14
»Wir sind fast da«, sagte Blake.
Alicia hatte den ganzen Morgen lang am Bug gestanden und den Horizont beobachtet. St. Kitts war langsam vor ihr aufgetaucht, zunächst als dunkler Punkt in der Ferne, doch jetzt, als sie sich näherten, konnte Alicia Häuser und Geschäfte erkennen, sah Leute umhergehen und Schiffe im Hafen liegen.
»Der Sand ist so weiß. Selbst von hier kann man ihn glitzern sehen.«
Blake legte ihr den Arm um die Schultern. »Du kannst doch in einem Moment wie diesem nicht ernsthaft über die Farbe des Sandes nachdenken.«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich war mir so sicher, dass der Kapitän uns zur richtigen Samantha geschickt hat, aber jetzt werde ich von Zweifeln geplagt. Was ist, wenn sie es nicht ist? Was, wenn sie es zwar ist, aber sie nicht hier ist? Vielleicht ist sie weitergereist. Ich glaube nicht, dass ich noch mehr aushalten kann, Blake. Ich habe einen Kloß im Hals. Ich will doch nur meine Schwester sehen. Eine weitere Verzögerung wäre jetzt eine Qual.«
»Falls sie nicht hier ist, werden wir so lange nach ihr suchen, bis wir sie finden.«
Alicia schlang ihre Arme um Blake und nahm seinen Duft und seine Stärke tief in sich auf. Gestern war er ihr Felsen gewesen. Bei all den Erinnerungen, die ihr ihm Kopf umherschwirrten, sowohl guten als auch schlimmen, da war er das Beständige gewesen, das sie brauchte. Seine Anwesenheit hatte ihr ermöglicht, sich in die Vergangenheit zu begeben, sich an ihr altes Leben und an all die Gefühle, die damit einhergingen, zu erinnern, in dem Wissen, dass er da sein würde, wenn sie wieder auftauchte, um sie festzuhalten und ihr die Tränen wegzuwischen.
Sie hatten weder miteinander geschlafen noch hatten sie geredet, doch Alicia wusste, was ihr Herz empfand. Immer noch von seinen Armen umschlungen, machte sie sich etwas frei und sah ihn an. Zwar kniff er wegen der grellen Sonne ein wenig die Augen zusammen, doch in seinem Blick erkannte sie alles, was sie brauchte. Blake war ein guter Mann, ein ehrlicher und gerechter Mann. Sie legte ihre Hände auf seine frisch rasierten Wangen und spürte die Hitze der Sonne auf seinem Gesicht.
Als sie die Worte formulierte, machte ihr Herz vor Aufregung einen kleinen Hüpfer, doch sie ließ ihnen freien Lauf.
»Ich liebe dich, Blake.«
Seine Hände klammerten sich an ihren Rücken. Da sie sich nicht sicher war, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, sprach sie weiter: »Ich habe das nicht geplant, und ich sage das ohne jegliche Erwartung, aber du hast mir etwas gegeben, was ich nie zuvor besessen habe. Deinetwegen fühle ich mich schön. Deinetwegen werde ich meine Schwester finden.« Sie küsste ihn vorsichtig, verweilte noch einen Augenblick länger, als er sie ebenfalls küsste und dann einen einfachen Kuss in ein sinnliches Festessen verwandelte, das jeden Teil ihres Körpers zum Glühen brachte.
»Du hast ja keine Ahnung«, murmelte er und drückte seine Stirn gegen ihre, »was es mir bedeutet, dich das sagen zu hören.«
»Wirklich?«
»Jeder Mann wäre ein solcher Narr, wenn er nicht wollen würde, dass du ihn liebst.« Er lächelte und küsste sie noch einmal. »Ich bin kein Narr.«
Sie lachte. »Nein, das bist du nicht. Du siehst gut aus und bist dickköpfig« – sie kicherte, als er ihr dafür einen finsteren Blick zuwarf -«und einfach ein wunderbarer Mann. Was auch immer passiert, Blake, ich bereue nichts.«
Seine Augen bekamen einen stahlharten Glanz. »Das hoffe ich doch, oder es würde die nächsten zwanzig Jahre verdammt ungemütlich machen.«
Alicias Magen, der sowieso schon nervös war, erbebte. »W-was?«
Blake lächelte voller Gewissheit. »Ich liebe dich, Alicia, und da du bereits zugegeben hast, dasselbe für mich zu empfinden, haben wir bessere Startbedingungen als die meisten.«
Blake beobachtete Alicia und bildete sich ziemlich viel auf die Tatsache ein, dass sie keine Worte zu finden schien.
»Blake, Mann, das kannst du doch gewiss noch besser«, meinte Vincent, als er vorbeischlenderte. »Schließlich macht man ja nicht jeden Tag einer Frau einen Heiratsantrag.«
Blake seufzte und verbeugte sich. Als er gestern Abend den Entschluss gefasst hatte, dass er Alicia zur Frau wollte, da hatte er sich nicht vorgestellt, dass Nate und Vincent zugegen sein würden, wenn er sie fragte.
»So sehr es mich auch schmerzt es zuzugeben, aber Vincent hat recht, Blake«, meinte Nate. »Eine Frau sollte umworben werden, und man sollte ihr alle möglichen Koseworte ins Ohr flüstern. Alicia, Liebes, wenn Ihr es mir gestattet, könnte ich es so viel besser machen, als er bei dieser armseligen Vorstellung.«
Alicia kicherte, und Blake drehte sich zu seinen Freunden um – obwohl diese Bezeichnung in diesem Augenblick eher nicht auf sie zutraf -, während er Alicia weiterhin im Arm hielt.
»Habt ihr beiden nichts zu tun?«
»Ich nicht, du etwa?«, fragte Vincent seinen Freund Nate.
Nate zuckte die Achseln. »Kann mich an nichts erinnern.«
Keiner von beiden rührte sich. Sie standen bloß erwartungsvoll da, die Arme vor der Brust verschränkt, ein Lächeln im Gesicht, als ob sie beide ein Anrecht darauf hätten, Zeuge dieses Augenblicks zu sein.
»Wir nähern uns dem Hafen. Ich weiß, da gibt es genügend Arbeit für euch«, erinnerte Blake sie.
»Wir sind schon so nahe dran wie es nur geht. Wir ankern bereits.« Vincent grinste Nate an. »Der Mann war zu abgelenkt, um zu bemerken, dass wir an unserem Reiseziel angekommen sind.«
»Nun, Alicia ist ja auch eine ziemliche Ablenkung. Ich weiß das, schließlich hat sie mich auch das eine oder andere Mal abgelenkt.«
Blake zischte leise und schwor: »Ich werde sie erschießen, eines Tages werde ich sie erschießen.«
»Sie lieben dich, Blake.«
»Das ist es ja, was sie am Leben hält«, murmelte er, dann verdrängte er jeden weiteren Gedanken an die beiden aus seinem Kopf.
»Alicia, du bist mutig, stark und loyal. Du sprichst deine Gedanken offen aus und kämpfst für das, was du in deinem Herzen empfindest. Ich bewundere dich.« Er senkte die Stimme. »Ich möchte dich in meinem Bett haben, auf meinem Schiff und in meinem Leben. Willst du mich heiraten?«
Wie ihr Herz sich mit Liebe füllte, so füllten sich Alicias Augen mit Tränen. Durch einen Wink des Schicksals hatten sie einander gefunden, und sie freute sich riesig, dass aus einem traurigen Anlass nunmehr etwas Gutes erwachsen war. Jacob würde endlich seinen Wunsch erfüllt bekommen. Sie und Blake würden nach Hause gehen und die Werkstatt gemeinsam leiten. Nichts konnte perfekter sein.
»Es wäre mir eine Ehre, deine Frau zu werden«, konnte sie gerade noch zustimmen, bevor Blake sie in seine Arme riss und küsste.
Als er sie schließlich wieder absetzte und sie neben dem Verlangen, das ihren Kopf erfüllte, noch etwas anderes wahrnahm, da hörte sie Nates Applaus und Vincents Jubel. Ihr zukünftiger Ehemann nahm das anerkennende Schulterklopfen seiner Freunde entgegen, bevor Alicia wieder den Boden unter den Füßen verlor und sie umhergewirbelt wurde.
»Das ist meine Frau«, warnte Blake, als Nate sie absichtlich ein wenig länger festhielt.
»Noch nicht, noch ist sie es nicht, und wenn sie auch nur einen Funken Verstand hat, dann wird sie es sich noch überlegen und nachsehen, ob ich nicht doch die bessere Wahl bin.« Dann, nach einem Kuss auf die Wange, setzte Nate Alicia ab. »Ich freue mich für dich, Liebes«, flüsterte er ihr ins Ohr, weil er wusste, sein Flüstern würde Blake ein wenig reizen.
»Vielen Dank«, antwortete sie und betrachtete die drei Männer um sie herum. Ihr wurde klar, irgendwie liebte sie alle drei.
Eine Bewegung erregte Alicias Aufmerksamkeit, und sie sah Lewis, der sie beobachtete. Es war wie ein Eimer kaltes Wasser, das ihr über den Kopf geschüttet wurde, und sie zitterte.
»Was ist denn?«, fragte Blake und nahm ihre Hand.
»Ich mag ihn nicht«, antwortete sie und war immer noch beunruhigt, da Lewis sie weiterhin anstarrte. Normalerweise gab er immer sofort vor, etwas anderes zu tun, wenn sie ihn beim Starren erwischte. Es verunsicherte sie, dass er die Tatsache, dass er sie beobachtete, nicht mehr länger verbarg.
»Du musst dir um ihn keine Gedanken machen, mein Sonnenschein. Er wurde von seinen Aufgaben entbunden. Er wird nicht mehr mit uns zurückreisen.«
»Gut«, nahm sie seine Worte zur Kenntnis und wandte sich dem Strand zu, der sich an der Steuerbordseite entlang erstreckte. Obwohl sie weiterhin dieses unbehagliche Gefühl hatte, gab Alicia sich große Mühe, es zu ignorieren. Schließlich, dachte sie und umklammerte mit ihren Händen die Reling, während ihre Augen den Strand absuchten, wo ihr Schwester möglicherweise gerade in diesem Moment spazieren ging, schließlich gab es wichtigere Dinge, an die sie denken musste.
»Dort ist es«, flüsterte Alicia. Sie hielt inne, ihre Schuhe versanken im Sand. Ihr Herz pochte lauter als das Hämmern, das von dem Schiffsrumpf herüberdrang, der dort gebaut wurde. Holz unterschiedlichster Länge war auf dem Strand verteilt, und diverse Werkzeuge lagen leicht erreichbar für den Mann bereit, der dort arbeitete.
Sie mussten nicht mehr als zwei Leute befragen, um jemanden zu finden, der wusste, wo Sam und Lukes Schiffbauunternehmen angesiedelt war. Wenn einem die Mitteilungsbereitschaft der Leute eines zeigte, dann, dass die ganze Insel unheimlich stolz darauf war, die beiden zu haben. Nun, da waren sie also, am entfernten Ende des Hafens, wo viel weniger los war, und beobachteten einen Mann mit blonden Haaren, der eine Planke auf den Rohbau des Schiffsrumpfes nagelte.
»Denkst du, dass der Mann dort Luke ist?«, fragte Alicia.
Blake schlang von hinten die Arme um sie. Sein unterdrücktes Lachen drang an ihr Ohr. »Du wirst es wohl nicht herausfinden, wenn du hier stehenbleibst, nicht wahr?«
Alicia holte tief Luft. Die Luft roch nach einer Mischung aus salzigem Seewasser und frisch geschnittenem Holz. Die Luftfeuchtigkeit war hoch, und Alicia war froh, dass sie ihr Haar zu einem einfachen Zopf geflochten hatte, damit die leichte Brise vom Meer ihren erhitzten Nacken abkühlte. Sie trocknete sich ihre Hände am Rock ab.
»Also dann los. Lass es uns herausfinden.« Blake trat neben sie, und sie umklammerte seine Hand.
Der Mann musste daran gewöhnt sein, dass man ihn beobachtete, denn er hörte nicht auf zu arbeiten, als Alicia und Blake herantraten. Er warf ihnen jedoch einen kurzen Blick zu, bevor er ein weiteres geschwungenes Brett nahm und es anpasste. Über das Dröhnen des Hammers hinweg betrachtete Alicia den Fremden eindringlich. Sein Haar war lang und fiel ihm knapp bis auf die Schultern. Obwohl er ein Hemd trug, war dieses nicht zugeknöpft und ließ sowohl seine goldfarbene Haut als auch mindestens sechs Goldketten um den Hals erkennen. Die schwarze Augenklappe über dem linken Auge zusammen mit dem schmalen Schnurrbart gaben Alicia die Gewissheit, dass sie Luke Bradley vor sich hatte. Wenn in ihren Augen irgendjemand je wie ein echter Pirat ausgesehen hatte, dann dieser Mann.
»Luke Bradley?«, fragte sie, als er mit der Bohle fertig war.
Er senkte den Hammer und betrachtete sie dieses Mal ein wenig genauer.
»Vielleicht«, antwortete er, trat an die Front seines Schiffes und kniete sich hin. Er legte den Kopf schief und überprüfte seine Abmessungen. Zufrieden mit dem, was er sah, holte er sich ein weiteres Brett.
»Ich suche nach Samantha Fine. Ich meine Bradley, nehme ich an.« Alicia zappelte unruhig, als er den Hammer fallen ließ und dieser leise im gebleichten Sand einsank.
Das rechte Auge des Mannes wurde schmal. »Warum?«
»Das würde ich ihr lieber selbst sagen«, antwortete Alicia. »Es ist eine lange Geschichte.«
»Sie ist von Port Royal hergekommen, um sie zu finden«, fügte Blake hinzu.
Der Mann wandte seine Aufmerksamkeit nun Blake zu. »Und wer zum Teufel seid Ihr?«
Blake hob das Kinn an. »Blake Merritt.«
Der Mann zuckte die Achseln. »Nie von Euch gehört.«
»Das habe ich auch gesagt, als ich Euren Namen hörte.«
»Kein Grund beleidigend zu werden.«
»Bitte, wenn Ihr mir bloß sagen könntet, wo Sam ist. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.«
Der Rücken des Mannes versteifte sich. Er machte einen Schritt auf sie zu, und in seinem Blick lag kein Funken von Wärme. »Sam? Wer seid Ihr und was wollt Ihr von ihr?«
Blake stellte sich schützend vor Alicia. »Wir wollen nur mit Samantha reden.«
Luke musste nach oben sehen, um Blakes Blick begegnen zu können, doch Blake war von der Entschlossenheit beeindruckt, die er in den Augen des anderen sah. Diesen Mann konnte man nicht so leicht einschüchtern. Aber das konnte man bei einem berühmt-berüchtigten Piraten wohl auch kaum erwarten.
»Wollt Ihr etwa ein Schiff kaufen?«
»Nein, wir sind -«
»Dann sagt mir, was Ihr von Sam wollt.«
Alicia ging um Blake herum. »Dies wird ein großer Schock für Sam sein. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich es ihr sage.«
Der Mann starrte sie an. »Wovon zum Teufel sprecht Ihr?«
»Luke?«
Beim Klang der Stimme wirbelte Alicia herum. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, sodass sie keinen Ton hervorbrachte. Zwar hatte sie Sam jahrelang nicht gesehen, doch ihre Erinnerungen waren frisch. Obwohl Sam zu einer schönen Frau herangewachsen war, hatte sie dennoch genug von dem Mädchen an sich, das sie einst gewesen war, damit Alicia sie wiedererkennen konnte.
Luke schlenderte zu Sam und zog sie an seine Seite, während Alicia ihre Schwester mit den Augen verschlang. Sams Haar war lang und fiel weich um ihre Schultern. Es war dunkler als das von Alicia, aber dort, wo die Sonne reflektiert wurde, konnte sie etliche Strähnen erkennen, die die gleiche Farbe hatten wie ihr eigenes Haar. Man konnte an Sams Augen erkennen, dass ihr die Fragen nur so durch den Kopf wirbelten, als ihr Blick zwischen Luke, Alicia und Blake hin- und herschoss.
»Hallo?«, sagte sie.
Sams Lächeln war freundlich und vertraut, und es raubte Alicia schier den Atem. Ihre Beine zitterten, und sie hielt sich an Blake fest. Oh Gott, sie war es wirklich!
»Ich bin Blake Merritt und das …« Er drehte sich zu Alicia. »Sonnenschein?«
Alicia nickte und leckte sich über die trockenen Lippen. Sie legte sich beruhigend die Hand auf ihr rasendes Herz. Während Luke finster vor sich hin starrte, wartete Sam geduldig ab. Falls sie neugierig war, dann war sie es jedenfalls nicht auf so unfreundliche Art wie ihr Ehemann. Die Wellen des Misstrauens, die von Luke ausgingen, waren ebenso real, wie die Wellen, die an den Strand rollten.
Alicia ließ Blakes Hand los und machte einen wankenden Schritt auf Sam zu.
»Dies wird jetzt ein Schock sein. Ich weiß nicht, wie ich es dir sonst sagen soll, also sage ich es ganz einfach geradeheraus. Ich bin es, Sam. Alicia.«
Sam trat einen Schritt zurück. Ihr Gesicht verlor jegliche Wärme und Farbe. Ihre Augen wurden eiskalt.
»Ich weiß nicht, wie Ihr von meiner Schwester erfahren habt, aber es ist grausam, so etwas zu behaupten. Sie ist vor Jahren gestorben.«
»Nein, Sam. Bin ich nicht. Ich habe es bis Port Royal geschafft. Unsere Mutter ist mit mir an Land geschwommen.«
»Lügnerin«, antwortete Sam bissig. »Meine Mutter konnte sich nicht von dem Schiff retten. Und meine Schwester ebenfalls nicht.«
Alicia streckte die Hand nach Sam aus, aber ihre Schwester zuckte zusammen und zog sich aus ihrer Reichweite zurück. Dieses Verhalten zerriss Alicia schier das Herz. Sie ließ ihre Hand sinken. Blake legte ihr seine Hand auf die Schulter, und diese Geste gab Alicia wieder neue Kraft. Sie musste sich ins Gedächtnis rufen, dass ihre Geschichte für Sam völlig unglaubhaft klang. Sam hatte keinen Grund zu glauben, ihre Schwester habe überlebt, und es war verständlich, dass sie die Wahrheit nicht glauben konnte, als sie diese nun zum ersten Mal hörte.
»Wir hatten uns im Kielraum versteckt, als die Piraten angriffen. Dort sind wir geblieben, bis sie das Schiff geplündert hatten und wieder fort waren.«
Tränen schimmerten in Sams Augen. »Niemand sonst überlebte. Ich weiß das, denn ich war im Wasser und kehrte zurück, als die Piraten fort waren. Es war niemand mehr am Leben.«
Alicia schnappte nach Luft. »Das warst du?« Auch sie kämpfte mit den Tränen. »Als wir glaubten, es wäre sicher an Deck zu gehen, hörten wir Schritte und Stimmen, deshalb blieben wir unten.« Ihre Stimme brach. »Wenn wir hochgegangen wären, dann hätten wir nicht all diese Jahre vergeudet.« Sie drehte sich zu Blake um. »Sie war es. Sie war dort, und wir wussten es nicht einmal.«
»Liebes?«, fragte Luke seine Frau. »Ist das möglich?«
»Ich – ich weiß es nicht. Ich habe es nie für möglich gehalten, aber sie hat tatsächlich ein paar vertraute Züge.«
Alicia nickte und wischte sich mit der Handfläche die Tränen aus den Augen.
»Unser Vater hieß Edward, unsere Mutter Helen. Wir verließen England, als ich zwölf war und du siebzehn.« Alicia kramte nach einer Erinnerung, die zweifelsohne beweisen würde, wer sie war. Etwas, was niemand anderer wissen oder in Erfahrung gebracht haben konnte. Ihre Schwester war ihr so nahe und alles, was Alicia jetzt wollte, war es, sie im Arm zu halten und sich zu vergewissern, dass sie nie wieder voneinander getrennt sein würden. Sie musste Samantha jeden Zweifel nehmen.
»Erinnerst du dich noch an Adam, den Jungen, den du gemocht hast? Bevor wir England verließen, wolltest du ihm auf Wiedersehen sagen, und ich habe Mutter und Vater angelogen und ihnen erzählt, dass du krank seist und nicht zum Abendessen herunterkommen könntest. Du hast versprochen, wenn ich für dich lügen würde, würdest du mir -«
»Eine ganze Woche lang meinen Nachtisch geben«, antwortete Sam, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich. »Alicia, bist du es wirklich?«
»Ja«, schluchzte Alicia. »Ich bin es wirklich.«
Sie rannten aufeinander zu, schlangen die Arme um ihre bebenden Schultern und hielten einander fest.
»Ich dachte, du wärst gestorben«, weinte Sam, und ihre Arme hielten Alice wie im Schraubstock fest. Für eine Weile klammerten sie sich bloß aneinander, dann rückte Sam ein wenig ab und nahm Alicias Gesicht in die Hände und strich zärtlich über deren Narbe. Sie glitt mit den Händen über Alicias Arme, so als ob sie sich selbst davon überzeugen müsste, dass Alicia real war.
»Nicht einmal im Traum habe ich daran gedacht, dass es möglich wäre.« Sie drehte sich zu Luke um, und ihr Lächeln war so breit wie der Strand. »Das ist meine Schwester.«
Luke grinste. »Ja, Liebes, das sehe ich.«
Alicia lachte, dann zog Sam sie zurück. Wieder brach ihr die Stimme. »Meine kleine Schwester, ich habe dich so sehr vermisst.«
»Ich habe dich auch vermisst, Sam. Wir haben so viel Zeit verloren.«
Sam schluchzte: »Dann sollten wir keinen weiteren Moment mehr vergeuden. Lass uns nach Hause gehen. Ich kann ein schönes Abendessen zubereiten.« Sie lächelte. »Wir haben so viel zu bereden.«
»Würde das deinen Ehemann einschließen?«, fragte Alicia lachend.
»Oh!« Sam errötete. »Ich habe dich nicht vorgestellt. Alicia, das ist mein Ehemann Luke Bradley. Luke, das ist meine Schwester!«
Luke lächelte amüsiert, aber Alicia konnte die Liebe in seinem Blick erkennen, als er seine Frau ansah. »Freut mich dich kennenzulernen«, sagte er zu Alicia.
Sam drehte sie zu Blake um. »Und ist das …? Oh, bist du auch verheiratet?« Wieder schossen Sam die Tränen in die Augen, die noch gar keine Chance gehabt hatten, wieder zu trocknen. »Ich habe deine Hochzeit verpasst.«
»Freut mich dich kennenzulernen, Samantha. Mein Name ist Blake Merritt«, sagte Blake und stellte sich neben Alicia. Er ergriff ihre rechte Hand, während Sam immer noch die linke festhielt. »Du hast die Hochzeit nicht verpasst. Sie hat meinen Heiratsantrag erst heute angenommen.«
Alicia schubste ihn mit der Schulter. »Er hat mich ja auch erst heute gefragt.«
»Wir haben es nicht verpasst?« Sams Kinn zitterte. »Ich werde dabei sein, wenn du heiraten wirst.«
Vor lauter Gefühlen hatte Alicia einen Kloß im Hals. Sie hatte die Hoffnung schon aufgegeben, jemals zu heiraten, und doch stand sie jetzt hier. Nicht nur würde sie einen wunderbaren Mann heiraten, sondern die Schwester, die sie vor so langer Zeit verloren hatte, würde dabei sein. Alicia schluchzte: »Ja, das wirst du. Aber können wir in der Zwischenzeit irgendwo hingehen, wo wir reden können? Ich will alles erfahren, was ich verpasst habe.«
»Oh ja«, stimmte Sam zu, »lasst uns das machen. Unser Haus liegt direkt hinter diesem kleinen Hügel. Luke, Blake, begleitet ihr uns?«
»Geht ihr mal allein, Liebes. Wir werden euch in einiger Zeit nachkommen.« Luke trat zu Sam, schlang ihr den Arm um die Taille und küsste sie. »Bis später«, grinste er, als er seine Frau wieder losließ. Als er sich zu Blake umdrehte, fragte er: »Kannst du gut mit dem Hammer umgehen?«
»Das kann ich.«
Luke zog den Hammer aus dem Sand und warf ihn Blake zu.
»Gut. Ich kann ein Paar zusätzliche Hände gebrauchen.«
Sams Haus war schön. Es war zwar nicht sonderlich groß, bloß zwei Schlafzimmer im Obergeschoss und ein Wohnzimmer und die Küche unten, aber es war einladend. Große Fenster im Wohnzimmer betonten die überwältigende Aussicht. Während Sam in der Küche war, um Tee zu kochen, stand Alicia dort und bewunderte, wie das durchsichtig grün schimmernde Wasser der Bucht immer dunkler und blauer wurde, je weiter es raus aufs Meer hinausging. Der Sand war erstaunlich weiß, und Alicia wusste, bevor der Tag vorbei wäre, würde sie ihre Zehen darin vergraben.
»Es passt zu dir«, sagte Alicia, als sie wieder ihre Schwester ansah. »Dieses Haus, der Ort.«
Krächz. »Sams Haus. Sams Haus.«
Alicia kicherte. Der Papagei hatte sie schon bei ihrer Ankunft mit einem leisen Pfeifen begrüßt, das sie verwirrt hatte.
Sam drehte sich von der Ablage um und lächelte. »Ich arbeite noch an seiner Ausdrucksweise. Carracks war so ein wohlerzogener Vogel, bis Luke sich entschloss, ihm ein paar neue Sätze beizubringen.«
Krächz. »Luke ist der Boss. Luke ist der Boss.«
»Siehst du, was ich meine?«
Als ob er wüsste, dass er etwas Falsches gesagt hatte, drehte der Vogel sich auf seiner Sitzstange herum und vergrub den roten Kopf in seinen gelben und purpurroten Federn.
»Und er hat die üble Angewohnheit, alles zu wiederholen.«
Lächelnd reichte Sam Alicia ein Glas Tee, dann setzte sie sich an den hölzernen Tisch. Sie sah über Alicias Schulter auf das Meer hinaus.
»Nach dem Angriff und meinem Aufenthalt auf der Plantage war ich mir nicht sicher, ob ich jemals einen Ort finden würde, an dem ich mich ganz wohl fühlen könnte, wo ich hingehören würde.« Ihr Blick fiel auf das Glas, das sie in den Händen drehte. »Ich habe immer versucht zu glauben, dass das Leben wieder gut werden würde, aber es gab Zeiten, wo es schwer war, sich den Glauben daran zu bewahren.«
»Ich weiß, dass du von der Plantage entkommen bist. Was ist passiert?«
Sam hob den Kopf, und Alicia war erschrocken über den Schmerz, der die Augen ihrer Schwester trübte. »Als wir am Strand landeten, besaßen wir nichts. Als uns Oliver Grant fand und uns medizinische Hilfe sowie Unterkunft und Verpflegung anbot, war das mehr, als wir zu hoffen wagten.«
Alicia schnappte nach Luft. »Das habe ich ganz vergessen! Ich habe gehört, Joe und Willy haben auch überlebt. Sind sie hier?«
Sam packte Alicias Hand, um sie davon abzuhalten, von ihrem Stuhl aufzuspringen, um weitere Familienmitglieder zu suchen.
»Nein. Willy ist auf Barbados geblieben. Er arbeitet dort. Joe ist bei mir geblieben. Im Augenblick holt er zusammen mit Aidan Vorräte für Luke. Ich erwarte sie zum Abendessen.«
»Wer ist Aidan?« Alicia presste sich die Hand aufs Herz. »Ist das etwa dein Sohn? Habe ich einen Neffen?«
Das Blut wich aus Sams Gesicht, und ihre Wangen waren plötzlich so weiß wie der Sand draußen. »Ich habe keine Kinder.«
Ihre Stimme zitterte, und Alicia konnte sehen, dass es sie Mühe kostete, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.
»Es tut mir leid, Sam. Ich wollte dich nicht traurig machen.«
»Nein, ist schon gut. Ich versuche nicht daran zu denken, aber das ist schier unmöglich.« Sie lächelte, aber das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Ich kann keine Kinder bekommen, Alicia. Ich habe alles Mögliche versucht, mehr Ruhe, keinen Alkohol, tagelang nicht aufzustehen, nachdem wir miteinander geschlafen haben, aber nichts hat funktioniert. Aber das ist ein Gesprächsthema für einen späteren Zeitpunkt.« Sie holte tief Luft. »Ich hatte nicht geglaubt, dass es jemanden gab, der noch gemeiner war, als der Kapitän des Piratenschiffes, das uns angegriffen hatte, doch ich hatte mich geirrt. Oliver Grant war noch übler.«
Alicia schob den Tee beiseite und nahm die Hände ihrer Schwester. Sam warf ihr ein gequältes Lächeln zu.
»Er hat die Menschen gequält, Alicia, und nicht nur die Erwachsenen. Er hat sie mit dem Essen erpresst, hat seine Sklaven unabhängig von ihrem Alter ausgepeitscht und die Frauen vergewaltigt.« Ihr Blick fiel auf den Tisch. »Ich war eine von ihnen.«
»Oh Sam«, keuchte Alicia und ihr Magen verkrampfte sich. »Es tut mir so leid.«
»Nachdem er es tat, schwor ich mir, dass ich ihn dafür bezahlen lassen würde, und das nächste Mal, als er zu mir kam, war ich bereit.«
»Ich hätte ihn umgebracht«, sagte Alicia und schauderte bei dem Gedanken an all das Schlimme, was ihre Schwester erlebt hatte.
»Ich dachte, ich hätte es getan. Ich habe ihn mit einem Hammer geschlagen. Er hat geblutet und sich nicht mehr bewegt, als ich wegrannte. Bevor ich gegangen bin, habe ich so viele seiner Sklaven befreit, wie ich nur konnte. Dann habe ich Joe, Willy und Aidan geholt – er war eines der Kinder, die missbraucht worden waren – und wir haben Grants Schiff genommen.«
»Also ist Grant in jener Nacht gestorben?«
»Da noch nicht, obwohl ich das gedacht hatte. Er ist mir jahrelang gefolgt, bis er mich schließlich auf Barbados gefunden hat. Er hat versucht, mir wieder weh zu tun, aber diesmal ist Luke rechtzeitig gekommen. Grant hat auf Luke geschossen, aber bevor Grant mir noch irgendetwas antun konnte, hat sein Herz aufgehört zu schlagen, und er ist gestorben.« Ihr Blick traf Alicias und darin lagen sowohl Bedauern als auch feste Überzeugung. »Es tut mir nicht leid, dass er tot ist.«
»Das sollte es auch nicht, aber ich kann sehen, dass es dich belastet.«
Sam seufzte. »Das tut es. Ich weiß, das sollte es nicht, aber ich kann es nicht ändern. Ich habe vier Jahre darauf verschwendet, Rache für unsere Familie zu nehmen, und die ganze Zeit lang hat Grant dasselbe gemacht und versucht, mich zu finden.« Sie zuckte die Achseln. »So viel verlorene Zeit und Energie.«
»Der Kapitän hat gesagt, Luke hätte den Piraten getötet, der unsere Familie umgebracht hat?«
»Das hat er. Ich habe versucht sie zu rächen, aber als die Zeit kam und ich die Möglichkeit hatte, Dervish umzubringen, machte Luke mir klar, dass es unsere Familie nicht wieder lebendig machen würde, wenn ich Dervish tötete. Deshalb habe ich mich umgedreht. Unglücklicherweise war Dervish bewaffnet, und er hätte mich gewiss umgebracht, wenn Luke ihm nicht zuvorgekommen wäre.«
»Er hat dich zwei Mal gerettet«, wurde Alicia klar. Wenn sie ihn nicht bereits gemocht hätte, weil er ihre Schwester glücklich machte, dann würde sie es spätestens jetzt tun, nachdem sie wusste, dass er ihrer Schwester das Leben gerettet hatte.
»Luke hat mich auf vielerlei Art gerettet. Er ist mein Leben. Nun«, fügte sie hinzu, wischte sich eine einzelne Träne ab und tätschelte Alicias Hand, »er war bisher der größte Teil davon. Ich kann immer noch nicht glauben, dass du am Leben bist. Es scheint wie ein Traum.«
Alicia musste wegen ihrer eigenen Tränen blinzeln, doch das Schuldgefühl, das ihr Herz gefangen hielt, war nicht so einfach zu zerstreuen.
»Ach Sam, es tut mir so leid.«
»Weshalb?«
»Weil ich solch eine Närrin war. Ich habe mich erst gestern an unsere Vergangenheit erinnert. Bis dahin glaubte ich, ich wäre Alicia Davidson aus Port Royal, die Tochter eines Schmieds.«
Sam keuchte. »Du hattest dein Gedächtnis verloren?«
Alicia erzählte von der Narbe und wie man ihr erklärt hatte, sie sei als Kind hingefallen. Sie erzählte von den Briefen, die sie gefunden hatte und die sie auf die Suche nach Sam schickten und von der Schlacht, die die Erinnerungen zurückbrachte.
»Ich habe mich selbst bedauert, weil ich zwei Elternpaare verloren hatte. Ich habe mich um die Zeit mit ihnen und mit dir betrogen gefühlt. Aber jetzt sehe ich, welches Glück ich hatte. Ich wurde umsorgt und geliebt. Ich hatte Nahrung und Wasser, Obdach und eine Familie, selbst wenn es nicht meine eigene war. Und währenddessen hast du täglich einen Kampf ums Überleben geführt. Gott«, sagte sie und sprang vom Tisch auf, »ich kann nicht glauben, dass ich so selbstsüchtig war.«
Sams Stuhl kratzte über den Fußboden. Sie packte Alicia an den Armen und drehte sie zum Fenster hin.
»Fühle dich niemals schuldig, weil du die Davidsons hattest. Ich bin froh, dass du nicht dasselbe erleiden musstest wie ich, und ich werde dir das nie vorwerfen. Ich hätte mir nichts Besseres für dich wünschen können. Bei dem, was Grant mir antat, hatte ich keine Wahl, aber ich kann dennoch nicht alles bedauern, da ich dadurch Luke kennengelernt habe.«
»Er ist sehr in dich verliebt.«
Die Traurigkeit verschwand aus Sams Gesicht. Ihr Lächeln funkelte so strahlend wie ihre Augen. »Ja, das ist er. Und es freut mich sagen zu können, dass ich genauso empfinde. Er macht mich sehr glücklich.«
»Das sehe ich. Ich freue mich für dich, Sam.«
Sie zog fragend die Augenbraue hoch. »Und Blake?«
Alicia grinste. »Es scheint zu früh zu sein, so zu empfinden, aber ich liebe ihn, Sam. Er ist der Mann, den ich will.«
Sam nahm Alicia in den Arm und wirbelte sie herum. »Was wir brauchen, ist eine Party. Wir können alle einladen und feiern -«
»Was feiern?«, fragte Joe, der in die Küche tapste und den Geruch von Seeluft mitbrachte. Ein junger Mann mit blonden Haaren folgte ihm.
Krächz. »Aidan bringt Essen. Aidan bringt Essen.«
»Joe!«, rief Alicia, rannte los und warf sich ihm an die Brust. Sein Bauchumfang war mächtig, und ihre Fingerspitzen berührten sich kaum auf seinem Rücken.
»Kenn ich dich, Mädchen?«, fragte er. Der Umstand, dass er sie nicht wiederkannte, hielt ihn nicht davon ab, ihr ungeschickt auf die Schulter zu klopfen.
Alicia lachte und ließ ihn los. Sie betrachtete den Mann eindringlich, den sie in ihren ersten zwölf Lebensjahren gekannt hatte. Er war älter geworden, die Falten neben seinen Augen und seinem Mund waren vom Wetter tiefer eingegraben, aber der vertraute Zigarrenqualm umgab ihn noch so wie eh und je. Weder die Wärme seines Blicks noch die Freundlichkeit seiner Berührung hatten sich mit der Zeit verändert.
»Ich bin es Joe. Alicia.«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Alicia wer?«
»Joe«, sagte Sam, die hinzugetreten war. »Alicia hat jene Nacht überlebt. Wir waren nicht die Einzigen, die es bis Port Royal geschafft haben.«
Anders als Sam brauchte man Joe nicht weiter zu überzeugen. Sofort füllten sich seine Augen mit Tränen, und er ließ sie ungeniert über die geröteten Wangen laufen. Er riss sie wieder in seine Arme und umklammerte sie hart genug, um Alicia die Luft abzudrücken.
»Oh, Mädchen.« Er weinte ganz offen, während dicke Tropfen auf ihren Kopf fielen. »Ich habe dich vermisst. Wir dachten alle, du wärst gestorben.«
Er wiegte sie wie ein Baby, und sie weinten gemeinsam. Es war erstaunlich, dachte Alicia, wie unglaublich viele Tränen so ein Körper produzieren konnte. Schließlich lockerte er seine Umklammerung und trat einen Schritt zurück.
»Du bist gewachsen, Mädchen. Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du etwa so alt wie Aidan.«
Bei der Erwähnung des Jungen zog Sam diesen von dem Vogelkäfig weg, wo er den Papagei mit ein paar Nüssen fütterte und schob ihn näher heran. Obwohl sie und Aidan gleich groß waren, kämmte Sam ihm geistesabwesend mit den Fingern durch sein Haar. Seine Wangen wurden rot, aber er hielt sie nicht davon ab.
»Alicia, das ist Aidan. Aidan, das ist meine Schwester Alicia.«
Er beobachtete sie vorsichtig, sagte aber nichts. Seine braunen Augen waren ernst und schauten viel zu erwachsen für einen Jungen, der eine Kappe aus vom Wind zerzaustem blondem Haar trug und Löcher in den Hosenbeinen hatte.
»Aidan«, stupste Sam ihn und legte die Hand auf seine Schulter.
»Freut mich, dich kennenzulernen«, murmelte er.
Sam versetzte ihm einen spielerischen Schubs. »Du kannst noch bis zum Abendessen rausgehen. Vielleicht ist ja dieser streunende Hund wieder am Strand.«
Sein Kopf schoss in die Höhe. »Darf ich ihn behalten?«
Krächz. »Kein verdammter Hund. Kein verdammter Hund.«
Sam starrte Carracks wütend an, aber ihr Blick wurde wieder weich, als sie Aidans Blick begegnete. »Die Antwort hat sich seit den letzten zwanzig Malen, wo du gefragt hast, nicht geändert. Es reicht, wenn du ihm Futter bringst. Der Köter lebt sowieso schon die halbe Zeit hier.«
»Luke gibt mir das Futter«, rechtfertigte sich Aidan.
Krächz. »Luke ist unschuldig. Luke ist unschuldig.«
»Das bin ich«, meinte Luke und schlenderte mit Blake im Schlepptau herein. Er ging zu Aidan und schlang den Arm locker um dessen Hals. »Hör auf, mich immer in Schwierigkeiten zu bringen, Junge, sonst kommst du ins Verlies.«
»Da musst du mich erst mal fangen«, neckte Aidan.
»Glaub ja nicht, dass ich das nicht kann«, antwortete Luke, zog den Arm zurück, ließ die Hand aber auf der Schulter des Jungen ruhen. »Ich habe dich die letzten paar Rennen absichtlich gewinnen lassen.«
»Ha!«, rief Aidan, und seine Augen glitzerten vergnügt. »Du bist doch viel zu alt, um mich zu fangen.«
»Alt, meinst du?«, knurrte Luke. Der Junge duckte sich weg und versteckte sich bei Joe.
»Komm nicht zu mir, Bürschchen. Ich werde dich nicht retten.«
Da er jetzt in ihrer Nähe war, machte Alicia sich bemerkbar und sagte: »Freut mich, dich kennenzulernen, Aidan. Wir haben schon eine besondere Familie, nicht wahr?«
Sie nahm Blakes Hand in ihre und spürte, wie dessen Wärme über sie schwappte. Aidans Augen hüpften fröhlich von einem zum anderen im Zimmer. Sein Lächeln spiegelte Alicias Lächeln wider.
»Ja«, antwortete er. »Ich nehme an, die haben wir.«