Zehn
Weil Anna unbedingt Mama kennenlernen wollte, fuhr ich mit ihr in unser Dorf.
Sie war fasziniert von der hohen Gartenmauer, von den Bäumen, die ihre ausladenden Zweige über die Straße wölben, von den ersten Farben des Frühlings, den eleganten Möbeln und dem feinen Geschirr, worin das Mädchen, das sich um meine Mutter kümmert, uns Tee servierte. Aber am meisten von Mamas vornehmer Schönheit.
Anna unterhielt sich lange und ausgiebig mit Mama. Sie sagte zu ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, es gehe mir in Cagliari gut und mir könne nichts zustoßen, weil sie, Anna, sich bemühe, mir ein Mutterersatz zu sein, natürlich nicht im emotionalen Sinn, Gott behüte, denn eine Mutter könne niemand ersetzen, aber im praktischen Sinn. Egal, was passiere, ich wüsste immer, an wen ich mich wenden könne. Und da ich ein so liebenswürdiges, gutes und hübsches Mädchen sei, sei es ihr ein Vergnügen, sich ein bisschen um mich zu kümmern. Dann erzählte Annina von unserem Haus und seinen Bewohnern, und ihre Beschreibungen hatten etwas sehr Heiteres und Beruhigendes. Hin und wieder unterbrach sie sich, um Mama die Gelegenheit zu geben, auch etwas zu sagen. Mama begriff das und sagte bei jeder Pause, die Annina machte: »Sie sind sehr nett.« Auch wenn es nicht im Geringsten in den Zusammenhang passte, sagte sie: »Sie sind sehr nett.« Zum Beispiel, als Anna ihr ihre Arbeit im Obergeschoss beschrieb und wie viel Spaß sie ihr bereite, oder die Schiffe, die wie in Zeitlupe in den Hafen einlaufen, bis sie die gesamte Breite der Fenster ausfüllen. Und auch als sie von Natascha erzählte und davon, wie alt sie ist und dass sie ihr Studium mit summa cum laude abgeschlossen hat und jetzt als Verkäuferin arbeitet – »aber was will man machen, so sind nun mal die Zeiten« –, lautete Mamas Kommentar: »Sie sind sehr nett.«
»Ach, das hat richtig gutgetan!«, sagte Annina zu mir, als wir mit dem Bus zurückfuhren.
»Du hast doch die ganze Unterhaltung allein bestritten!«
»Nein, das stimmt nicht. Deine Mama – Ofelia, was für ein wunderschöner Name, wirklich, endlich mal ein wirklich schöner Name – hat sich auch daran beteiligt. Ich bin sicher, dass sie sich in Zukunft weniger Sorgen um dich macht, denn jetzt weiß sie, dass du Freunde hast.«
»Mama ist immer in Sorge, aber wegen Dingen, die es gar nicht gibt, sie hat völlig den Bezug zur Wirklichkeit verloren.«
»Wenn du willst, komme ich wieder mit, wenn du Ofelia das nächste Mal besuchst. Wir könnten gemeinsam singen, du, Ofelia und ich. Vielleicht werden wir sogar berühmt. Weißt du, ich habe gehört, dass man Geisteskranke mit Theaterspielen, Kinobesuchen, Musik und solchen Sachen behandelt.«
Und so fahren wir jetzt häufig mit dem Bus aufs Land. Unterdessen legt sich der Frühling ins Zeug. Die Straßenränder verfärben sich gelb von den herabfallenden Blüten der Mimosen und des Ginsters, und abends auf der Heimfahrt vermischt sich das Azurblau der Felder mit dem des Himmels.
Obwohl Mama einige Jahre jünger ist als Annina, kennt auch sie ihre Lieblingslieder. Ich bin überrascht, weil Mama nicht nur die Melodie beherrscht, sondern auch einen englischen Text auswendig mitsingen kann. Und wenn Annina mal wieder einen Fehler macht, korrigiert Mama sie, und es scheint fast, als würden sie Anninas Schnitzer amüsieren.
»Und wenn sie nur so tut, als wäre sie verrückt?«, fragte ich Annina.
»Ob sie nur so tut oder es wirklich ist, was spielt das schon für eine Rolle. Aber weißt du, was mit deiner Mutter passiert ist? Irgendwann hat sie sich zu klein gefühlt für das, was ihr zugestoßen ist – ich meine die Geschichte zwischen deinem Vater und dieser Schülerin. Manchmal wächst einem das Leben über den Kopf. Da hat sie, genau wie die kleinen Kinder es tun, verzweifelt zu weinen begonnen, bis sie einschlief, und ist bis heute nicht mehr erwacht. Und wenn du mich fragst, hat sie genau das Richtige getan.«
»Anna, mir ist jetzt klar, was so besonders an dir ist«, sagte ich, als hätte ich soeben eine große Entdeckung gemacht. »Meine Mutter hat recht, du bist wirklich nett; ich kenne keinen Menschen, der so liebenswürdig ist wie du.«
Mittlerweile fühle ich mich sehr wohl in Cagliari und will genau wie Giovannino nicht mehr von hier fort. Es stimmt, was er sagt, dass die Luft in Cagliari so gut duftet, sogar in der Marina, wo es nicht nur nach Salz und Teer riecht, sondern auch nach Tomatensoße und Frittiertem, als wollten einen die Bootsbesitzer einladen, an Bord zu kommen und Tintenfischringe mit ihnen zu essen.
Auch das Meer ist für mich genauso wie für Giovannino. Er liebt es allerdings aus anderen Gründen als andere Kinder. Wenn ich ihn zum Poetto-Strand mitnehme, begnügt er sich mit ganz unspektakulären Dingen. Zwar läuft er ebenfalls herum, aber anders, als ich es als Kind tat: Ich erinnere mich, wie ich mir vorstellte, ich müsste vor etwas Schlimmem fliehen, damit ich noch schneller rennen konnte. Doch er läuft so, als hätte er etwas Schönes entdeckt, das er gern erreichen möchte. Er läuft fröhlich über den Sand, und es ist eine wahre Freude, ihn dabeizuhaben. In der restlichen Zeit beobachtet er das Meer, so wie er die Menschen beobachtet. Wenn wir zusammen am Strand spazieren, ist jeder von uns in seine Gedanken versunken. Bis er unvermittelt stehen bleibt und mich fragt, ob ich nicht auch finde, dass die Wellen an diesem Tag hauchdünn sind und ein freches Geräusch machen oder dass das Meer wie von Lamé überzogen scheint.
Immer wieder will ich von ihm wissen, warum ihm Cagliari so gut gefällt.
»Weil das Meer mittendrin ist«, antwortet er bestimmt. »Weil es von allen Städten die schönste ist.«
»Ach komm!«, sage ich mit gespielter Empörung und gebe ihm einen kleinen Stups. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass es schöner als Paris oder New York ist.«
»Cagliari ist von allen Städten die schönste. Und wenn Papa in einem Jahr wegzieht, gehe ich nicht mit ihm, sondern bleibe hier.«
»Ohne deinen Vater? Magst du Cagliari lieber als deinen Vater?«
»Ich gehe nicht mehr weg. Ich bleibe hier.«
Dann spazieren wir weiter, und ich nehme mir vor, ihm nie wieder solche Fragen zu stellen. Für Giovannino ist die Welt gut so, wie sie ist.
Johnson junior meint, wenn man Kinder in die Welt setzt, darf man nicht einmal im Traum daran denken, verrückt zu werden oder sich umzubringen, und meinem Vater hätte man einen ordentlichen Fausthieb versetzen sollen, bevor er sich an der Decke aufhängte, und meiner Mutter eine saftige Ohrfeige, bevor sie sich in den Wahnsinn flüchtete.
Er meint, ich solle nicht mehr an sie denken, sie seien einfach wehrlos gegenüber dem Leben gewesen. Wir Menschen seien nun einmal nicht, wie die anderen uns gern hätten. Daran könne man verzweifeln, ja, sogar sterben. Oder aber man akzeptiert, dass man anders gestrickt ist als andere, wie in den Kinderreimen.
In welch herrlichem Einvernehmen Johnson junior mit Johnson junior steht! Schon toll, so gut mit sich auszukommen und nicht mehr und nicht weniger sein zu wollen, als man ist.
»Kopf hoch, Pasticcio, und Rücken gerade, damit du eine große Romanschriftstellerin wirst!«
Inzwischen habe ich tatsächlich angefangen, Prosa zu schreiben, und siehe da, überall springen mir die Details ins Auge.
Mir ist klargeworden, dass dies der Beginn der Zukunft ist, und dass wir, wenn wir den Einzelheiten Beachtung schenken, womöglich verhindern können, dass es eine unglückselige Zukunft wird.
Papa hatte, bevor er starb, scheinbar sein gewohntes Leben geführt, aber wären wir aufmerksamer gewesen, wäre uns vielleicht eine Veränderung aufgefallen, zum Beispiel in der Art, wie er sich setzte. Anstatt in seinen gewohnten Sessel zu sinken und die Beine auf einem Schemel auszustrecken, setzte er sich auf einen Stuhl, verschränkte die Arme, stellte die Füße nebeneinander und neigte den Kopf leicht zur Brust.
Ob ich nun Romanschriftstellerin werde oder nicht, ich glaube, dass ich nicht für diese Welt geschaffen bin und es besser gewesen wäre, ich wäre gar nicht erst auf die Welt gekommen. Leopardi hatte recht, wenn er sagte, es sei »traurig jener Tag, der uns geboren«. Aber ich hüte mich davor, das Johnson junior zu sagen. Ich will ihn nicht enttäuschen, wo er sich so viel Mühe gibt, mich vom Gegenteil zu überzeugen.
»Was für ein Vater! Ach, er ist der geborene Vater, unser Johnson junior!«, sagt Anna. »Giovannino hat ja so ein Glück; sicher, er muss zwar ohne Mutter aufwachsen, aber sein Vater ersetzt ihm allemal das fehlende Elternteil.«
Meines Erachtens hatte mein Vater gar keine andere Wahl, nachdem Mama zu ihm gesagt hatte: »Es wäre besser, du wärst tot.« Wenn ein von mir geliebter Mensch zu mir sagen würde: »Es wäre besser, du wärst tot«, würde ich auch sterben wollen. Als ich das zu Johnson junior sagte, wurde er fuchsteufelswild und brüllte: »Weiß du, wie oft meine Mutter schon zu mir gesagt hat: ›Es wäre besser, du wärest nie geboren!‹? Und trotzdem bin ich hier, siehst du, gesund und munter und obendrein glücklicher Vater eines wunderbaren Kindes!«
Wenn ich vom Land zurückkomme, bringe ich jedes Mal Obst für die Schiffbrüchigen mit, die in der Marina gestrandet sind, und Blumen für Anna, die sie immer in die böhmische Kristallvase gibt. Anfangs brachte ich auch für Johnson junior Blumen und Obst mit, aber jetzt, da ich ihm alles über meinen Vater und meine Mutter erzählt habe, will er es nicht mehr.
»Wie alt waren deine Eltern?«, fragte er mich.
»Noch keine vierzig.«
»Also jünger als ich heute. Sie hatten noch das ganze Leben vor sich. Sie hätten sich trennen und eigenen Wege gehen können. Tut mir leid, aber diese Geschichte berührt mich nicht. Im Gegenteil, ich finde sie ärgerlich. Ich bitte dich, mir nie wieder etwas aus eurem Garten mitzubringen. Und mir nie wieder etwas von deinen Eltern und deinem Dorf zu erzählen, und auch nicht von deiner Lehrerin, die dich ›Kleiner stummer Buchstabe‹ nannte. Wenn du eines Tages eine berühmte Schriftstellerin bist, wird sie nicht ungeschoren davonkommen, denn ich werde ihr einen Besuch abstatten, sie fesseln und ihr all die Bücher in den Mund stopfen, die du veröffentlicht hast und die dich berühmt gemacht haben, und ich werde keine Ruhe geben, ehe sie sie gekaut und heruntergeschluckt hat, während ich ihr ins Ohr flüstere: ›Und, schmecken sie dir, die kleinen stummen Buchstaben, hm? Los, herunterschlucken, und zwar alle.‹«
»Ich will gar keinen Erfolg«, protestierte ich, »weil die Leute dann immer großartige Sachen von einem erwarten. Das Problem ist, dass sich kein Buch mehr mit jenem messen kann, das einen berühmt gemacht hat. Weißt du, was man von den Schriftstellern sagt, die nur mit einem einzigen Buch Erfolg hatten? Dass es scheint, als hätte die anderen ihr dummer Bruder geschrieben!«
»Na und, dann erwiderst du ihnen, dass du ein Einzelkind bist!«
Sicher, ich bin ein Einzelkind, aber mittlerweile habe ich eine zahlreiche Familie, und was macht es schon, wenn Johnson senior nicht wirklich mein Großvater, Natascha nicht wirklich meine Schwester, Anna nicht wirklich meine Mutter und Giovannino nicht wirklich mein Kind ist. Aber eines wünsche ich mir: dass Johnson junior eines Tages wirklich mein Mann wird.
Ich tue gern Dinge, die in einer Familie ganz selbstverständlich sind. Zum Beispiel zu Anna zu gehen und ihr etwas zum Stopfen zu bringen. Ich könnte dann ebenso gut wieder gehen, aber ich möchte noch ein bisschen in ihrem Schrankzimmer bleiben und dem Geräusch der Nähmaschine lauschen, während im Kochtopf auf dem Herd etwas vor sich hin köchelt und der Essensduft aus der Küche mich hungrig macht, jetzt, da ich nicht mehr so mager, ja fast magersüchtig bin wie früher, als sich Annina Sorgen wegen mir machte, und auch nicht mehr voller Ängste. Gewiss, hin und wieder denke ich noch immer, dass unser Haus in Flammen aufgehen oder es eine Gasexplosion geben könnte oder hinter dem Eingangstor Mörder lauern könnten, aber ich tue, was Johnson junior mich gelehrt hat, und rechne die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Ereignisse eintreten könnten, in Prozent aus. Denn was er sagt, leuchtet mir ein: dass in den Zeitungen über derlei Vorfälle nur deswegen berichtet wird, weil sie äußerst selten sind. Wenn dem nicht so wäre, würden die Journalisten schreiben: »Heute ist kein Wohnhaus in die Luft gegangen, hat es keine Brände gegeben und niemand ist auf der Schwelle seiner Wohnung ermordet worden.« Und das bedeutet, dass die Welt gut ist, sagt Johnson junior. Und fügt hinzu: »Prozentual gesehen.«
Nur nachts habe ich nach wie vor Angst. Deswegen schlafe ich lieber tagsüber, wenn alle anderen wach und wachsam sind. Nachts hingegen, wenn sich alle ins Land der Träume verabschiedet haben, muss ich wach und aufmerksam sein. Die Abende mag ich am liebsten. Wenn in den Küchen das Licht angeht und sich noch niemand ins Land der Träume aufgemacht hat.