MONTAG

Der Tag

Am Wochenende sind zwei Nachrichten für Sie auf dem Anrufbeantworter der Etage gelandet, sagte Herr Lasocka. (Frau Bach war dem Vernehmen nach die nächsten 4 Wochen im Urlaub. Sie hat einen Lover in Venezuela. - Frau Bach hat einen Lover in Venezuela? Was man nicht alles erfährt.)
Es sind zwei Nachrichten für mich auf dem Anrufbeantworter der Etage gelandet? Wie ist das möglich? Kopp kniff mürrisch die von Helligkeit geplagten Augen zusammen.
 
Wie nach dem uferlosen Sonntag nicht anders zu erwarten (?), hatte ihn der Montagmorgen überrumpelt. Als er erwachte, war es schon kurz vor 9 Uhr. Wie ist das möglich, wieso hat der Handywecker nicht geklingelt? Fluchend taumelte Darius Kopp aus dem Bett, taumelte ins Bad, fand dort alles erst nach mehreren Anläufen: Wo ist dies, wo ist jenes, neue Scherfolie, Zahnseide, Nasenhaarschneider, Nagelknipser, Joint (=Asthmaspray)? Fluch, das war der letzte Schuss (=die letzte Dosis), muss zum Arzt, wann soll ich das noch machen? Taumelte zurück ins Schlafzimmer, planschte blind in Schubladen herum: Schlüpfer, Socken, Unterhemd, braucht man bei der Hitze ein Unterhemd? Damen tragen Strümpfe, Männer von Welt Unterhemd? Und was ist mit dem Oberhemd?
Er fand Oberhemden, viele sogar, weiß, blau-weiß gestreift, blau, jeweils ein Dutzend Mal, aber lauter langärmelige, wo sind die kurzärmeligen? Ein Gentleman trägt keine kurzärmeligen Hemden, nicht einmal bei 40 Grad Hitze? Mir egal, bin ich eben keine Dame. Ist das gebügelt oder nicht? Im Gedränge im Schrank wieder verknittert. Sollte welche wegschmeißen. Ja, das sollte ich. Und einpaar neue kaufen. Dieses: bügeln, oder nicht bügeln?
Das Bügelbrett machte beim Aufstellen ein knatterndes Geräusch.
Schlaf weiter, Schatz, ich muss nur schnell ein Hemd bügeln.
Er war schon fast fertig, bügelte zum Abschluss noch einmal kräftig über den Kragen - Die richtige Reihenfolge beim Bügeln von Herrenhemden ist: Kragen, Manschetten, Vorderteil mit Brusttasche, Vorderteil ohne Brusttasche, Rückenteil, Ärmel, Kragen - als ihm ein Verdacht kam: Ist dieses Hemd nicht schon vergilbt?
Die untere Etage liegt vormittags im Schatten. Hinauf also auf die Terrasse, aber dort blendete die Sonne bereits zu stark. Wieder herunter. Warf das Hemd von sich, zerrte ein anderes aus dem Schrank. Ist es denn die Möglichkeit? Mit einem Mal waren gar keine Hemden mehr da! Bzw. es waren welche da, viele, aber plötzlich hatte jedes davon irgendeine Macke. Es gibt solche Momente. Da kommt das Schäbige der Dinge zum Vorschein. Vergilbt, vergraut, Manschette ausgefranst, Knopf fehlt, zu klein, Fleck auf der Brusttasche. Ich habe kein gutes Hemd mehr, Flora!
Zerrte an den Hemden, die dünnen Drahtbügel aus der Reinigung verhakten sich ineinander, er zerrte und fluchte, die Bügel schepperten, manche fielen hinunter, in den Schrank hinein, in die Untiefen, andere schleifte er selber heraus und warf sie gleich auf den Boden, ein Schwarm Papierflieger, der gelandet ist, er ging raschelnd durch ihn hindurch - endlich mit einer Beute in der Hand. Natürlich war mittlerweile aus sämtlichen Poren der Schweiß getreten, wo ist mein Schweißtuch, Flora, wo mein grünes und wo mein rotes Schweißtuch, oder wenigstens ein Handtuch. All das, selbstverständlich, nackt. Dass nackte Frauen sexy aussehen und nackte Männer komisch, ist allgemein bekannt. (Das Gebaumel!) Doch nicht mehr lange! Er wischte sich, schlüpfte ins Hemd, schlüpfte wieder heraus, Unterhemd (damit der Schweiß wenigstens nicht sofort an die Oberfläche tritt!), dann erneut raschelnd durch die am Boden liegenden Hemden - gleich, gleich hebe ich sie auf, bevor ich gehe, spätestens.
Gottverdammtnochmal! Sie setzte sich mit einem Ruck auf, riss sich die Ohropax aus den Ohren. Warum musst du das immer machen? Jeden verdammten Morgen? Warum, sag mir das! Man hört dich sogar durch die Ohropax durch! Durch die Ohropax! - In jeder Hand ein kleiner rosafarbener Klumpen, den sie ihm zeigt. - Was soll ich noch machen? Mir Blei in die Ohren gießen?
Es tut mir leid …
Ach!
Sie warf die Ohropax irgendwohin, warf die Decke irgendwohin, stürmte hinaus - Barfuß, zerzaust, wehenden Nachtkleids. Wirf mich den Löwen vor: ich finde es zauberhaft. Hoffentlich sieht sie nicht, dass ich lächeln muss … - er suchte leise (lächelnd) nach einer Krawatte, dem Schmuck des Mannes. Mit der Linken blätterte er durch die Krawatten, mit der Rechten sparte er Zeit, indem er zugleich den Kragenknopf zuknöpfte. Geht nicht. Er musste doch beide Hände einsetzen, der Knopf quälte sich knirschend durch das Knopfloch. Darius Kopp atmete erleichtert ein und merkte: da ist kein Platz. Der Knopf drückte auf den Kehlkopf, was ist passiert, bin ich schon wieder dicker geworden, nein, er hatte sich nach dem Aufstehen gewogen, unverändert 106 Kilo, also was ist das jetzt? Bin ich etwa gewachsen? Wäre das möglich, in meinem Alter? In disziplinierter Panik den Knopf wieder öffnen, dann fluchend, weil er nicht zurück will. Kopp entschloss sich zu Gewaltanwendung, was nicht seine Art ist, nie hatte er als Kind auch nur eines seiner Spielzeuge kaputt gemacht, ein Rätsel, was in anderen Kindern vorgeht, seinem Teddy sogar einen Knopf auf die Hose genäht, mit schmutzig weißem Faden, und jetzt war da wieder ein Knopf, den hatte auch jemand angenäht, und zwar so fest, dass er ihn nicht abgerissen bekam. In seiner Verwirrung fing er an, das Hemd von unten aufzuknöpfen, so rannte er die Treppe hinauf.
Flora?
Sie war nicht auf der Terrasse, nicht im Wohnzimmer, nicht in der Küche, nicht in ihrem Bad. Wo bist du? Herrje, bin ich ein Idiot, sie wird in ihrem Zimmer sein! Er rannte die Treppe wieder hinunter, das Hemd flatterte ihm an den Seiten, bis auf den Knopf ganz oben am Kragen. Flora?!
Hier, als er Flora?! rief, glitt er aus und fiel die Treppe hinunter. Er hatte Glück. Er landete auf dem Hintern, noch bevor er auf dem Ellbogen gelandet wäre und rutschte so drei oder vier Treppenstufen abwärts, bevor er anhielt.
Scheiße!!! schrie Darius Kopp. Die gefallenen Hemden brandeten aus dem Schlafzimmer in den Flur heraus, beinahe bis an seine Füße.
Floras Tür ging auf: Was treibst du da?
Als sie sah, was er trieb: Hast du dir wehgetan?
Das hatte er tatsächlich. Das Steißbein wird mehrere Tage schmerzen, aber das wird er erst auf dem Weg zur S-Bahn merken, jetzt war das Hauptproblem immer noch der Knopf.
Mit ersterbender Stimme: Ich ersticke!
Keine Panik. Sie hockte sich neben ihn und öffnete den Knopf. Ihre Finger waren kühl.
Ich bin nicht dicker geworden, um das klarzustellen. Ich habe mich gewogen. Wie kann mir das Hemd nicht passen?
Weil der Körper in der Hitze anschwillt? Oder man einen dicken Hals bekommt, wenn man sich aufregt?
Ich weiß, sagte Darius Kopp, obwohl er überhaupt nicht daran gedacht hatte.
Er saß schuldbewusst vor ihr - Was wäre ich nur ohne dich? Derselbe. Mit anderen Konsequenzen - sie nahm seinen Kopf in beide Hände, wischte den Schweiß von seiner Stirn und küsste ihn. Zuletzt auf den Mund. Ließ ihn los und lachte.
Warum lachst du?
Du bist komisch.
 
Schließlich hatte sie ihn doch irgendwie zusammengekratzt, auch er riss sich zusammen und war endlich unterwegs. Montag, ein Arbeitstag, 3x8=24, und wie viel davon schon verloren? Beim Gehen tat das Steißbein weh. Nicht immer, manchmal, ohne Regelmäßigkeit, so, dass man es zwischendurch vergessen konnte, damit man beim nächsten Mal umso unangenehmer überrascht war. Ein höhnischer Schmerz. Zudem schien auch das Hemd, das er schlussendlich angezogen hatte, am Hals zu eng zu sein. Obwohl im Grünstreifen keiner war, fühlte sich Kopp zu sehr beobachtet, als dass er sich getraut hätte, hinzufassen, lockern, in der S-Bahn dann sowieso. Ignoriere es. Denk an etwas anderes. Nutze die erhöhte Position, den Blick in fremde Höfe und Stuben, um dich von Neuem zu sortieren.
1. ,
2. ,
3. ,
Außerdem 4., endlich einen neuen VAD (Value Added Distributor) mit ein bisschen Sachverstand finden, oder wenigstens einen für Drop & Ship, damit endlich die Kartons wegkommen und man mehr Übersicht hat.
Nicht zu vergessen 5., generell Ordnung schaffen, die Abrechnungen machen, Reisen und Ausstände.
Als er auf der Rolltreppe hinauf ins Licht fuhr, war er fertig damit, aber seine Laune wollte sich immer noch nicht bessern. Das Steißbein, der Hals, der Kopf, die Fersen (die Schuhe!), überall latente Schmerzen. Er kniff mürrisch die Augen zusammen.
 
Wie ist das möglich, Herr Lasocka? Wie kann einer, der mich anruft, auf Ihrem Anrufbeantworter landen? Wieso nicht auf meinem Handy, wo ich es doch extra so programmiert habe?
Das konnte Herr Lasocka natürlich nicht wissen. Er konnte nur Vermutungen anstellen: Vielleicht hatte er Ihre Durchwahl nicht?
Wer hatte meine Durchwahl nicht?
Das hatte Herr Lasocka nicht genau verstanden. Der Herr sprach mit Akzent.
Die erste Nachricht war:
Bin in der Stadt, willst du mit in ein Konzert? Mathieu will nicht. Gute Plätze. Göteborgs Symfoniker. Dann drei Worte, die Herrr Lasocka nicht verstand. (Messiaen, Eötvös, Skrjabin.)
Die zweite war:
Das Konzert gestern war gut, heute Abend habe ich keine Zeit, aber wie wär’s Montagmittag? Das war der Alex.
Welcher Alex? (Mürrisch, immer noch mürrisch. Ich sollte aufhören damit. Lasocka ist nett und kann außerdem für nichts.)
Sie hörten die Nachrichten noch einmal gemeinsam ab, und endlich hatte Kopp einen Anlass zu strahlen. Ach, Aris! Aris Stavridis! Aris Stavridis hat angerufen! Er ist in der Stadt! Er will sich Montagmittag mit mir treffen! Wie spät ist es jetzt? 10:30?! Danke, Herr Lasocka, meinen überschwänglichen Dank!
 
Rein ins Büro, runter mit der Krawatte, wohin damit, da ist ein Garderobenständer, Kopp warf und traf(!), das hob seine Laune noch ein wenig mehr. Lächelnd stand er am Ende des Pfads am Fenster und sah hinaus.
Aris Stavridis.
Liebster Exkollege aus dem ehemaligen Büro Paris, dort zuständig für Vorderasien und Nordafrika. Der mich bei meinem allerersten Sales Meeting in Sunnyvale ausgesucht hat, mein Führer durch Ober- und Unterwelt zu sein. Alltäglicher ausgedrückt: mein väterlicher Freund. Der schon im Hot Tub saß, als ich im Innenhof des Hotels ankam. Der Hof war trostlos, zwei Palmen in Töpfen, rundherum Wände aus Pappe, wie amerikanische Wände eben sind, dahinter die Straße, und Kopp nahm das auch alles wahr, aber ich bin nicht jemand, der sich durch so etwas die Laune verderben lässt (ein Hot Tub ist gut, egal, wo er steht). Kopp wüsste nicht mehr zu sagen, ob er Stavridis überhaupt gegrüßt hatte, wenigstens mit einem Kopfnicken, bevor er sich neben ihn plumpsen ließ. Grinsend saß Darius Kopp im heißen Sprudelbad und sah in den Himmel, diesen Jetlag-Himmel, und war froh und dankbar. Darüber schlief er ein, und als er aufwachte, sah er, dass Stavridis bei ihm sitzen geblieben war, weil er ihn nicht wecken wollte, aber allein lassen konnte er ihn auch nicht, nicht, dass du mir noch ertrunken wärst. Übrigens, ich bin Aris aus dem Büro Paris.
Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.
Danke, sagte Aris, dass ich dich jetzt jedem so vorstellen kann: Das ist Darius aus dem Büro Berlin, dem ich das Leben gerettet habe, damit a) alle lachen können und b) dich deswegen nicht mehr vergessen und c) sich auch daran erinnern, wer ich bin.
Der, um mich (!) dafür zu belohnen, am nächsten Tag einen Rundflug über die San Francisco Bay spendierte. Weil ich der Dickste war, durfte ich vorne beim Piloten sitzen, und als aus den berühmten Nebelschwaden die berühmte Golden Gate Bridge auftauchte, sagte der Pilot, ich solle den Steuerknüppel auf meiner Seite nehmen und die Maschine einfach gerade halten. Später am Abend gab es Surf’n turf und die wahre Geschichte der Firma zur Einführung. Denn, wir wollen uns nichts vormachen: die Firma ist ebenso der hohe Mythos der Corporate History wie der niedrige des Gossips. Aris Stavridis nahm gerne die Rolle der achtarmig Informationen verteilenden Hausgottheit auf sich. Profan werden sie mich dir als die größte Klatschbase unseres kleinen Unternehmens beschreiben, dabei ist es in Wahrheit Ken, sagte er und zeigte auf den dritten Mann, den sie dabei hatten, einen Chinesen namens Ken Lin (später immer nur in einem Wort KenLin genannt). KenLin lachte schluchzend.
Es waren einmal zwei Freunde, begann Aris Stavridis, Sam Morber, genannt The Morb, und Daniel King, ehemals Kim, genannt The King. Sie kannten sich aus Highschool-Tagen, trafen sich später am College wieder. Der Legende nach in einem Computerclub, in Wahrheit war es ein Saufclub. Wir sprechen von Mitte der 80er Jahre, von einem stinknormalen Studentenkeller, in dem alle nur mit Bieren herumstanden. Weil es mit Bier zu lange dauert, bis man betrunken wird, gingen sie zu Sam nach Hause und machten mit Tequila weiter. Sam, der der Nerd in dieser Story ist, und den Access Point entwickelt hat, auf dessen Grundlage Fidelis Inc. gegründet worden ist, soff gegen seine Melancholie an, Dan, der den charismatischen Geschäftspartner gibt, gegen seine Schüchternheit und seine Sprachschwierigkeiten. Wenn Dan King zu nüchtern ist, nuschelt er so stark, dass man einen beträchtlichen Teil davon, was er sagt, nicht versteht. Mach dir also nichts daraus, falls morgen nur jedes 10. Wort bei dir ankommt. Meistens reicht das auch aus. Im Wesentlichen geht es bei solchen Sales Meetings doch darum, dass man sich mal sieht: Das sind also die Nasen, mit denen ich an einem Strang ziehe. Die unerfüllbaren Vorgaben, für die man dir im Austausch astronomische Boni verspricht, damit du den Rest des Quartals zwischen Panik und gieriger Hoffnung schwanken kannst, bekommst du später sowieso in Memo-Form. Wenn Dan etwas getrunken hat, spricht er übrigens brillant. Very charming und überzeugend. In solchen Momenten ist er beinahe liebbar. Nach Stavridis’ Beobachtung und Schätzung lag der zu bevorzugende Korridor zwischen mindestens 2 und maximal 5 Tequilas.
KenLin lachte schluchzend.
Natürlich, sagte Stavridis und schloss, weil er nicht zwinkern kann, kurz beide Augen, mache ich nur Scherze.
Willst du die ganze Wahrheit wissen, fragte Stavridis später, als sie allein waren. Nichts Schockierendes, aber es ist besser, du siehst klar. Die letzte eigene Idee hatten wir vor 10 Jahren. Genauer gesagt, hatte sie jemand aus Sams Entwicklungsteam, dessen Namen inzwischen in Vergessenheit geraten ist, der selbst irgendwo verschwunden ist, unwichtig. Das Entscheidende ist, wir haben aufs falsche Pferd gesetzt, dachten, HomeRF würde das nächste große Ding sein, aber es wurde nicht das nächste große Ding. So etwas kommt vor, immer wieder, selbst bei den Besten. Ob das der letzte Tropfen war für Sam oder ob er ohnehin irgendwann den Kampf gegen Melancholie und Trunkenheit (Melancholie, die in Trunkenheit endet, die in Melancholie endet, die in Trunkenheit endet …) verloren hätte, kann ich dir nicht sagen. Fakt ist, er erschien bei einem Essen des Vorstands in so einem desolaten Zustand, dass er King als »yellow trash« beschimpfte und ihm den chinesischen Feuertopf in den Schoß kippte (zum Glück nicht getroffen, nur einpaar Spritzer), bevor er sich ins Privatleben zurückzog. Seitdem weiß man nichts mehr von ihm, nicht einmal eine Internetrecherche bringt neue Ergebnisse. Was bedeuten kann, dass es ihm gut geht, oder, nicht wahr, das Gegenteil. Für die Firma war sein Weggang eher gut, weil es King klarmachte, dass er die Strategie ändern musste. Die geänderte Strategie ist so alt und bekannt, wie sie einfach und genial ist, vorausgesetzt, man hat das nötige Kleingeld: Fällt dir nichts mehr ein, kauf dir welche, denen etwas eingefallen ist, oder, nicht so schön, aber manchmal eben auch unvermeidlich: kauf sie einfach vom Markt weg. Noonday Technologies, Miclicor, Mackenzy, Finlay and Peace, und, als neueste Errungenschaft: die Eloxim-Kontrollbox, herzlich willkommen! Im Übrigen ist das ein schönes Produkt, 7 Millionen sind ein Spottpreis dafür, wenn du mich fragst, der Finne hätte selbst richtig reich werden können damit, aber das wäre Arbeit gewesen und Risiko, nicht alle sind wir dafür prädestiniert, kein Grund, so ein trauriges Gesicht zu machen. Sei nicht traurig, so ist das Leben, wusstest du nicht, dass so das Leben ist?
Ich bin nicht traurig, ich weiß, dass so das Leben ist. Ich denke nur nach.
Und? lallte Stavridis, der mittlerweile außerhalb seines Korridors angekommen war, es bemerkte, und prustend lachen musste. Uuuund? wiederholte er deutlicher, auf Deutsch. Was denkst du?
Dass so das Leben ist, sagte Darius Kopp.
Aris Stavridis lachte, als wäre das der beste Spruch gewesen, den er seit Langem gehört hatte. Er ließ seine fleischige und sehr warme Hand auf Kopps Schulter fallen.
Ich kann dich gut leiden, sagte Stavridis. Genauer gesagt sagte er: Je t’ai à la bonne, was Kopp natürlich nicht verstand.
Er verlor Stavridis ein Jahr später, als man das Büro in Paris zumachte. Den Stein hatte Stav selber ins Rollen gebracht, indem er fragte, ob es nicht möglich wäre, dass er seine Region von Athen aus betreute. Als Grund nannte er, dass seine Mutter dort im Sterben liege.
Und, stimmte das?
Ja.
Was er den Chefs nicht auf die Nase band, aber Kopp erzählte, war, dass zugleich auch seine zweite Ehe im Sterben lag. Die Französin, für die er in Paris wohnte, hatte genug von ihm bekommen, auch so etwas kommt vor. Die Kinder sind schon groß, ich muss jetzt nicht mehr da bleiben. Obwohl er Paris mochte. Egal. Athen mochte er auch. Und noch mehr Istanbul, aber das war nicht das Thema.
Dann passierte etwas nicht so Erfreuliches. Man überlegte, rechnete nach und stellte fest: da die Firma in den letzten Jahren ihr Engagement in Nordafrika und Vorderasien, genauer gesagt, in allen muslimisch geprägten Staaten, zurückgefahren hatte, war Stavridis’ Wirkungsbereich auf Istanbul, Griechenland, Georgien und Armenien zusammengeschrumpft, und für so einen kleinen Markt einen Extramann zu beschäftigen, ist Nonsens. In Paris mit zwei anderen - ihre Namen sind: Bernard und Amélie - mitsitzend fällt es nicht so auf. Allein in Griechenland fällt es auf. Also bekam Kopp Istanbuler, Griechen, Georgier und Armenier unter dem Label »Osteuropa« zugeschlagen. (Heißt das jetzt, ich bin befördert? Die Antwort kannst du dir selber geben.) Wenig später bekam er die französische Schweiz dazu, Frankreich und der Mittelmeerraum kamen zu London und das Büro in Paris wurde geschlossen.
έτσι είναι η ζωή, sagte Aris Stavridis.
Der deswegen keine Minute aufgehört hat, sich um seine Leute zu kümmern. Der Kopp auch seitdem immer wieder Möglichkeiten zuschanzte. Zuletzt einen Deal mit Istanbul.
Warst du schon mal in Istanbul, Flo?
Du weißt, dass ich das nicht war.
Die Schönheit des Bosporus sollte jeder einmal gesehen haben. Laut Stavridis war es bei so einem großen Geschäft, 1500 APs, unabdingbar, dass Kopp persönlich nach Istanbul kam, um eine Präsentation zu machen. Der türkische Ansprechpartner, ein Herr Bülent, ein schöner junger Mann, war Kopp von Anfang an sympathisch, und noch mehr, nachdem dieser ihn und Aris seiner warmherzigsten Gastfreundschaft teilhaftig werden ließ. Sie führten ihn durch Zelte, deren Himmel Goldstoff und deren Seiten mit Bäumen bestickt und dessen Boden mit feinsten persischen Tapeten belegt war, zeigte ihm Waffen und Barthaar des Propheten und luden ihn schließlich zu einem prächtigen Festmahl ein. Dabei lenkten sie das Gespräch auf verschiedene Gegenstände, und auf welchen Gegenstand auch immer die Rede kam, sprach Herr Bülent mit so viel Kenntnis, Verstand und gutem Geschmack, dass die gute Meinung, welche sich Kopp gleich anfangs von ihm gefasst hatte, vollends bestärkt wurde.
Are you kidding with me? fragte Anthony. Die Firma des Freundes deines Freundes hat engste Beziehungen zu Syrien. Weißt du, was passiert, wenn mit Hilfe unserer Produkte abhörsichere Funknetze in Syrien oder, hoppala, wie ist das passiert, im Iran auftauchen? Ob sie umlabeln oder nicht, ist irrelevant. Wir reden hier nicht von Chips und Cola. So etwas kommt raus. Und übrigens wäre es an dir gewesen, das zu wissen. Oder, wenn man es schon nicht weiß, schaut man nach. Wofür gibt es das Internet?
Es soll für eine Universität in der Osttürkei …
Warst du da? Hast du es gesehen?
(Nein, ich habe mir nur in Istanbul den Bauch vollgeschlagen.)
Aber selbst wenn du irgend etwas gesehen hättest: die Sache ist zu unsicher. By the way ist das nicht die erste derartige Nummer deines Freundes. (Immer dieses your friend. Wie eine Brandmarke. Übertreibung. Ein Vorwurf.) Was meinst du, warum er geflogen ist?
Es wäre wirklich eine Universität gewesen, sagte Stavridis später am Telefon.
Kopp tat es furchtbar leid.
Das braucht es nicht, sagte Stav. Es ist doch nur Business. Es wird andere Gelegenheiten geben.
 
Der Gedanke an Anthony ließ das Lächeln aus Darius Kopps Gesicht schmelzen. Andererseits bot er ihm auch die Gelegenheit, ins Hier-und-Jetzt zurückzukehren. Er wandte sich vom Fenster ab. Wie spät ist es? Fast schon um 11. Stavridis’ Ankündigung hatte natürlich einen Einfluss auf den geplanten Tagesablauf, aber nur geringfügig. Ich wäre ohnehin mittagessen gegangen. Dass es bis dahin nur mehr (geschätzt) 2 Stunden waren, motivierte Kopp zusätzlich. Er setzte sich hin.
 
Öffne Startseite, siehe, sie hat sich in den letzten 12 Stunden nicht verändert, verlasse Startseite, öffne Suchmaschine. Suche: Bedrossian + Saitakan + WIFI.
Damit verging die nächste Stunde. Anfangs war es gut. Es ist gut, wenn man zunächst Sachen herausfindet, die man bereits herausgefunden hat. Das vermittelt einem das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. So las Kopp noch einmal das Wichtigste über die Brüder: Geburtsdaten, sportliche Laufbahn, Werbeverträge, Charity-Aktivitäten. Obgleich sie in der Schweiz leben, stehen sie ihrer Heimatstadt Saitakan mit Rat, Tat und Mitteln zur Verfügung, u. a. durch den Plan, die Stadt »kommunikativ zu vernetzen«. Das wären dann also wir. Eine längere Zeit hielt sich Kopp damit auf, sich durch mehrere Websites mit Informationen zum gegenwärtigen Stand der Versorgung der armenischen Bevölkerung mit drahtlosen Netzen zu hangeln. Das war anstrengend, denn das meiste war auf Englisch, wahlweise auf Russisch, und Kopps Englisch ist leider, leider nicht so gut, dass es ihn nicht nach einer Weile anstrengen würde, es zu benutzen. Und ich sollte aufhören, in meinem Lebenslauf zu behaupten, ich könnte - da ich es in der Schule gelernt habe - Russisch. Nein. Aber er blieb dran, kaute sich durch den Breiberg von (teilweise widersprüchlichen) Zahlen, fand Namen von Firmen und Personen, konnte sie aber, ermangelst eingehender Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten mit kaum etwas in Verbindung bringen. Wie es schien (behauptet wurde), gab es durchaus noch Lücken, die man füllen konnte, diese wurden jedoch - Wer hätte etwas anderes erwartet? - zunehmend kleiner und weniger. Die Konkurrenz hatte Besseres zu tun, als zu schlafen. Auch das wussten wir bereits vor einem Jahr. Auch zahlreiche Informationen über Armenien, die Region im Allgemeinen haben wir schon eingeholt. Der Konflikt in Georgien führt dazu, dass ab und zu Glasfaserkabel durchgetrennt werden, und die Internetversorgung unterbrochen wird. Dies bezog sich auf einen Fall in Jerewan (Yerevan, Eriwan). Luftaufnahmen zeigen die wunderschöne, kreisförmige Anlage der Innenstadt mit dem atemberaubenden Berg Ararat im Hintergrund. Die Berglandschaft um Saitakan ist nicht minder schön, ein Fluss durchschneidet die Stadt - Wie heißt er, wie lang ist er, wo ist seine Quelle, wo seine Mündung? - Trauerweiden am Ufer. Oh, auf dieser Seite gibt es sogar einen Service, mit dem man live Erdbeben erleben kann! Farben zeigen das Alter und die Stärke des Bebens an. Was WIFI anbelangte, war die einzige nähere Information, dass 1 Min im Web des Hotels Awan Dsoraget 8 AMD kosten. Die visuelle Suche nach WLAN-Antennen an Gebäuden oder anderen prominenten Punkten war selbstverständlich sinnlos. Selbst wenn da etwas war, verschmolz es bei dieser Auflösung mit dem Hintergrund. Darius Kopp konnte trotzdem nicht anders, als die Augen anzustrengen, bis sie schmerzten.
Als ob es nicht egal wäre, ob sie unsere Komponenten verbaut oder vergraben haben.
Eben nicht.
Während er nicht anders konnte, als in seinem Herzen erfreut zu sein über die Schönheit der Landschaft - Schöner, viel schöner als Sunnyvale. Eines Tages sollten wir doch dahin, Flora - konnte Kopp ebenfalls nicht anders, als zunehmend betrübt und besorgt zu sein über die Unauffindbarkeit der Spuren seines eigenen (mittelbaren) Wirkens vor Ort. So verließ er ihn und suchte stattdessen nach Sasha Michaelides. Er suchte in allen möglichen Variationen, Schreibweisen - Meinten Sie: Sascha Michaelides? -, fand einen Neurologen und einen Architekten, die wenigstens ähnlich hießen, suchte in Foren, in Blogs und schließlich sogar in Bildern, obwohl das sinnlos war. Ich weiß ja nicht, wie er aussieht. Und Frau Bach ist in Venezuela. Übrigens erschienen bei der Bildsuche hauptsächlich Röntgenaufnahmen von mit Schrauben fixierten menschlichen Gliedmaßen. Kopp fiel seine Mutter ein, ihre Arme und Beine, er stand auf einem heißen, abendlichen Hügel mit einem Fahrrad an der Hand, im Tal staubige, kreisförmige Ruinen, er hatte quälenden Durst, er ließ das Fahrrad (=die Maus) los, als wäre sie zu stark von der Sonne aufgeheizt worden, stieß sich mit dem Rollstuhl ab - Kontrolliert! Die Kartons sind nah! - damit die Tastatur außer Reichweite rückte und sich auch die Augen vom Bildschirm lösen mussten … Ich hatte heute noch gar kein Frühstück! Schnell hinaus in die Küche, um es nachzuholen!
 
Ein Glas Orangensaft, ein Cappuccino mit Extrazucker. Und, heute zum ersten Mal: Fruchtjoghurt. Ein Tablett mit Fruchtjoghurts, obenauf ein gelber Zettel: Bitte, jeder nur 1. In Herrn Lasockas Handschrift. Ich erkenne Lasockas Handschrift. Kopp fand die Bitte auf unnötige Weise Enge erzeugend (kleinlich, ja fast unverschämt) und nahm aus Trotz: 0. Aber einen zweiten Cappuccino, diesen trug er zurück ins Büro.
 
Er blieb hinter der Tür stehen, um einen Schluck Schaum zu nehmen. Eintauchen, auf der Oberlippe bleiben Reste zurück, sie mit Zunge und Unterlippe herunterholen. Dabei fiel sein Blick zum Karton der Armenier auf der Säule neben dem Fenster. Er stellte die Tasse vorsichtig auf eine freie Ecke des Tisches. Er holte den Karton von der Säule, öffnete die Lasche, sah hinein. Er sah das weiße Kopierpapier, erkannte Knicke darin, die er selbst am Vorabend verursacht hatte. Er zog das Geld nicht heraus, er schloss die Lasche, legte den Karton wieder ab und setzte sich hin. Auf dem Laptop hatte sich in der Zwischenzeit der Bildschirmschoner aktiviert. Er zeigte ein Urlaubsfoto: wolkiger Himmel, davor grüne Hügel, dazwischen ein Tal voller Tulpenbäume (afrikanisch, rot), im Vordergrund ein blaues Holzhäuschen. Kopp imaginierte Sas(c)ha Michaelides, der gerade in dieser Landschaft aus einem Bus stieg. Er hat einen für das Klima unpassenden dunklen Anzug an und ein Aluminiumköfferchen in der Hand.
Nein, das ist meiner.
Michaelides schätzen wir eher schweinsledern ein. Oder, im Gegenteil: neuestes Hightechmaterial, frisch aus der Weltraumforschung. Über solche Eitelkeiten kann ein Aris Stavridis nur lachen. Er läuft mit billigen Plastikumhängetaschen (angeblichen Laptoptaschen) mit Werbeaufdruck einer beliebigen Firma aus dem IT-Bereich herum. Aus diesen verteilt er seine Geschenke. Er kommt nie ohne Geschenke.
Aris Stavridis. Der es - welche Mächte lenken ihn? - immer schafft, im richtigen Moment aufzutauchen. Oder redest du dir das nur ein? Weil du dich freust. Ja, ich freue mich, ich bin gerne mit ihm zusammen, er ist ein netter Mensch und weiß immer alles. Nicht alles, aber vieles, was ein Darius Kopp sonst erst Wochen später, wenn überhaupt, mitbekommen würde. Seitdem Stav nicht mehr bei der Firma ist, ist unsere Versorgung mit Informationen beträchtlich spärlicher geworden. Obwohl man immer noch gelegentlich telefoniert. Seit der Istanbul-Geschichte allerdings nicht mehr. Kopp war es zu peinlich. Als hätte ich mir ihm gegenüber etwas zuschulden kommen lassen.
Klatsch! Kopp schlug sich auf die Stirn, aber so plötzlich und laut, dass jemand, der mit im Raum gewesen wäre, unweigerlich erschrocken wäre. Aber natürlich! Mit einem Mal war es Kopp klarer als die Sonne: Wenn einer etwas weiß, dann Stav! Nicht, weil ein Grieche den anderen kennt, sondern weil auch das Armenien-Geschäft von keinem anderen als ihm vermittelt worden war. Er hatte es nur bis jetzt geheim gehalten, um mir keine Schwierigkeiten zu machen!
Erfreut darüber, wie schön doch alles zusammenhing, und darüber, das herausgefunden zu haben, lachte Darius Kopp auf, kippte den letzten Schluck Cappuccino - der Schaum kroch zu langsam, er gab ihn auf - warf sich gegen die Rückenlehne, so dass sein Stuhl kräftig federte, und wählte.
1.
2. London.
In London klingelte es, Kopp memorisierte: Hellou, nicht Godday, Stephanie, how is it going, hallo, Anthony, how is it going, I got some interesting news, the Armenians have/had brought(?) the money … the Armeniens did actually pay … (Gottverdammtes Lampenfieber. Wieso?)
Es klingelte etwa 15x, bevor Kopp begriff, dass niemand ranging, auch nicht der Anrufbeantworter.
Verwählt? Falsch verbunden? Noch einmal.
Dasselbe. Klingeln, keine Antwort.
Wie spät ist es? 11:40. Montagsmeeting? Haltet ihr so etwas überhaupt ab, bei zweieinhalb Leuten? Oder bist du grad auf dem Klo, Stephanie?
Kopp imaginierte das Büro in London, den Korridor, die Toilettentür … (Was ist los, heute bin ich so bildreich …) Er wandte sich schnell dem Laptop zu, bevor er sich noch mehr vorgestellt hätte - Stephanies weiße Knie, Stephanies schwarzen Schlüpfer um die Knie - …: schnell, den Browser auf! Während du etwas Zeit vergehen lässt - 15 Minuten zwischen zwei Anrufen sind angemessen und sinnvoll - prüfe die Nachrichten und die Mails.
 
Wie öffnen die Börsen?
Die Übernahme von Fannie und Freddie hat ein wenig Erleichterung gebracht, aber im Wochenausblick erwartet man insgesamt eine Woche ohne große Euphorie?
Exilepark freut sich über einen neuen Chef? Hier, seine Telefon- und Faxnummer sowie seine E-Mail-Adresse, falls Sie ihm schreiben wollen. »Lieber Klaus, gratuliere zur Beförderung«?
Daimler im Visier der Hedgefonds?
Ölpreis steigt um 2 Dollar. Die Scheichs weisen jede Verantwortung von sich? Die Spekulanten sind schuld?
Nicht die Spekulanten sind schuld am Anstieg der Lebensmittelpreise, sondern verfehlter Klimaschutz und zu viel Fleisch?
Erneut vergammeltes Fleisch gefunden? Es ist auf die Autobahn gefallen? Die Feuerwehr brauchte Atemschutzmasken bei der Beseitigung?
Bei einer Tombola hat eine Milliardärin eine Reise nach Mallorca gewonnen - und will den Preis behalten?
Verlasse News-Seite, minimiere Browser, öffne Mailbox.
Die Newsletter vom Sonntag, und einige Nachzügler von heute früh. Einladungen zu Messen und Tagungen. Ausland spioniert deutsche Wirtschaft aus - Fachtagung Security und Ähnliches.
Natürlich Werbung. Begrüßen Sie den Herbst romantisch und fliegen Sie in die Stadt der Liebe! Nur 29 Euro. Sternchen.
Ein Alert. Darius Kopp on Netigator. Diesen Fachartikel mit dem Titel »Smog in der Messehalle« habe ich geschrieben. Das ist schon ein halbes Jahr her, wieso ich jetzt eine Benachrichtigung darüber bekomme, ist nicht transparent, freuen darf ich mich trotzdem. Die größten Gefahren für die Störung der Datenkommunikation sind …
Er las eine Weile in seinem eigenen Artikel, obwohl er ihn auswendig kannte. Unterbreche mich doch jemand!
Er unterbrach sich selbst und rief in London an.
 
Während es klingelte, schaute er in die leere Cappuccino-Tasse: angetrocknete braune Pfütze, angetrocknete braune Äderungen, brauner Spitzenrand. So lange, bis das Klingeln in London abbrach und zu einem Besetztzeichen wurde.
Allmählich muss ich mich wundern.
Er versuchte es noch einmal. Dasselbe Ergebnis. Langes Klingeln, am Ende besetzt. Wie spät ist es?
Sie haben eine neue Mail-Nachricht erhalten!
Ich gestehe es, Darius Kopp legte etwas erleichtert auf, um so zu tun, als wäre es eine wichtige Nachricht. Dabei sah er schon, dass es wieder eine Mail von Thomas Schatz war. Sie stattete Bericht darüber ab, dass Thomas Schatz offenbar nicht nur sein Profil auf BizNet aktualisiert, sondern auch ein neues auf Plexus, Ihrem neuen Businessportal, angelegt hatte.
Darauf hatte Kopp nun wirklich keine Lust. Das heißt, wenn man ein wenig nachdenkt: Was kann schon der Grund dafür sein? Entweder er ist dabei, seinen Job zu verlieren, hat ihn schon verloren, oder er ist einfach nur unzufrieden und schaut sich um. Das wiederum weckte Kopps Interesse (und tröstete ihn ein wenig). Das Profil ertrage ich kein zweites Mal, aber vielleicht könnte man ihn direkt anrufen. Denn eigentlich, im persönlichen Umgang, ist Thomas Schatz ein angenehmer Mensch. Sich über die Irritation hinwegsetzen, das ist immer oder meistens gut - Denn: Was willst du? Ausschließlich mit Genies und Heiligen verhandeln? - freundlich nachfragen: Wie geht es dir, Schätzchen, etc. Was es auch ist, auf seiner Seite sein, so gehört es sich. Und nebenbei vielleicht auch etwas von den eigenen Angelegenheiten voranbringen. Indem man ihn z. B. (halboffen) nach der Tauglichkeit seines Distributors (4.!) fragt.
Kopp öffnete nicht Schatz’ Profil, sondern die Seite seines Arbeitgebers Exacom. Dort wurde Schatz noch als Systems Engineer geführt. Kopp stellte erleichtert fest, dass seine Erleichterung darüber überwog. Wenige Sekunden lang.
Hallo? Eine mürrische Stimme, tief, aber keine Männerstimme. Eine Frau. Eine beinahe bis zur Unfreundlichkeit mürrische Frauenstimme, die Kopp nicht bekannt war. Er war irritiert, unterdrückte das, und sprach mit ihr, als wäre es mit Schatz persönlich (sorglos, kumpelhaft): Ob denn der Thomas da sei?
Wer?
Thomas Schatz, sagte Kopp freundlich. Ich bin … sogar bereit, mich zu legitimieren.
Aber die mürrische Person hatte kein Interesse. Sie schnitt ihm das Wort ab:
Herr Schatz arbeitet hier nicht mehr.
Oh, sagte Kopp und sah noch einmal auf die Firmen-Seite. Dort stand sein Name, sein Titel und diese Telefonnummer.
Oh, sagte Darius Kopp, und in seiner Verwirrung: Entschuldigung.
Bitte, sagte seine Gesprächspartnerin und legte auf.
Darius Kopp schüttelte den Kopf, als wäre ihm Wasser ins Ohr geraten.
Ja, hat denn die den Verstand verloren? So telefoniert man doch nicht! Das ist schließlich kein Amt, sondern eine Firma!
Es juckte ihn in den Fingern, irgendwo anzurufen, es jemandem zu sagen, vornehmlich Thomas Schatz, von dem er annahm, dass er höhergestellt war als die Frau, aber Schatz arbeitete ja nicht mehr dort.
Kopp beschloss, diesen verwirrenden Exkurs abzubrechen. Wir klären das irgendwann, wenn wir Zeit haben, oder nie. (Er war wieder etwas verärgert über Schatz. Als ob der etwas dafür könnte! Dann bedauerte er ihn wieder.) Er sah auch nicht mehr nach, wer Distributor für Exacom war, er schloss die Seite schnell, als könnte man die Irritation so wegschließen.
Er versuchte es abermals in London. Abermals ohne Ergebnis. Beziehungsweise mit demselben Ergebnis wie zuvor. Er ließ es so lange klingeln, bis die Telefongesellschaft ihm die freie Leitung wegnahm, um sie jemandem zu geben, der sie womöglich dringender brauchte.
Kopp legte den Hörer sorgfältig auf, schob nach, damit auch wirklich aufgelegt war. Sonst kann es nämlich passieren, dass man gar nicht bemerkt, wie man abgeschnitten ist vom Rest der Welt, nicht wahr, Stephanie? Oder die Störung liegt woanders. Fakt ist: irgendwas ist mit dem Telefon. Ich werde ihnen eine Mail schreiben müssen.
Dachte es, und dann nichts mehr. Herr Doktor, was soll ich machen, mindestens einmal am Tag habe ich so einen toten Moment. Manche sagen: Punkt. Egal, ob ich gerade etwas tue, das ich gerne tue oder das Gegenteil. Es scheint davon ganz unabhängig zu sein. Immer kommt dieser Moment, wenn Kopp deutlich spürt: ein Weg ist zu Ende, ein Schwung hat sich verbraucht. Selbst wenn man noch entfernt ahnt, was man theoretisch als Nächstes tun könnte, ist gerade das nicht möglich. Um was auch immer zu tun, braucht man seinen Körper, und dieser fühlt sich im Moment an, als wöge er 6 Tonnen. 6 Tonnen schwer, Arme gelähmt, hänge ich in meinem perfekt gefederten Sessel. Was jetzt hilft, ist nur noch eine Ablenkung. Der moderne Büromensch wird, wie man allseits lesen kann, von permanenten Unterbrechungen gepiesackt. Alle 11 Minuten, spätestens, will einer etwas von einem, oder man ist selber nur allzu bereit … Aber auf der anderen Seite kann eine Unterbrechung auch fruchtbar sein. Sich regenerieren. Sich neu orientieren. Eine oder mehrere neue Perspektiven gewinnen. Zum Beispiel kann man, ganz einfach, beim Fenster hinausschauen.
Kopp sah beim Fenster hinaus. Er sah nichts. Da war der Platz. Ja, ich weiß. Nichts.
Zurück zum Tisch. Der Laptop mit dem karibischen Bildschirmschoner (nichts), und drum herum der Wust der Zettel. Das allerdings war etwas: 5. Die eigenen Abrechnungen.
Nicht jetzt. Ich bin müde. Und hungrig. Wie spät ist es? Immerhin schon um 12. Wann Stavridis genau kommen würde, war nicht bekannt. Wir nehmen an: um 1. Da fiel Kopp das Tablett mit den Joghurts ein, Fruchtjoghurts, mit mindestens einer Zuckerart, außerdem Eiweiß und Fett, kurz gesagt: Energie. Entschlossen sprang er auf, aber bevor er auch nur einen Schritt getan hätte, klingelte das Telefon, und der Vormittag erhielt wieder eine neue, ungeahnte Richtung. Ich hätte gedacht, Stavridis’ Auftauchen wäre bereits die Sensation des Tages gewesen, das allem anderen seinen Stempel aufdrücken würde. Aber es war Herr Pecka, der Anlageberater.
 
Herr Pecka!
Kopp begrüßte ihn dankbar (für die Ablenkung, für die Zeit, die ich mit Ihnen verbringen darf, bevor ich zum Mittagessen gehe, so lange muss ich mir den Kopf wenigstens nicht über Komplizierteres zerbrechen) und daher wieder fröhlich: Herr Pecka! Wie geht es Ihnen?
Herrn Pecka ging es gut. Er war im Urlaub gewesen, nun rief er seine treuen Kunden an, meldete sich zurück.
(6. Die Kontakte durchtelefonieren, sich aus dem Urlaub zurückmelden … Vorsicht! Du warst gar nicht im Urlaub! … sich nicht aus dem Urlaub, sondern nur generell zurückmelden, sich erkundigen, das Eisen schmieden …)
Das ist ja schön! Wo waren Sie im Urlaub? Fahrrad fahren auf Island? Kopp war nicht bewusst, dass sein Anlageberater so eine Sportskanone ist. Letztes Jahr war er Goldwaschen in Finnland? Ist das Ihr Ernst? Als Bänker waren Sie Gold waschen? Sie erkennen den Witz darin nicht? Ach, doch, aber Sie haben es nicht deswegen getan, sondern weil Sie ein sehr naturverbundener Mensch sind, und das war blanke Natur, mit Myriaden von Mücken und dem Klappspaten als Klo? Was man nicht alles voneinander erfährt.
Herr Pecka rief im Wesentlichen an, um zu beruhigen. Bekam er viele Anrufe von nervösen Kunden? Ja. Die Immobilienkrise zieht uns alle mit hinunter. Auch von Kopps Fonds haben nur zwei ein minimales Plus gemacht, alle anderen sind im Minus, selbst der Wasserfonds, in den wir so viel Hoffnung gesteckt hatten.
Ja, Kopp wusste das, ich habe gerade gestern wieder einen Blick aufs Depot geworfen. Was will man machen, Herr Pecka, so ist es eben. Ich bin, was das anbelangt, kein besonders nervöser Typ. (In Wahrheit habe ich, wie jedes Mal, wenn es um Geld geht, die Hosen voll, das ist die dämliche Erziehung meiner Mutter, aber dann reiße ich mich jedes Mal umso mehr zusammen, erinnere mich an meinen Vater, der wusste: wer nicht wagt, der nicht gewinnt, und wenn es 55 Jahre gedauert hat, bis er das in die Tat umsetzen konnte, schließlich hat er es getan, und ich bin stolz auf ihn und wünschte mir, auch er … etc.) Ich bin dafür, es auszusitzen. Das Wasser wird schon noch kommen, wenn etwas todsicher ist, dann, dass das Wasser kommt.
Herr Pecka stimmte dem zu. Das Wasser würde ich wirklich unangetastet lassen. Aber er empfahl etwas anderes. Nämlich die beiden Fonds, die ein bisschen Gewinn gebracht haben, aufzulösen und stattdessen ein Papier zu kaufen, das auf ein weiteres Nachlassen der Börsen spekulierte.
Sie meinen, es geht noch weiter runter?
Auf jeden Fall geht es noch weiter runter, sagte Herr Pecka mit Überzeugung. Den Finanzmarktwerten werden alle anderen folgen.
Kopp war schon auf der Seite der Bank, hatte die genannte Option auf dem Bildschirm, verstand aber natürlich nicht besonders viel (gar nichts). Aber wissen Sie was, Herr Pecka, der Zynismus dieses Vorgehens gefällt mir einfach zu gut. Machen Sie es. Wo muss ich unterschreiben? Kommt mit der Post oder Sie bringen es auf dem Nachhauseweg vorbei, Sie sitzen ja wortwörtlich in der Nachbarschaft. Wären unsere Büros anders platziert, könnten wir einander vielleicht sogar sehen. Das besprechen wir jedes Mal. Und in Wahrheit sehe ich niemanden, nur den Platz, die Kreuzung. Hat auch was. Ja. Auch Ihnen noch frohes Schaffen, Herr Pecka.
Als er aufgelegt hatte, fiel ihm ein, dass er Pecka auch wegen des Armenier-Geldes hätte fragen können. Er rief ihn zurück. Und jetzt geschah es:
Ja, sagte Herr Pecka. Das ist kein Problem. Sie brauchen nur Ihren Identitätsnachweis und den Nachweis über die Herkunft des Geldes.
Was meinen Sie mit: Über die Herkunft des Geldes?
Wie Kopp wisse, sagte Herr Pecka, habe man ein Geldwäschegesetz.
Ja, und?
In diesem steht, zusammengefasst, dass man bei Barbeträgen, die höher als 10 000 sind, nachweisen muss, aus welchen, ich sage mal »Transaktionen« dieses Geld stammt.
Sie brauchen nicht in Anführungszeichen zu sprechen, Herr Pecka, ein Kunde hat bar bezahlt, und zwar … ein wenig mehr als 10 000. So, jetzt wissen Sie’s.
Wie viel wenig mehr? fragte Pecka.
Das Vierfache, gab Kopp zu.
Das ist ja nicht so sehr viel, sagte Herr Pecka.
Nein, sagte Kopp. (Aber ist das gleich ein Grund, erleichtert und hoffnungsvoll zu sein? Nein.)
Na ja, sagte Herr Pecka, eigentlich ist es egal, ob 10 001 oder 100 000. Sie müssen der Bank gegenüber einen Nachweis erbringen.
»Sie« heißt in diesem Fall: ich?
Der Einzahler. Der muss den Ausweis haben und auch alles andere. In Ihrem Fall: der Kunde legitimiert sich Ihnen gegenüber, Sie legitimieren sich der Bank gegenüber.
Und wenn nicht?
Wenn nicht was?
Wenn kein Nachweis da.
Dann wird im Falle einer behördlichen Prüfung das Geld konfisziert. Ob auch ein Strafverfahren eingeleitet wird, entscheidet der Staatsanwalt.
Konfisziert?! Der Staatsanwalt? Kopp mochte es nicht fassen. Das ist … Wir haben eine rechtmäßige Forderung!
Dass Ihre Forderung rechtmäßig ist, hat damit nichts zu tun, sagte Herr Pecka. Heißt: eine Rechnung, die Sie dem Kunden ausgestellt haben, ist kein Nachweis. Der Einzahler muss nachweisen, dass das Geld von einem sauberen Konto stammt. Darum geht’s, um nichts anderes.
Verstehe, sagte Kopp. Danke, Herr Pecka.
Nichts zu danken, sagte Herr Pecka.
 
Wie spät war es zu diesem Zeitpunkt? 12:30. Eine halbe Stunde, um unsere Gedanken wenigstens in groben Zügen zu ordnen. Das Problem als solches hatte Kopp sogleich begriffen, es gab daran nichts, das nicht zu begreifen gewesen wäre. Viel Bargeld, Nachweis, sonst Annahme von Illegalität, Verlust, Anzeige. Im schlimmsten Fall. Aber auf jeden Fall eine Menge Querelen. Kopp war über diese neu gewonnene Perspektive auf die Dinge nicht glücklich. Nein, er fluchte. Ausgerechnet mir muss das passieren, wo ich bürokratisch doch so unbegabt bin. Der dämliche Grieche. Der dem Geld beigelegte Brief war nicht einmal unterschrieben. Aber selbst wenn. Zu unserem tiefsten Bedauern können wir diesen geduldigen Fetzen Papier nicht als Nachweis einer weißen Weste akzeptieren.
Kopp stand zwischen seinen Kartonwänden. Sie waren ihm: nahe. Auf, zwischen den Kartons Staub. Woher kommt dieser ganze Staub, wenn doch die Fenster niemals geöffnet werden? (Durch die Tür. Die Ritzen. - Aber so viel?) Um sich nicht weiter zu gruseln, stellte sich Kopp auf die Zehenspitzen und holte den Karton der Armenier erneut vom Stapel neben dem Fenster. Er achtete darauf, keinen anderen Karton zu berühren.
Nahm wieder den Karton, öffnete wieder die Lasche, sah drinnen das weiße Kopierpapier, schloss die Lasche, legte den Karton wieder ab. Allerdings nicht mehr ganz oben, sondern drei Reihen weiter unten. Es gibt keinen besseren Platz dafür im Moment.
Setzte sich in seinen Stuhl und schaukelte. Vor ihm schaukelte der Platz. Im Gehsteig gegenüber, nah an der Hauswand, klaffte hinter einer Absperrung aus rotweißen Bändern ein Loch. Männer waren heute nicht zu sehen. Es war windiger als in den Tagen zuvor. Die Bänder tanzten. Rotweiß, rotweiß.
Schließlich gab sich Kopp einen Ruck, suchte die Nummer von Michaelides heraus und rief an. Erwartungsgemäß war keiner zu erreichen. Der ist weg. In meinem Bildschirmschoner oder eher sonst wo. Bleiben die Bedrossians, die eigentliche Quelle des Geldes. Kopp rekapitulierte, was er jemals von Michaelides über die Bedrossians gehört hatte. Die Herren Spitzensportler … kommen vorbei, mit einem Koffer … Sie wissen ja … die lieben Kaukasier … auch mir einen Teil meiner operativen Kosten schuldig geblieben … auch mir einen Teil …
Womit sich also der Kreis schloss. Wir sind wieder dort, wo wir angefangen haben. Kopp ging ins Internet, suchte wieder nach den Bedrossians. Nur war diesmal die Fragestellung eine andere: Sind die Bedrossians vertrauenswürdige Geschäftspartner, ja oder nein?
Suchte und fand, wie schon zuvor: nichts Verwertbares. Viel über Sport, viel über Charity, nichts über andere geschäftliche Aktivitäten.
Als ihm nichts anderes mehr einfiel, gab er in die Suchmaschine ein: Bedrossian + illegal.
Er bekam immerhin 836 Treffer, er schränkte sie ein, indem er die Vornamen der Brüder eingab und landete damit bei 0 Treffern. Er ließ die Vornamen weg, bekam sein vorheriges Ergebnis zurück und fing an, sich durch die 836 zu lesen - oberflächlich, ungeduldig, an etwas anderes denkend. Nämlich: Das ist nicht der Weg, das ist nicht der Weg. Und: Wieso ist mir das Problem nicht selbst und nicht gleich aufgefallen? (Sei froh. So hattest du wenigstens ein einigermaßen erträgliches Wochenende.) Sowie: Wieso habe ich jetzt ein schlechtes Gewissen, als wäre ich schuld daran, dass es so kompliziert ist?
Auch wenn er nichts fand, nicht einmal ein zum Thema passendes Gerücht, war er sich sicher: den Bedrossians war nicht zu trauen. Glaubst du eher einem zwielichtigen, verkoksten Griechen, oder hast du schlicht und ergreifend Vorurteile? Schlicht und ergreifend Vorurteile. Nicht immer, manchmal. Jetzt, konkret: einen Instinkt. Was, wenn sie zum Beispiel sagen: Tausendmal Entschuldigung, der Grieche ist schuld an allem, geben Sie uns das Geld zurück, wir überweisen es, wie es sich gehört. Und denken natürlich nicht daran! Darius Kopp biss die Zähne aufeinander. Ich werde dieses Geld für uns verteidigen, koste es, was es wolle. Na, ganz so viel vielleicht doch nicht. Mein Leben zum Beispiel nicht. Heldenhafter Sparkassenkassierer. Aber das mir Mögliche will ich tun. Was ist das mir Mögliche?
In diesem Zustand war er, als Stavridis anrief und sich das Tempo erneut änderte.
Ich habe einen Mordshunger! rief Aris Stavridis ins Telefon. Schon 2 Meetings hinter mir! Bin in 10 Minuten da! Mit dem Taxi! Warte unten!
Wäre das vor einer halben Stunde gewesen, wäre Kopp hinunter geflogen, Treppe statt Fahrstuhl, leichtfüßig und enthusiastisch, wie ein Backfisch, seine Sakkoschöße hätten geweht. Der Portier im Foyer hätte nicht gewusst, ob er vor Freude oder vor Sorge rannte, Kopp hätte sich im Rennen umdrehen müssen und beruhigend winken. Jetzt ging er langsam, rief den Fahrstuhl, fuhr eine Etage nach unten (Wände aus grauem, gebürstetem Metall, kühl, still, stell dich mit dem Rücken zum Spiegel, eine Erholung), ging mit klopfenden Absätzen durch das Foyer.
Draußen war eine große Helligkeit, wie eine Wand, er stieß sich an ihr, musste stehen bleiben, blinzeln. Ein Taxi hupte, er wandte den Kopf in die Richtung. Jemand winkte, Kopp stellte scharf auf ihn, da war er: Stavridis. Kleiner, dicker, grauhaariger, bebrillter, als er ihn in Erinnerung hatte. Stand neben dem Wagen, hielt die Tür auf für ihn, wie ein Galaportier, ließ ihn aber nicht einsteigen, bevor er ihn nicht fest umarmt hatte:
Du siehst gut aus!
Du auch.
Wie der eine unmittelbar ist, nirgendwo anders als hier, Körper und Gedanken in der Gegenwart, und wie der andere sich zwar aufrichtig freut und sich dazu alle Mühe gibt, aber noch zu sehr unter Einfluss steht, ein Paket (Hja!) zu tragen hat und deswegen vorerst nicht mehr kann, als daneben zu sitzen.
Während Stavridis den Fahrer hieß, sie zu einem der besten (aber nicht unbedingt teuersten) Italiener der Stadt zu bringen. Den Stav kennt, obwohl er nicht hier wohnt, und den Kopp nicht kennt; man kann schließlich nicht alles kennen. Stavridis hatte, wie schon erwähnt, einen Bärenhunger, wie schon erwähnt, zwei Meetings hinter sich, ein Powerfrühstück, gegessen haben wir natürlich nichts, ich glaube, der Typ war auf Diät, nur Wasser getrunken, Stavridis einen Orangensaft, der ein wenig mehr sättigt und zudem Vitamine enthält, aber essen traust du dich dann natürlich nicht, wie sieht das aus: der Mund voller Omelett. Stavridis lachte, Kopp lächelte.
Während Stavridis über das Wetter redete, die Temperaturen in Athen, die Temperaturen in Berlin.
Während Stavridis die gesamte Menüfolge für beide bestellte:
als Vorspeise: Salami, Käse, Schinken, Focaccia, mit Fleisch
gefüllte, panierte Oliven, Artischockencarpaccio, in Zi-
trone und Öl eingelegte Pfifferlinge, gegrillte Zucchini,
Auberginen und Paprika, Vitello tonnato und Salat mit
Sardellenpaste,
als Pasta: Linguini alla Puttanesca,
als Hauptgericht: mit Peperonata überbackenes Kalbs-
schnitzel.
Dazu nehmen wir einen leichten Chianti. Obwohl Stavridis’ Lieblingswein im Moment ein Metochi Cromitsa war, hier hast du eine Flasche in einer dekorativen Holzkiste.
Nicht doch …
Magst du keinen griechischen Wein?
Doch, doch …
Und hier, ein MP3-Player. Nicht das neueste Modell, wie du sehen kannst, aber vielleicht wird sich deine Nichte trotzdem freuen. Oder dein Neffe. Oder deine Schwester …
Dass du dich an all das noch erinnerst …
… oder du.
Danke, Aris. Du bist zu großzügig.
Der Hersteller ist pleitegegangen. Ich habe versucht, sie zu verkaufen, es lief nicht gut. Ich habe noch eine Menge davon.
Sie werden sich bestimmt freuen.
Die Speisen kamen, sie aßen sie. Sie waren allein im Inneren des Lokals, wer sonst da war, saß draußen, nah an der Straße, aber ich sage dir, da ist es wärmer als hier, außerdem stinkt es und es ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht, in Athen sitzt kein vernünftiger Mensch freiwillig auf der Straße.
Hier entstand eine Pause, schließlich musste Stavridis auch mal Luft holen. Er holte Luft, und mit der Ausatmung sagte er:
Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben.
Das brachte Kopp endlich zu sich. Zudem war die Vorspeise gegessen, auch das half.
Oh, sagte er. Mein aufrichtiges Beileid. Obwohl ich sie nicht kannte. Aber ich weiß, wie viel sie dir bedeutet hat.
Danke, sagte Stavridis. Ich hatte sie bis zum Schluss gepflegt. Das war schön. Ja, schön, wirklich. Am Ende war sie so verwirrt, dass sie nicht sah, dass wir in Athen waren. Sie dachte, sie wäre auf dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Saß bei mir im Innenhof, wo unter einem gelben Wellplastikdach in Kübeln einpaar Oleander stehen, und sagte immer zu mir: Schau, wie schön dieser Garten ist! Und erzählte, was die Zicklein und die Entlein heute gemacht haben, und wenn die Frau über uns das Wasser auf das Plastikdach warf, weißt du, das soll sie nicht machen, sie macht das Wasser einfach so, wusch, aus dem Fenster, weil sie auch vom Dorf kommt, das Wasser fällt auf das gelbe Dach, und läuft dann da runter und tropft, und wenn sie also das machte, dann quietschte meine Mutter vor Vergnügen. Sie lachte wie ein kleines Mädchen. Apropos kleines Mädchen, Irini hat eine Tochter bekommen. Christina. Jetzt bin ich also Opa.
Wie schön. Gratuliere.
Ja. Den Vater der Kleinen will sie nicht heiraten, so kriegen sie mehr vom Staat. Und auch Stavridis unterstützt sie weiterhin finanziell, obwohl sie schon 30 ist, aber so ist es eben. Die Söhne auch. Valéry studiert Diplomatie, ein perfekter Gentleman, du wärst erstaunt, Mathieu hat gerade Abitur gemacht und ist zu mir nach Athen gekommen, er weiß noch nicht so richtig, jetzt reisen wir ein bisschen herum.
Selbstverständlich reiste Aris Stavridis nicht zu seinem bloßen Vergnügen, wenngleich es ihm auch Vergnügen bereitete, sondern weil er gerade dabei war, etwas Neues aufzuziehen. Mit Bernard zusammen.
Oh? Wie geht es dem guten Bernard? fragte Kopp.
So la la. Er ist bei einer Firma für Sicherheitstechnik und nicht sehr glücklich. Die Branche als solche wäre gut. Wie das Bestattungsgewerbe. Stirbt nie aus, hähä. Die Leute haben immer Angst, Staaten, Firmen, Einzelpersonen, und häufig nicht einmal zu Unrecht.
Ja, sagte Kopp und steuerte bei, was er neulich über die Wohnungseinbrüche gehört hatte.
Stavridis nickte und fuhr wortreich fort, über Bernards Arbeitsplatz zu erzählen. Sie führen ein breites Sortiment, angefangen von Messern (!), Schlagstöcken (!), Handschellen (!), bis hin zu Audio-, Video- und Telefonüberwachung, hinken aber etwas hinterher bei Peilsendern, GPS-Ortung, GPS-Blocker, Handy-Blocker …
Hier begann Kopps Aufmerksamkeit bereits wieder nachzulassen, bzw. sie trat weiter zurück, dorthin, wo er seinen eigenen Task zu laufen hatte. Es ging damit nicht wesentlich voran. Er dachte immer wieder dasselbe: neue Situation + einzahlen geht nicht + und was geht? + ich muss anrufen. Während er die Gabel in den Nudeln drehte. Zwischen den Nudeln waren noch andere Lebensmittel, rot, olivschwarz, grün und sardellenfarben, Kopp sah aus, als würde er sich darauf konzentrieren, alles zu erwischen. Er nickte manchmal auch wie jemand, der zuhört.
… Bernard, er ist ein ehrgeiziger Junge … in so einer »traditionsreichen« Firma sind die Strukturen so fest … für die klitzekleinste Änderung ein Aufwand … als ginge es darum, den Mount Everest woanders hinzuschaufeln … Einfach jeder, sagt Bernard, jeder dort ist dümmer als ich.
Der arme Bernard. Immer ist jeder dümmer als er.
… Bernards Leben war auch sonst gerade nicht sehr sonnig … Am Wochenende einen Konflikt gegeben mit der Frau … Als man Fidelis Paris aufgelöst hat … ein paar Sachen übrig geblieben … Harmony-Router, Antennen, Kleinkram … in keiner Liste … also Bernard sie mit nach Hause … ein bisschen Zeit vergehen lassen … übers Netz verkaufen … Er hat ein Zimmer … vollgestopft mit sämtlichen Computern und Zubehör … das erste Mobiltelefon, groß wie ein kleineres Auto … und so weiter. Du kennst das.
Stavridis lachte, Kopp lachte mit, war aber doch ein wenig verwundert. (War er jemals bei mir zu Hause? Ich sollte endlich aufmerksamer sein.)
Bernard also, nicht wenig mitgenommen vom Wochenende, erschien am Montag bei der Arbeit, und es wartete neuer Ärger auf ihn. Ihm schien, zwei Produkte, zwei Messersets (Bernard kann nichts dafür, immer, wenn diese Messersets gekauft werden, wird ihm so absurd; seine Worte: Mir wird so absurd) mit dementsprechend zwei Produktnummern waren eigentlich nur eins. Nur ein Messerset. Aber zwei Produktnummern. Wenn du was anderes zu tun hast, und wann hast du nichts anderes zu tun, sagst du dir, scheiß der Hund drauf, suchst du dir halt eine von beiden aus und fertig. Aber Bernard, dem gerade eine Standpauke bzgl. Ordnung gehalten worden war, wollte der Sache auf den Grund gehen, und ging also ins Musterlager, um ein für alle Mal klarzusehen: zwei Messersets oder ein Messerset. Und wie er da in der großen Unlogik, denn die Anordnung im Lager war im großen Stil unlogisch, umherirrte, bekam er einen Anruf von einem Kunden von vor 100 Jahren, der ihm erklärte, er sei seine letzte Hoffnung, er brauche händeringend 2 Dutzend Harmonys. Und das war der Moment, in dem Bernard über alle, die ihm in dieser Phase seines Lebens zusetzten, mit einem Schlag triumphierte. Denn ihm ist die Idee gekommen. Vielen Dank!
Dies zum Kellner, der die Teller abräumte.
Die Idee ist, sagte Stavridis und hob die Stimme ein wenig, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, der Kellner drehte sich um, sah, dass er nicht gemeint war, und ging weiter, Stavridis beugte sich über den Tisch, dorthin, wo eben noch der Teller war, die Idee ist, sagte er Kopp ins Gesicht, eine IT-Rarelist zu erstellen und zu verwalten.
Was ist eine IT-Rarelist? stellte Stavridis die rhetorische Frage.
Die IT-Rarelist wird die erste EDV-Handelsplattform in Europa sein, die außerhalb des üblichen Marktes Verfügbarkeiten von »end of life« Produkten, Restposten, Remarketing-Ware und Vorführgeräten zeigt. Sie wird EDV-Händlern europaweit die optimale Möglichkeit bieten, ihre Lagerbestände einzustellen und nach mehr als 150 000 abgekündigten Produkten zu suchen sowie die direkte Anfrage an den Anbieter zu stellen. Es ist an der Zeit, IT-Händlern eine Transparenz außerhalb der üblichen Channels zu bieten und einen direkten Draht zu neuen Anbietern aufzubauen … und so weiter, im offiziellen Ton, den will ich dir nicht antun, ich hab’s nur heute früh schon den Wießies erzählt.
Was sind Wießies?
V. C. Venture Capital.
Ach so.
Bernard hatte schon etwas Geld in Frankreich besorgt, Aris in Athen, aber er kannte auch hier jemanden, und hatte dann noch einen zweiten Kontakt bekommen, du weißt, ich kenn Gott und die Welt, von einer Frau, einer ehemaligen Geschäftspartnerin, die jetzt für einen dieser Business Angel arbeitet. Der Typ ist ein Riese.
Bitte?
Der Mann, den Aris heute früh getroffen hat. 2,14 m, rote Haare, Zickenbart. Dazu der Name: Himmelbauer! Ist das nicht ein schöner Name für einen Risikokapitalisten?
Stavridis’ Brummbass-Lachen brachte die dafür anfälligen Strukturen im Restaurant (Gläser, Teller) zum Klingeln.
Die Frau ist verliebt in ihn! So etwas habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Sie ist älter als er. Fast in meinem Alter. Saß seitlich von uns und himmelte ihn an!
Stavridis lachte.
Apropos (?), lass uns das Dessert woanders einnehmen, ein kleiner Spaziergang wird uns guttun. Und außerdem müsste ich dringend mal auf die Toilette. Entschuldige mich.
Mittlerweile hatte Kopp aufgehört, immer dasselbe zu denken. Nun dachte er an gar nichts mehr. Er hatte einen schweren Kopf, das Essen, der Wein, beides?, er hatte sein Zeitgefühl verloren, saß nur da, dann war ihm, als wachte er auf. Bin ich eingeschlafen? Es war nicht nachzuprüfen. Er sah auf die Uhr, da war eine Uhrzeit, Kopp sah betäubt drauf, konnte sie aber mit nichts ins Verhältnis setzen. Er trank das restliche Wasser aus und wurde wieder etwas klarer. Dafür hatte er auch Zeit genug, denn Stavridis blieb sage und schreibe 20 Minuten weg. Da Kopp sich immer wieder umsah, kam der Kellner zu ihm.
Noch einen Wunsch?
Kopp hatte immer noch Durst, bestellte aber kein Wasser mehr nach, sondern die Rechnung. Das belebte ihn wieder ein wenig. Bezahlen ist des Griechen Ehre, und bis heute war es Kopp noch nie, niemals, bei keiner Gelegenheit gelungen, Stav zu irgendetwas einzuladen. Es war sogar schon mal vorgekommen, dass Stavridis vortäuschte, auf die Toilette zu gehen, aber in Wahrheit bezahlen ging! Diesmal nicht. Kopp gab 15% Trinkgeld.
All das war schon längst vorbei, und Stavridis immer noch nicht zurück. Um sich die Zeit zu vertreiben, synchronisierte Kopp seine E-Mails mit dem Handy. Hätte seine mails synchronisieren wollen, als er sah, dass offenbar Flora angerufen hatte. Ich hab’s nicht gehört. Hätte Flora zurückrufen wollen, aber da stand plötzlich Stavridis neben ihm.
Tut mir leid. Meine Hämorrhoiden. Jetzt können wir gehen. Ich kenne einen guten Eisladen, nur 15 Minuten den Fluss hinunter. Soll ich den Wein tragen?
Kommt nicht in Frage.
Sie gingen am Fluss entlang. Er lag unten, zwischen hohen, schwarz gewordenen Mauern, am Ufer eine schön gepflasterte neue Promenade, darauf nicht wenige, die Zeit und Muße hatten, bei diesem strahlenden Sonnenschein Anfang September dasselbe zu tun, wie Stav und Kopp: gehen, reden. Das Quaken der Bandaufnahmen der Sightseeingschiffe, eins nach dem anderen, als Untermalung.
Und? Was hältst du davon? fragte Stavridis.
Wovon?
Von der Rarelist natürlich.
Ach, das. Nicht so schlecht. Nein, die Idee ist gut. Obwohl ich eher ein Typ für das Neue bin. Aber ich weiß, ich bin kein Maßstab. Du hast es mir auch gut erklärt, überzeugend. Aber die Idee ist alles, was ihr habt, oder? Wenn sie euch einer klaut? Oder euch zuvorkommt? Schneller das Geld zusammen hat?
Stavridis nickte heftig.
Natürlich. Du hast recht. Obwohl, Geld braucht man gar nicht so viel. Könnte man direkt selber haben. Leider haben es Aris und Bernard nicht selber. Aber sie wollen nicht mit einem großen Investor arbeiten, sie, insbesondere Bernard, haben Bedenken, dass man sie, die sie selbst kaum etwas beisteuern können, dann leichter ausbooten könnte. Deswegen arbeiten sie lieber mit mehreren, nicht so großen Quellen. Das kostet wiederum mehr Zeit. Obwohl, ich will ehrlich sein, es ist nicht so, dass sich uns ein Großer aufgedrängt hätte und wir hätten ihn abgelehnt. Wir müssen nehmen, was wir kriegen. Stavridis selbst ist, ehrlich gesagt, eher an der zweiten Phase interessiert. Was ist die zweite Phase? In der zweiten Phase, und das war dann meine Idee, wenn wir etwas Geld verdient haben werden, und das wird schnell gehen, hast du eine Ahnung, wie gefragt diese alten Dinger sind, besonders im Osten und im Süden?!, und da kenne ich mich aus!, also, was das eigentliche Ziel ist, oder eben die nächste Sache, aber auch die wollen wir gemeinsam machen, dass wir etwas Eigenes entwickeln, etwas nicht Überkandideltes, aber Praktisches und vor allem Erschwingliches für die Länder, die sich euer teures Zeug nicht leisten können. Denn das ist euer Problem. Ihr denkt nur an den Hochpreissektor. Aber der Markt ist klein und heiß umkämpft. Und was macht ihr? Ihr verknappt das Angebot auch noch künstlich, um den Preis hochzuhalten! Stavridis ist leidenschaftlich gegen so eine Strategie! Eure Hochnäsigkeit wird euch noch teuer zu stehen kommen! Wir hingegen, rief Stavridis, wollen was für arme Leute machen! Natürlich wird das wesentlich teurer werden als die erste Phase, aber ich gehe davon aus, dass wir das Geld bis dahin schon haben werden. Und wenn nicht: wofür gibt es Engel, nicht wahr?
Stavridis lachte.
Selbstverständlich kennen wir einpaar Leute, die für uns entwickeln würden. Kannst du dich noch an Silver erinnern? Er war bei uns, das heißt, bei Fidelis, ein sehr talentierter Junge, ist nicht mal ein Jahr geblieben.
Nein, Kopp erinnerte sich nicht.
Bernard kennt auch jemanden, mal sehen. Und Mathieu, mein Junge, der ist auch sehr geschickt. Erst 18, hat aber schon eine Antenne nachgebaut, die war einwandfrei.
Von wem hat er was nachgebaut?
Pscht! Stavridis legte einen Finger an seine Lippen und lachte.
(Müsste ich das verstehen? Ich tue es nicht.)
Hier entstand wieder eine Pause, sie trotteten vor sich hin. Das heißt: Stavridis spazierte, Kopp trottete.
So lange, bis es Kopp unangenehm auffiel und er Lampenfieber bekam. Dieser tote Punkt dauert schon zu lange. Der Moment, wenn es Stavridis spätestens auffallen müsste, dass mit mir etwas nicht stimmt, dass ich abwesend und bedrückt bin, verschlossen und uninteressiert, stand unmittelbar bevor. Kopp wollte diesen vermeiden, ihm zuvorkommen, irgendetwas sagen (Wie wär’s mit der Wahrheit? Aris, ich habe das und das Problem und bis vor Kurzem dachte ich, du könntest mir dabei behilflich sein, aber neuere Entwicklungen haben mich wieder durcheinander gebracht, so dass ich im Moment nicht weiß, wem ich vertrauen kann … Nein, so nicht …) aber Stavridis schnitt selbst das sich dehnende Schweigen ab:
Und, fragte Stavridis, wie läuft es bei dir?
Gut, sagte Kopp.
Wie geht es deiner lieben Frau?
Gut.
In der Ehe? Läuft es gut?
Ja.
Versucht ihr noch, ein Kind zu bekommen?
(Woher weiß er das? Habe ich es ihm erzählt?)
Ja, ja, weißt du, so halbwegs.
Halbwegs? Stavridis lachte, wenn auch nicht mehr so herzlich wie zu Anfang. Ihr müsst es schon richtig machen!
Ja, sagte Kopp, wir machen es richtig. Es klappt nur nicht.
Es wird schon noch klappen! Stavridis war sofort bereit, zu trösten. Er kannte Leute, bei denen es 4 Jahre gedauert hat! Und andere, bei denen waren es 7! Es kommt, wenn es kommen will, mach dir keine Sorgen!
Nein, sagte Kopp.
Hier ist der Laden, den ich meine!
Sie nahmen jeweils drei Kugeln, im Becher, nicht in der Waffel. So war es aber dann doch zu kompliziert: Wein, MP3-Player, Becher, Löffel... Sie setzten sich auf eine Bank, mit dem Gesicht zum Fluss. Das Wasser war nun, da sie saßen, nicht zu sehen, nur die Quaimauer, und dann die Quaimauer auf der gegenüberliegenden Seite. Sie löffelten das Eis.
Herrje, wie ein Sohn mit seinem Sonntagsvater! Was hat er mir in den Wein getan? Kopp war schon seit einer Weile sentimental. Erst die Erwähnung des Kindes, und jetzt fiel ihm auch noch sein Vater ein (immer, wenn ich mit Aris bin, passiert das), und im Alter von 43 Jahren bekam er einen Stich ins Herz. Er dachte wieder an das Kind - wir wünschen uns beide einen Jungen - und nahm sich etwas vor. Davon bekam er Tränen in die Augen. Herrje, mit Tränen in den Augen löffele ich mein Eis. Vanille, Schokolade, Kokos.
Er verpasste wieder die Hälfte davon, was Aris sagte.
Was? Entschuldige. Ich war so in dieses Eis vertieft.
Stavridis wiederholte, dass sowohl er als auch Bernard gerne wieder mit Kopp zusammenarbeiten würden. Noch nicht jetzt, das wäre zu früh, aber später, wenn es gut läuft.
Ich bin geschmeichelt.
Wir sollten uns alle in Paris treffen! Hast du Zeit, mitzukommen nach Paris? Wir können bei Bernard wohnen. Er hat eine Wohnung mit Blick auf den Eiffel-Turm, zwar nur seitlich, aber immerhin.
Mit seitlichem Meerblick?
Kopp lachte. Der seitliche Meerblick gefiel ihm so sehr, dass er nach Stunden wieder eine echte Chance gehabt hätte, aus seinem Loch herauszuklettern, da fragte Stavridis:
Wie läuft es in der Firma?
Worauf Kopp wieder nicht anders konnte, als »gut« zu sagen.
In diesem Moment hupte ein vorbeifahrendes Schiff, kein Ausflugsschiff, ein kleiner, leerer Lastkahn genau auf ihrer Höhe, ohne jeden ersichtlichen Grund und in einer Lautstärke, dass Kopp bis ins Mark erschrak, fluchte, sich die Ohren zuhielt. (Sich mit einem mittlerweile zum Glück fast leeren Eisbecher in der Hand das Ohr zuhalten …) Stavridis ebenfalls, er jedoch kichernd. Eine Sekunde später war Kopp schon wieder dankbar, erstens dafür, geweckt worden zu sein, und zweitens sich einige Augenblicke unter dem Tuten verstecken zu können, sich dort sammeln, um am anderen Ende wieder neu anfangen zu können, diesmal richtig:
Das heißt: Ich muss dich was fragen, Aris. Kennst du einen Menschen namens Sascha Michaelides?
Wer soll das sein? fragte Stavridis, während sie die Becher wegwarfen und sich wieder in Bewegung setzten, weg von dem Ort, an dem sie so erschreckt worden waren, weiter die Promenade entlang. Kopp mit Geschenken bepackt, Stavridis mit einer jetzt leeren Umhängetasche mit Werbeaufschrift, schlendernd. Wer soll das sein? Ein Grieche? Dann müsste es »-dis« heißen. Michaelidis. Mit i.
Ich kenne ihn mit »-des«. Kennst du ihn anders?
Ich kenne ihn gar nicht. Wer soll das sein?
Es war also nicht dein Lead?
Mein Lied?
Kopp erklärte es endlich verständlich.
Stavridis sagte, weder der Grieche noch die Armenier seien ihm bekannt. Aber wieso?
Ach, ich dachte nur, sagte Kopp, fing wieder zu zögern an - Bin ich nicht sogar verpflichtet, Stillschweigen zu bewahren, es zumindest nicht jedem zu erzählen? Das sind Geldangelegenheiten, schwierige Geldangelegenheiten - andererseits brauchte er einen Rat und weiters merkte er, wie Stavridis anfing, ebenfalls bedrückt zu werden, er entschied sich wieder um: beziehungsweise, um es von Anfang an zu erzählen …
Er erzählte den Armenier-Kasus von Anfang an, inklusive des Konflikts mit Anthony, obwohl das gar nicht unmittelbar dazu gehörte, aber er hoffte auch diesbezüglich auf einen erleichternden Kommentar, und wenn es nur ein Satz wäre (Aber du kennst ihn doch! Er hatte ihn dir bereits gesagt: »Mach dir nichts daraus. Er respektiert niemanden.« - Also respektiert er mich nicht? Ist es das? So einfach, so brutal?), bis zum vorläufigen, etwas herben Ende. Mit jeder neuen Wendung leuchteten Stavridis’ Äuglein etwas mehr, die Sonne spiegelte sich in seinen Brillengläsern, seine Wangen erglühten, und am Ende ließ er ein unerwartet hohes, perlendes Lachen erklingen.
Die Geschichte erinnerte ihn an seinen ersten Job in Paris! Bei einem gewissen Herrn (Kopp verstand:) Almari. Der hat auch alles immer in bar bezahlt, nie was aufgeschrieben, trotzdem wusste er immer wem wie viel, er war ein sehr korrekter Verbrecher, der Herr Soundso. Ein sehr korrekter Verbrecher.
Stavridis gluckste vergnügt vor sich hin.
Kopp grinste mit, endlich jemand, der die Story honoriert. Erst nach etwa 2 Minuten, in denen Stavridis nur lachte, gluckste, kicherte, sich amüsierte, begann Kopp die Kopfhaut taub zu werden vor Ungeduld und dem zu einer Grimasse verkommenen Grinsen: so lustig ist das nun auch wieder nicht, bzw. deswegen habe ich es nicht erzählt.
Mach dir keine Sorgen, sagte schließlich Stavridis, blieb stehen, sah Kopp, wie diesem schien, mit Zärtlichkeit an. Kopp verzieh ihm sofort. Stavridis legte ihm eine Hand auf den Oberarm. Mach dir keine Sorgen, wiederholte er. Das ist kein großes Problem. Erstens hat der Bankmensch nicht recht. Bzw., natürlich, er muss so sprechen. Aber in Wahrheit wird es überhaupt nicht jedes Mal nachgeprüft. Und zweitens kann man’s einfach in Raten machen. Natürlich musst du das mit der Firma besprechen. Du musst dafür ein Extrakonto eröffnen, und dann zahlst du mal 9000 ein, das nächste Mal, 6 Wochen später, wieder irgendwas, und so weiter. Müssen sie halt ein bisschen warten, umgekehrt machen sie es schließlich auch so. Weißt du, ich bin nicht im Streit gegangen, ich bin immer noch gut mit ihnen, aber es hat bis vor 3 Wochen gedauert, und es hat mich dutzende Mahnungen gekostet, bis sie mir meinen letzten Bonus ausgezahlt haben.
Ach was, sagte Kopp. Tatsächlich? (Du hast Boni bekommen?)
Ja, sagte Stavridis fröhlich und watschelte wieder los. Da sind sie immer schon Schlampen gewesen, das sagt man doch so? Oder ist das zu hart?
Nein, sagte Kopp. Es zu einer Frau zu sagen wäre hart. Bei einer Firma geht’s.
Sie lachten. Danke, Aris. Für den Ratschlag, die Beruhigung, die wiedergekehrte Leichtigkeit. Die freudige Anspannung, die durch die Aussicht auf ein kleines, illegales Spiel entsteht, bei dem man - angenommen - nicht viel zu befürchten hatte. Meine Gelegenheit, Gangster zu spielen. Natürlich nur in homöopathischen Dosen. In homöopathischen Dosen Gangster, was denkst du da wieder zusammen. Darius Kopp kicherte.
Ich hoffe, bei dir gibt es damit keine Probleme? fragte Stavridis.
Was? fragte Kopp, durch das eigene Kichern etwas taub geworden.
Mit der Bezahlung, sagte Stavridis. Ich hoffe, sie zahlen anständig.
Ja, sagte Kopp und schloss den Mund. Seine Kopfhaut fing wieder zu kribbeln an.
Das ist gut, sagte Stavridis und steckte die Nase etwas höher hinauf, um einen extra Zug Luft zu nehmen. Wenn sie schon überall Geld eintreiben, sollen wenigstens auch wir was davon haben, nicht wahr?
Kopp verkniff sich die (dumme) Frage, woher Stavridis davon wisse. Erstens weiß er immer alles. Und zweitens ist es kein Geheimnis. Was sich herumsprechen kann, spricht sich herum.
Und, fragte Stavridis heiter, wer steht diesmal auf der Einkaufsliste?
Auf welcher Einkaufsliste? (Ich werde wirklich immer blöder.)
Stavridis lachte. (Ich weiß, du weißt es, du willst es mir bloß nicht sagen.)
Nein, sagte Kopp aufrichtig. Das ist es nicht. Wir wollen eine dritte Fertigungsstraße bauen.
Stavridis lächelte und wiegte professoral den Kopf.
Und hier wurde es Kopp dann doch allmählich überdrüssig. Beziehungsweise, erinnerte sich. Ich sage die Wahrheit, wenn ich sage, es sei jedes Mal ein Fest mit dir, Aris. Aber wahr ist auch, dass du jedes Mal anfängst, mit mir zu spielen. Katze mit Maus. Andeutungen, kleine Provokationen, aber wenn man nachfragt, sind deine Lippen versiegelt oder es war nur ein Scherz. Obwohl man neben dir geht, hat man das Gefühl, dir hinterher zu dackeln. Das ist anstrengend. Einmal hatte Kopp versucht, dem entgegenzusteuern, indem er Stavridis um Rat anfragte, wie mit einem fiktiven XY umzugehen sei, der sich manipulativ verhalte. Stavridis lachte und sagte: Manipulieren musst du dich schon lassen! (Muss ich das? Du kennst die Antwort.)
Vielleicht, hörte er Stavridis neben sich sagen, Kopp sah nicht mehr hin, er sah vor seine Füße, grauer Vogelflaum zitterte dort, wo sich Kanalwand und Gehsteig trafen, vielleicht stimmt es, sagte Stavridis, und ihr kauft diesmal wirklich nicht wieder ein. Die Kontrollbox, die ihr mit Eloxim eingekauft habt, ach so, das warst ja du, also: das ist eine gute Sache. Die Frage ist, wann die Leute das merken, ob sie’s rechtzeitig tun. Weißt du, sagte Stavridis nachdenklich, anfangs ist eine Firma vor allem eins: eine Idee. Ein Produkt, Produkte und Menschen, die sie entwickeln und vermarkten. Und sie ist, natürlich, von Anfang an und immer: Geld. In Firmen, wo es gut läuft, achtet man darauf, dass die Balance erhalten bleibt. Produkt, Idee, Menschen, Geld. Bei euch gehen Produkt, Idee, Mensch zurück, was bleibt also? Geld. Deswegen sammelt ihr Geld ein. Ganz einfach. Das ist die Antwort. Ihr sammelt Geld ein, weil die Firma Geld ist. Willst du was trinken? Ich bin schon wieder am Verdursten. Diese Hitze. Da ist eine Hotelterrasse, lass uns was nehmen!
In der Tat hatte auch Kopp einen trockenen Mund, dazu der Anblick des Vogelflaums, ihm wurde etwas übel, er presste die Lippen aufeinander, nickte nur.
Sie bestellten zweimal Sprudelwasser. Die reine Vernunft. Gewünscht hätte ich mir ein Bier. Kopps Hände klebten ein wenig (das Eis). Er fasste das Glas an, ließ es los, fasste es an. Er sah Richtung Fluss, damit es so aussah, als hätte er eine Richtung. Während es sich in ihm drehte. Hin und her und hin und her, in seinem Kopf. Stavridis’ letzte Sentenzen hatten sich vernünftig angehört, auch tröstlich (Er mag mich, er will mir nichts Böses, er ist bloß gierig auf Klatsch), aber Kopp hätte nicht sagen können, was das Tröstliche war, wie sie als Tröstung funktionieren sollten. Vielleicht, wenn er zur Gänze verstanden hätte, was gesagt worden war. Aber ich habe es nicht verstanden. Ich verstehe immer weniger. Sagen konnte er jetzt schon gar nichts mehr. Sie saßen da, bei ihren Sprudeln, endgültig ins Schweigen versunken. Das war gut, es gab Kopp die Gelegenheit, sich wieder in die Umgebung einzuhören. Sich dadurch wieder zurückzubringen - in die Realität. Kopp horchte. Nicht auf die nahen Geräusche (Wasser, Schiffe, Kaffeehausbetrieb), sondern auf die fernen: wo ist die nächste Straße, wo fahren die Autos, wie spät ist es eigentlich?
Stavridis blickte auf seine Armbanduhr und sagte: Gleich 5.
Sein Flug ging um 7.
Kopp war drauf und dran, sich für ihn zu erschrecken, da sagte Stavridis:
Ah, da ist ja Mathieu!
Ein dünner junger Mann mit abstehenden Ohren kam auf sie zu. Stavridis stellte Darius Kopp seinen jüngeren Sohn vor.
Holst du unsere Koffer, Mathieu? Das ist nämlich unser Hotel. Danke, dass du mich bis hierher begleitet hast.
Das Gesicht, das Kopp machte, löste in Stavridis das zweite Mal an diesem Tag ein perlendes Lachen aus. Er riss Kopp an sich und drückte ihn so fest an seine Brust, dass sich das Handy schmerzlich in Kopps Rippen bohrte.
Mathieu kam mit zwei kleinen Boardkoffern aus dem Hotel heraus.
Es war schön mit dir. Wir bleiben in Kontakt! Du musst mich mal in Athen besuchen!
Und bevor Kopp es richtig begriff, waren sie fort.
1. Flora zurückrufen
Er nahm eines der Taxis, die vor dem Hotel warteten, und ließ sich ins Büro fahren.
2. London anrufen,
oder umgekehrt, aber davor noch einen Cappuccino, bevor ich stehenden Fußes einschlafe. Aber dann ging er einfach an der Küche vorbei, gleich auf sein Büro zu, denn er spürte, es war schon zu spät. Erreichte das Büro quasi schon mit geschlossenen Augen, stieg sich, sobald die Tür hinter ihm zu war, in den Hacken, stieg aus dem einen Schuh (kleiner Schmerz, bald nicht mehr sichtbare Abschürfung), dann aus dem anderen, legte sich auf den Boden, auf den nachtblauen Teppich, und schlief, wie niedergekeult, sofort ein.

Die Nacht

Er schlief gut. Tief, erholsam. Er hatte 20 Minuten geplant, es wurden anderthalb Stunden. Eine gute Mütze Schlaf. Er träumte nichts. Trotzdem erwachte er wie aus einem Traum, mit einem Ruck, saß plötzlich, der Speichel wollte ihm aus dem Mundwinkel rinnen, er zog ihn schnell zurück, es gelang nicht vollständig, er musste mit dem Handrücken nachwischen.
Wie spät ist es? Er blinzelte, stellte auf seine Armbanduhr scharf: halb 7. Flora ist schon bei der Arbeit. In London ist es halb 6. Ein wenig war ihm schwindlig, er blieb sitzen, sah nicht zum Fenster, hinter dem nur der wolkenlose Himmel war, davon schwindelt einem noch mehr, er sah hinunter, zu seinen Beinen in den Anzughosen, drum herum nachtblauer Teppichboden. Wie schmutzig er ist. Machen die hier gar nicht mehr sauber? Der Papierkorb war auch immer noch voll. An einem Montag. Wie ist das möglich?
Er rappelte sich auf, angelte nach seinem Stuhl, setzte sich hinein. Auf dem Platz toste noch das Leben - abnehmender Tagverkehr, beginnender Abendverkehr - die Sonne schien noch aus voller Kraft, bis Mitternacht könnte man noch beinahe einen ganzen Arbeitstag hinlegen.
Um 18:42 rief erneut in London an.
Bis zum fünften Klingeln ging keiner ran, dann musste Kopp auflegen, denn gleichzeitig mit dem ersten Klingelton überkam ihn ein mächtiger Harndrang. Er rannte zur Toilette.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Herr Lasocka am Etagenempfang noch da war, aber bereits dabei, seinen Arbeitsbereich aufzuräumen. Er sieht mir mit Anerkennung und etwas Bedauern hinterher. Ich sehe aus wie ein schwer arbeitender Mann. Verschwitzt und zerzaust. Und schon wieder auf Socken. Was soll’s. Jeder hat seine Marotten. Kennt man Kopp halt als den, der immer auf Socken durch das Bürohaus unterwegs ist. (Stinken sie? Ich merke nichts.)
Er wusch sich Hände und Gesicht mit nach Maiglöckchen riechender Flüssigseife. Er trocknete sich ab, in dem er sich mit den nassen Händen durchs Haar strich. Wasser lief ihm in den Kragen. Das war so angenehm, dass er - nach einem Blick nach hinten, zur Eingangstür, da, sieh an, abschließbar - nah dran war, das Hemd und das Unterhemd auszuziehen und sich den ganzen Oberkörper zu waschen. Er unterließ es. Der Spiegel ist übrigens getönt, zitiert eine polierte Goldfläche, in einer kleinen Vase links steht (heute) eine pinkfarbene Orchidee. Darius Kopp verstrich das Wasser sorgfältig im Nacken und sah sich dabei an. Ich bin ein fetter Mann, dennoch sehe ich irgendwie gut aus, besonders in diesem Spiegel.
 
Zurück im Büro rief er nicht noch einmal an, sondern verfasste zwei Mails. Eine an Sandra mit cc Anthony: Bitte, mit den besten Grüßen, in simple english, um Information bzgl. aktueller Lieferzeiten sowie Kontostand. Und eine zweite nur an Anthony: Bitte um Rückruf, wichtige Neuigkeiten im Armenien-case. Zögerte, ob er Bill bcc setzen sollte. Verzichtete. Ich gebe dir noch genau einen Tag, Anthony. Bzw. eine Nacht.
Ein letzter Blick auf die E-Mails. Und die Werbung höret niemals auf. Once again Multipack is the preferred partner! Wir geben Ihnen die Freiheit, den richtigen Weg zu finden! Vielen Dank.
 
Er dachte daran, eine Blume für Flora zu kaufen, eine rote Rose. Oder eine, die besonders wäre. Er ging extra zu Fuß, so war die Chance größer, unterwegs einen Blumenladen zu sehen. Wärst du lieber gleich ins Einkaufszentrum gegangen, vor deiner Nase, bzw. unter deinen Füßen, ins Souterrain, wo die Lebensmittel sind, da ist ein Blumenstand. Aber es fiel ihm nicht ein. Und natürlich ergab sich unterwegs keine einzige Gelegenheit, eine Blume zu kaufen. Kein Laden, kein Kiosk, kein Stand, kein fliegender Rosenverkäufer. Die Stadt kochte, nein, dazu braucht es Wasser, das hier war trocken, sie glühte also, überall Roste: in den Gehsteigen, um Baumstämme herum, an den Balkonen, an den Türen, an den Autos, Bauzäune, Fahrräder, Fahrradständer, Poller, Brückengeländer. Tische und Stühle aus Metall. Normalerweise fällt mir so etwas nicht so auf. Vermutlich hatte er Durst. Ja, er hatte Durst, und auch der gute Schlaf im Büro hatte ihn nicht in dem Maße erfrischt, wie er zunächst gedacht hatte. Vor allen Dingen wurden ihm schon wieder die Füße zu heiß. Der kilometerlange Marsch mit Stavridis hatte seine Spuren hinterlassen. Ich brauche wirklich neue Schuhe. Oder wenigstens neue Socken.
Kurz und gut, der Weg zum Strand, dürstend in Hitze und nicht enden wollender Rushhour, war eine mittlere Tortur. Schau, wie verschwitzt ich bin, Flora, sag nicht, ich hätte es leichter. Kurz vor Schluss, gerade, als er dachte, hätte ich mal die Orchidee vom Klo mitgenommen, exakt auf dem Nachbargrundstück des Strands, kam er doch noch zu seiner Rose. Links und rechts neben dem Eingang wuchsen dort zwei Kletterrosen. Kopp beschloss, sich nicht einmal umzusehen. Wenn du dich erst umsiehst, bist du verloren. Wenn mich einer fragt, sage ich mit meinem charmantesten Lächeln, ich brauche eine Blume für meine Frau, es ist sehr wichtig, ich habe gerade erfahren, dass sie schwanger ist. Wer könnte einem da noch an den Kragen gehen?
Es ging ihm keiner an den Kragen, aber die Rose war widerspenstig und stach ihn. Er musste fluchen und an ihr zerren, sie riss nicht sauber ab, unten am Stiel blieb ein Stück Rinde hängen, und überhaupt war sie zu kurz, man sieht, dass ich sie irgendwo geklaut habe. Aber ist das nicht noch ein wenig charmanter?
 
Flora war offenbar sehr sauer, denn sie kam nicht einmal in die Nähe seines Tisches. Kann sein, sie hatte die Rose gar nicht gesehen.
Aber Melania kam.
Grüß dich, sitzt du absichtlich nicht in Floras Bereich?
Das hier ist nicht Floras Bereich? Ich bin vielleicht ein Trottel. Danke, Melania.
Er setzte sich um, Flora kam.
Es tut mir leid, ich hab’s nicht mehr rechtzeitig geschafft, ich bin herumgelaufen wie ein scheißender Köter, aber schau, was ich dir geklaut habe.
Scheißende Köter laufen nicht herum, im Gegenteil, Danke für die Blume, ist die von nebenan? Und ansonsten, was soll’s, ich bin’s ja gewohnt. Was darf ich bringen?
Das größte Bier, das ihr habt, ich bin am Austrocknen.
Sie brachte das Bier, er fragte, warum sie angerufen habe. Der Chef war nicht da, sie konnten ein wenig entspannter reden als sonst.
Nichts weiter. Das heißt, sie war - nicht das erste Mal - von einem dämlichen Werbeanruf geweckt worden.
Was für einem Werbeanruf?
Was weiß ich. Versicherung, Telefon, irgendwas. Ich hab gleich wieder aufgelegt. Aber sie ärgerte sich, denn sie hatte ihn schon 100mal gebeten, ihr zu erklären, wie man bei ihrer Anlage das Telefon aus- oder wenigstens leise stellen kann.
Ich weiß es doch auch nicht. Steht bestimmt im Handbuch.
Und wo ist das Handbuch?
Das wusste Kopp nicht.
Es wird irgendwo in deinem Misthaufen sein. … Eines Tages wird uns dieses Chaos verschlingen. Flora sah es bildlich vor sich. Es sieht aus wie ein Monster aus einer Kindergeschichte, ein großer Kloß, Arme, Beine unwichtig, entscheidend ist der Bauch, es ist ein Bauch und ein riesiger Schlund in einem, der aufgeht und: hamm!
Kopp lachte ein wenig.
Außerdem ist ein Brief vom Steuerberater gekommen.
Ein Brief vom Steuerberater? Wieso schreibt er mir einen Brief? Wieso ruft er nicht an?
Das wusste Flora nicht.
Was steht drin?
Ich habe ihn nicht aufgemacht. Aber was wird es schon sein? Du hast seit zwei Jahren keine Steuererklärung abgegeben. Tu mir den Gefallen und regle endlich deine Finanzen, ja? Das ist auch so ein Chaos. Wirklich. Tu mir den Gefallen.
Ja, ja. Sobald ich Zeit habe. Ich hab ja nicht einmal Zeit, mir ein neues Spray zu holen.
Dazu sagt sie nichts. (Was soll ich dazu sagen? Das kann ich dir nicht abnehmen. Das Gesetz verbietet es mir. Du musst selber zum Arzt.)
Er weiß das sehr gut und sagt ebenfalls nichts mehr.
Sie ging weg, sie arbeitete. Sobald er wieder Blickkontakt hatte, winkte er sie heran. Sie kam.
Kann ich ein Glas Wasser für meine Rose haben?
Sie ging, kam mit dem Wasser zurück.
Warum regst du dich eigentlich auf? Wir sind getrennt veranlagt.
Aber wir haben ein gemeinsames Budget. Wenn du wieder hunderte oder tausende Euro Strafe zahlen musst, spielt das auch für mich eine Rolle.
Ja, ja, ja, er versprach, er werde sich darum kümmern.
Er saß eine Weile da, sah ihr zu. Glaub’s oder nicht, er bekam wieder Hunger. Aber er bestellte nichts mehr, auch kein Bier.
 
An der S-Bahn, nach dem Aussteigen, kaufte er sich dann einen Döner. Er aß ihn, während er nach Hause lief. Nicht durch den schlecht beleuchteten Grünstreifen, sondern über die Straße. Es war noch nicht so spät, aber hier war schon keiner mehr unterwegs. Das Klopfen seiner Absätze.
 
Flora hatte auch etwas zu essen eingekauft. Wurst, Käse, Gemüse, Obst, Brot. Keine Schokolade. Kopp nahm einen Whisky. Und Stavridis’ Wein? Den hatte er im Büro vergessen. Besser so. Sonst würde ich den auch noch trinken. Als Bernard das erste Mal im Leben Wodka zu trinken bekam, kotzte er nachher an die Wand des Hotelflurs. Am nächsten Morgen entschuldigte er sich bei uns. Dabei hatten wir es gar nicht gesehen.
Der Steuerberater hatte eine Mahnung geschickt. Sie haben meine letzte Rechnung immer noch nicht bezahlt. Nach nunmehr 2 Jahren empfand der Steuerberater es als angebracht, ihm Zinsen zu berechnen. Außerdem teilte er mit, dass er ihn nicht mehr vertreten würde. Zuletzt wies er noch darauf hin, dass, wenn Kopp weiterhin keine Steuererklärung abgäbe, ihm in naher Zukunft eine Schätzung von Amts wegen drohe, und zwar auf der Grundlage des letzten versteuerten Einkommens. Kopp warf den Brief auf den Tisch zurück. Er holte das Bügelbrett hervor und stellte es vor dem Fernseher auf. Er bügelte Hemden und sah dabei sinnlos fern.
Später, nachdem das Bügeln beendet war, holte er sich noch einen Whisky und setzte sich auf das Sofa.
Wie man nicht aufhören kann, immer und immer wieder von vorne durch zu zappen, obwohl nichts kommt. Vor allem sah er gar nicht hin, er sah sich den Bildschirm selbst an. Das Problem war schon einige Wochen alt, bis jetzt hatte er darüber hinweggesehen, um sich nicht ärgern zu müssen. In der Mitte des Bildschirms waren zwei dunkle Streifen entstanden, als wäre er gewellt, wie eine schlecht gespannte (alte) Kinoleinwand. Ich habe Funkmechaniker gelernt, mit Röhrenfernsehern, die heute kein Mensch mehr benutzt, dennoch, so viel war ihm klar: von einer Reparatur konnte nicht die Rede sein. Das teure Scheißding ist kaputt. Es muss ein neuer her. Aber vielleicht doch lieber ein Beamer.
Er holte seinen Laptop und recherchierte nach Beamern.
Später bekam er Hunger, nahm ein Würstchen aus dem Kühlschrank, riss ein grünes Blatt von einer Porreestange ab, hielt beides in einer Hand und biss ab, während er mit der anderen surfte. Später nahm er noch einen dritten Whisky.
Der Gedanke, früh ins Bett zu gehen, tauchte auf, aber dann surfte er weiter und weiter, sah dabei weiter und weiter fern, mit der Zeit wurde das Programm auch ein wenig besser, er legte den Laptop beiseite. Er sah sich einen Schieß- und Verfolgungsfilm an, schlief darüber ein, wachte mitten in einem anderen Schieß- und Verfolgungsfilm auf und brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, dass das nicht dieselben Autos und nicht dieselben Kanonen waren. Später kam ein Western, später wurde es wieder schlimmer, es kamen fast nur noch kein bisschen erotische Titten und Ärsche und hirnverbrannte Spiele. Sie bekommen 40 000 Euro (Sternchen: 2000 garantiert), wenn Sie diese Buchstaben zu einem sinnvollen Wort ordnen: FELPA.
Na! Jetzt aber! Ran ans Telefon und angerufen! Was ist los mit Ihnen? Wieso rufen Sie nicht an?
Weil ich vielleicht viel Dummes denke, sage und tue, aber ein Idiot bin ich nicht. Er schaltete trotzig den Fernseher aus und ging ins Bett, noch bevor Flora zu Hause war.