1

Port Royal 1657

 

 

Alicia Davidson spürte die Verachtung durch die kleine Menschenmenge hindurch, die sich um die aufgeschüttete Erde neben dem Grab ihres Vaters versammelt hatte. Sie war wie die kalte Klinge eines Dolches, die über ihr Genick glitt. Obwohl die Sonne auf die Ansammlung von Menschen, die sich unbehaglich hin und her bewegte, herunterbrannte, fröstelte Alicia. Während sie sich die feuchten Wangen abwischte, riss sie ihre Aufmerksamkeit von der Erde los, die aus vollen Schaufeln auf die robuste Holzkiste unter ihren Füßen fiel, und musterte die Menge. Wer war es, der sie mit solcher Feindseligkeit betrachtete?

Sie sah die Gesichter vieler Freunde und Kunden ihres Vaters, der einer von nur zwei Hufschmieden auf der Insel gewesen war. Einige dieser Leute hatten Tränen in den Augen; andere schauten bloß feierlich zu, wie der Geistliche das letzte Gebet vortrug, bevor sie sich heimlich verdrücken würden. Alicias Blick wandte sich nach rechts, wo sich ein paar Leute in einem kleinen Kreis zusammendrängten. Erst als sie sich trennten und davongingen, kreuzte sich ihr Blick mit dem des Fremden, der alleine am Rand der Trauergemeinde stand. Seine Augen verengten sich und seine Verachtung traf sie mit voller Wucht.

Sein dunkelbraunes Haar war lang und offen und umrahmte ein Gesicht, das wie aus Stein gemeißelt zu sein schien. In seinen Augen war kein Funken Anteilnahme zu sehen, noch konnte man eine Andeutung von Mitgefühl in seinem Gesichtsausdruck erkennen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war, und angesichts seiner fest zusammengepressten Lippen und den Wellen der Bitterkeit, die weiterhin von ihm ausgingen, hatte sie auch nicht die Absicht, es herauszufinden.

Alicia zwang ihre Aufmerksamkeit wieder auf die einzige Sache zurück, die wichtig war, kniete nieder, senkte den Kopf und hoffte dabei, alle würden ihre Geste als das Zeichen deuten, das es war. Sie wollte ihr letztes Lebewohl dringend alleine sprechen. Einige Frauen gingen davon, ihre Röcke raschelten im Gras. Ein paar Hände drückten aufmunternd Alicias Schulter. Jede Anteilnahme war sowohl ein Trost als auch eine herbe Ermahnung daran, dass ihr teurer Vater, der geliebt und respektiert worden war, sich nunmehr zu ihrer verstorbenen Mutter gesellt hatte. Tränen, die schon längst vergossen hätten sein sollen, füllten ihre Augen. Ein tiefes Gefühl des Verlustes schnürte ihr das Herz zusammen.

Ein Schatten fiel auf den Boden neben ihr, und einen Augenblick später hörte sie die Stimme ihrer Tante.

»Alicia, Liebes, komm’ mit zurück zum Haus und iss etwas.«

»Ich werde noch ein bisschen länger bleiben.« Ihre Tante Margaret war beinahe sechzig Jahre alt und hatte ihr Missfallen über den Mann, den ihre Schwester gewählt hatte, immer klar zum Ausdruck gebracht. Selbst jetzt, bemerkte Alicia, waren die grauen Augen ihrer Tante ebenso trocken wie die Erde, die zu ihren Füßen lag.

Tante Margaret schnalzte mit der Zunge. »Kind, er ist fort. Es ist besser, nach vorne zu schauen.«

Weil sie an die Kälte der Frau gewöhnt war, reagierte sie gar nicht darauf. »Ich brauche noch einen Augenblick«, wiederholte Alicia.

»Schön. Aber bleib nicht zu lange. Es ist schrecklich heiß, und außerdem gibt es keinen Grund, hier draußen zu verwelken. Es gehört sich ganz einfach, dass du dich sehen lässt. Ich habe das Haus voller Leute, die dir ihr Beileid aussprechen wollen.« Margaret fächelte sich Luft zu, als ob sie ihrem Argument damit Nachdruck verleihen wollte. »In der Zwischenzeit werde ich deine Sachen zu mir nach Hause bringen lassen.«

Alicia stand auf und drehte sich ein wenig zur Seite, damit die Sonne ihr nicht direkt in die Augen schien. »Ich dachte, ich hätte klargemacht, wohin ich gehöre.«

»Wirklich, Kind. Du kannst nicht alleine in dieser kleinen Hütte bleiben. Es schickt sich nicht.«

»Es ist mein Zuhause, Tante Margaret. Ich werde es nicht verlassen.«

Die andere Frau atmete tief ein und blähte ihren ohnehin schon eindrucksvollen Busen auf. Ihre winzigen Hände umklammerten den Griff ihres Sonnenschirms. »Ich werde nicht zulassen, dass irgendeine meiner Nichten alleine lebt, ohne angemessene Begleitung. Du wirst mit mir kommen, wirst eine Zofe kriegen, und ich werde jemanden finden, der dir Etikette und Anstand beibringt. Du wirst nicht in dieser dreckigen Schmiedewerkstatt arbeiten, und selbst wenn es uns drei Wochen kostet, werden wir deine Hände so lange schrubben, bis sie nicht mehr voller schwarzer Flecken sind. Wenn wir fertig sind, wirst du kein Objekt des Mitleids und der Verachtung mehr sein, so wie du es gewesen bist, seit Jakob dir erlaubt hat, in der Werkstatt zu arbeiten. Und«, fügte sie mit abgehärmtem Mund hinzu, »du wirst die feinsten Kleider bekommen.« Die letzten Worte sagte sie mit einem vielsagenden Blick auf das einfache Kleid, das Alicia anhatte.

»Dies ist nicht der geeignete Ort, Tante Margaret. Wir können das später diskutieren.«

Die Tante heuchelte ihre Reue gut. »Gewiss, Kind. Wir können später reden.« Als sie davonging, hörte Alicia, wie ihre Tante murmelte: »Der besitzt eine Frechheit, hierher zu kommen.«

Alicia ignorierte die Bemerkung. Ihre Tante ärgerte sich immerzu über irgendetwas oder beschwerte sich über irgendjemanden. Früher war es ihr Vater gewesen. Sie wartete, bis ihre Tante ganz an der Reihe von Grabsteinen vorbei war, und dann knöpfte sie sich den Kragen ihres Kleides auf. Die Brise, die vom Meer herüberwehte, trug den Geruch von Salz mit sich. Alicia holte einmal tief Luft, jetzt, wo sie frei atmen konnte, ohne das Gefühl zu haben, gleich von ihrem Kragen erstickt zu werden.

Die Atempause von der unangenehmen Hitze fühlte sich fantastisch an, und sie seufzte. Sie nahm sich Zeit, Lebewohl zu sagen und überließ sich ihren Tränen und ihren Erinnerungen. Sie sprach mit ihrem Vater, als ob er noch da wäre, und als sie schließlich wieder aufstand und sich den Staub von den Röcken strich, war der Schmerz in ihrem Herzen leichter geworden.

Erst als sie sich aufrichtete und einen Schritt nach vorn machte, um wegzugehen, bemerkte sie, dass der Fremde immer noch da war.

Sein Gesichtsausdruck war nicht freundlicher geworden, und ein verstohlener Seitenblick bestätigte Alicia, dass sie ganz und gar alleine auf dem Friedhof waren. Was wollte er? Sie war zwar nicht hilflos, jedenfalls nicht auf jene Art, wie es ihre Tante glaubte, aber ganz gewiss konnte sie es mit der Körperkraft des Fremden nicht aufnehmen.

Alicias Mund wurde staubtrocken, als er auf sie zuging. Obwohl ihr Herz raste, rührte sie sich nicht. Er war auf der Beerdigung ihres Vaters gewesen. Gewiss musste Jacob Davidson diesen Fremden gekannt haben. Sein starrer Blick wich ihrem nicht aus, und als er auf der gegenüberliegenden Seite des Grabes stehenblieb, konnte sie sehen, dass seine Augen dunkelbraun waren und von schwarzen Wimpern und scharf geschnittenen schwarzen Brauen umrahmt wurden.

Er sagte nichts, doch schließlich richtete er seinen Blick auf das Grab zwischen ihnen. Nichts weiter als ein Knirschen seiner kniehohen Stiefel war zu hören, als er sich niederkniete, eine Handvoll Erde ergriff und diese über dem Sarg durch die Finger rieseln ließ. Dann, mit einem letzten vernichtenden Blick auf sie, stand er auf und ging ebenso schweigend wieder fort, wie er gekommen war.