8
Als Blake aufwachte, wurden ihm drei deutlich bemerkbare Tatsachen bewusst. Erstens, dass er nicht alleine war. Zweitens, dass er ziemlich erregt war, und drittens, dass Alicia eine ziemliche Überraschung erleben würde, wenn sie auch nur ein kleines Stückchen näher rückte. Eine Überraschung, mit der sie wohl nicht gerechnet hatte, als sie beschloss, sich in sein Bett zu legen. Aber schließlich hatte er ebenfalls nicht damit gerechnet, als er vergangene Nacht runtergekommen war – immer noch verunsichert von Nates Stichelei und Vincents Behauptung, dass Blake Antworten brauche – und Alicia in seinem Bett vorgefunden hatte.
Hatte er Nate nicht extra gebeten, eine Hängematte aufzuhängen, um genau diese Möglichkeit zu vermeiden? Er hatte sie nicht in seinem Bett gewollt. Aber er war müde und frustriert gewesen. Er hatte bereits den Kurs seines Schiffes gewechselt, seine Kabine umgemodelt und ihretwegen die Sticheleien seines Freundes ertragen. Sie war dreist, undankbar und hatte es gewagt, nach ihm zu schlagen. Und dann hatte sie auch noch den Nerv besessen, sein Bett zu beschlagnahmen. Nun, er würde sich doch nicht aus seiner eigenen Kabine vertreiben lassen, nicht wahr? Also zog er sich bis auf die Unterwäsche aus und kletterte in sein Bett.
Blake wusste jetzt, dass das ein Fehler gewesen war.
Dennoch drehte er sich nicht von ihr weg. Stattdessen beobachtete er auf der Seite liegend, den Kopf auf einen angewinkelten Arm abgestützt, ihren Schlaf und wunderte sich dabei über den Sturm der Gefühle, den sie in ihm auslöste. Ärger, zweifellos, obwohl er wusste, dass das nicht rational war. Was Jacob getan hatte, war nicht ihre Schuld. Dennoch erinnerte Alicia ihn an eine Wunde, die einfach nicht heilen wollte.
Und doch, wenn er ihre bleichen Wangen und den weichen Mund so betrachtete, führte sie ihn in Versuchung. Er konnte dies ebenfalls nicht erklären, da sein Geschmack bezüglich Frauen normalerweise diejenigen bevorzugte, die erfahren darin waren, Männern gefällig zu sein. Keine von ihnen aber verweilte in seinen Gedanken je so, wie Alicia es tat, und leider konnte er nicht alles auf den Groll schieben. In Augenblicken wie diesem konnte er sie bloß anschauen und sich wundern.
Sein Blick glitt zu ihrem Hals hinab, wo ihr Nachthemd die weiche Wölbung ihrer Brüste enthüllte. Ihm stockte der Atem. Sie waren nicht die üppigsten, doch sie pressten sich aneinander und schufen so einen Spalt, den er am liebsten mit seiner Zunge erkunden wollte.
Sie atmete ruhig neben ihm, schlief einfach weiter und war sich seiner inneren Kämpfe gar nicht bewusst. Und Blake focht mehr als einen Kampf mit sich aus. Ja, sie erinnerte ihn an seine Vergangenheit, und ja, sie weckte seine sexuellen Bedürfnisse, aber es war die Eifersucht, die ihn gestern geplagt hatte, die ihn nun beunruhigte. Er mochte sie nicht. Es sollte ihm nichts ausmachen, dass Nate sie attraktiv fand, oder dass Lewis daran interessiert war, Zeit mit ihr zu verbringen. Es sollte ihn nicht kümmern. Aber der Gedanke, dass dieser mickrige Grünschnabel oder selbst Nate sie berührte, weckte bei Blake den Wunsch, Wache zu stehen und Alicia vor jedem zu beschützen, der ihre Unschuld ausnutzen konnte.
Blake grunzte und schloss die Augen. Er war vielleicht ein schöner Beschützer. Sehnte er sich nicht auch nach ihr, selbst jetzt, und das trotz ihrer Unschuld?
»Blake?«
Er spürte ihre Hand auf seinem Unterarm und sprang beinahe aus der Haut vor Schreck. Er öffnete die Augen und nannte sich insgeheim selbst einen Narren, während sein Blick sie schier verschlang. Sie hatte ihr Haar nicht wie die meisten Frauen für die Nacht zu einem Zopf geflochten. Es fiel ihr nun als verworrene Mähne um das Gesicht und über die Schultern. Klare blaue Augen betrachteten ihn von oben herab voller Sorge. Da sie sich auf den linken Ellenbogen abgestützt hatte und mit ihrer rechten Hand auf seinem Arm, erledigte die Schwerkraft den Rest.
Ihr Nachthemd klaffte weit auseinander. Ihre Brüste bewegten sich sachte hin und her, ohne jede Art von Halterung. Und wenn sie nochmal so tief einatmete, wie sie es gerade getan hatte, dann hätte er alles gesehen, was er brauchte, um direkt zur Hölle zu fahren. Dennoch konnte er seinen Blick nicht abwenden.
»Blake?«
Sie beugte sich näher herüber, und er sah das, was er zwar einerseits sehen wollte und vor dem er zugleich doch Angst hatte. Ein perfekter Nippel, rosa und fest, bereit, gepflückt zu werden. Sein Blut schoss ihm in die Leistengegend.
Stöhnend legte er sich einen Arm über die Augen und drehte sich auf den Rücken.
»Was ist denn?«, fragte sie.
Er erkannte an der Kuhle, die das Bett bildete, dass sie näher zu ihm herangerückt war. Nate hatte recht – sie roch sauber und frisch. Er musste seine ganze Willenskraft aufbringen, nicht den Arm auszustrecken und sie zu berühren. Seine Hände krallten sich in die Laken. Er wagte es nicht zu sprechen, weil er befürchtete, sein Mund würde ihn verraten.
Erst als sie sich die Decke packte und er die kühle Luft über seinen Bauchnabel streichen spürte, ging ihm auf, was sie vorhatte. Er packte den Bettbezug, als ob er ein Strick wäre, den man mitten im Hurrikan einem Ertrinkenden zuwirft. Er riss die Augen auf und versuchte, sie auf ihrem Gesicht zu halten, denn wenn er wieder hinabsehen würde … Er atmete heftig ein.
»Lasst das«, knurrte er und hielt sich die Decke vor den Bauch.
»Warum, seid Ihr verletzt?« Ihr Blick wanderte über seine Brust, und er biss die Zähne zusammen, denn in seinen Gedanken sah er sie dasselbe mit ihrem Mund tun.
»Nein, ich bin nicht verletzt.«
Ihre Blicke trafen sich und er fühlte sich wie ein Schuft, als er die Besorgnis in ihren Augen las. Sie machte sich Sorgen um ihn und alles, was er wollte, war, sie nackt zu bekommen und sie wie einen reifen Pfirsich zu verschlingen. Blake schloss wieder die Augen. Zur Hölle, was war bloß mit ihm los?
»Seid Ihr sicher? Vielleicht kann ich helfen.«
Sie zog an der Decke.
»Alicia, sofern Ihr nicht die Überraschung Eures Lebens erleben wollt«, sagte Blake, die Augen immer noch geschlossen, »schlage ich vor, Ihr hört sofort damit auf.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille, und Blake dachte, er hätte sich soweit wieder unter Kontrolle, bis sie ganz unschuldig fragte: »Warum? Was ist da drunter?«
Die Situation war alles andere als lustig, und dennoch konnte er ein Kichern nicht unterdrücken. Wie sollte ein Mann auf eine solche Frage denn antworten?
Er öffnete die Augen, sah ihren ernsthaften Gesichtsausdruck. War fast ein wenig gerührt.
»Nichts, wofür Ihr schon bereit seid«, antwortete er.
Sie runzelte die Stirn, dunkelblonde Augenbrauen schräg über atemberaubenden blauen Augen.
»Das verstehe ich nicht.«
»Und das, Alicia, ist der Grund, weshalb du besser in der Hängematte schläfst, bis wir St. Kitts erreichen.« Blake setzte sich im Bett auf, nahm die Decke mit und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Alicia lehnte sich auf der anderen Seite an. Jetzt, da sie in gefahrlosem Abstand voneinander saßen, seufzte Blake tief und fühlte sich wieder mehr wie der Mann, der er gewesen war, als er vergangene Nacht zu Bett gegangen war.
Bis sie ihren Kopf zur Seite neigte, den Blick auf ihn gerichtet, und sagte: »Willst du etwa sagen, dass du mich begehrenswert findest?«
Zur Hölle.
Sein Schweigen jedenfalls schien ihr zu gefallen, und sie lächelte und zeigte dabei tiefe Grübchen auf ihren Wangen, die er vorher nie bemerkt hatte. Zusammen mit dem verwuschelten Haar und ihrem fragenden Blick … Blake hatte sich noch nie schäbiger gefühlt. Christus, sie war doch noch ein Kind.
»Du bist zu jung, und ich mag dich nicht, weißt du noch?«, erinnerte er sie beide.
»Ich glaube, du änderst diesbezüglich gerade deine Meinung«, erklärte sie nüchtern. »Außerdem, ich bin achtzehn. Wie alt bist du?«
»Fünfundzwanzig.«
Er betrachtete sie vorsichtig, denn das Lächeln verschwand nicht.
»Was?«
Sie zuckte die Achseln, und Blake merkte, wie er wieder vom Heben und Senken ihrer Brüste angezogen wurde.
»Was?«, wollte er dieses Mal lauter wissen, da er sich noch nie so außer Kontrolle gefühlt hatte.
»Noch nie hat mich ein Mann begehrenswert gefunden. Es fühlt sich …« Sie zuckte wieder mit den Achseln. »Nett. Es fühlt sich nett an.«
Nett. Seine Hände schwitzten, und er wagte aus Angst, sie beide zu beschämen, nicht, das Bett zu verlassen, und es fühlte sich für sie nett an?
»Du musst dich anziehen und aus meinem Bett verschwinden.«
Sie riss ihre blauen Augen auf. »Ich werde mich doch nicht vor dir umziehen.«
Er fluchte. »Nein, natürlich nicht!«
Sie beugte sich vor, und dieses Mal drehte er den Kopf weg.
»Was soll ich denn dann tun?«
Zieh dein Nachthemd aus. Küss mich. Berühre mich, und hör nicht auf, selbst nicht, wenn ich glaube, dass du es tun solltest. Blake hämmerte mit dem Kopf gegen die Wand und erklärte: »Dreh dich um. Ich werde mich anziehen.«
»Klingt vernünftig«, antwortete sie.
Ja, das tat es. Sehr vernünftig sogar. Warum auch nicht, schließlich verhielt er sich beinahe wie ein Heiliger.
Blake wartete, bis sie wieder unter die Bettdecke geschlüpft war und sich von ihm abgewendet hatte, bis er aus dem Bett stieg. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich schon jemals so schnell angezogen zu haben. Erst als der letzte Knopf an seinem Hemd zugeknöpft war und die Stiefel fest an seinen Füßen saßen, sprach er wieder.
»Ich werde Frühstück bringen lassen. Möchtest du Wasser zum Waschen?«
Sie drehte sich um, damit sie ihn sehen konnte und antwortete: »Gern. Vielen Dank.«
Er nickte und drehte sich zur Luke, um zu gehen.
»Ich weiß das wirklich zu schätzen, was du alles für mich tust. Und ich schäme mich dafür, dass ich gestern die Hand gegen dich erhoben habe.«
Blake sah Alicia nicht direkt an, sondern fixierte eher einen Punkt an der Wand hinter ihr, als er antwortete: »Du kannst mir danken, indem du heute Abend die Hängematte nimmst.« Und bevor er sich noch tiefer verstricken konnte, als er es ohnehin schon getan hatte, rannte er die Treppe hinauf und so weit weg von Alicia Davidson, wie er nur konnte.
Es hätte nicht besser klappen können. Lächelnd nahm Vincent Billy den Frühstücksteller weg.
»Ich kann ihn nehmen«, bot er an.
Billy war ein gedrungener, stark behaarter Mann. Seine Haare ragten aus seinem Hemdkragen, wuchsen in kleinen Büscheln aus seinen Ohren, und Vincent wusste, wenn der Mann sein Hemd auszog, war seine Brust von einem wahren Teppich bedeckt. Billy runzelte bei Vincents Vorschlag die Stirn, und seine Augenbrauen schufen dabei einen langen, schwarzen Querstrich über den Augen, die beinahe ebenso dunkel waren.
»Ich glaube, ich sollte den Teller lieber nehmen, so wie er es mir aufgetragen hat. Der Kapitän ist heute Morgen in ziemlich übler Stimmung. Ich will nicht Schuld sein, wenn die noch mieser wird.«
So, so. Vincent leckte sich über die Lippen und wünschte sich aus ganzem Herzen, er hätte letzte Nacht in Blakes Kabine Mäuschen spielen können.
»Wo ist Blake?«
Billy deutete auf die Treppe, die in den Schiffsbauch führte. »Macht da unten irgendetwas.«
Noch besser. »Nun Billy, geh zurück an deine Arbeit, und lass mich das hier nehmen. Falls Blake böse wird, verspreche ich dir, ihm zu sagen, dass es meine Idee war.«
Billy zuckte die Achseln und ging davon. Nunmehr summend betrat Vincent das Deck, das Tablett in der einen Hand und einen dampfenden Becher Tee in der anderen.
»Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist«, meinte Nate von seiner Position hinter dem Steuerruder aus.
»Was? Ich bringe der Dame bloß ihr Frühstück.«
»Hm. Dann erwarte ich dich also schnurstracks wieder zurück.«
Als Vincent innehielt, fuhr Nate fort: »Nun, es dauert bloß eine Minute, das Essen abzusetzen. Soll ich die Luke festhalten, während du es auf den Tisch stellst?«
Vincent trat einen Schritt nach vorn und senkte die Stimme. »Du weißt doch ganz genau, dass ich mit ihr reden will.«
»Tue ich das?«
»Mach einfach die verdammte Luke auf. Mach dich wenigstens nützlich.«
Nate sah zum Horizont und blinzelte wegen der prallen Sonne mit den Augen. »Ich mache mich schon nützlich. Ich steuere das Schiff.«
Vincent dachte schon darüber nach, das Essen abzustellen und seinen Freund zu erschießen, als dieser lächelnd das Ruder verließ und die Luke öffnete.
»Denk daran, ich mache bei dieser Sache nicht mit.«
»Verdammt schwer das zu vergessen, wenn du mich ständig daran erinnerst«, murmelte Vincent. Er rief zunächst nach unten, und als er Alicias leise Antwort hörte, begann er die Trittleiter hinabzusteigen. Beinahe wäre er gestürzt und hätte den Tee fallen lassen, als Nate die Luke zuschlug und dabei Vincents Kopf nur knapp verfehlte.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, antwortete Alicia.
Vincent stellte das Essen und Trinken auf den Tisch. »Gut geschlafen?«, fragte er und warf einen kurzen Seitenblick auf die Hängematte. Es lagen keine Decken darin. Während er sich zwang, ein völlig ausdrucksloses Gesicht zu machen, drehte er sich zu ihr um und erhaschte dabei einen schnellen Blick auf das Bett. Die Bettdecken waren zerwühlt, und nach den Kopfkissen zu urteilen, hatten zwei Köpfe das Bett benutzt. Vincent konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Habe ich, vielen Dank. Und Danke auch für das Frühstück. Ich fragte mich gerade, ob ich selbst hochgehen sollte.«
»Blake erlaubt Euch an Deck zu gehen?« Zur Hölle, letzte Nacht muss schon etwas ziemlich Besonderes gewesen sein.
Alicia schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Als er mir das Wasser zum Waschen brachte, hat er gesagt, dass er bald mit dem Essen zurückkommen würde.«
»Das wollte er auch, aber er musste sich um etwas anderes kümmern. Deshalb bat er mich, es Euch an seiner Stelle zu bringen.«
»Hat er das?«
Vincent beobachtete staunend, wie ihre Wangen rot wurden und ihre Hände an ihrem Kragen nestelten. Weil er annahm, dass sein Vorhaben nun viel einfacher geworden war, zog Vincent sich einen Stuhl heran.
»Bitte setzt Euch und esst, solange es noch heiß ist. Und darf ich so kühn sein zu fragen, ob ich Euch Gesellschaft leisten darf?«
Alicias Augen glitzerten ebenso strahlend wie das Meer.
»Bitte tut das. Es ist schön, ein wenig Gesellschaft zu haben.«
Weil er wusste, dass seine Zeit begrenzt war, vergeudete Vincent auch keinen Augenblick davon.
»Blake ist nicht besonders gesprächig.«
Sie lächelte, während sie in ein Stück Ananas biss. »Es sei denn, er ist verärgert.«
»Manchmal kann er ein wenig unzivilisiert sein.«
»Das ist mir aufgefallen.« Sie aß ihre Frucht zu Ende und begann die Eier zu essen.
»Gewöhnt er sich, ähm, nicht ein wenig an Euch?«
Alicia verschluckte sich fast an den Eiern. Sie hustete, und ihr stiegen die Tränen in die Augen. Oh, Hölle! Vincent stellte sich auf seinen Stuhl und klopfte ihr auf den Rücken. Sie hustete noch heftiger. Er war kurz davor, in Panik zu geraten, als sie sich in ihrem Stuhl umdrehte und ihn am Handgelenk packte.
»Es geht mir gut«, keuchte sie.
Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte Vincent sich wieder hin. »Nun, Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich hätte Euch umgebracht!«
Sie sahen sich gegenseitig an und schwiegen, bis Alicia plötzlich laut loslachte und sich tiefe Grübchen in ihre Wangen gruben. Trotz seiner Verlegenheit stimmte Vincent in ihr Lachen ein. Bald wischten sich beide die Lachtränen aus den Augen.
»So sehr habe ich schon seit Monaten nicht mehr gelacht«, erklärte Alicia. »Vielen Dank.«
»Mir hat es ebenfalls Spaß gemacht. Ihr erinnert mich an Vivian, eine meiner Schwestern.«
Als sie ihr Mahl beendet hatte, schob Alicia den Teller zur Seite und nippte an ihrem Tee. »Habt Ihr viele Schwestern?«
»Fünf. Und einen Bruder. Aber Cale ist der Älteste und war beinahe schon erwachsen, als ich hinzukam.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe ihn nicht oft gesehen und stattdessen die meiste Zeit mit meinen Schwestern verbracht. Vivian ist mir altersmäßig am nächsten.«
Alicia sah aus dem Fenster der Kabine hinaus. »Ich beneide Euch um Eure Erinnerungen. Das Einzige, was ich von meiner Schwester noch weiß, ist, dass sie braunes Haar hat und ich sie früher Sam genannt habe.«
»Aber Ihr werdet sie finden, und dann kann sie Euch alles erzählen, was Ihr wissen wollt. Seid Ihr nicht aufgeregt?«
Alicia drehte sich zu Vincent um, und ihr trauriges Lächeln rührte sein Herz.
»Es fühlt sich an, als ob man eine Fremde trifft, denn das ist sie ja in Wirklichkeit für mich.«
Als Vincent die schweren Stiefel und ein grummelndes Gespräch über ihren Köpfen hörte, wusste er, dass seine Zeit abgelaufen war. Blake würde bald nach ihm suchen.
»Hat Blake mit Euch über Eure Familie gesprochen, nun ja, die, an die Ihr Euch erinnert?«
»Ich weiß, er hasste meinen Vater.«
Da es nun spannend wurde, schob Vincent seinen Stuhl näher an Alicia heran. »Habt Ihr ihn denn nicht gefragt, weshalb er das tut?«
»Ich glaube nicht, dass er es mir sagen würde.«
»Nun, das könnt Ihr solange nicht wissen, bis Ihr es versucht, nicht wahr?«
Und mit diesen Worten nahm er ihren leeren Teller und überließ sie ihren Gedanken.
Alicia wurde beinahe verrückt. Sie war nun schon den ganzen gestrigen und den Großteil des heutigen Tages in der Kabine eingesperrt gewesen und wusste nicht mehr, was sie noch tun konnte. Die Bettbezüge waren glatt gestrichen, die Stühle gleichmäßig verteilt und an den Tisch geschoben. Da niemand gekommen war, um ihr Waschwasser zu holen, und da es nicht sehr schmutzig war, hatte sie es benutzt, um den Boden der Kabine damit zu wischen. Nirgendwo lag Staub herum.
Sie hätte am liebsten gebrüllt.
In der Schmiede herrschte immer ein ziemlicher Lärm durch das Scheppern von Metall, das auf Metall schlug und dem Schwatzen, mit dem Charles und sie sich die langen Stunden der harten Arbeit verkürzten. Alicia ließ die Stirn gegen das Glas des kleinen, runden Fensters sinken und spürte die Wärme auf ihrer Haut.
Sie vermisste die Werkstatt. Von dem Zugehörigkeitsgefühl, das sie jedes Mal verspürte, wenn sie in das rauchige Innere trat, bis zur Befriedigung, ein fertiges Werkstück im Sonnenlicht glänzen zu sehen. Und sie vermisste ihren Vater.
Sie schloss die Augen vor den Wellenbewegungen des Meeres und sah Jacob in der Werkstatt, die dicke Schürze über den Kleidern, sein Gesicht verschwitzt und die braunen Augen warm wie Kaffee, wenn er sie betrachtete. Seine Stimme und seine Berührung waren immer behutsam, wenn er den Arm um ihre Schultern legte, um sie zu fragen, wie ihr Tag gewesen war und wenn er sie bei der Arbeit anleitete, niemals urteilend und niemals ungeduldig. Seine Liebe hatte die Werkstatt ebenso mit Wärme erfüllt, wie der Schmiedeofen es tat.
Er war so ein guter Mann, so ein wunderbarer Vater gewesen. Sie fragte sich, weshalb Blake ihn so sehr hasste. Vincent hatte recht – sie sollte ihn wirklich fragen. Alicia riss die Augen auf.
Der Brief. Blake hatte den Brief.
Wenn sie ihn finden konnte, dann würde sie vielleicht erfahren, weshalb Blake solch negative Gefühle für ihren Vater empfand. Sie war doch in Blakes privater Kabine, und falls der Brief irgendwo war, dann wohl innerhalb dieser vier Wände. Aufgeregt machte sich Alicia auf die Suche.
Es war überraschend und enttäuschend einfach. Beinahe hatte sie gehofft, es würde länger dauern, den Brief zu finden, denn dann wäre die Zeit schneller verstrichen, die langen Stunden, die sie alleine und eingesperrt verbringen musste. Doch leider stellte sich heraus, dass die Sonne noch hoch am Himmel stand und der Brief an dem Platz war, wo sie als Erstes nachgesehen hatte. In der Ecke neben dem Tisch war eine Reihe breiter Regale, wo Blake seine Karten und Logbücher aufbewahrte. Darunter gab es zwei schmale Schubladen nebeneinander. Als sie die rechte Schublade öffnete, starrte der Brief sie daraus an.
Mit klopfendem Herzen ließ Alicia die Schublade offen stehen und huschte zur Leiter. Sie kletterte so weit nach oben, wie sie konnte, bevor ihr Kopf die Luke berührte. Dann spähte sie hinaus. Sie konnte Stiefel erkennen, weiter nichts. Sie erkannte Blakes Stiefel wieder, ebenso wie die von Vincent. Da keiner von beiden in ihre Richtung ging, rannte sie zurück zur Schublade und nahm den Umschlag heraus. Als sie ihn umdrehte, rutschte ihr das Herz in die Hose.
Blake hatte ihn nicht geöffnet. Das rote Siegel war unversehrt. Warum zum Teufel hatte er es nicht geöffnet? Sie atmete heftig ein. Ihr Vater hatte sich die Zeit genommen, diesem Mann einen Brief zu schreiben, und Blake machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu lesen?
Den Brief fest in der rechten Hand rannte Alicia die Stufen hinauf und warf die Luke auf. Sie sah, wie Blake sich nach ihr umdrehte, sah seinen fragenden Blick zu Wut erstarren, als ihm klar wurde, dass sie ihm nicht gehorchte, weil sie am helllichten Tag an Deck kam. Sie wusste, da waren noch andere Männer, konnte ihre fragenden Seitenblicke spüren, aber ihre Augen waren nur auf Blake fixiert.
»Was machst du an Deck?«, wollte er wissen und trat etwas vom Ruder weg.
Sie ignorierte ihn und klatschte ihm den Briefumschlag vor die Brust.
»Du hast ihn nicht einmal gelesen?«
Aus den beiden obersten Knöpfen seines Hemdes kroch ihm die Zornesröte den Hals hinauf und überzog sein Gesicht. Alicia wusste trotz der unerbittlichen prallen Sonne, dass dies nichts mit der Hitze zu tun hatte. An Deck war es bedrohlich still. Man hörte nur das Knarzen der Segel und Schiffstaue und das Ächzen des Holzes.
»Wo hast du den gefunden?« Er riss ihr den Brief aus der Hand.
»Warum hast du ihn nicht gelesen?«, konterte sie.
»Das geht dich nichts an«, knurrte er zwischen den Zähnen hervor.
Sie starrte ihn an. »Er wurde von meinem Vater geschrieben! Er hat mich gebeten, ihn dir zu geben. Es geht mich sehr wohl etwas an!«
Blake knurrte wütend. Dann brüllte er einen Befehl über seine Schulter, packte Alicia am Handgelenk und schmiss sie beinahe die Leiter hinab in seine Kabine. Seine Stiefel hämmerten über die Sprossen. Die Luke schlug donnernd zu. Das Geräusch klingelte ihr immer noch in den Ohren, als sie herumwirbelte, um ihm entgegenzutreten.
»Warum hast du ihn nicht geöffnet?«
»Weil es mir verdammt nochmal egal ist, was darin steht!«
»Warum nicht?«
Er kniff die Augenbrauen zusammen. »Ich habe dir erlaubt, an Bord zu bleiben. Ich habe meinen Kurs geändert, dich in meine Kabine gelassen, und du dankst es mir, indem du meine Sachen durchwühlst?«
»Ich versuche nur, ein paar Antworten zu bekommen, Blake. Nichts hiervon ergibt Sinn. Warum hat mich mein Vater zu dir geschickt? Warum hasst du ihn so sehr?«
»Ich werde das nur noch einmal sagen. Ich werde dich zu deiner Schwester bringen. Mehr schulde ich dir nicht.« Er wirbelte herum, warf den Brief wieder zurück in die Schublade und schlug diese zu. Dieses Mal nahm er einen kleinen Schlüssel und schloss sie ab. Er steckte den Schlüssel in seine Tasche und kam wieder zu ihr zurück. »Bleib von meinen Sachen weg oder du wirst wieder da schlafen, wo ich dich gefunden habe.«
Seine Worte taten weh, besonders nach dem Gefühl der Nähe, welches sie heute Morgen zu spüren begonnen hatte, als sie das Bett miteinander geteilt hatten. Alicia wollte nicht, dass ihre Beziehung wieder so wurde, wie am Anfang, als sie sich gegenseitig bloß ständig beißende Bemerkungen zugeworfen hatten. Aber sie konnte die Sache auch nicht auf sich beruhen lassen. Sie kannte seine Vergangenheit nicht, aber die konnte auch nicht schlimmer gewesen sein als ihre. Wenigstens wusste er, woher er gekommen war, von wem er abstammte. Er mochte zwar entschieden haben, Port Royal zu verlassen, aber er erinnerte sich daran, was er hinter sich gelassen hatte.
»Hast du Angst davor, was in dem Brief steht?« Blakes Blick wurde eiskalt. »Ich habe vor nichts Angst, was dieser Mann mir sagen will.«
»Dann lies den verdammten Brief!«
»Nein! Und kümmere du dich nicht darum, verdammt nochmal.«
Blake versuchte, an Alicia vorbeizugehen, aber sie packte ihn am Arm. Er stoppte, seine Augen bohrten sich in ihre.
»Ich kann das nicht ignorieren. Es geht hier um mein Leben! Ich habe keine Vergangenheit. Ich habe bloß eine Erinnerung. Eine einzige. Der Rest sind unzusammenhängende Bruchstücke, die so schnell auftauchen, dass sie keinen Sinn ergeben. Ich bin mir nie sicher, ob es eine Erinnerung ist oder ein Traum oder bloßes Wunschdenken.«
Ihre Hand umklammerte seinen Arm. »Ich weiß nicht, wo ich herkomme. Falls mein Vater in diesem Brief irgendetwas dazu erklärt, dann habe ich das Recht, das zu erfahren.«
»Deine Schwester wird dir die Antworten geben, die du brauchst.«
»Ich kann nicht so lange warten!«
Sein Blick wurde kalt. »Das ist nicht mein Problem.«
Sie ließ seinen Arm los. »Was hast du zu verlieren, wenn du Jacobs Worte liest?«
»Es ist mir egal, was er schreibt, in Ordnung? Nichts, was dieser herzlose Mistkerl geschrieben hat, wird das ändern.«
Alicia starrte ihn an. »Herzlos? Du weißt gar nichts von ihm. Der Mann hatte ein Herz so groß wie der Ozean.«
Blakes freudloses Lachen prallte von den Wänden der Kabine zurück. »Er war nicht nur herzlos, Alicia. Er war selbstsüchtig. Das Einzige, worum sich Jacob Davidson gekümmert hat, war er selbst. Die Tatsache, dass er deine Vergangenheit vor dir geheim gehalten hat, spricht doch Bände.«
Sie schluckte, konnte seine Worte nicht abstreiten. Sein selbstgefälliges Grinsen sagte schon alles und ließ Alicia ihren Vater weiter verteidigen.
»Er hat mir geschrieben, dass er Angst gehabt hatte, mir die Wahrheit zu erzählen, da er schon seine Söhne verloren hatte. Da ich meinen Vater jeden Tag um sie trauern gesehen habe, weiß ich, dass er die Wahrheit sagte.«
»Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts weißt«, antwortete Blake mit kratziger Stimme.
»Ich weiß es, weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Ich erinnere mich nicht an sie, aber nun wird mir klar, das lag daran, dass sie schon gestorben waren, bevor mich die Davidsons aufnahmen. Aber ich weiß, er hat sie geliebt.«
»Eric war sein Ein und Alles. Niemand war perfekter als Eric und glaub mir, das ließ er Daniel bei jeder Gelegenheit spüren.«
»Er sprach von Eric nie als perfekt, nur dass er ihn vermisste und dass es tragisch war, auf welche Art er ums Leben kam. Du weißt wie er starb, nicht wahr?«
Blake nickte kurz. »Das Schiff, auf dem er war, geriet in einen heftigen Sturm. Einer der Masten brach, und er befand sich darunter, als der Mast herabstürzte.«
Alicia runzelte die Stirn. »Es war kein Sturm, sondern Piraten, die Eric töteten.«
»Hat er dir das erzählt? Dass es ein Piratenangriff war?«
Alicia dachte daran zurück, was Jacob ihr erzählt hatte. »Er hat nie wirklich behauptet, dass es ein Angriff war, nur dass Erics Tod die Folge seines Umgangs mit Piraten war.«
»Da waren keine Piraten!«, brüllte Blake. »Eric war damals auf einem Freibeuterschiff.«
»Warum dachte Vater dann, dass es Piraten gewesen waren?«
Blake starrte sie zornig an. »In seinen Augen waren sie dasselbe.« Er wandte sich kurz ab, holte einmal tief Luft, bevor er sie wieder ansah. »Sag mir, Alicia, hat er jemals erklärt, was mit Daniel geschah?«
Alicia schüttelte den Kopf. »Wenn sein Name erwähnt wurde, verstummte Vater und ging runter ans Wasser. Wenn ich Anna fragte, wurde sie immer so traurig. Deshalb habe ich wohl aufgehört zu fragen. Ich nahm an, Jacob ging dann ans Wasser, weil Daniel auch auf See gestorben war, nur dass sie seine Leiche nie gefunden haben.«
»Daniel ist nicht gestorben. Bis zum heutigen Tag ist er noch ziemlich lebendig.«
Alicia starrte ihn an, Tränen stiegen ihr in die Augen. »Wenn Jacob das bloß gewusst hätte. Er wäre so …«
»Er wusste es, Alicia.«
»Aber das kann nicht sein. Ich sah den Schmerz in seinen Augen, wenn er am Strand stand. Er sah so verlassen aus, so traurig. Wenn er gewusst hätte, dass Daniel noch lebt, dann hätte er doch nach ihm gesucht. Nichts hätte ihn aufhalten können.«
Blake explodierte. Seine Augen funkelten wild.
»Er hatte die Chance! Er hatte mehrere Jahre, um Daniel zu finden, und stattdessen tat er nichts! Ich hoffe, seine Schuld hat ihn bis ins Grab verfolgt.«
Alicia blieb der Mund offen stehen.
»Er ist der einzige Vater, an den ich mich erinnere, und er war ein guter Mann. Du hast kein Recht, so von ihm zu reden.«
»Oh, das habe ich wohl nicht, nicht wahr? Nun, du weißt nichts über diesen Mann, den du Vater genannt hast! Und Daniel ist ohne ihn besser dran!«
»Du Mistkerl! Ich habe oft genug gesehen, wie dieser Mann sich Tränen wegwischte, die ich nicht sehen sollte. Er und meine Mutter saßen abends zusammen und beteten für ihre Jungen. Er liebte sie alle beide. Wage es ja nicht, über ihn zu urteilen, wenn du nichts darüber weißt, wie er sich fühlte.«
Außer Atem, die Hände auf die Hüften gestemmt, forderte sie Blake so sehr heraus, wie sie es noch nie getan hatte. Er schien das nicht zu bemerken. Die Hände ebenfalls in die Hüften gestemmt, entgegnete er mit lauter Stimme, die ihrer in nichts nachstand: »Ich weiß ganz genau, wie er sich fühlte! Anders als du muss ich mir nicht einreden, dass ich wüsste, was der Mann empfand, denn er hat mir unumwunden gesagt, was er von Daniel hielt.«
»Und was war das?«, wollte sie wissen und stopfte sich unwirsch eine Haarlocke hinters Ohr, als diese ihr ins Gesicht fiel.
»Dass es Daniels Schuld war, dass Eric starb.«
Alicia hielt inne und blinzelte. »Wie bitte?«
Blake drehte sich zum Fenster und stützte sich daneben mit einer Hand ab. Er stand so lange schweigend und grübelnd dort, dass Alicia fast nicht mehr glaubte, er würde fortfahren.
»Daniel hat das Meer geliebt, und die See rief nach ihm, wie er es niemals zuvor erlebt hatte. Das Meer, der endlose Horizont, die frische Luft. Das war genau das, was er wollte. Einfach ein Schiff besitzen und seine eigene Mannschaft kommandieren. Aber er hatte Angst, es seinem Vater zu erzählen, weil Jacob seinen Traum nie verheimlicht hatte, dass seine beiden Söhne eines Tages gemeinsam die Schmiedewerkstatt übernehmen würden. Daniel brauchte lange, bis er das Thema gegenüber seinem Vater ansprach.«
Blake schlug mit der Hand gegen das Holz. »Und als er endlich den Mut aufbrachte, seinem Vater von seinem Traum zu erzählen, da hat Jacob nicht zugehört. Jedenfalls nicht richtig. Er hat sich eingeredet, es wäre bloß eine Marotte und dass Daniel, falls er zu See fahren würde, das Wasser bald satt haben und nach Hause kommen würde. Deshalb hat er auch Eric gebeten, Daniel zu begleiten, als der auf einem Freibeuterschiff Arbeit gefunden hat. Jacob hat geglaubt, in einem Monat oder so wäre die Sache erledigt.«
»Warum würde Jacob Eric auf ein Freibeuterschiff schicken, wenn er diese für nichts weiter als Piraten hielt?«
Blakes Lachen klang freudlos. »Erst nachdem Eric gestorben ist, hat Jacob seine Meinung über Freibeuter geändert. Bis dahin jedenfalls hatte er, soweit ich weiß, keine Einwände gegenüber Freibeutern.«
»War Daniel mit auf dem Schiff, als Eric gestorben ist?«
Blake nickte. »Daniel hat alles gesehen. Er hat die Leiche seines Bruders auch zurück nach Port Royal gebracht. Daniel war ein gebrochener Mann, als er Erics Leichnam nach Hause trug. Er hat sich für den Tod seines Bruders verantwortlich gefühlt. Es hat ihm wie eine schwere Last auf der Seele gelegen. Er konnte nicht essen, nicht schlafen. Es hat drei Tage gedauert, nach Port Royal zu segeln, und Daniel hat diese Tage an der Seite seines Bruders verbracht.«
Man konnte die Stille beinahe mit Händen greifen. Es fiel Alicia leicht, sich das Bild vorzustellen. Leicht, aber es war dennoch herzzerreißend. Wie musste sich Daniel wohl gefühlt haben?
Blake drehte sich zu Alicia um, und seine Augen spiegelten eine solche Qual wider, wie sie es noch nie gesehen hatte.
»Was ist dann passiert?«, fragte sie.
»Das Schlimmste, was Daniel je tun musste, war, Eric ins Haus zu tragen. Anna hat geweint, sich an Erics leblose Hand geklammert. Jacob hat Daniel nicht einmal angesehen.«
Blake drehte sich wieder um, um aus dem Fenster zu sehen, doch Alicia wusste, er sah das Wasser hinter der Fensterscheibe gar nicht.
»Daniel hat versucht zu erklären, aber Jacob wollte nichts hören, und Anna war zu verzweifelt, um zuzuhören. Ihr Weinen hat Daniel das Herz gebrochen.«
»Es war ein Unfall.«
»Nun, das würdest du nach Jacobs Reaktion wohl nicht annehmen. Er hat Daniel erklärt, dass er die Familie zerstört habe und man ihm das niemals vergeben würde.«
»Was hat Anna gesagt?«
»Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass sie den Streit gehört hat. Ihre Aufmerksamkeit war ausschließlich auf Eric gerichtet. Sie weinte über seinem Leichnam, berührte sein Gesicht …« Blake kniff die Augen zusammen. »Daniel konnte es nicht ertragen, Anna so aufgewühlt zu sehen und ging nach draußen an die frische Luft. Jacob ist ihm gefolgt. Er hat Daniel geradeheraus gesagt, was er von ihm hielt und was er ihnen angetan hatte. Er hat zu ihm gesagt, er solle nie wieder zurückkommen.«
»Und Daniel hat das einfach akzeptiert?«
Blake öffnete die Augen und blickte sie fest an. »Nein. Er ist bis zur Beerdigung geblieben, aber nicht im Haus. Jacob hatte es verboten. Aber er ging zur Beerdigung, zollte seinen Respekt. Er ging eines Nachts zu Anna, als Jacob schlief. Daniel und Anna haben ein gutes Gespräch geführt. Sie hat ihm nie die Schuld gegeben, aber bis zum Tag, an dem er starb, hat Jacob Daniel weiterhin dafür verantwortlich gemacht. Deshalb ist Daniel niemals zurückgekehrt.«
Alicias Herz verkrampfte sich angesichts all des Leides, das der Familie Davidson widerfahren war.
»Anna hat ihn so sehr vermisst. Sie hätte alles dafür gegeben, ihn wiederzusehen.«
Blake drehte sich zu Alicia um und seine braunen Augen waren nass.
»Es hat Daniel beinahe umgebracht, von ihr getrennt zu sein. Er hat sie aus ganzem Herzen vermisst.«
Plötzlich ergab alles einen Sinn, und die fehlenden Bruchstücke, auf die sie gehofft hatte, waren nunmehr ein Gift, das alles zerstörte, was ihr lieb war. Die Wahrheit drehte ihr den Magen um.
»Du hast deinen Namen geändert.«
»Daniel war niemals so, wie ich wirklich bin, sondern so, wie mein Vater mich haben wollte. Jacob wollte mich an die Schmiedewerkstatt binden, wollte, dass ich so wäre wie Eric, der die Werkstatt ebenso liebte wie er. Aber so war ich nicht, und Jacob ließ mich wissen, dass es meine Selbstsucht war, die zu Erics Tod geführt hatte.
Also habe ich meinen zweiten Vornamen und den Mädchennamen meiner Großmutter mütterlicherseits angenommen. Ich wollte ebenso wenig mit Jacob zu tun haben, wie er mit mir. Ich ging, und mit Ausnahme seiner Beerdigung bin ich nie wieder zurückgekehrt.«
»Erinnere ich mich deshalb nicht daran, dich auf Annas Beisetzung gesehen zu haben?«
»Jacob wusste, dass ich für sie zurückkommen würde. Er hat an der Hafenanlage auf mich gewartet. Er hat mir erklärt, ich hätte Annas Herz gebrochen und dass ich nicht verdienen würde, an ihr Grab zu gehen. Er hat gesagt, in Port Royal wäre kein Platz mehr für mich.«
»Aber du bist sein Sohn«, flüsterte Alicia.
Die Wut, die ihn eben noch hatte explodieren lassen, war nunmehr verflogen, und Blakes Schultern sanken herab, genau wie seine Stimme es tat.
»Nein, das bin ich nicht. Nicht mehr. Selbst bevor Jacob gestorben ist, war er ebenso tot für mich, wie ich es für ihn war.«