Fünfzehn

Die Signora von oben ist sich immer noch nicht sicher, ob etwas zwischen ihrem Mann und der Signora von unten war, und zwar weil sie es sich ganz einfach nicht vorstellen kann. Vielleicht klopft sie deswegen in letzter Zeit öfter an Annas Wohnungstür, weil sie sich von ihren Zweifeln befreien und endlich Klarheit haben will. Aber Anna öffnet ihr nie, und wenn die Vorhänge gerade nicht vorgezogen sind – man kann ja nicht ständig das Licht anhaben –, versteckt sie sich hinter einem Möbelstück.

Dann kommt Mrs. Johnson zu mir, und ich hüte mich davor, sie in die Küche zu bitten, von wo aus man wunderbar sehen kann, ob Anna zu Hause ist, wenn sie glaubt, die Luft sei rein.

Mrs. Johnson spricht unentwegt von Paris. Davon, welch schöne Zeit sie dort verbrachten, wie viel Erfolg ihr Mann gehabt hätte, wenn sie dort geblieben wären. Aber er wollte stattdessen nach Sardinien zurück, das in ihren Augen nur zum Urlaubmachen taugt.

Als ich neulich bei Anna war und direkt an der Verandatür des Buckingham Palace stand, erschien Mrs. Johnson unverhofft und entdeckte uns, sodass Anna nicht mehr weglaufen oder sich verstecken konnte. Wir unterhielten uns, und natürlich redete Mrs. Johnson wieder davon, wie fade das Leben hier sei und wie schön es dagegen in Paris war. Anna bekam einen solchen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Signora von oben, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber sie hörte doch zu, weil Paris nun mal Paris ist. Am liebsten hätte sie Mrs. Johnson erzählt, dass auch sie die Dächer und Schornsteine gesehen hat, die die Schieferfarbe des Himmels angenommen haben, aber sie wollte sie nicht verletzen, denn was konnte diese arme Frau – mischinedda – dafür, dass sie so völlig anders war als ihr Mann? Und so blieb Paris ganz den geheimnisvollen Worten von Mrs. Johnson überlassen, die, wie sie erzählte, zum Abendessen oft soupe à l’oignon kocht, eine einfache Zwiebelsuppe. »Ach, eine soupe à l’oignon«, sagte Anna seufzend, »eine soupe à l’oignon!« Sie sprachen auch über den Wind – in Cagliari ist der Wind ein ebenso wichtiges Gesprächsthema wie in London das Wetter. Anna sagte, sie könne niemals an einem Ort wohnen, wo die zum Trocknen aufgehängte Wäsche nicht im Wind flattert. Mrs. Johnson hingegen erträgt den Wind nicht, weil er alles durcheinanderbringt.

Mrs. Johnson hat offensichtlich den herrschaftlichen Haupteingang zur Straße hin vergessen, weil sie jetzt nur noch den Hintereingang über den Innenhof benutzt. So kommt sie unweigerlich an Annas Wohnungstür vorbei und macht jedes Mal davor halt, aber statt sie hereinzubitten, lassen Mutter und Tochter sie meistens auf dem Treppenabsatz stehen. Wenn ich in diesen Momenten zufällig bei Anna bin und sehe, wie Mrs. Johnson dann weiter die Treppe hochgeht, sehen Anna und ich uns mit einem Ausdruck an, als wollten wir sagen, dass Mrs. Johnson im Grunde gar nicht so hassenswert ist. Einmal sang sie uns sogar ein französisches Chanson vor, ›Milord‹ von Edith Piaf, und auch wenn ich es ein bisschen lächerlich fand, war es irgendwie doch anrührend, und da Anna das Lied ebenfalls auswendig kennt, allerdings auf Italienisch – es war zu der Zeit der beiden Frauen ein großer Hit –, sangen sie gemeinsam: »Vieni con mee Miilord, vieni con mee Miilord! La la la la la larallalala!«

Inzwischen glaube ich, wenn man will, dass ein Mensch einem unsympathisch bleibt, muss man um jeden Preis verhindern, dass man ihn näher kennenlernt.

Mrs. Johnson zum Beispiel ist gar nicht böse, sie ist einfach nur eine Signora mit gesundem Menschenverstand. Wobei ich nicht unbedingt eine Verfechterin des gesunden Menschenverstands bin. Als ich die Grundschule und später die Mittelschule besuchte, verboten alle Eltern mit gesundem Menschenverstand ihren Kindern, Hausaufgaben mit mir zu machen, aus Angst, sie könnten sich bei mir anstecken. Erst auf dem Gymnasium änderte sich das, vor allem im letzten Schuljahr, als wir all diese Schriftsteller und Dichter durchnahmen, die geisteskrank geworden waren und sich umgebracht hatten und für die wir uns dennoch begeisterten. Damals fand ich ein paar Freunde, freilich ein bisschen spät, denn inzwischen hatte ich mich mit dem Gedanken abgefunden, als Abschaum zu gelten und eine Ausgestoßene zu sein. Wie dem auch sei, diese Schriftsteller taten mir gut, und aus lauter Dankbarkeit beschloss ich, Literaturwissenschaft zu studieren statt Botanik, ein Fach, in dem ich wegen unseres Gartens wirklich sehr beschlagen bin.

Und so kommt es, dass alles wieder wie vorher ist. Mrs. Johnson wohnt im oberen Stock und Anna im unteren.

Wenn Giovannino Hausaufgaben macht, legt Mrs. Johnson den Zeigefinger an die Lippen und macht »Pst!«, denn sie will, dass es absolut still ist. Dabei stört es Giovannino nicht einmal, wenn der Staubsauger eingeschaltet ist, weil er sich mit dem Lernen schon immer leichtgetan hat. Aber Johnson junior erzählte mir, dass Mrs. Johnson ihn manchmal, auch wenn sie kurz zuvor noch »Pst!« gemacht hat, wegen eines nichtigen Grunds anschreit, worauf er die Tür hinter sich zuschlägt und die Treppe hinunterrennt. Am nächsten Tag erzählt uns Mrs. Johnson dann womöglich, dass er aus Versehen etwas kaputt gemacht hat, etwas, was sie nicht ertrage, also könne auch nicht von einem nichtigen Grund die Rede sein.

Als Johnson junior noch allein mit seinem Vater wohnte und es ihm passierte, dass er einen Teller fallen ließ, sagte er einfach nur zu ihm: »I have broken a dish.«

Worauf der Vater erwiderte: »Really?«

Johnson junior ist ein solcher Gewohnheitsmensch, dass man selbst nicht umhinkommt, sich an seine Gewohnheiten zu gewöhnen, zum Beispiel dass er es nie versäumt, einem Gute Nacht zu sagen. Also erwartet man es auch und verlässt sich darauf, dass sein Gute-Nacht-Gruß pünktlich bei Einbruch der Nacht erfolgt.

Wenn man dann eines schönen Tages, oder besser gesagt eines schlechten Tages, vergeblich auf seinen Gruß wartet, zerbricht man sich den Kopf, aber man darf Johnson junior keinesfalls darauf ansprechen, weil er es nicht ertragen würde, für einen Gewohnheitsmenschen gehalten zu werden.

Als wir einmal verabredet waren und ich ihn auf dem Handy anrufen wollte, nahm er nicht ab. Mit einem unguten Gefühl im Bauch ging ich nach Hause und klingelte bei den Johnsons, aber niemand wusste, wo er war. Ich fragte Giovannino, ob er mit mir nach ihm suchen wolle, und gemeinsam durchstreiften wir das ganze Viertel, während ich es immer wieder verzweifelt auf dem Handy von Johnson junior probierte, jedoch vergeblich. Giovannino meinte, dass sein Vater wahrscheinlich am Hafen sei.

Es war ein Frühlingsnachmittag, aber das Wetter war alles andere als frühlingshaft, es nieselte und die Luft war feucht und klebrig. Vor einer zum Auslaufen bereiten Fähre hatte sich eine Autoschlange gebildet, und plötzlich sah ich Johnson junior neben einem Wagen stehen.

»Da ist Omar!«, rief Giovannino aufgeregt. »Dort, in dem Auto!«

Mit entschiedener Geste ließ er meine Hand los, als wollte er zu ihnen laufen. Doch im nächsten Moment ergriff er sie wieder, mit ebenso entschiedener Geste, als hätte er es sich anders überlegt. Dabei sah er mich besorgt an, ja fast ein wenig zärtlich oder gar mitleidig, wie mir schien.

Sein Vater und der junge Mann in dem Wagen betrachteten einander schweigend, und auf dem Gesicht von Johnson junior lag ein Ausdruck stummer Verzweiflung. Plötzlich stieg der junge Mann aus dem Wagen, stürzte zu ihm und umarmte ihn, und die beiden küssten sich auf den Mund, und ich begriff, dass ich mich die ganze Zeit geirrt hatte: Omar war nicht der Hässliche, sondern der wunderschöne Engel, den ich für Nataschas Verlobten gehalten hatte.

Und so löste sich alles in Luft auf, wie wenn man aus einem schönen Traum erwacht. Ich stand da wie angewurzelt, wie wenn man zusehen muss, wie ein Schiff untergeht, nachdem man vorher alles Menschenmögliche versucht hat, es zu retten.

Unterdessen hatte es richtig zu regnen angefangen, aber ich war unfähig, den Schirm aufzuspannen. Giovannino spannte ihn auf, mit der freien Hand, denn mit der anderen hielt er meine Hand ganz fest.

Schließlich löste sich sein Vater von Omar und kam auf uns zu. Als er mich so dastehen sah, wurde er fuchsteufelswild und packte mich am Arm.

»Wage es ja nicht, meinen Sohn mit deiner Angst, verlassen zu werden, zu zerstören. Es gibt keinen Grund, mir nachzuspionieren. Ich werde mich nicht aus dem Staub machen. Ich bin nicht wie deine Eltern. Ich bin ein zufriedener Mensch und richte keine Tragödien an, ich werde mich bestimmt nicht umbringen.«

»Lass sie in Ruhe! Sie zerstört niemanden!«

Giovannino schlug ihm auf den Arm.

Daraufhin fuhr sein Vater in sanfterem Ton fort:

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Mir stößt nichts zu. Ich bin ein fröhlicher, heiterer Mensch, weil ich mein Leben, so gut ich es vermag, lebe.«

Noch lange streifte ich allein im Regen umher, um bis auf die Haut nass zu werden und mir eine Lungenentzündung zu holen. Dann wieder überlegte ich, ob ich zum Hafen zurücklaufen sollte, um mich ins Wasser zu stürzen und mit den Kleidern irgendwo hängen zu bleiben und unterzugehen wie mein Traum.

Erst spät in der Nacht kehrte ich nach Hause zurück und fand eine Nachricht von Johnson junior vor, die er unter der Tür hindurchgeschoben hatte: »Siehst du, Pasticcio, sogar dieser graue, feuchte, triste Nachmittag ist zu Ende gegangen, und siehst du, wie am Himmel die Sterne aus dem Dunst hervorgetreten sind? Was du heute Nachmittag erlebt hast, war die tragische Seite des Lebens. Aber jetzt bist du schon wieder auf der anderen.«



In den folgenden Tagen hörte man von oben ein ständiges Türenschlagen. Mrs. Johnson und ihr Sohn lieferten sich offenbar einen Wettstreit darin, wer sie noch lauter zuschlagen konnte. Unterdessen bemühten sich Johnson senior und Giovannino, die beiden zu beruhigen.

Wenn Johnson junior schon auf der Treppe nach unten war, riss seine Mutter die Tür auf, die er gerade zugeschlagen hatte, und aus der Antwort von Johnson junior konnte man schließen, dass sie ihm mit zusammengebissenen Zähnen eine Beleidigung hinterhergeschickt hatte, denn er sagte: »Was hast du gesagt, was ich bin?«

»Du hast schon richtig gehört!«

Vor einigen Tagen fuhr er mit Giovannino weg.

Am selben Tag wurde Anna klar, dass sie nicht mehr arbeiten konnte.

Zum ersten Mal erlebte ich, dass es ihr wirklich schlecht ging. Um sich herum die Einkaufstüten auf dem Boden verstreut, ließ sie sich in einen Sessel fallen und schaffte es nicht mehr aufzustehen. Immer wieder versuchte sie es, um erneut in den Sessel zurückzusinken.

»Du musst unbedingt Natascha davon überzeugen, dass ich auf keinen Fall operiert werden will. Du darfst es nicht zulassen, dass man mich ins Krankenhaus bringt, versprichst du es? Ich will nicht um jeden Preis länger leben. Diejenigen, die einen um jeden Preis am Leben halten wollen, sind gefährlicher als alle Krankheiten.«

Wenn ich jetzt höre, wie sich Mrs. Johnson in ihren Chanel-Schuhen meiner Wohnungstür nähert und klingelt, öffne ich nicht. Im Grunde meines Herzens gebe ich ihr die Schuld für Annas Zusammenbruch und nehme es ihr übel, dass sie Johnson junior mit Giovannino in die Flucht getrieben hat.

Aber eines Tages hörte sie nicht mehr auf zu klingeln. Schließlich machte ich auf, blieb jedoch auf der Schwelle stehen, statt sie hereinzubitten.

»Mir ist natürlich klar, dass ich für alle die Böse bin«, sagte sie. »Die böse Ehefrau, die ihren Mann verlassen und Sohn und Enkel aus dem Haus getrieben hat. Wenn der Mann mit seinen über siebzig Jahren plötzlich meint, noch mal jung zu sein, und sich, kaum ist die Frau aus dem Haus, eine andere nimmt, was soll’s. Wie soll man da nicht vor Kummer verrückt werden oder sich gar umbringen! Und wenn der eigene Sohn, der homosexuell ist, sich mit einem Mal in den Kopf gesetzt hat, Vater zu werden, und weil das in Italien nicht möglich ist, nach Amerika geht und dort sein Sperma einfrieren lässt und sich eine Leihmutter für hunderttausend Euro leistet, was soll’s. Wobei man wissen muss, dass diese hunderttausend Euro ein Teil des Verkaufserlöses unserer Wohnung in Paris waren. Der direkt an den Tuilerien gelegenen Wohnung der bösen Mutter. Was sagst du dazu? Mein Sohn ist der einzige Homosexuelle, der eine schlechte Beziehung zu seiner Mutter und eine hervorragende zu seinem Vater hat. Wo doch in sämtlichen Studien zu diesem Thema immerzu das hervorragende Verhältnis zur Mutter und das schwierige Verhältnis zum Vater herausgestellt wird. Und ausgerechnet ich musste einen Sohn bekommen, der die Ausnahme von der Regel ist. Und es gibt keine Studie über das Altern des Mannes, in der nicht die Rede davon ist, dass die meisten Männer jenseits der fünfundsechzig Potenzprobleme wegen einer Prostataentzündung haben. Mein Mann hingegen ist, nachdem er die fünfundsechzig überschritten hatte, erst richtig aufgewacht. Zuvor ein ganz normaler, ruhiger Mann, hat er sich in einen Sexbesessenen verwandelt. Auch eine Ausnahme von der Regel, und wieder muss sie mich treffen. Es war schon immer so, immer passieren diese Dinge mir. Oder gibt es vielleicht noch eine reiche Sardin, die sich in einen armen Amerikaner verguckt hat?«

Nun bat ich Mrs. Johnson doch herein und warf mich in einen Sessel.

Auch Mrs. Johnson sank in einen Sessel und fuhr dann in ihrem Monolog fort.

»Der arme Giovannino, wer wird ihn je zu sich nach Hause einladen, ihn zum Freund haben wollen? Was für eine Kindheit wird ihm jetzt noch bevorstehen? Die eines Ausgestoßenen. Wie Abschaum wird man ihn behandeln. Die Kindheit eines Jungen, der von zwei Homosexuellen aufgezogen wird wie der kleine Tarzan von Schimpansen.«

Ihre Verzweiflung berührte mich ebenfalls, aber gleichzeitig wusste ich, dass das nicht stimmt, denn erstens sind Homosexuelle keine Schimpansen, und zweitens können auch Kinder von Heterosexuellen Ausgestoßene sein und wie Abschaum behandelt werden. Außerdem gibt es kein Kind, das so oft eingeladen wird und das so beliebt in der Schule ist wie Giovannino. Man setzt die hoffnungslosesten Fälle seiner Klasse, die ungezogensten Bengel neben ihn, Jungs, die nur mit Giovannino klarkommen, und immer wieder sagen die Eltern zur Lehrerin: »Könnten Sie unseren Sohn nicht neben Giovannino setzen?«

Unterdessen fuhr Mrs. John in ihrer Alleinunterhaltung fort, indem sie sich über ihren Sohn und dessen Pariser Freund ausließ.

»Er hat mir Paris gehörig vergällt. Allein schon die Erwähnung dieser Stadt ertrage ich nicht mehr. Unsere schöne Wohnung zu verkaufen, nur um auf Teufel komm raus ein Kind zu bekommen. Das zum Unglücklichsein verdammt ist. Jetzt hat er eine andere Wohnung gekauft, in der Banlieue.

Früher freute ich mich so an dem Lichtschein, den unsere hell erleuchteten Fenster auf den Hof warfen, aber jetzt macht es mich traurig, mir scheint, als würden sich alle einsam fühlen in dem künstlichen Licht, das die Dunkelheit zerteilt. Nicht einmal mehr Paris fasziniert mich, wobei ich zugebe, dass Giovannino es schon wert ist, eine Wohnung an den Tuilerien zu verkaufen.«

Seit ein paar Tagen sind Johnson junior und Giovannino wieder zurück. Der Vater erzählte, da der Kleine ihm ein bisschen erschöpft vorgekommen sei, wollte er ihm ein paar Tage Ferien von der Schule gönnen und, vor allem, ihn eine Zeit lang den Klauen der Großmutter entziehen. Aber da das Schuljahr noch nicht zu Ende ist und Giovannino wegen seines ausgeprägten Pflichtbewusstseins ein schlechtes Gewissen hatte, beschloss er, mit ihm zurückzukehren.

Seitdem schaut Johnson junior jeden Tag bei Annina vorbei, und ich sehe von meinem Fenster aus, wie er heftig gestikulierend auf sie einredet; bestimmt will er sie überzeugen, dass alles gut wird. Wenn alle Stricke reißen, auch mithilfe eines Schutzengels. Das wäre ja gelacht. Er hatte schon immer großes Vertrauen in Schutzengel, und der beste Beweis, dass es sie gibt, ist für ihn sein Vater, für den Johnson junior große Bewunderung hegt. Dessen Schutzengel ist ihm zufolge der fähigste, aber bestimmt auch der am meisten gestresste, wenn man bedenkt, dass er pausenlos im Einsatz ist, um die Zerstreutheit seines geliebten Schützlings Levi Johnson wettzumachen, auch wenn dieser nicht Christ, sondern Jude ist.

»Ach, was weiß jemand, der nie in die Kirche geht und so respektlos ist wie du, denn schon von Engeln!«, erwidert Anna dann.

»Vielleicht gehe ich nicht in die Kirche, weil sie selbst Gottes Gebote nicht respektiert? Der Kirche mangelt es an Achtung!«

Zuerst dachte ich, Johnson junior wolle Annina überzeugen, dass ihr noch ein langes Leben bevorsteht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Er bereitet sie auf den Tod vor. Annina hat Angst, dass es das Jenseits gar nicht gibt. Jetzt, da sie nicht mehr arbeitet, hat sie Zeit zum Lesen, und in einer Zeitschrift stand, dass wir Menschen Gott nur erfunden hätten, weil wir den Gedanken an den Tod nicht ertragen. Und Annina findet, dass das gar nicht so abwegig ist, wenn man bedenkt, dass wir Menschen in der Lage sind, alles, was uns nützlich scheint, zu erfinden. War es nicht so mit dem Feuer, der Landwirtschaft, der Schrift, den Autos? Wieso also nicht auch mit Gott? Johnson junior, der von der Existenz Gottes überzeugt ist, widerlegte sie Punkt für Punkt. Ihm zufolge stimmt es zwar, dass die Menschen erfinden, was sie brauchen, aber bei näherer Betrachtung haben sie im Grunde nichts erfunden, was im Ansatz nicht schon da gewesen wäre. Wuchsen die Pflanzen nicht auch schon, bevor der Mensch anfing, sie anzubauen? Erzeugt nicht auch ein Blitzeinschlag Feuer? Und war die Sprache nicht lange vor Erfindung der Schrift da? Und die Kohle nicht lange vor der Erfindung der Dampfmaschine? Gut, räumte er ein, die Menschen erfinden zwar immer wieder etwas, jedoch nicht aus dem Nichts. Und weil wir Gott, lautete seine Schlussfolgerung, nicht aus dem Nichts erfunden haben können, muss er schon da gewesen sein, bevor wir ihn erfanden. Also existiert er auch!

Seit Anna ans Bett gebunden ist, liest sie nicht nur, sondern hält uns mächtig auf Trab. Ständig sagt sie: Hol mir dies, hol mir das.

Deswegen habe ich ausgiebig Gelegenheit, in der Holztruhe mit den Märchenbüchern zu stöbern, und neulich entdeckt, dass Anna auch die Pornohefte dort aufbewahrt, zusammen mit der Reizwäsche, die sie anscheinend nach Gebrauch wieder in die Verpackungen zurückgesteckt hat.

Der Gedanke an Anna und ihre Reizwäsche, die jetzt zusammen mit den Märchenbüchern in der Holztruhe liegt, geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Denn das bedeutet, dass Anna tatsächlich diese Sachen gemacht hat, die auf den Abbildungen in den Pornoheften.

Hat sie es getan, um oben wohnen zu können?, frage ich mich. Und Johnson senior, hat er es nur gemacht, weil sie sich kostenlos zur Verfügung stellte?

Nein. Ich glaube nicht, dass sie Sex hatten, ohne dass auch ein bisschen Liebe dabei war. Johnson junior hat schon recht, dass es Sex ohne Liebe nicht gibt. Ihm zufolge reicht es, dass einer der beiden Beteiligten verliebt ist, und schon ist Liebe dabei.

Oft sagt er sinngemäß: »Viele denken, dass für uns Homosexuelle, nur weil wir uns nicht fortpflanzen, Sex nur ein Spiel ist. Aber wenn ich Sex habe, dann bin ich mit ganzem Herzen dabei, und das war schon immer so. Ich habe nur Sex, wenn ich verliebt bin. Auch du, Pasticcio, solltest es nur machen, wenn es für dich etwas ganz Großartiges bedeutet. Ansonsten mach es dir selbst. Du weißt doch, wovon ich rede, oder? Bestimmt hast du dir schon oft zu helfen gewusst.«

Inzwischen ist Anna ganz verwelkt, ihre Brüste sind verschrumpelt, nur ihr Blick ist immer noch strahlend, auch wenn sie einen aus tief verschatteten Augen ansieht.

Wie damals, als sie noch ein kleines Kind war, stehen ihr jetzt die Elefantenmütter aus der Marina wieder bei. Jeden Tag kommen sie, um zu waschen, zu bügeln, zu kochen, kurz und gut, um auf ihre jeweilige Art zu helfen, was bedeutet, dass Anna auf alle möglichen Arten und Weisen der Welt Hilfe zuteil wird.

Und ich bemühe mich, immer eine fröhliche Miene aufzusetzen, um sie ein wenig aufzumuntern, und wir lächeln uns schweigend an.

»Ich werde über dich schreiben«, sagte ich neulich zu ihr.

»Prima, dann werde ich nie sterben. Ach, unsterblich werden, wie wunderbar!«

»Ich werde einen Roman mit einem Happy End über dich schreiben.«

»Hast du nicht immer nur Gedichte verfasst?«

»Ja, aber inzwischen bin ich zur Prosa übergegangen. Und in meinem Roman wirst du dich rächen, und Johnson senior wird seine Frau verlassen und auf seine Wohnung und alle Annehmlichkeiten des Lebens verzichten, nur um mit dir zusammen zu sein. Er wird völlig überraschend hier auftauchen, mit nichts als einem Koffer und der Geige, und zu dir sagen, dass er dich liebt und dass die Liebe mehr zählt als alles andere. Und ihr werdet bis ans Ende eurer Tage glücklich zusammen sein.«

»Ach, was für ein Schatz du bist! Und was für ein großartiger Roman das werden wird. Aber damit ich mich wirklich rächen kann, müsstest du eine Geschichte schreiben, die nicht wahr ist, es jedoch sein könnte.«

»Sicher: ein bisschen Wirklichkeit und ein bisschen Fantasie, von beidem etwas. Aber ist so nicht auch das Leben? Was täten wir ohne Fantasie? Und auf der anderen Seite: Wie könnten wir uns aus dem Nichts etwas ausdenken?«

»Wie schlau du bist! Nur beeil dich bitte mit dem Schreiben, damit ich deinen wunderschönen Roman noch lesen kann. Sicher, die Menschen haben die Romane erfunden, so wie sie sich vielleicht auch den lieben Gott erfunden haben, aber es sind zwei wunderschöne Erfindungen, findest du nicht auch?«