eigenen Courage höchstens. Sie werden das, meinen Gedanken, als »genauso schnell rauskommen« auslegen. Davon ist nicht die Rede. Vom Anfassen des heißen Eisens ist die Rede.
»Das muss langsamer, behutsamer vor sich gehen«, werden Sie sagen. Mit Recht, jeder denkende Mensch wird Ihnen da recht geben. Langsam, aber zumindest beginnen. Da setzt meine Kritik an. Wer im Knast sitzt, zehn Jahre, fünfzehn Jahre, hat vom Sinn der Resozialisierung her das grundsätzlich gleiche Recht auf Resozialisierung. Aber er bekommt keine. Mögen Sie das richtig finden, ich finde es nicht richtig.
»Nicht jeder kann resozialisiert werden.« Längst nicht jeder, okay. Versucht werden muss es bei jedem. Weil – siehe oben! Humanität. Und wenn die Kriminalität nicht zurückgeht (wie es in Schweden schien)? Dann wäre Resozialisierungsbemühung nichts als Humanität. Verschwendete Humanität, wie ein Polizist oder Staatsanwalt sagen würde. Falsch! Humanität um ihrer selbst willen, ohne »Forderung«, nur sie ist echte Humanität. Die Humanität hinter Mauern (die keinem schadet) ist gemeint. Wie kann das falsch sein?
Darum wunderte ich mich über Ihre Worte. Laut Gesetz hat es ein »Unheilbar« quasi als Vornherein nicht zu geben. Legen Sie das Gesetz anders aus?
Von mir Neues: Gut versorgt, morgen kommt Gisela, am Freitag meine Tante. Dann gibt es wieder eine Zaubervorstellung.
Alles soll besser werden – auf jeden Patienten einen Pfleger. Einzelzimmer statt der Schlafsäle. Therapie mehr. Wann? Laut STEG in etwa fünfzehn Jahren… Das werde ich ja wohl noch erleben.
»Animal« – Sie sicher nicht… Aber genug andere. Fachleute. Fälschlicherweise. Wie wäre es mit MONSTER? Oder BEAST?
Viele liebe Grüße wie jedes Mal von Ihrem oft an Sie denkenden Schützling
Jürgen
PS: Danke schön nochmals für den schönen Besuch und das Kishon-Buch. Klasse.
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30. Juni 1975
Zuerst vielen Dank für Ihren letzten langen Brief.
Sie sehen es juristisch, sachlich, ich sehe es moralisch. Es interessiert mich nicht so sehr, ob Auslese gehalten muss, wer »würdig« ist. Ich sehe es moralisch. Moralisch gesehen, ist der Versuch zur Sozialisierung (ich habe den Unterschied sehr wohl begriffen) bei jedem Straffälligen ein Muss, ein Befehl gar. Wer das rein sachlich sieht, die moralische Verpflichtung außer Acht lässt, sieht nur mit einem Auge, finde ich. Auch der bewusste Paragraf (Besserung) ist ein Muss, ein Befehl, moralisch, humanitär gesehen.
Sachlich haben Sie, in jedem einzelnen Punkt recht. Aber da Sie kein einziges Wort der Moral oder Humanität fanden, sind unsere Meinungen eben nicht ganz dieselben. »Warum moralisch sehen, wenn Sie selber, die Täter, jede Moral vermissen ließen oder lassen?« Das werden Sie wohl denken. Oder fragen.
Rein sachlich, eiskalt sachlich, wäre da zu entgegnen, was kein Mensch der Welt infrage ziehen darf: »Wer an der Gesellschaft moralisch gesündigt hat, hat trotzdem Anspruch auf Moral u. Humanität, da diese ihren Wert in sich selbst tragen und unteilbar sind, ob Generaldirektor oder Mörder.« Schädigte jemand mich moralisch, berechtigt mich das nicht, dem Täter un- oder nicht-moralisch zu antworten.
»Theorie« nannten Sie das… Ich halte einen Staat, der diese Bezüge außer Acht lässt, nicht für einen Sozialstaat. Sollte man da wirklich solche Scheuklappen anlegen? Nur in eine Richtung sehen. Hüten Sie sich vor Gedanken, wem »noch zu helfen« sei. Ein solcher Gedanke ist in sich von höllischer Gefährlichkeit. Denn: Wer entscheidet das? Welcher Mensch hat das (göttliche) Recht, das zu entscheiden? Wem ist »noch zu helfen«? Ich spreche mir das Recht ab, dies zu entscheiden.
Wenn auch nur ein einziger »alter Ganove«, dreizehnmal rückfällig, sich ändern will, u. er erhält diese Chance NICHT, fällt diese Unmoral (es ist eine) auf die ganze Sache zurück. Irgendwie. Denn nichts geschieht ganz umsonst. Sicher, »sachlich« gesehen, gehört er nicht zu den »Würdigen«, aber… Sachlichkeit ist gut, aber sie, auch staatlich (Gesellschaft, Kultur) ohne jedes Gefühl auszuüben, bedeutet Gefahr, computerhaft zu agieren u. zu reagieren.
Meine Tante Maria war da. Es war prima. Eine richtige kleine Zaubershow. Sonntag kommen meine Eltern u. meine Frau. Der Fernkurs steht so gut wie fest. Keine Schule, aber Weiterbildung im Schriftstellerischen. Sie werden mir zugeben, dass da ein Talent vorhanden ist. Zurzeit überlege ich: Pseudonym oder nicht? Was sagen Sie? Schreiben »lernen« brauche ich nicht mehr allzu viel, es käme viel mehr auf Leute an, die Verlage an der Hand haben, Manuskripte weiterleiten können, Verkaufshilfen usw. Die beste Story ist unverkauft nichts wert.
Ja, die neue Therapie. Die Stadt darf ich Ihnen nicht nennen, aber es ist sehr weit weg. Hypnose-Therapie. Ob es dazu kommt, kann ich nicht sagen. Ich bin »unbelastet«, kann also auch über Chancen nichts sagen. Jedenfalls, ein Plus, der Fachmann ist dort, und ja, er ist bereit (hatten wir drei Jahre lang noch nie). Unterstellt man, dass Ihre Theorie stimmt (mehr psychologische Motive als sexuelle), wäre es die Therapie.
Aber vielleicht kommt es gar nicht dazu. Im zehnten Jahr ohne Hilfe ist man wohl zu Recht »egal«, ich hoffe auf nichts, es ist mir sogar relativ gleichgültig. Aber nach zehn Jahren ohne Förderung, da macht man sich kaum noch Hoffnungen. Ich glaube so schnell nichts mehr. Selbst in meinem Fall reicht ein Jahrzehnt, will man überhaupt helfen, mal die Hand zu reichen, »gebremste« Förderung usw. Aber »sachlich« sind ja Hoffnungen nicht begründbar. Also mache ich mir keine.
1000 Grüße von Ihrem unsozialisierbaren Schützling
Jürgen
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16. Juli 1975
Zuerst vielen Dank für Ihren letzten lieben Brief. Ich hoffe, dass dieser Brief Sie noch vor Ihrem Urlaub erreicht. Es wäre wirklich schade. Es sind ja relativ viele Fragen, die Sie stellen, und so, wie ich eingestellt bin, sollten sie sofort beantwortet werden…
Niemandem kann man etwas anlasten, wenn es noch keine spezielle hundertprozentige Heilmethode gibt. Ich muss das als Tatsache anerkennen. Obwohl ich es mit dem Verstand nicht fassen kann. Sie glauben nach der Lektüre über die Hirnoperation, ich hätte Ihnen etwas verschwiegen. Nein! Als ich Ihnen zuerst davon schrieb, wusste ich nicht mehr als das, was ich schrieb! Der dicke Hammer kam erst in Homburg respektive danach. Genauer: Vor etwa drei Wochen erfuhr ich erst, was Sie in der Zeitung lasen. Tun Sie mir bitte nicht unrecht: Die »normale« Operation wird nur an einem Punkt im Gehirn vorgenommen. Kein Triebtäter ist bis dato anders operiert worden. Wieder die Sonderstellung: Bei mir hätte man an vier Stellen operieren müssen. Aggressionszentrum, Erotisierungszentrum, Antriebszentrum…
Bis vor drei Wochen wusste ich all das nicht, zum Beispiel dass sieben von hundert Operierten sterben, dabei oder danach. Und so weiter. Mir ist es klar: Ich wäre ein schwachsinniger Klumpen Fleisch.
Es ist klar, dass, wenn ich auch bei der Hirnoperation, wie seit einem Jahrzehnt, »anders als alle« sein soll, ich meine Haltung zu dieser Operation noch überdenken muss. Oder wollen Sie Ihren Briefpartner nicht behalten…?
Nein, keinen einzigen Grund gibt es, an mir zu zweifeln. Wenn mir Beschränkungen auferlegt werden, kann ich nichts dafür. Aber ich bin hundert Prozent ehrlich. Anders kann eine Freundschaft nicht aufrechterhalten werden. Sie sind schon eine meiner wenigen Bezugspersonen, Sie werden es nicht erst. In gewisser Weise hängt man mehr an einer Bezugsperson, als an einem lediglichen Freund. Denken Sie daran, was mit Kindern geschieht, denen man ihre Bezugsperson nimmt…
Zur Hypnose-Behandlung…: Meiner Ansicht nach hat sie eine große Chance. Das Problem war, so sagten auch Sie mir, nicht so sehr der Sexualtrieb wie die Fantasie. Sie ist mit allen herkömmlichen Mitteln nicht zu verändern. Das kann man nur bis zu einem gewissen Grad selbst (ist geschehen), aber nicht völlig. Die Hypnose kann aber, was ich für erwiesen halte (gelesen, schon vor Jahren) die PSYCHE verändern. Der Sexualtrieb ist dann nicht mehr zu verändern, weil (weiß ich aus Dämpfungsmittel-Erfahrung. Was die Zeitung darüber schrieb, war falsch) er sich (logischerweise) der veränderten Fantasie anpassen muss. Hauptsächlich also die Psyche. Das, bin ich überzeugt, ist zu erreichen. In Jahren. Noch ein positiver Punkt: Ich hatte nie einen willigen Fachmann. Nun haben wir einen.
So, nun muss ich langsam zum Schluss kommen. Seien Sie also bis nach Ihrem Urlaub aufs Herzlichste gegrüßt. Ich erwarte schon die erste Ansichtskarte.
Ihr Jürgen Bartsch
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16. September 1975
Lassen Sie mich gleich Ihren letzten lieben Brief beantworten, da ich ja relativ viel Zeit habe. Anders als Sie. Also lassen Sie sich nicht »hetzen« von mir, ich weiß, wie wenig Zeit Sie haben, also lassen Sie sich auch Zeit.
Fangen wir beim Einfachsten an – Ted Lesley. Scheinbar haben wir in Deutschland keine guten Mentalisten. Diese sprechen zwar stets (wie ich) von »Experimenten«, aber trotzdem muss es klappen. In einer Zauber-SHOW habe ich Lesley gesehen, und da war er guter Durchschnitt. Nichts »Metaphysisches« jedenfalls. Was ein Mentalist auf der Bühne ja sein soll. Es waren viele Punkte, die ich als Fachmännlein zu beanstanden hätte: Er sprang wie ein Kaninchen auf der Bühne umher. Er begrüßte die Zuschauer nicht, ignorierte sie, war fast krankhaft nervös. Brachte (ja… ich… äh…) keinen vernünftigen Satz zustande. Versprach ein Experiment (»ohne Apparate«) und baute doch eine kleine Apparatur auf.
Letztlich brachte Lesley, so aufgeregt, wie er war, es nicht zustande, den Zuschauern zu sagen, was er vorhatte. Wäre ich Zuschauer gewesen, wäre ich empört gewesen. Vielleicht (viele Magier tun das, ich habe es vor einem Bühnenauftritt immer getan) hätte er vorher eine Valium 5 nehmen sollen…
Zu den Zähnen: Ich war noch nicht beim Zahnarzt. Vielleicht nächste Woche. Ob der Zahnverfall mit den Medikamenten zu tun hat, weiß ich nicht. Aber Medizin… Irgendwie ist es tragisch. Kennen Sie den Unterschied zwischen süchtig und abhängig? Wenn man süchtig ist, braucht man immer mehr, man kann ohne das Zeug nicht leben. Wenn man abhängig ist, steigt die eingependelte Dosis zwar nicht, aber man kann ohne das Zeug nicht leben.
Ich meinerseits bin durch dreieinhalb Jahre Tranquilizer total abhängig geworden. Habe ich es nicht, wird es schlagartig abgesetzt, wird es für mich lebensgefährlich. Ich gerate sofort in Erregungszustände und habe keine Kontrolle mehr über mich, keinen eigenen Willen. Würde ich schlagartig entzogen, würde ich toben, der Kreislauf würde durchdrehen, und von Selbstmordgedanken wäre ich nicht weit entfernt. Wenn ich letztes Jahr nach Homburg nicht meine Medizin wiedererhalten hätte, hätte man mich ans Bett fesseln müssen. So, wie es jetzt ist, spüre ich (mit Medizin) keinerlei Beeinträchtigung, ich merke das Zeug gar nicht mehr, aber… zweimal haben wir es versucht, auf klein-klein aber – schade. Meine Frau sagte mir, so wie sie es sieht, würde ich erst nach einer Entlassung langsam davon loskommen.
Die Sache mit dem Bleistiftanspitzer ist Gott sei Dank vergessen.2 Lassen Sie es uns bitte ganz, ganz schnell vergessen, ja? Das Fortnehmen der Zaubersachen hatte nichts damit zu tun. Es war ein zu großer Karton. Keine räumlichen Möglichkeiten. Keiner soll »viel« haben hier. Sie verstehen? Ich darf weitermachen. Aber meine besten Sachen (die ich nicht mehr kriege, von wegen Glas oder Metall oder Seil) werde ich nicht mehr bekommen. Alles geht jetzt nach Austausch. Es ist ein schlechtes Gefühl für mich, sieben gute Sachen abzugeben und evtl. sieben nicht so gute Sachen zu bekommen. Außerdem: An Bestellungen quasi nur noch Karten u. Papier möglich. Die Gründe sehe ich ein, ich greife niemanden an, aber ich muss mir unter solchen Umständen doch überlegen, ob ich mein Hobby nicht doch auf Eis legen muss (Aufgeben – NIE!).
Heute kommt (ich bestelle einen Gruß von Ihnen!) meine Mutter nach hier, – eben wegen der Zaubersachen. Ganz außerplanmäßig. Das habe ich bei meinen Eltern noch nie erlebt…
Ja, der Wasserreis. Er wird nur mit Wasser zubereitet und gekochten Birnen gemischt. Sonst könnte man das Zeug ja nicht essen. Es treibt viel Wasser raus, ja. Aber ohne Zucker und alles, da glaube ich nicht, das es viel Kalorien hat. Aber ich behelfe mir ja noch mit Gemüsesaft, Möhrensaft, Sauerkrautsaft (puh!), F.D.H.-Schlankheitshappen usw. Das muss einfach was werden. So,… nun muss ich für heute langsam schließen. In einer Stunde wird meine Mutter hier sein.
Viele Grüße also bis zum nächsten Mal von
Ihrem
Schützling Jürgen
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1. Oktober 1975
Meine Kurzgeschichten werden nicht zensiert. Ich schreibe sie und sammele sie. Die meisten sind eher Novellen zu nennen. (Etwa sieben bis acht Seiten.) Sie sind allgemein gehalten, und kein Wort über meinen Fall. Sie sind fast alle sozialkritisch, gleichzeitig aber mit Unterhaltungswert. Natürlich soll mal ein Buch draus werden, irgendwann. Ich habe ein Gedicht von einem Kirchenschriftsteller mit aufgenommen, weil ich spürte, es gehört in diese Art Buch. (Mit seiner Erlaubnis, versteht sich.) Ich suche noch jemanden für das Vorwort. Aber das wird sich finden.
Einige Themen, die ich beschrieben habe: Der Mann im Gefängnis, der seine sterbende Mutter sehen will; die alte Frau, die ins Altersheim abgeschoben wird; ein Fall von Kindesmisshandlung; der Mann, dem es unmöglich ist, zu heiraten, aus psychologischen Gründen; die Frau, die einen schweren Unfall hatte und umschulen muss; der Zehnjährige im Heim, dessen Mutter eine Prostituierte ist usw. »Lösungen« kann man nicht aufzeigen. Weil jeder Fall individuell ist.
Aber meine Hausaufgaben für die Fernschule werden natürlich zensiert. Die Zensuren sind recht gut. Eine Drei bis Zwei wäre es in der Hauptschule. Gerade gestern habe ich wieder neun Aufgaben abgesandt. Mit meinem eigenen Stand bin ich nun bei zehn Geschichten, plus »Einleitung«.
Zu Ihren anderen Fragen: Ob ich Weihnachten noch in Eickelborn bin, ist ungewiss. Sie wissen ja, wie unberechenbar die Planung der Justiz ist. Es können vier Wochen oder vier Monate sein. Ich selber bekäme, Justiz-üblich, erst einen Tag vorher Bescheid.
Mein kranker Weisheitszahn ist raus… Im Augenblick geht’s wieder. Aber Sie haben recht. Es geht jetzt bergab mit den Zähnen.
Die Abmagerungskur? Im nächsten Brief. Wir werden erst heute oder morgen gewogen. Mal sehen…
Sonst gibt es nicht viel Neues zu berichten. Bald ist Grippe-Impfung. Gestern war Gisela da. Schon Samstag kommt sie wieder… Mein Vater wird sich in den nächsten Monaten zum Besuch fahren lassen müssen. Operation – dieses Jahr wohl nicht mehr. Es ist traurig. In der letzten Zeit habe ich sehr viel Malefiz gespielt. Kennen Sie das Spiel?
So, nun muss ich für heute langsam schließen. Seien Sie… bis zum nächsten Mal aufs Herzlichste gegrüßt von
Ihrem alten Jürgen
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Der Geburtstag ist vorbei, danke für die Glückwünsche. Gott sei Dank kam ich um die Prozedur herum. Sogar zwei Zigarren bekam ich. Von Günther, der meinen Geburtstag seit zwei Jahren im Kopf behalten hatte, der über fünfundzwanzig Jahre in Anstalten herumhängt, nie entlassen werden kann (ein Tobsuchtsanfall pro Jahr, wer da gerade neben ihm steht, hat Pech gehabt, wie zum Beispiel Pfleger Schindler) und nie in Gemeinschaft kommen kann (zwei Stunden – die erste Schlägerei). Ein sehr, sehr armer, bedauernswerter Mensch.
Er hat es wohl noch viel schwerer als wir anderen. Fünfundzwanzig Jahre Einzelzelle, da kommt einen leicht ein Gruseln an… und das im Nachthemd (andere Wäsche zerreißt er…). Aber auch ich kriege langsam das Gruseln, wenn ich an die Sache mit München denke. Bossi hat inzwischen einen »dringenden« Brief ans Ministerium (Arbeit, Gesundheit, Soziales) geschrieben. Trotzdem geht natürlich nichts vorwärts. Ich selber weiß zurzeit überhaupt nichts. Das ist fatal, psychisch, weil ich letzte Zeit sowieso zu viel ans Jahr zuvor denke, dieselbe Jahreszeit, dieselbe Kälte tagsüber, Dunkelheit morgens usw. Ja, ich denke viel zu viel an die Fehlzündung mit Homburg vor fast genau einem Jahr.
Ich hänge zurzeit total in der Luft. Mehr gibt es da im Moment nicht zu sagen…
Schon heute freut sich auf Sie… ,
Ihr Sorgenkind Jürgen
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3. Dezember 1975
Haben Sie vielen Dank für Ihren letzten Brief, den ich gestern bekam. Ich habe mich wieder sehr darüber gefreut. Beide haben wir recht… Sie mit der Tatsache, dass ich Verwandte und Freunde habe (an erster Stelle meine Frau), die mich auch in Jahren nicht allein lassen würden. Eine Tatsache, für die ich wahrscheinlich nie genug dankbar sein werde. Auf der anderen Seite steht das Wort von Fallada: Jeder stirbt für sich allein [Titel eines Romans von Hans Fallada; M. B.], jeder ist letztlich ganz allein, was Lebensentscheidungen anbetrifft. Jeder.
Es gilt also für jeden. Aber auch hier muss man eine sachliche Einschränkung machen: Ich stehe da wohl »alleiner« als jeder andere Gefangene hier. Mein bester Kamerad hier bekam einen Brief von einem Verwandten, in dem stand (im Brief, nicht im Verwandten), »der, mit dem Du da zusammen bist, müsste, käme er jemals heraus, am nächsten Laternenpfahl aufgehangen werden!« So was erlebe ich im Monat etwa fünfbis sechsmal.
Und, gedankenlos, ein anderer: »Auf Abteilung 3 A gebe ich Dir eine Stunde.« – »Und dann?« – »Dann bist du tot.« – Ist es so? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Zumindest muss man es für möglich halten. Verstehen Sie, dass mich so was über Jahre hinweg fertig macht? Verstehen Sie also, dass meine Lebensentscheidungen einsamer Natur sind, schwermütiger sind, als die Ihren oder anderer? Ich weiß doch nie, was wirklich kommt.
Aber zu Ihrer Frage: Nein, ich werde die Flinte nicht ins Korn werfen. Noch nicht. Geht die Kastration auch noch schief, erwarte ich allerdings Verständnis von Ihnen für alles, auch Suizid. Es gibt eine Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann. Diesen Gedanken sollten Sie ganz nüchtern mittragen. Ich weiß schon, was kommt: An meine Frau denken. Richtig.
Aber ein derartiger Verzweiflungszustand bedingt einen Ausnahmezustand, und der lässt keinen nüchternen logischen Gedanken zu. Das ist keine Ausrede, ich weiß, wovon ich rede – damals, in Duisburg-Hamborn, dreißig Schlaftabletten, drei Tage im städtischen Krankenhaus, nicht wach geworden, »der kratzt uns ab«, Gefängnispfarrer ans Bett gesetzt usw.
Na, anderes Thema: Ich will Ihnen kurz sagen, was sich getan hat, seit Sie… hier waren: Ein von meinen Eltern angeregtes Gespräch mit dem Arzt über diese Problematik kam nicht zustande. Vom Kastrations-Ausschuss habe ich noch nichts gehört. Inzwischen habe ich das mir immer wieder empfohlene Fachbuch durchgelesen. Es behandelt nur dies Thema. Negativ: Entsetzlich, wegen welcher Dinge Menschen zwangsweise kastriert wurden (Exhibitionismus), erschreckend, wie die Nazigräuel »versachlicht« werden: »Der Täter sollte wegen einer Hasenscharte aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes sowieso sterilisiert (!) werden. So würde beides in einem erledigt.« – »Patient in Mauthausen [ein KZ in Österreich; M. B.] verstorben.« – »Patient wurde 1942 der Polizei übergeben. Seitdem keine Nachricht mehr.« – Ein Patient: »Man hat mir mit Gestapo u. Vergasung gedroht.« – Weiter redet der Autor des Öfteren freimütig von Menschen als Material usw. Das sagt doch nichts über den Wert der Sache u. nichts über heute.
Was an Positivem zu lesen ist, ist WEIT ÜBERWIEGEND. Hier nur ein paar Beispiele: »Kinderschänder«, »Gewalttäter«, »Sadisten« werden als sehr gut behandelbar bezeichnet. Den stärksten Erfolg hat der Eingriff bei Freiwilligkeit (»Ich will davon loskommen«). Zweitausendfünfhundert Überprüfte. Zeitraum: bis zu dreißig Jahren Abstand. Quote (Rückfall) am Geringsten: ein bis drei Prozent.
Folgen: Potenz u. Libido erhalten: nur zehn Prozent; stark abgeschwächt: fünfundvierzig Prozent; abgetötet: fünfundvierzig Prozent. In sehr engen Grenzen GV mit der Frau noch möglich: Ein Drittel der Patienten, aber nur unter Mithilfe der Ehefrau. Haarkleid: So geringe Änderung, dass für mich ohne Belang. Gewicht: fünfzig Prozent keine Gewichtsveränderungen, fünfundzwanzig Prozent bis zu 19,5 Kilogramm Über- oder Unter-Gewicht (fünfundzwanzig Prozent).
Zwei Drittel der Operierten erleben eine Beruhigung des Nervenkostüms (im Fachjargon Wallachisierung [ärztliche Bezeichnung!] genannt). Verweiblichung: noch erträgliche Veränderungen wohl unvermeidbar: Mehr Haupthaar, leichte Brustentwicklung, Fett in (auf) der Hüftgegend. (Was beileibe nicht in jedem Fall eine Verunschönerung ist.)
Am Sonntag habe ich Gisela (sie macht ab Montag anderthalb Wochen Urlaub, will mich jeden zweiten Tag besuchen. Ist das nicht klasse!? – Ob ich sie verdient habe…?) einen DIN-A4-Block zum Abtippen mitgegeben. Ein weiterer Block ist zur Hälfte fertig. Und bald soll’s weitergehen… Hauptsache, man schmiert geistig nicht ab…
Zur Magie: Schön, das es Ihnen gefallen hat. Mehr? Gerne. Ich werde für Sie ein Programm vorbereiten… Karten, ein wenig Hellsehen oder Telepathie. Oder ein im Buch gewähltes Wort »fernlesen«? Mir fällt schon genug ein. Ich mache dann mal einen Zettel fertig. Wenn der nächste Brief kommt, werde ich das geschenkte Buch AUS haben, ich schreibe Ihnen dann davon…
Für heute 1000 Grüße Ihr hopeless case Jürgen
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14. Januar 1976
Schön, dass Sie Weihnachten so gut verbracht haben. Beklagen kann ich mich auch nicht. Meine Eltern waren da. Aber Gisela, worüber ich endlos traurig war, musste beide Tage arbeiten. Und Heiligabend ist ja Besuchsverbot. Froh – eigentlich muss ich es sein… Viermal Weihnachten hier – davon zweimal über die Feiertage in der Box (Keller).
Dieses Jahr nicht. Ich bin weniger, viel weniger labil, als früher. Aber das Recht auf Traurigkeit und Depressionen behalte ich mir vor. – Es war nicht gerade toll – es war wie immer. Tannenbaum, Fernsehen, keine Feier, kein Gottesdienst. Keiner (was sind das für herzlose Seelenkrüppel, die Sohn, Mann, Bruder hier vergessen!?), am ersten Weihnachtstag, außer mir, hatte von meiner Abtlg. Besuch. Zum Kotzen! Einer ging über die Feiertage freiwillig in die Box. Er packte es nicht. Wir alle packten es kaum. Wir steckten voll von Tränen und Aggression bis zum Hals. Ich nicht ausgenommen.
Letztlich war ich auch verwirrt, weil ich von der Münsteraner Kommission nichts hörte. Ich schrieb einen Brandbrief. Nun endlich habe ich Nachricht. Die »Konferenz« wird Ende Jan./Anfang Feb. stattfinden. Das ist schon mal etwas. Dann ein paar Wochen warten auf die Entscheidung. Dann ein paar Wochen warten aufs Messer.
Davor Angst? Ja, sicher, aber es bringt mich nicht um. In diesem Punkt bin ich gut belastbar. Ich weiß ja, was mich erwartet, weil ich die Reaktionen meines Körpers genau kenne: Depressionen stärkster Art, aber wohl nur ein paar Tage (hoffe ich). Dann die sich »steigernde« sexuelle Ruhe bis fast zur Windstille. Fast, denn totale Windstille, das ist nicht. Ich sagte Ihnen ja…, dass ich meinen Körper u. seine Reaktionen sehr genau kenne. Sollte immer noch »zu viel« da sein, kann man »Androkur« dazu nehmen.
Wenn man immer noch »zu viel« feststellt oder glaubt, feststellen zu müssen, kann man immer noch was nehmen. Den Strick. Denn dann ist nichts mehr drin. Weder will noch kann man dann noch helfen. Gut…, dass Sie es akzeptieren, im Grunde. Es gibt eine Grenze seelischer Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit. Sie ist erreicht.
Hoffentlich… schreibe ich nicht alles doppelt, aber das ist kaum möglich, der letzte Brief war vor Weihnachten, nicht? Gisela will mir, nun, da wir über zwei Jahre verheiratet sind, so nahe sein, wie es irgend geht. Gibt es einen (sie will ab April hier arbeiten, Klatsch stört sie nicht mehr, und man wird sehen, ob es »Ablehnungsgründe« gibt…) besseren Beweis unserer Liebe? Was unsere Ehe betrifft, denkt man hier nicht im Traum daran, uns echt zu helfen.
Ein Kinofilm wurde uns in der Kirche gezeigt: DIE BRÜCKE. Der Film war sehr gut. Kennen Sie ihn auch?
Wenn es irgend geht, wird Gisela (keiner bringt solche Ruhe in mich wie sie) mir vor, während oder vor – nach der Operation beistehen. Sie wäre der beste Beistand, und sie ist immerhin »beruflich geeignet«. Ob’s was wird?
1000 Grüße…, Ihr Papiertiger JÜRGEN. Am 28. April 1976 starb Bartsch unmittelbar nach der von ihm herbeigesehnten Kastration beim Herausschieben aus dem Operationssaal. Die beiden zur Narkose verwendeten Chemikalien waren vertauscht worden; einen Narkosearzt gab es bei dieser OP nicht. So kam es, dass das Betäubungsmittel stark überdosiert war. Der Arzt, der die Kastration, abgesehen von diesem Behandlungsfehler, offenbar erfolgreich durchgeführt hatte, wurde wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen (sechs Tage zuvor war eine zweiunddreißigjährige Frau unter ähnlichen Umständen bei einer OP desselben sechzigjährigen Arztes gestorben) zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe (allerdings auf Bewährung) verurteilt.
Ein letzter Brief Bartschs darf hier nicht fehlen. Er hat ihn an die Wand seiner Gefängniszelle geschrieben, bevor er einen – allerdings nicht ernst zu nehmenden – Selbstmordversuch unternahm. Diesen Brief darf man absolut wörtlich nehmen, auch wenn einem das den Verstand rauben möchte. Wie schon gesagt: Paraphile Täter haben kein Mitgefühl. Sie schreiben die Wahrheit daher so herunter, wie sie ihnen in den Sinn kommt – egal, wie unangemessen und verletzend das ist. Doch wer kein Herz hat, kann sich auch nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn die Herzen anderer brechen.
»Und ich weiß genau, wie Du gelitten hast! Ich erfuhr, dass Du die 16000 DM [Belohnung; M. B.] bekommen hast. Meine ehrliche Meinung ist, daß Du sie verdient hast! Trotzdem solltest Du die 1000 DM zurückgeben, und evtl. noch etwas dazu tun, die Graßmanns [Eltern eines von Bartschs Opfern; M. B.] sind arm und haben selber kein Geld! Ich weiß, wo sie wohnen; da wohnen keine reichen Leute! Kannst Du mir verzeihen, Peter? Ich wünschte es mir doch so sehr, auch wenn ich es [wegen Selbstmord; M. B.] nicht mehr hören kann! Ich kann Dich verstehen, wenn Du sagst: Es war zu schlimm, ich kann nicht! Aber glaub mir, Peter, es würde mir sehr, sehr viel bedeuten! Ich hatte Dich nämlich damals schon allen Ernstes sehr lieb gewonnen! Die Tatsache, daß ich Dich trotzdem getötet hätte, mag ein Beweis sein, wie stark meine Neigung mich selbst in der Gewalt hatte!«
1 Erwin Hagedorn (1952–1972) ermordete im Mai 1969 und im Oktober 1971 drei Jungen. Er wurde am 12. November 1971 verhaftet und gestand die Morde sofort. Am 15. Mai 1972 wurde er zum Tod verurteilt und durch einen »unerwarteten Nahschuss« am 15.9.1972 in Leipzig hingerichtet. Es war die letzte zivile Hinrichtung auf deutschem Boden.
2 Nach Bartschs Darstellung hatte sich ein Insasse mit der Klinge eines Bleistiftspitzers verletzt, der laut Anstaltsleitung Bartsch gehörte. Er selbst gab aber an, den Spitzer nie (von seinen Eltern) erhalten zu haben, da er von der Anstaltsleitung zurückgehalten worden sei. Folge war dennoch, dass Bartsch alle scharfen Gegenstände abgenommen wurden: »Alle meine Zaubersachen, die mir Überlebenshilfe waren, abgenommen (Karton, sechzig mal vierzig Zentimeter). Das Liebste, das ich hier hatte. Ich bin verzweifelt. Aber ich muss mich zusammennehmen. So weh es auch tut. Und es tut weh. Solches Verhalten, und mit demselben Menschen, der mir das antut, Therapie? Wohl kaum.«
Luis Alfredo Garavito Cubillos
Der pädophile homosexuelle Sadist Luis Alfredo Garavito Cubillos (geb. 25. Januar 1957) nimmt in der Kriminalgeschichte aus zwei Gründen eine Sonderstellung ein. Erstens ist die durch Skelettfunde bewiesene Anzahl seiner Opfer mit wahrscheinlich über dreihundert Leichen sehr hoch, und zweitens könnte er der erste Serienmörder sein, der seinen Lebensabend in Freiheit verbringt.
Bei den Toten handelt es sich vorwiegend um Jungen im Alter von – genau: erneut acht bis zwölf Jahren. Damit zeigt sich, dass Garavito wie Jürgen Bartsch ein pädophiler Täter ist, der sich diese Altersspanne nicht nur aussucht, weil Kinder in diesem Alter vielleicht leichter zu überwältigen wären, sondern weil diese Gruppe die einzige ist, auf die sich seine Fantasien richten. Und das ist nicht die einzige Ähnlichkeit zum deutschen Täter aus den 1960er-Jahren. Garavito ist erstens ebenfalls homosexuell, zweitens klar sadistisch und beging seine Taten drittens in praktisch allen Details wie sein deutsches Pendant. Eigentlich erstaunlich – denn beide wussten weder etwas voneinander, noch hatten sie sonst eine auffällige Gemeinsamkeit in ihrer Umwelt: anderer Kontinent, andere Zeit, anderes soziales Klima.
Garavitos Taten fanden mit rasender Geschwindigkeit zwischen 1992 bis 1999 statt. Die Leichen wurden fast alle gefunden, nachdem Garavito sie auf einer riesigen Karte eingezeichnet hatte. Auch hier gibt es eine Parallele zu Bartsch, der immer dieselbe Höhle benutzte: An mehreren Stellen in Kolumbien hatte Garavito jeweils Plätze ausgewählt, an denen er viele Kinder umbrachte. Dass er den Lageplan zeichnete und die Taten damit nicht nur gestand, sondern auch noch durch Spuren und Knochen beweisbar machte, hat einen besonderen Grund. Je mehr Leichen gefunden werden, umso größer die Chance, dass Garavito wieder auf freien Fuß kommt. Denn zum Zeitpunkt seiner Verhaftung wurde in Kolumbien das Strafrecht modernisiert. Unter anderem wurde verboten, Strafen zusammenzurechnen. Stattdessen gibt es nur noch eine Höchststrafe im Gefängnis, die höchstens fünfundzwanzig bis vierzig Jahre dauern kann – nicht länger. Würde man am Tag der Freilassung Garavitos eine weitere seiner Leichen finden, könnte er erneut für zwanzig Jahre ins Gefängnis geschickt werden. Findet man aber schon jetzt alle Leichen, so bleibt es bei der einmaligen Höchststrafe.
Zunächst eine kurze Übersicht über Garavitos Taten.
Ein Politiker in Verdacht
Am 22. April 1999 entdeckte ein umherstreifender, wohnungsloser Mann am Stadtrand der etwa vierhunderttausend Einwohner großen Stadt Villavicencio einen Mann, der einen sexuellen Übergriff auf einen Jungen beging. Die Tat geschah in einem Gestrüpp nahe einer asphaltierten Straße, ein denkbar ungünstiger Ort für ein solches Delikt, denn jeder zufällig Vorbeikommende hätte die Schreie gehört. Der Täter war offenbar sehr abgebrüht, sehr erfahren oder beides.
Der mutige Zeuge verscheuchte den Täter und meldete die Tat sofort der Polizei. Die nahm die Mitteilung zur Kenntnis und schickte den Mann wieder fort, ohne ihn nach seinem Namen gefragt zu haben. Der Zeuge, dessen Meldung eine der bittersten Serientaten der Neuzeit beendete, ist bis heute nicht wiederaufgetaucht.
Immerhin begann die Polizei sofort mit der Suche nach dem Verdächtigen. Da sie aber – wohl auch wegen ihres Desinteresses an einem im Vergleich zur alltäglichen Gewalt in Villavicencio wenig beeindruckenden Delikt – niemanden fand, schwärmten die örtlichen Taxifahrer zur Patrouille aus. Noch am selben Tag wurde auf diese Weise ein Mann aufgespürt, der auf die Personenbeschreibung passte, die der Zeuge gegeben hatte. Der aufgegriffene Mann hatte keine Papiere bei sich, gab aber aus dem Gedächtnis die Ausweisnummer und den Namen eines Lokalpolitikers einer anderen Stadt an. Da es damals in Kolumbien kein brauchbares Meldewesen gab, konnten die Angaben zunächst nicht überprüft werden.
Damit wäre die Sache schon beinahe erledigt und der Mann, der natürlich alles abstritt, wieder frei gewesen. Weil der angebliche Politiker aber auf die Frage, wohin er denn wolle, einen Ort angab, der um neunzig Grad versetzt zur Richtung lag, die er tatsächlich zu Fuß eingeschlagen hatte, wurden die Polizisten misstrauisch. War an der Anzeige des Obdachlosen womöglich doch etwas dran? Da man nichts Genaues wusste, wurde der Fremde erst einmal ins Gefängnis gebracht. Dass damit ein Serienmörder aus dem Verkehr gezogen war, konnten die Polizisten nicht ahnen. Denn dass die mindestens zweihundert als verschwunden gemeldeten Kinder aus ganz Kolumbien Opfer eines einzigen Täters sein könnten, auf diese Idee war noch niemand gekommen. Eine Fahndung gab es daher nicht.
Die einzige Zeichnung, mit der nach dem Mörder von angeblich nur »einem« Kind gesucht wurde, war zwar schon 1996 veröffentlicht worden, passte aber auf viele Kolumbianer. Außerdem waren die Taten oft so weit voneinander entfernt begangen worden. Der Zusammenhang war aufgrund fehlender Spurenuntersuchungen (wegen Geldmangels wurden keine genetischen Fingerabdrücke erstellt, obwohl Spermien gefunden wurden) ohnehin nicht klar. Systeme wie das Serientäter-Erkennungsprogramm VICLAS fehlten, und in Villavicencio, wo der Krieg zwischen Paramilitärs und Guerilla besonders stark tobte, fielen Tote kaum mehr auf. Zudem war gerade die Tatserie von Pedro Alonso Lopez mit etwa siebzig Opfern bekannt geworden (»Anden-Monster« oder »Anden-Würger«). Obwohl er bevorzugt Mädchen umgebracht hatte, meinte ein von der Polizei befragter Psychiater, dass seine Vorlieben sich wohl geändert haben müssten. Da es in Kolumbien keine Möglichkeit zum Vergleich der damals bereits verfügbaren Serientäterstudien gab, konnten die Ermittler nicht erkennen, dass diese Aussage hoch unwahrscheinlich war.
Wegen der Leichenfäulnis wurde zunächst auch nicht erkannt, dass die Opfer nicht erwürgt worden waren, wie es Alonso Lopez stets getan hatte. Man tappte also im Dunkeln und hoffte, dass es sich um späte Funde handelte, die aber noch dem alten Täter zuzuschreiben waren.
Entdeckung der Serie und erste Ermittlungen
Dass es sich trotzdem um eine neue und andere Tatserie handeln musste, dämmerte einigen Polizisten und Staatsanwälten dennoch. Denn schon im Jahr zuvor (Februar 1998) waren (wieder in hügeligem und mit tropischen Gräsern hoch bewachsenem Gelände) in der Nähe der Stadt Genua zwei beieinanderliegende Kinderleichen gefunden worden. Sie waren nackt, begannen zu faulen und waren sehr schwer misshandelt worden. Bei der Suche am folgenden Tag tauchte eine dritte Kinderleiche auf, die nur wenige Meter entfernt lag.
Es handelte sich also weder um eine Entführung noch um Kriegsgeschehen. Die Kinder waren gefesselt, und an den Unterseiten von Pflanzen fand sich noch reichlich Blut. Es stammte aus den vielen tiefen Schnitten in den Körpern. Selbst die Köpfe und Geschlechtsteile der Kinder waren teils vollständig, teils halb abgeschnitten. Außerdem fanden sich Bissspuren und deutliche Hinweise auf anale Penetration. Das Tatmesser lag im Gras bei den Leichen; die Leichenliegezeit konnte nicht genau ermittelt werden.
Rätselhaft blieb den Polizisten ein etwa siebzig Meter vom Leichenfundort entfernt aufgebauter Unterstand, in dem Kondome und pornografische Bilder gefunden wurden. Hierbei handelte es sich, wie sich später zeigte, um den Rückzugsort einer anderen Person, die dort ihren privaten Leidenschaften nachging, ohne Kinder zu töten. Die räumliche Nähe zum Tatort war ein makabrer Zufall.
Die getöteten Jungen waren zwischen elf und dreizehn Jahre alt und stammten aus sozial schwachen, wenngleich nicht zwingend verelendeten Verhältnissen. Es waren aber clevere Kinder, die, solange sie denken konnten, auf der Straße gearbeitet hatten: Abfallsammlung, um die Schweine zu füttern, Straßenverkauf von Feuerzeugen, Losen, Süßigkeiten oder Obst mittels Bauchläden und Ähnliches. Die Eltern arbeiteten ebenfalls in schlecht bezahlten Jobs.
Am unbegreiflichsten war aber, dass die toten Kinder eng befreundet gewesen waren. Dennoch waren sie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils gegen zehn Uhr vormittags verschwunden, ohne einen Hinweis zu geben, wohin sie gegangen waren. Wie war das möglich?
Man sprach noch einmal mit den Müttern, und nun trat ein entscheidendes Detail zutage. Eines der verschwundenen Kinder hatte zu Hause kurz gemeldet, dass es mit einem Mann gegen Bezahlung Rinder treiben würde, und war dann wieder verschwunden. Die anderen Kinder hatten davon nichts erzählt, wohl weil sie das Geld für sich behalten und nicht wie sonst jeden Pfennig zu Hause abliefern wollten.
Ausweitung der Ermittlungen
Nun wurde eine vier Personen umfassende Ermittlungsgruppe gebildet, die der Sache auf den Grund gehen sollte. Zuständig wurde die Staatsanwaltschaft aus dem Landesteil Armenia (im mittleren Westen Kolumbiens). Diese Gegend war 1988 von einem schweren Erdbeben zerstört worden, sodass dort eine kaum brauchbare Infrastruktur herrschte. Da die Taten zum Teil in Armenia stattgefunden hatten, erhoffte man sich hier die sinnvollste Ausgangsposition.
Die vier Ermittler forschten landesweit nach weiteren Morden an Jungen, die übereinstimmende Merkmale der Leichen und Fundorte zeigten. Zu ihrem zunehmenden Unbehagen kamen dabei Dutzende Funde von toten Kindern aus den vergangenen Jahren ans Licht. Die Kinderleichen waren aber in vielen Fällen nicht identifiziert und ihre Verletzungen gelegentlich unzureichend beschrieben worden.
Erschwerend kam hinzu, dass die oft nur bei Schuluntersuchungen gewonnenen Daten zum Zustand der Zähne der Kinder teils schwer erreichbar waren, da sie beim Erdbeben entweder völlig verschüttet oder – im besseren Fall – aus baupolizeilich gesperrten Gebäuden geborgen werden mussten. Dies trug dazu bei, dass bis heute siebenundzwanzig Leichen aus der Tötungsserie nicht offiziell identifiziert sind. Immerhin gelangen einige Personenerkennungen durch Überlagerung von Passfotos mit Fotos der aufgefundenen Schädel, als man sie ins Institut für Rechtsmedizin in Bogotá sandte.
Bei ihren Nachforschungen stießen die Ermittler auf eine Tötungsserie von vier Kindern im Alter von acht bis zehn Jahren in der Region Valle aus dem Jahr 1995. Zwei der Jungen waren Cousins gewesen, und alle vier waren um die Mittagszeit letztmalig auf dem Marktplatz eines Städtchens in Valle gesehen worden. Die Kinder stammten wiederum aus sozial schwachen Verhältnissen, wurden aber erneut als aufgeweckt beschrieben. Auch sie hatten Lotterielose und Kleinkram auf der Straße verkauft.
Alle vier Leichen wurden in Sichtweite der Stadt in hoch bewachsenen, auf Hügeln gelegenen Zuckerrohrfeldern gefunden. Nun wurde langsam deutlich, dass es sich nicht um Alonso Lopez handelte, sondern um einen noch unbekannten, umherwandernden Täter.
Da in Valle niemand gesehen hatte, dass die Kinder mit Gewalt fortgebracht worden waren, hatten sie sich vermutlich freiwillig aus der Stadt entfernt – wohl wieder wegen eines lohnenden Nebenjobs. Wie Luis Alfredo Garavito später eingestand, bot er vielen Kindern tatsächlich den Verdienst von etwa fünf Tagen Straßenarbeit für Hilfstätigkeiten an. Die Arbeiten passte er den betreffenden Regionen Kolumbiens an. Bei der Tötungsserie in Genua bat er sie beispielsweise, wie schon erwähnt, um Hilfe beim Viehtreiben, in Valle um das Schlagen von Zuckerrohr und anderswo um den Transport von Obstkisten, die er auch tatsächlich mit sich führte. Obdachlosen Straßenkindern versprach er Drogen, spielsüchtigen Kindern bezahlte er Automatenspiele. Sehr oft spendierte er in kleinen Läden Kuchen und Limonade, dann lud er sie auf weitere Erfrischungen bei sich »zu Hause« ein.
Besonders das Versprechen eines schnellen Nebenverdienstes half bei der Tatverdeckung, da die Kinder ihre Arbeit auf der Straße nur kurz zu unterbrechen meinten und sich deshalb nicht abmeldeten. Zweitens folgten sie ihm freiwillig etwas abseits von Straßen und Wegen, weil Garavito vorgab, dort zu wohnen. Und drittens verschwiegen sie ihren Eltern den kleinen Zusatzverdienst sowie den genauen Auftrag samt Auftraggeber, um über das Geld frei verfügen zu können.
Wie schon gesagt, Kinder im Allgemeinen und besonders Kinder, die viel Zeit auf der Straße verbringen, sind gewitzt. Es dürfte daher auch gut möglich sein, dass einige es für Geld in Kauf nahmen, dass Garavito an ihnen sexuelle Handlungen vornehmen könnte. Ihr kindliches Alter darf dabei nicht täuschen – das Ausmaß sexueller Handlungen an Kindern ist in den armen Gegenden der Welt nicht mit zentraleuropäischem Maßstab zu messen. »Wenn man zu Kindern nett ist«, berichtete Garavito dazu aus seiner Erfahrung, »dann kann man mit ihnen machen, was man will. Die Kinder verstehen ganz genau, wofür sie das Geld erhalten.«
Garavito versuchte dabei stets, seine Opfer zum Mitgehen zu bewegen, ohne dass sie sich zu Hause abmeldeten, notfalls durch Ablenkung, kleine Geschenke und schöne Geschichten – eine weitere deutliche Parallele zu Jürgen Bartsch. Nicht immer gelingt das den pädophilen Serientätern, doch da ihr Zwang ihnen kaum andere Beschäftigungen erlaubt, haben sie viel Zeit zum Üben. Serienmörder sind Bestien, aber sie werden von Tat zu Tat charmanter.
Erste Spuren
Am 21. Juni 1996 wurde in der Stadt Pereira eine weitere Leiche gefunden, die keiner Entführung zugeordnet werden konnte, und zwar die eines dreizehnjährigen Jungen. Eigentlich hätte jetzt auffallen müssen, dass es sich um eine Mordserie handelte und dass Garavito der Täter war. Denn kurz zuvor war er im Städtchen Boyaca nach der Tötung eines zwölf Jahre alten Jungen verhaftet worden. Dieser Junge war am 8. Juni samt seinem Fahrrad am frühen Nachmittag verschwunden. Auch er war Garavito freiwillig gefolgt, denn ansonsten wäre das Fahrrad wahrscheinlich zurückgeblieben. Die faulende Leiche dieses Jungen war fünf Tage später geköpft und mit abgeschnittenem, in den Mund des Opfers gestecktem Penis gefunden worden.
Die Mutter ließ sich aber nicht so leicht abwimmeln wie viele andere der sozial schwachen Eltern, die in der Polizei nicht immer Verbündete fanden. Sofort nach dem Verschwinden ihres Sohnes hatte sie auf eigene Faust Nachforschungen angestellt und dabei festgestellt, dass das Kind zuletzt in einem kleinen Laden gesehen wurde. Dort hatte ein Fremder mit mehreren Kindern gestanden und ihnen Naschwerk gekauft. Die Personenbeschreibung deutete auf den zu dieser Zeit in der Stadt anwesenden Luis Alfredo Garavito hin, der nach seiner Festnahme aber gar nicht bestritt, mit den Kindern unterwegs gewesen zu sein. Nur mit der Tötung wollte er nichts zu tun gehabt haben. Da keine Beweise oder direkten Hinweise darauf vorlagen, dass er der Täter war, musste er nach wenigen Tagen wieder freigelassen werden.
Dass Polizei und Staatsanwaltschaft (vielleicht mangels Ausbildung und Vernetzung) nicht erkannten, dass es sich um eine Serie handelte, verblüfft zwar im Nachhinein. Andererseits wurde fast zur selben Zeit Kanada von einer Tötungsserie an Teenagern heimgesucht, die auch nicht erkannt wurde (vgl. Mordmethoden, S. 204–261). Es ist hinterher oft leichter, wichtige von unwichtigen Spuren zu scheiden – steckt man aber mitten im Fall, so ist das gar nicht so einfach. Besonders wenn die Ermittler wie in Kolumbien ohne Computer und gegeneinander statt miteinander arbeiten, da sie zu verschiedenen Einheiten gehören.
Reise in die Vergangenheit
Doch so langsam begann der Apparat anzurollen. Ein Staatsanwalt aus Villavicencio übernahm die Sache; er wirkt bis heute traumatisiert und berichtete mir, dass er möglicherweise ein Gesandter Gottes gewesen sei, um den Serientaten ein Ende zu setzen.
Bei seinen Nachforschungen stieß er auf eine frühe Tötung im Heimatdorf Garavitos. Im November 1993 war ein Nachbarskind einer Schwester von Garavito getötet worden. Der elfjährige Junge war am Tag nach den Halloween-Feiern um sechs Uhr morgens verschwunden. Der Abend des 31. Oktober gilt in Kolumbien als »Abend der Kinder«, und entsprechend werden dort, ähnlich wie in den USA, Süßigkeiten an die von Haustür zu Haustür gehenden Kids verschenkt. Der tote Junge war nach Auskunft der Eltern am Morgen nach Halloween früh aufgestanden, um sich auf die Suche nach nachts aus den Taschen der anderen Kinder verloren gegangenen Süßigkeiten zu machen. Ein Kind auf der Suche nach Süßigkeiten – eine wirksamere Möglichkeit, um den Jungen zu sich zu locken, gab es wohl nicht. Garavito, der die Kinder normalerweise vormittags fortlockte, erkannte das, wich von seinem gewohnten Schema ab und griff das Kind schon morgens auf.
Der Zwang wird deutlich
Im Verlauf der Ermittlungen trat den Beamten das Vorgehen des Täters immer deutlicher vor Augen. Er suchte gezielt – teils aus Gruppen von Freunden – Jungen im Alter zwischen sechs und etwa dreizehn Jahren aus. Alle hatten eine helle Hauttönung, nicht die in Kolumbien ebenfalls anzutreffenden indigenen oder negroiden Züge (erneut eine Parallele zu Bartsch, dessen Opfer eine zarte, helle, nur wenig behaarte Haut hatten). Die beiden einzigen Ausnahmen machte Garavito bei einem stark gehbehinderten Sechzehnjährigen im März 1994 und einem dunkelhäutigen Dreizehnjährigen im Juli 1997.
Alle Leichen waren auf ähnliche Art gefesselt und wiesen zahlreiche Schnitte auf. Der Hals war fast immer durchtrennt oder tief eingeschnitten. Meist fanden sich in den Knochen des vierten Halswirbels Kerben – sogar die Halsdurchtrennungen wurden also auf stets gleiche Weise ausgeführt.
An vielen Fundorten fanden sich leere Flaschen billigsten Schnapses (Garavito war Alkoholiker) sowie Vaseline-Behälter für den Analverkehr. Die noch erkennbaren Wunden wurden immer mit Messern verursacht, die gelegentlich schartig gewesen sein mussten; es handelte sich also um irgendwelche Messer, die Garavito am Tatort liegen ließ oder fortwarf. Notfalls nahm Garavito auch einfach einen Spieß oder einen anderen spitzen Gegenstand, um die Kinder zu töten, beispielsweise als er im Januar 1997 einen zehnjährigen Jungen erstach, nachdem er ihn auf die gewohnte Art gefoltert hatte.
Echte Ausweidungen der Leichen fanden sich bei Garavito nicht, wenngleich manchmal innere Organe durch tiefere Schnitte hervorragten. Dies ist ein Unterschied zu den Taten Bartschs, der die Organe ausdrücklich aus den Leichen zog. Die Kinder waren immer in hoch mit Pflanzen bestandene, etwas außerhalb von Orten oder Städten meist hügelwärts gelegene Gelände gelockt worden. Diese Hügellagen halfen Garavito nach eigener Aussage dabei, mögliche Verfolger schneller zu entdecken.
Den Ermittlern kam es zunächst besonders seltsam vor, dass die Taten um das Wochenende herum begangen worden waren. Da der Täter offenbar nicht örtlich gebunden war und in ganz Kolumbien tötete, konnte er kein normaler Arbeiter sein, sondern jemand, der durchaus auch wochentags Zeit für seine Taten hatte. Garavito gab folgenden Grund dafür an: Die Kinder verkauften ihren Krimskrams am Wochenende bevorzugt auf den dann besonders belebten Marktplätzen. Im Gewühl fiel es besonders leicht, die Kinder unerkannt anzusprechen und zu kleinen Hilfsleistungen wie dem schon genannten Transport einer Obstkiste anzuheuern.
Das führte dazu, dass die Kinder keine Angst hatten – welcher Mörder würde schon mitten auf dem Marktplatz und am hellen Tag seine Opfer suchen? Außerdem fiel Garavito als Fremder an Wochenend-Markttagen auch in kleinen Städten nicht auf. Dass er sich dabei auch noch verkleidet habe, bestreitet Garavito allerdings. Im Januar 2006 sagte er dazu:
»Ich habe mich nicht verkleidet, sondern einfach die jeweilige Berufskleidung getragen. Wenn ich als Bauer gearbeitet habe, sah ich eben wie ein Bauer aus. Es stimmt, dass ich auch einmal die Kleidung eines Geistlichen getragen habe, allerdings war ich da für eine Stiftung unterwegs. Die jeweiligen Arbeitspapiere trug ich bei mir! Ich habe immer viel gearbeitet, weil ich eben gern viel Geld habe. Die Polizei hat das alles verdreht und behauptet, ich hätte mich absichtlich verkleidet, um die Opfer zu täuschen. Das stimmt aber nicht.«
Vermutlich liegt die Wahrheit in der Mitte – Garavito war wohl schlau genug, den Vorteil der ohnehin notwendigen Anpassung an örtliche oder eben Bekleidungsgewohnheiten für seine mörderischen Absichten zu nutzen.
Doch all diese Dinge waren noch lange nicht bekannt. Alles deutete auf einen vergleichsweise starr an seinem Vorgehen festhaltenden Einzeltäter hin. Besonders von der Presse wurde aber eine ganz andere Theorie diskutiert: Ein Satanskult mit vielen Mitgliedern sollte die Tätergruppe sein. In Wirklichkeit gab es dafür keinerlei Hinweise. Weder wurden Kerzen, Tücher, Aufschriften oder irgendwelche anderen angeblich »satanischen« Symbole oder Gegenstände gefunden, noch waren bislang zwei gleichzeitig an voneinander entfernten Orten begangene Tötungen bekannt geworden. Doch das wäre bei einem landesweit verbreiteten Kult mit derart hoher Opferzahl anzunehmen gewesen. Allerdings schien der Reiseverlauf des Täters keinem erkennbaren Muster zu folgen.
Die Theorie, dass die Morde etwas mit illegalem Organhandel zu tun haben könnten, wurde wegen der unsterilen Bedingungen an den Orten der Tötung (im Freien, belegt durch die vielen Blutspuren) rasch fallen gelassen. Außerdem muss, wer Organe verkaufen will, die Blutuntergruppen von Spender und Empfänger kennen. (Angesichts des Grauens, das sich den Ermittlern bot, kam es aber auch nach dem Geständnis Garavitos noch zu interessanten Einfällen. Die Ermittler fragten mich beispielsweise, ob die Ursache seiner Taten nicht auch die allerdings sehr traurige Musik aus der Geburtsgegend Garavitos, dem Departement El Quindío, sein könnte.)
Es gab noch eine Auffälligkeit der Tatorte, die auf einen Serientäter hindeutete. Offenbar unterteilte der Mörder ein ihm geeignet erscheinendes beziehungsweise bereits erprobtes, etwas abgelegenes Gebiet gleichsam in Sektoren. Dann führte er jeweils eine Tötung pro Unterabschnitt durch. Die Leichen begrub oder verscharrte er dabei nie. Das bedeutet, dass die neuen Opfer hin und wieder förmlich über die Leichen gestolpert sein müssen.
Nur in sehr wenigen Fällen führte er sogenannte defensive Leichenzerstückelungen zu Transportzwecken durch – und zwar wenn er ausnahmsweise eine Tötung in einer Wohnung beging. Nur diese Leichenteile packte er in Säcke und warf sie dann, mit Steinen beschwert, in Flüsse.
Seine Gründlichkeit ermöglicht es Garavito übrigens bis heute, aus dem Gedächtnis die genauen Ablagestellen der Leichen anzugeben.
Garavito wird erkannt
Im März 1999 rief die Polizei mehrere Personen an, deren Telefonnummern sie in den Taschen des angeblichen Bürgermeisters, der nun im Gefängnis von Villavicencio saß, gefunden hatte. Die Angerufenen wussten rasch, wie der Mann wirklich hieß, den ihnen die Polizei da beschrieb: Luis Alfredo Garavito Cubillos. Doch warum hatte er seinen Namen nicht angegeben? Die Strafe für das Sexualdelikt an dem Jungen würde dadurch ja nicht geringer.
Also forschten die Polizisten weiter. Ein Team der Staatsanwaltschaft, die in Kolumbien eine eigene Ermittlungstruppe unterhält, stellte nun die entscheidende Verknüpfung her.
Die Staatsanwaltschaft sammelte schon seit Längerem Unterlagen gegen Pädophile. Da Garavito im Verdacht stand, mit Kindern Sexualkontakte zu unterhalten, hatte man auch seine Eltern und Verwandten, ganz unabhängig von den jetzigen Ermittlungen, um Belastungsmaterial gebeten. Eine Vertrauensperson Garavitos übergab den Ermittlern nun einen Koffer, in dem sich zahlreiche beschriebene, aber nicht zu entziffernde Notizzettel und Fotos befanden. Besonders eigentümlich waren die aus allen möglichen Arten von Ausweisen herausgetrennten Fotos von Jungen sowie eine rätselhafte Strichliste. Man entschloss sich zu einer Durchsuchung von Garavitos Wohnung, das heißt seines Zimmers bei der Familie, mit der Garavito zusammenlebte, wenn er »nach Hause« kam, und der er ein liebevoller Vater war. Dort fanden sich weitere Notizen, in kleinen Buchstaben und Symbolen auf Kalenderblätter geschrieben, die aber nach wie vor unverständlich waren. Wie sich später zeigte, waren das die akribisch geführten Sachinformationen zu allen Tötungen. Warum Garavito diese Listen führte, ist unklar, weil er sich bis heute an alle Orte und Taten erinnern kann. Vielleicht sollten die Aufzeichnungen Trophäen ersetzen, da Garavito, abgesehen von den Ausweisfotos, keine Erinnerungsstücke von seinen Tötungen besaß.
Wegen der Fundstücke aus dem Koffer richtete sich nun, nach jahrelangem Rätseln, der Verdacht der vierköpfigen Ermittlergruppe aus Armenia endlich gegen den enttarnten »Bürgermeister« als Serientäter. Es bedurfte aber erst noch eines Treffens des Teams aus Armenia (aus dieser Gegend stammte Garavito, von dort kamen auch der allgemeine Pädophilie-Verdacht und der Kofferfund) mit dem aus Villavicencio (dort saß Garavito im Gefängnis), bis wirklich allen Beteiligten klar wurde, dass sie damit einen der größten Fälle von Serienmord überhaupt gelöst hatten – und der Täter längst eingesperrt war.
Seine Identität wurde vorsichtshalber erst bei einem weiteren Treffen aller mit den Todesfällen beschäftigten Dienststellen im Juli 1999 intern bekannt gegeben. Der Öffentlichkeit blieb diese Information aber noch vorenthalten, um eine ungestörte Aufklärung aller Taten im Hintergrund durchführen zu können. Außerdem sollte verhindert werden, dass Garavito von seinen Mithäftlingen eventuell getötet wurde, bevor seine Blutgruppe, sein genauer Zahnstatus (er hatte viele der Opfer gebissen) und vor allem seine Lebensgeschichte zusammengetragen waren.
Erst drei Monate nach diesem letzten Treffen, am 28./29. Oktober 1999, sagte man Garavito, dass sein echter Name bekannt und mehrere der Leichen gefunden worden waren. Damit war aus dem Kinderschänder, der ein einzelnes Kind belästigt hatte und unter falschem Namen einsaß, mit einem Schlag ein überlebensgroßes Monster geworden.
Garavito reagierte blitzschnell. Vor laufender Polizeikamera bat er Gott und die Menschen um Verzeihung und gab die Taten zu. Es dauerte aber Wochen, bis das Ausmaß seiner Todesserie klar war. Seit 1992 hatte er mit Sicherheit über zweihundert, eher aber über dreihundert Jungen umgebracht und an weiteren Hunderten sexuelle Handlungen vorgenommen. Die Zeitschrift Semana taufte ihn »la bestia«, die Bestie. Diese Bezeichnung ist übrigens eine weitere Parallele zu Jürgen Bartsch, der diesen Begriff gelegentlich in Briefen und halb scherzhaft auf sich selbst anwendete.
Garavito hofft auf Freilassung
Rechtlich gesehen ist Garavitos Fall in einer Sackgasse. Bis etwa 2003 wurden gemäß der Karte Garavitos immer mehr Leichen gefunden. Keiner der Fälle kam aber je so vor Gericht, wie wir es bei Morden kennen. Stattdessen wurden die Taten, um öffentlichen Aufruhr zu vermeiden, in einem sogenannten Strafbefehlsverfahren abgewickelt (sentencia anticipada, Artikel 40 des kolumbianischen Strafgesetzbuches). Dabei willigt der Angeklagte in eine zuvor festgelegte Strafe ein, die der Richter dann ohne Verhandlung, aber rechtsverbindlich festlegt. Voraussetzung sind ein Geständnis des Täters sowie der sichere Beweis, dass die Taten nicht von einer anderen Person begangen worden sind. Bei meinem letzten Besuch war Garavito mit siebzig Schuldsprüchen für hundertsechzig Tötungen verurteilt.
Obwohl die meisten Laien (wie ich) das Strafbefehlsverfahren nicht kennen, existiert es auch in Deutschland. Hier wird es allerdings nur für deutlich harmlosere Vergehen angewendet. Ein Beispiel dafür war zuletzt der TV-Moderator Michel Friedman, der mit Kokain und osteuropäischen Prostituierten in Verbindung stand. Im Juli 2003 wurde er ohne Hauptverhandlung zur Zahlung von siebzehntausend Euro verurteilt – eben per Strafbefehl.
Zwischen 2000 und 2006, als gerade gegen Garavito ermittelt wurde, kam es zu einer grundlegenden, teils auch rückwirkenden Änderung des kolumbianischen Strafrechts. Er kann deswegen nicht zu einer wirklich lebenslangen Haft bis zu seinem Tod verurteilt werden. Egal, wie viele Schuldsprüche noch folgen werden, die Höchststrafe beträgt fünfundzwanzig bis vierzig Jahre Gefängnis. Vor dieser Strafrechtsreform hätten die Einzelstrafen zusammengerechnet werden können, was eine Haftdauer von derzeit zweitausendsechshundert Jahren ergeben hätte.
Das erklärt auch, warum sich Garavito seit seiner Enttarnung so stark bei der Leichensuche engagiert und dazu bereitwillig die Karten zeichnete. Denn bei guter Führung müssen Gefangene in Kolumbien – wie auch in Deutschland – vorzeitig entlassen werden. Da eine Sicherungsverwahrung weder in einem Gefängnis noch in einer Psychiatrie in Kolumbien rechtlich vorgesehen ist, darf Garavito also mit gewissem Recht auf seine Freilassung spätestens im Alter von etwa siebenundsechzig Jahren hoffen. Selbst wenn er erst etwas später freigelassen werden sollte, könnte er seinen Lebensabend vielleicht in Freiheit verbringen.
Dass er dort überleben könnte, ist nicht ausgeschlossen. Das zeigt der Fall von Karla Homolka, die in Kanada zusammen mit ihrem Gatten Paul Bernardo mehrere Jugendliche einschließlich ihrer eigenen Schwester getötet hatte (vgl. mein Buch Mordmethoden, S. 204–261). Homolka ist am 4. Juli 2005 nach zehn Jahren Haft und Therapie entlassen worden und trat danach sogar in einer Talkshow auf.
Obwohl Garavito wie alle an paraphilen Zwängen leidenden Menschen mit heutigen Mitteln nicht therapierbar ist und eine Kastration oder Gehirnverödung wie im Fall Bartsch zum Glück gar nicht erst angestrebt wird, gibt sich der Täter gewandelt. Er ließ sich am 18. August 2003 im Gefängnis von Calarcá von einer evangelischen Kirchengruppe taufen und meint, seine Dämonen nun los zu sein. Mir schrieb er in eine Bibel seinen dazu passenden Lieblingspsalm:
»Psalm 3: ›Ach Herr, wie sind meiner Feinde so viel und setzen sich so viele wider mich! Viele sagen von meiner Seele: Sie hat keine Hilfe bei Gott. Aber du, Herr, bist der Schild für mich und der mich zu Ehren setzt und mein Haupt aufrichtet.‹«
Für die Zeit nach seiner Freilassung hat Garavito schon Pläne. Sollte er nicht zu alt sein (er hofft sogar auf ein neues Verfahren, das ihm seiner Meinung nach noch vor Ablauf der fünfundzwanzig Jahre die Freiheit bescheren könnte), dann möchte der »Geläuterte« gern Politiker oder Pastor werden – »egal, in welcher Glaubensgemeinschaft«.
Die Arbeit mit einem Serientäter
Weil ich oft danach gefragt werde, möchte ich kurz andeuten, wie sich die Arbeit mit einem Serientäter für mich darstellt. Dabei ist es vor allem notwendig, dass ich in Garavitos Fall nicht mit den Angehörigen der Opfer (oder überlebenden Opfern) arbeite, weil ich dann vielleicht meine Sachlichkeit verlieren könnte. Bis dahin versuche ich, das zu tun, was meine kolumbianischen Kollegen nicht tun wollen, weil sie Garavito so hassen: einige scheinbar nebensächliche Fragen zu ermitteln (etwa seine Vorliebe für eine bestimmte Schnapssorte, deren Deckel er an vielen Tatorten hinterließ) und etwas über seine Gedankenwelt zu erfahren (Zeichnungen seiner Träume, einfache Intelligenztests und so weiter). Bitte wundern Sie sich nicht, wenn die folgenden Anmerkungen etwas gefühlsleer erscheinen – ich arbeite nicht mit Gefühlen, sondern mit Spuren.
Besonders auffällig erscheint mir, dass Garavito sich im Gespräch nicht lange auf ein Thema konzentrieren kann. So war er beispielsweise sehr daran interessiert, die Zahl der Opfer anderer Serientäter zu erfahren. Also bot ich ihm an, die Lebensgeschichten von Jürgen Bartsch und Vater Denke darzustellen. Garavito konnte sich trotz seines selbst geäußerten Interesses nur wenige Minuten konzentrieren und hat daher bis heute kaum etwas über die Fälle erfahren. Jeder Gedanke, der ihm gerade in den Sinn kommt, scheint ihn abzulenken.
Im persönlichen Kontakt ist Garavito verbindlich und aufmerksam, gibt sich um das Wohlergehen anderer besorgt und legt großen Wert auf einwandfreie Körperpflege und ein gepflegtes Erscheinen. Bei meinem ersten Treffen mit ihm erkannte ich ihn gar nicht, weil er so aussah, wie ich mir einen Gefängnisdirektor vorstelle: Brille, Scheitel, weißes Hemd, rasiert, Aktenstapel in der Hand. Erst als mein Übersetzer mich darauf hinwies, dass ich seit einiger Zeit neben Garavito stand, wurde mir mein Irrtum klar. Der unrasierte, struppige Mann, der von zwei bulligen Wachen umgeben war, war nicht Garavito, sondern der Gefängnisdirektor!
Im Umgang mit den Wärtern und den wenigen Inhaftierten, von denen Garavito keine Gewalttaten zu fürchten hat, ist er freundlich, zugleich aber recht bestimmend. »Es ist erstaunlich, wie er Stück für Stück das Vertrauen seiner Umgebung gewonnen hat – ebenso wie er es mit jedem seiner Opfer tat«, formulierte der Journalist Aranguren Molina treffend, dem Garavito im Jahr 2002 in der Haft ausnahmsweise ein unangemeldetes Gespräch gewährt hatte. Diesen Eindruck kann ich nur bestätigen. Die Wärter mögen Garavito, der keine Schwierigkeiten macht und im Alltag ein netter Kerl ist. Das geht so weit, dass er, nachdem ich nach einer intensiven Gefängniskontrolle im Jahr 2005 ohne Stifte, Tonband oder Papier vor ihm stand, mir alles bereitgelegt hatte: In einem Krankenzimmer, das er zu einem Büro umgewandelt hatte, lagen für mich Leerkassetten, Kugelschreiber und ein Diktiergerät mit frischen Batterien.
Solange Garavito über Dinge spricht, die ihm behagen, ist er offen und unverstellt. Tatsächlich hat er weder die Polizisten – abgesehen von anfänglichen Falschaussagen in den ersten Vernehmungen als »Bürgermeister« und Beschönigungen seiner Zwänge – noch mich jemals nachweislich angelogen.
Dass er allerdings behauptet, in Freiheit »keiner Fliege« mehr etwas zuleide zu tun, ist angesichts des völligen Fehlens auch nur der elementarsten Therapie (und wohl auch mangels Therapierbarkeit) sowie einer nicht im Geringsten erkennbaren, tiefen Beschäftigung mit seinen Tatmotiven schwer glaubhaft. Er selbst ist von seiner Bekehrung zum gläubigen Christen vielleicht wirklich überzeugt – wer will das schon beurteilen –, doch aus einem pädophilen Sadisten wird durch eine Taufe kein Messdiener.
Das zeigt sich auch an Gesprächen, die von den Teilen seines Lebens handeln, über die Garavito lieber nicht sprechen würde. Obwohl er sowohl mir als auch der Polizei gegenüber einräumt, einigen Kinderleichen die Genitalien abgeschnitten und in den Mund gesteckt zu haben, versucht er, sein Bild in der Öffentlichkeit schönzufärben. Einem kolumbianischen Fernsehteam berichtete er 2006 beispielsweise:
»Ich habe wirklich kein einziges der Opfer missbraucht. Umgebracht ja, aber nicht missbraucht. Von den Kindern sind doch eh nur Knochen übrig, die zwei bis drei Jahre herumlagen und an denen kein Fleisch mehr ist. Wie wollen Sie da beweisen, dass diese Personen missbraucht wurden? Die Staatsanwaltschaft hat ja noch nicht einmal Spermaspuren gefunden! Ich habe einfach niemanden missbraucht oder gar vergewaltigt.«
Diese absurde Aussage zeigt, was das Strafbefehlsverfahren ohne Verhandlung bewirkte: Garavito wurde nie öffentlich gezwungen, sich mit seinen Taten auseinanderzusetzen. Denn dass er auf seine Opfer nicht nur nach deren Tod einwirkte, sondern auch während die Jungen noch lebten, ist gut belegt.
Ein überlebender Junge berichtete beispielsweise, wie er sich vor Garavito ausziehen musste und dann von ihm massiv geschlagen und gebissen wurde, unter anderem in die Genitalien: »Ich habe überall geblutet, und alles war zugeschwollen, auch mein gesamtes Gesicht.« Dann nahm Garavito sexuelle Handlungen an dem Kind vor. Als es versuchte zu fliehen, stach er mehrfach auf das Opfer ein und brüllte: »Du kannst nicht entkommen!« Weit über zehn deutlich sichtbare Stichnarben am Körper des Jungen sind bis heute erkennbar und belegen seine Aussage.
Wie schon angedeutet, ging Garavitos Raserei so weit, dass sogar die Rechtsmediziner vom Zustand der Opfer geschockt waren. Eine Kollegin, die wie das oben zitierte Kind lieber anonym berichten wollte, erinnerte sich:
»Das war das brutalste Verbrechen, das ich je auf dem Tisch hatte. Die Leiche war geköpft. Als ich mir später in meinen Unterlagen angesehen habe, welche und wie viele Verletzungen – besonders Einstiche und blaue Flecken – der Körper aufwies, musste ich weinen.«
Garavitos sonstige Interessen drehten sich in den ersten Jahren nach seiner Festnahme vor allem um das Weltgeschehen, wie es sich in den Medien darstellt: Katastrophen, Flugzeugunglücke, Serientaten und Kindesmissbrauch, der ihn nach eigener Aussage sehr mitnimmt (Garavito wurde als Kind sehr schlecht behandelt). Mit bösem Willen könnte man in diesen Themen die Fortsetzung einer üblen Grundeinstellung sehen. Andererseits interessieren sich aber auch »normale« Menschen für genau diese Themen, wie ein Blick in die Abendnachrichten zeigt.
Den Ermittlern schilderte Garavito durchaus glaubhaft sein Mitleid mit einem von ihm misshandelten Kind, das während der Tat (!) von einem früheren sexuellen Missbrauch erzählte. Das hatte ihn aber nicht gehindert, das Kind zu töten. Genau wie Jürgen Bartsch »mochte« Garavito seine Opfer also – wenngleich auf eine unsagbar grausame Art (vgl. dazu auch den Text des Briefes von Bartsch an sein letztes Opfer in Abb. 36, S. 250).
Tiefer gehende Untersuchungen zur Persönlichkeit, Lebensund Krankengeschichte Garavitos gibt es eigentlich nicht. Außer mit seinem Priester Didier Amariles und mir spricht er derzeit mit niemandem ausführlich, und auch hier versucht er zu taktieren. Selbst die zuvor sehr intensive Zusammenarbeit mit der Polizei aus seiner Heimatregion Armenia hat er im Jahr 2006 eingestellt, weil er sich von den Beamten hintergangen fühlte.
Da Garavito nach zwei Haftverlegungen nun in einem Hochsicherheitsgefängnis mit zahlreichen Zugangsbeschränkungen sitzt, könnte es passieren, dass weder er noch wir je erfahren werden, warum er zum Trinker mit erheblichen Stimmungsschwankungen, Kindermörder und zur emotionslosen »Bestie« geworden ist, die sich aber nichts mehr wünscht, als zu seiner Lebensgefährtin und dem »gemeinsamen« Kind zurückzukehren.
Da Garavito sich selbst vor der Einsicht abschirmt, dass der Dämon ihn keineswegs verlassen und er sehr wohl Kinder gefoltert hat, ist es vielleicht ohnehin zu spät für weitere Nachforschungen. Pfarrer Amariles ist jedenfalls überzeugt, dass »Gottes Gnade so unendlich ist, dass sie auch die Menschen erreichen kann, die schrecklichste Taten begangen haben«. Selbst wenn das stimmt, hilft es Garavito nicht, sich mit seinen Taten auseinanderzusetzen. Er schiebt die Schuld derzeit – wenn er sie überhaupt zugibt – auf seine Eltern oder einen teuflischen Einfluss, der ihn umfangen habe. Das weiß auch Amariles. Auf die Frage, ob er für Garavito die Hand ins Feuer legen würde, antwortete er, das würde er für niemanden tun…
Die für mich überraschendste Feststellung zur Persönlichkeit Garavitos kam von meiner Übersetzerin Claudia Zapata, die einmal einen langen Tag allein mit Garavito verbrachte. An diesem Tag durften nur Frauen die Gefangenen besuchen, und ich bat Claudia, einige Bildertests mit Garavito durchzuführen. Sie beobachtete dabei etwas, was mir bis dahin nie aufgefallen war, obwohl ich ihm schon oft gegenübergesessen hatte. Egal, auf welches Thema Garavito zu sprechen kam – die Sehnsucht nach »seiner« Familie, seine Taten, seine unschöne Kindheit –, seine Pupillen vergrößerten oder verkleinerten sich keinen Millimeter. Für Claudia ein sicheres Zeichen, dass ihr Gegenüber keine Gefühle hatte – egal, wie sehr er ihr diese auch vorgaukelte.
Was ich von Garavito gelernt habe
Meine Vermutung nach vielen Jahren des im Grunde laienhaften Kontaktes zu einem Serientäter, der schon durch die hohe Opferzahl eine Sonderstellung in der Kriminalgeschichte hat, ist die: Personen mit paraphilen Zwängen wissen genau, was sie tun. Sie können ihren Zwängen aber nicht widerstehen, egal, ob sie es mit Beten oder Saufen versuchen oder ob sie hoffen, nach der ersten Tat Erlösung zu finden. Sie sind gefangen in ihren wiederkehrenden Fantasien. Solche Fantasien haben zwar auch rachsüchtige Zuschauer im Gerichtssaal – der Unterschied ist aber, dass die Täter ihre Vorstellungen ausleben und dabei durch nichts aufzuhalten sind. Das macht sie auch außerhalb des Gefängnisses zu Eingekerkerten – in ihrer völlig abwegigen Vorstellungswelt und im steten Wissen, dass sie wirklich Bestien sind.
Diese Erkenntnis ist nicht neu und deckt sich mit der Urteilsbegründung zum Fall Bartsch aus dem Jahr 1971, in der es heißt, dass der Angeklagte zwar sehr wohl moralische Grenzen besaß, diese aber von seinem Zwang überwunden wurden, ohne dass er dagegen etwas tun konnte.
Noch einmal: Diese Beschreibungen sind und waren auch damals keine Entschuldigung für die Taten. Es spiegelt sich darin aber die Einsicht, dass wir gesellschaftlich und medizinisch nicht so weit sind, wie wir manchmal glauben. Denn solange wir noch nicht einmal die extremen Ausformungen menschlichen Verhaltens begreifen können, sollten wir bescheiden bleiben und an die Stelle von wüsten Verwünschungen gegen die Täter lieber vernunftgeleitete Forschung setzen. Denn nicht Todesstrafen, sondern Beweise und Begreifen können verhindern, dass der nächste paraphile Täter unseren Glauben an das Gute und Schöne erneut erschüttert.
Interview mit zwei Kollegen, die mit mir in den Gefängnissen waren, in denen Garavito einsitzt
Miguel Rodriguez arbeitet als Sozialrichter in Köln. Im Jahr 2002 begleitete er mich bei einem Besuch bei Luis Alfredo Garavito in dessen erstem Gefängnis in Villavicencio.
Benecke: Wie war dein erster Eindruck von Garavito?
Rodriguez: Um ehrlich zu sein: Ich habe zuerst gedacht, er sei der Direktor des Gefängnisses oder zumindest eine Person mit Leitungsfunktion, die uns dort begrüßen sollte. Sein Auftreten war souverän und freundlich, als er auf uns zukam und uns die Hand gab. Er ging mit dem Wachpersonal um, als seien es seine Mitarbeiter, und die spielten mit beziehungsweise ordneten sich seiner Autorität und Ausstrahlung unter. Das war schon ein beeindruckendes und zunächst etwas verwirrendes Schauspiel.
Benecke: Was für ein Gefühl war es, in einem Käfig mit einem pädophilen Sadisten eingesperrt zu arbeiten?
Rodriguez: So habe ich das nie empfunden. Unser Ziel war es, etwas über diesen Menschen zu erfahren. Dazu muss man ihm unbefangen begegnen, sich in gewisser Weise auf ihn einlassen und vor allem zuhören können. Ich habe während der Gespräche nur den Menschen Garavito gesehen, nicht seine Taten und seine Grausamkeit. Dieser Mensch hat zunächst nichts Unheimliches. Er wirkt wie der liebe Nachbar, dem man seine Kinder anvertrauen würde, wenn man zum Einkaufen geht.
Benecke: Es ist ja nun schon fünf Jahre her, dass du mit mir in Kolumbien warst – welches Erlebnis fällt dir als Erstes ein, wenn du zurückdenkst?
Rodriguez: Als Erstes erinnere ich mich an die Ankunft auf dem kleinen Flugplatz von Villavicencio. Es war sehr schwül, das Flughafengebäude nicht mehr als eine Hütte, und überall standen junge Soldaten mit Maschinenpistolen. Die Gesamtatmosphäre dort, wir zwei als einzige Europäer am Rande des Guerillagebiets, fand ich schon recht unheimlich und bedrohlich. Dagegen hatte man im Gefängnis bei Garavito fast schon ein angenehmes Gefühl von Sicherheit.
Benecke: Hast du aus dem Fall etwas für deine jetzige Arbeit als Sozialrichter gelernt?
Rodriguez: Ja und nein. Unbefangenheit ist für einen Richter wohl die wichtigste Eigenschaft, egal, welches Gebiet er bearbeitet. Zwar habe ich Unbefangenheit nicht erst durch Garavito gelernt, aber ich habe durch die Arbeit mit ihm festgestellt, dass ich selbst in einem solchen Extremfall in der Lage bin, nur den Fall und den Menschen zu sehen und etwaige persönliche Empfindungen oder Abscheu außen vor zu lassen. Insoweit hat mich der Fall Garavito jedenfalls darin bestärkt, mir den richtigen Beruf ausgesucht zu haben.
Benecke: Zuletzt – hat die Begegnung mit einem Serientäter dein Leben verändert?
Rodriguez: Die Begegnung mit Garavito war eine wichtige Erfahrung. Sie hat mir vor Augen geführt, wie leicht man sich in Menschen täuschen kann und wie nutzlos und auch gefährlich Vorurteile sind. Niemand wirkt harmloser und vertrauenerweckender als Garavito. Und dennoch ist wohl kaum jemals jemand derart grausam und brutal mit anderen Menschen umgegangen. Man muss sorgsam sein mit seiner Meinungsbildung und besonders mit der Einschätzung anderer Menschen.
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Claudia Zapata hat einen australischen und einen kolumbianischen Pass. Sie arbeitet derzeit als Molekularbiologin an der University of Queensland in Brisbane. Im Jahr 2004 begleitete sie mich nach Calarcá in der Region Armenia, ins zweite Gefängnis Garavitos.
Benecke: Hast du irgendwelche intensiven Eindrücke aus unserer tagelangen Arbeit mit Garavito mitgenommen?
Zapata: Interessant und bemerkenswert war es schon, aber nicht tief eindrucksvoll oder intensiv. Eingeprägt hat sich bei mir eher das Gespräch mit seiner Schwester und wie sie für ihren Bruder fühlt… außerdem die riesige Karte mit den Leichenfunden, die er gezeichnet hat, seine Briefe und Zeichnungen an dich und wie er sich gedanklich auf mich eingestellt hat. Auf mich strömte das aber nicht auffallend intensiv ein.
Benecke: Hat dich die Begegnung vielleicht nachträglich verändert?
Zapata: Nein, auch nicht nachträglich. Ich wusste schon vorher aus eigener Erfahrung, wozu Menschen fähig sind und wie wenig manchen Leuten das Leben anderer bedeutet. Man kann niemandem ansehen, wozu er fähig ist – nicht am Gesicht, aber auch nicht durch Gespräche oder Verhaltensbeobachtung.
Garavito ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Er wirkt völlig durchschnittlich und sticht durch nichts aus der Menge. Er benimmt sich genau wie jeder Durchschnittsmensch aus seiner Region, er hat sogar den dort typischen offenen Gesichtsausdruck eines ländlichen Campesinos.
Benecke: Wie würdest du seine Persönlichkeit beschreiben?
Zapata: Schwer zu sagen. Mir ist eigentlich nur aufgefallen, dass er organisiert, ordentlich und selbstbezogen ist. Und er versucht dauernd, andere für sich einzunehmen.
Benecke: Sonst noch irgendwas, das dir in Erinnerung geblieben ist?
Zapata: Bevor du mich gebeten hast, an der Sache mitzuarbeiten, kannte ich den Fall nicht. Als die Taten passierten, war ich noch jünger und lebte in Australien. Später, in Kolumbien, hat keiner mit mir darüber gesprochen, vielleicht weil die Kolumbianer ihn schnell vergessen wollten.
Alles, was ich darüber weiß, stammt also aus unserer Woche im Gefängnis in Calarcá. Auffällig war für mich, dass Garavito für alles irgendeine Rechtfertigung findet – er dreht es immer so, wie es ihm gerade passt beziehungsweise wie andere es hören wollen.
Ich glaube ihm nicht, dass er sich geändert hat. Für mich ist er ein Pädophiler, der garantiert wieder töten würde, wenn er könnte.