MONTAG
Der Tag
Am Wochenende sind zwei Nachrichten für Sie auf
dem Anrufbeantworter der Etage gelandet, sagte Herr Lasocka.
(Frau Bach war dem Vernehmen nach die nächsten 4 Wochen im Urlaub.
Sie hat einen Lover in Venezuela. - Frau Bach hat einen Lover in
Venezuela? Was man nicht alles erfährt.)
Es sind zwei Nachrichten für mich auf dem
Anrufbeantworter der Etage gelandet? Wie ist das möglich? Kopp
kniff mürrisch die von Helligkeit geplagten Augen zusammen.
Wie nach dem uferlosen Sonntag nicht anders zu
erwarten (?), hatte ihn der Montagmorgen überrumpelt. Als er
erwachte, war es schon kurz vor 9 Uhr. Wie ist das möglich, wieso
hat der Handywecker nicht geklingelt? Fluchend taumelte Darius Kopp
aus dem Bett, taumelte ins Bad, fand dort alles erst nach mehreren
Anläufen: Wo ist dies, wo ist jenes, neue Scherfolie, Zahnseide,
Nasenhaarschneider, Nagelknipser, Joint (=Asthmaspray)? Fluch, das
war der letzte Schuss (=die letzte Dosis), muss zum Arzt, wann soll
ich das noch machen? Taumelte zurück ins Schlafzimmer, planschte
blind in Schubladen herum: Schlüpfer, Socken, Unterhemd, braucht
man bei der Hitze ein Unterhemd? Damen tragen Strümpfe, Männer von
Welt Unterhemd? Und was ist mit dem Oberhemd?
Er fand Oberhemden, viele sogar, weiß, blau-weiß
gestreift, blau, jeweils ein Dutzend Mal, aber lauter langärmelige,
wo sind die kurzärmeligen? Ein Gentleman trägt keine kurzärmeligen
Hemden, nicht einmal bei 40 Grad Hitze? Mir egal, bin ich eben
keine Dame. Ist das gebügelt oder nicht? Im Gedränge im Schrank
wieder verknittert. Sollte welche wegschmeißen. Ja, das sollte ich.
Und einpaar neue kaufen. Dieses: bügeln, oder nicht bügeln?
Das Bügelbrett machte beim Aufstellen ein
knatterndes Geräusch.
Schlaf weiter, Schatz, ich muss nur schnell ein
Hemd bügeln.
Er war schon fast fertig, bügelte zum Abschluss
noch einmal kräftig über den Kragen - Die richtige Reihenfolge beim
Bügeln von Herrenhemden ist: Kragen, Manschetten, Vorderteil mit
Brusttasche, Vorderteil ohne Brusttasche, Rückenteil, Ärmel, Kragen
- als ihm ein Verdacht kam: Ist dieses Hemd nicht schon
vergilbt?
Die untere Etage liegt vormittags im Schatten.
Hinauf also auf die Terrasse, aber dort blendete die Sonne bereits
zu stark. Wieder herunter. Warf das Hemd von sich, zerrte ein
anderes aus dem Schrank. Ist es denn die Möglichkeit? Mit einem Mal
waren gar keine Hemden mehr da! Bzw. es waren welche da,
viele, aber plötzlich hatte jedes davon irgendeine Macke. Es gibt
solche Momente. Da kommt das Schäbige der Dinge zum Vorschein.
Vergilbt, vergraut, Manschette ausgefranst, Knopf fehlt, zu klein,
Fleck auf der Brusttasche. Ich habe kein gutes Hemd mehr,
Flora!
Zerrte an den Hemden, die dünnen Drahtbügel aus der
Reinigung verhakten sich ineinander, er zerrte und fluchte, die
Bügel schepperten, manche fielen hinunter, in den Schrank hinein,
in die Untiefen, andere schleifte er selber heraus und warf sie
gleich auf den Boden, ein Schwarm Papierflieger, der
gelandet ist, er ging raschelnd durch ihn hindurch - endlich mit
einer Beute in der Hand. Natürlich war mittlerweile aus sämtlichen
Poren der Schweiß getreten, wo ist mein Schweißtuch, Flora, wo mein
grünes und wo mein rotes Schweißtuch, oder wenigstens ein Handtuch.
All das, selbstverständlich, nackt. Dass nackte Frauen sexy
aussehen und nackte Männer komisch, ist allgemein bekannt. (Das
Gebaumel!) Doch nicht mehr lange! Er wischte sich, schlüpfte ins
Hemd, schlüpfte wieder heraus, Unterhemd (damit der Schweiß
wenigstens nicht sofort an die Oberfläche tritt!), dann
erneut raschelnd durch die am Boden liegenden Hemden - gleich,
gleich hebe ich sie auf, bevor ich gehe, spätestens.
Gottverdammtnochmal! Sie setzte sich mit einem Ruck
auf, riss sich die Ohropax aus den Ohren. Warum musst du das immer
machen? Jeden verdammten Morgen? Warum, sag mir das! Man hört dich
sogar durch die Ohropax durch! Durch die Ohropax! - In jeder Hand
ein kleiner rosafarbener Klumpen, den sie ihm zeigt. - Was soll ich
noch machen? Mir Blei in die Ohren gießen?
Es tut mir leid …
Ach!
Sie warf die Ohropax irgendwohin, warf die Decke
irgendwohin, stürmte hinaus - Barfuß, zerzaust, wehenden
Nachtkleids. Wirf mich den Löwen vor: ich finde es
zauberhaft. Hoffentlich sieht sie nicht, dass ich lächeln
muss … - er suchte leise (lächelnd) nach einer Krawatte, dem
Schmuck des Mannes. Mit der Linken blätterte er durch die
Krawatten, mit der Rechten sparte er Zeit, indem er zugleich den
Kragenknopf zuknöpfte. Geht nicht. Er musste doch beide Hände
einsetzen, der Knopf quälte sich knirschend durch das Knopfloch.
Darius Kopp atmete erleichtert ein und merkte: da ist kein Platz.
Der Knopf drückte auf den Kehlkopf, was ist passiert, bin ich schon
wieder
dicker geworden, nein, er hatte sich nach dem Aufstehen gewogen,
unverändert 106 Kilo, also was ist das jetzt? Bin ich etwa
gewachsen? Wäre das möglich, in meinem Alter? In disziplinierter
Panik den Knopf wieder öffnen, dann fluchend, weil er nicht zurück
will. Kopp entschloss sich zu Gewaltanwendung, was nicht seine Art
ist, nie hatte er als Kind auch nur eines seiner Spielzeuge kaputt
gemacht, ein Rätsel, was in anderen Kindern vorgeht, seinem Teddy
sogar einen Knopf auf die Hose genäht, mit schmutzig weißem Faden,
und jetzt war da wieder ein Knopf, den hatte auch jemand angenäht,
und zwar so fest, dass er ihn nicht abgerissen bekam. In seiner
Verwirrung fing er an, das Hemd von unten aufzuknöpfen, so rannte
er die Treppe hinauf.
Flora?
Sie war nicht auf der Terrasse, nicht im
Wohnzimmer, nicht in der Küche, nicht in ihrem Bad. Wo bist du?
Herrje, bin ich ein Idiot, sie wird in ihrem Zimmer sein! Er rannte
die Treppe wieder hinunter, das Hemd flatterte ihm an den Seiten,
bis auf den Knopf ganz oben am Kragen. Flora?!
Hier, als er Flora?! rief, glitt er aus und fiel
die Treppe hinunter. Er hatte Glück. Er landete auf dem Hintern,
noch bevor er auf dem Ellbogen gelandet wäre und rutschte so drei
oder vier Treppenstufen abwärts, bevor er anhielt.
Scheiße!!! schrie Darius Kopp. Die gefallenen
Hemden brandeten aus dem Schlafzimmer in den Flur heraus, beinahe
bis an seine Füße.
Floras Tür ging auf: Was treibst du da?
Als sie sah, was er trieb: Hast du dir
wehgetan?
Das hatte er tatsächlich. Das Steißbein wird
mehrere Tage schmerzen, aber das wird er erst auf dem Weg zur
S-Bahn merken, jetzt war das Hauptproblem immer noch der
Knopf.
Mit ersterbender Stimme: Ich ersticke!
Keine Panik. Sie hockte sich neben ihn und öffnete
den Knopf. Ihre Finger waren kühl.
Ich bin nicht dicker geworden, um das
klarzustellen. Ich habe mich gewogen. Wie kann mir das Hemd nicht
passen?
Weil der Körper in der Hitze anschwillt? Oder man
einen dicken Hals bekommt, wenn man sich aufregt?
Ich weiß, sagte Darius Kopp, obwohl er überhaupt
nicht daran gedacht hatte.
Er saß schuldbewusst vor ihr - Was wäre ich nur
ohne dich? Derselbe. Mit anderen Konsequenzen - sie nahm seinen
Kopf in beide Hände, wischte den Schweiß von seiner Stirn und
küsste ihn. Zuletzt auf den Mund. Ließ ihn los und lachte.
Warum lachst du?
Du bist komisch.
Schließlich hatte sie ihn doch irgendwie
zusammengekratzt, auch er riss sich zusammen und war endlich
unterwegs. Montag, ein Arbeitstag, 3x8=24, und wie viel davon schon
verloren? Beim Gehen tat das Steißbein weh. Nicht immer, manchmal,
ohne Regelmäßigkeit, so, dass man es zwischendurch vergessen
konnte, damit man beim nächsten Mal umso unangenehmer überrascht
war. Ein höhnischer Schmerz. Zudem schien auch das Hemd, das
er schlussendlich angezogen hatte, am Hals zu eng zu sein. Obwohl
im Grünstreifen keiner war, fühlte sich Kopp zu sehr beobachtet,
als dass er sich getraut hätte, hinzufassen, lockern, in der
S-Bahn dann sowieso. Ignoriere es. Denk an etwas anderes. Nutze die
erhöhte Position, den Blick in fremde Höfe und Stuben, um dich von
Neuem zu sortieren.
1. ,
2. ,
3. ,
Außerdem 4., endlich einen neuen VAD (Value Added
Distributor)
mit ein bisschen Sachverstand finden, oder wenigstens einen für
Drop & Ship, damit endlich die Kartons wegkommen und man mehr
Übersicht hat.
Nicht zu vergessen 5., generell Ordnung schaffen,
die Abrechnungen machen, Reisen und Ausstände.
Als er auf der Rolltreppe hinauf ins Licht fuhr,
war er fertig damit, aber seine Laune wollte sich immer noch nicht
bessern. Das Steißbein, der Hals, der Kopf, die Fersen (die
Schuhe!), überall latente Schmerzen. Er kniff mürrisch die Augen
zusammen.
Wie ist das möglich, Herr Lasocka? Wie kann einer,
der mich anruft, auf Ihrem Anrufbeantworter landen? Wieso
nicht auf meinem Handy, wo ich es doch extra so programmiert
habe?
Das konnte Herr Lasocka natürlich nicht wissen. Er
konnte nur Vermutungen anstellen: Vielleicht hatte er Ihre
Durchwahl nicht?
Wer hatte meine Durchwahl nicht?
Das hatte Herr Lasocka nicht genau verstanden. Der
Herr sprach mit Akzent.
Die erste Nachricht war:
Bin in der Stadt, willst du mit in ein Konzert?
Mathieu will nicht. Gute Plätze. Göteborgs Symfoniker. Dann drei
Worte, die Herrr Lasocka nicht verstand. (Messiaen, Eötvös,
Skrjabin.)
Die zweite war:
Das Konzert gestern war gut, heute Abend habe ich
keine Zeit, aber wie wär’s Montagmittag? Das war der Alex.
Welcher Alex? (Mürrisch, immer noch mürrisch. Ich
sollte aufhören damit. Lasocka ist nett und kann außerdem für
nichts.)
Sie hörten die Nachrichten noch einmal gemeinsam
ab, und endlich hatte Kopp einen Anlass zu strahlen. Ach,
Aris! Aris Stavridis! Aris Stavridis hat angerufen! Er ist
in der Stadt! Er
will sich Montagmittag mit mir treffen! Wie spät ist es jetzt?
10:30?! Danke, Herr Lasocka, meinen überschwänglichen Dank!
Rein ins Büro, runter mit der Krawatte, wohin
damit, da ist ein Garderobenständer, Kopp warf und traf(!), das hob
seine Laune noch ein wenig mehr. Lächelnd stand er am Ende des
Pfads am Fenster und sah hinaus.
Aris Stavridis.
Liebster Exkollege aus dem ehemaligen Büro Paris,
dort zuständig für Vorderasien und Nordafrika. Der mich bei meinem
allerersten Sales Meeting in Sunnyvale ausgesucht hat, mein Führer
durch Ober- und Unterwelt zu sein. Alltäglicher ausgedrückt: mein
väterlicher Freund. Der schon im Hot Tub saß, als ich im Innenhof
des Hotels ankam. Der Hof war trostlos, zwei Palmen in Töpfen,
rundherum Wände aus Pappe, wie amerikanische Wände eben sind,
dahinter die Straße, und Kopp nahm das auch alles wahr, aber ich
bin nicht jemand, der sich durch so etwas die Laune verderben lässt
(ein Hot Tub ist gut, egal, wo er steht). Kopp wüsste nicht
mehr zu sagen, ob er Stavridis überhaupt gegrüßt hatte, wenigstens
mit einem Kopfnicken, bevor er sich neben ihn plumpsen ließ.
Grinsend saß Darius Kopp im heißen Sprudelbad und sah in den
Himmel, diesen Jetlag-Himmel, und war froh und dankbar. Darüber
schlief er ein, und als er aufwachte, sah er, dass Stavridis bei
ihm sitzen geblieben war, weil er ihn nicht wecken wollte, aber
allein lassen konnte er ihn auch nicht, nicht, dass du mir noch
ertrunken wärst. Übrigens, ich bin Aris aus dem Büro Paris.
Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.
Danke, sagte Aris, dass ich dich jetzt jedem so
vorstellen kann: Das ist Darius aus dem Büro Berlin, dem ich das
Leben gerettet habe, damit a) alle lachen können und b) dich
deswegen
nicht mehr vergessen und c) sich auch daran erinnern, wer ich
bin.
Der, um mich (!) dafür zu belohnen, am
nächsten Tag einen Rundflug über die San Francisco Bay spendierte.
Weil ich der Dickste war, durfte ich vorne beim Piloten sitzen, und
als aus den berühmten Nebelschwaden die berühmte Golden Gate Bridge
auftauchte, sagte der Pilot, ich solle den Steuerknüppel auf meiner
Seite nehmen und die Maschine einfach gerade halten. Später am
Abend gab es Surf’n turf und die wahre Geschichte der Firma
zur Einführung. Denn, wir wollen uns nichts vormachen: die Firma
ist ebenso der hohe Mythos der Corporate History wie der niedrige
des Gossips. Aris Stavridis nahm gerne die Rolle der achtarmig
Informationen verteilenden Hausgottheit auf sich. Profan werden sie
mich dir als die größte Klatschbase unseres kleinen Unternehmens
beschreiben, dabei ist es in Wahrheit Ken, sagte er und zeigte auf
den dritten Mann, den sie dabei hatten, einen Chinesen namens Ken
Lin (später immer nur in einem Wort KenLin genannt). KenLin lachte
schluchzend.
Es waren einmal zwei Freunde, begann Aris
Stavridis, Sam Morber, genannt The Morb, und Daniel King, ehemals
Kim, genannt The King. Sie kannten sich aus Highschool-Tagen,
trafen sich später am College wieder. Der Legende nach in einem
Computerclub, in Wahrheit war es ein Saufclub. Wir sprechen von
Mitte der 80er Jahre, von einem stinknormalen Studentenkeller, in
dem alle nur mit Bieren herumstanden. Weil es mit Bier zu lange
dauert, bis man betrunken wird, gingen sie zu Sam nach Hause und
machten mit Tequila weiter. Sam, der der Nerd in dieser Story ist,
und den Access Point entwickelt hat, auf dessen Grundlage Fidelis
Inc. gegründet worden ist, soff gegen seine Melancholie an, Dan,
der den charismatischen Geschäftspartner gibt, gegen seine
Schüchternheit und seine
Sprachschwierigkeiten. Wenn Dan King zu nüchtern ist, nuschelt er
so stark, dass man einen beträchtlichen Teil davon, was er sagt,
nicht versteht. Mach dir also nichts daraus, falls morgen nur jedes
10. Wort bei dir ankommt. Meistens reicht das auch aus. Im
Wesentlichen geht es bei solchen Sales Meetings doch darum, dass
man sich mal sieht: Das sind also die Nasen, mit denen ich
an einem Strang ziehe. Die unerfüllbaren Vorgaben, für die man dir
im Austausch astronomische Boni verspricht, damit du den Rest des
Quartals zwischen Panik und gieriger Hoffnung schwanken kannst,
bekommst du später sowieso in Memo-Form. Wenn Dan etwas getrunken
hat, spricht er übrigens brillant. Very charming und überzeugend.
In solchen Momenten ist er beinahe liebbar. Nach Stavridis’
Beobachtung und Schätzung lag der zu bevorzugende Korridor zwischen
mindestens 2 und maximal 5 Tequilas.
KenLin lachte schluchzend.
Natürlich, sagte Stavridis und schloss, weil er
nicht zwinkern kann, kurz beide Augen, mache ich nur Scherze.
Willst du die ganze Wahrheit wissen, fragte
Stavridis später, als sie allein waren. Nichts Schockierendes, aber
es ist besser, du siehst klar. Die letzte eigene Idee hatten wir
vor 10 Jahren. Genauer gesagt, hatte sie jemand aus Sams
Entwicklungsteam, dessen Namen inzwischen in Vergessenheit geraten
ist, der selbst irgendwo verschwunden ist, unwichtig. Das
Entscheidende ist, wir haben aufs falsche Pferd gesetzt, dachten,
HomeRF würde das nächste große Ding sein, aber es wurde nicht das
nächste große Ding. So etwas kommt vor, immer wieder, selbst bei
den Besten. Ob das der letzte Tropfen war für Sam oder ob er
ohnehin irgendwann den Kampf gegen Melancholie und Trunkenheit
(Melancholie, die in Trunkenheit endet, die in Melancholie endet,
die in Trunkenheit endet …) verloren hätte, kann ich dir nicht
sagen. Fakt ist, er erschien bei einem
Essen des Vorstands in so einem desolaten Zustand, dass er King
als »yellow trash« beschimpfte und ihm den chinesischen Feuertopf
in den Schoß kippte (zum Glück nicht getroffen, nur einpaar
Spritzer), bevor er sich ins Privatleben zurückzog. Seitdem weiß
man nichts mehr von ihm, nicht einmal eine Internetrecherche bringt
neue Ergebnisse. Was bedeuten kann, dass es ihm gut geht, oder,
nicht wahr, das Gegenteil. Für die Firma war sein Weggang eher gut,
weil es King klarmachte, dass er die Strategie ändern musste. Die
geänderte Strategie ist so alt und bekannt, wie sie einfach und
genial ist, vorausgesetzt, man hat das nötige Kleingeld: Fällt dir
nichts mehr ein, kauf dir welche, denen etwas eingefallen ist,
oder, nicht so schön, aber manchmal eben auch unvermeidlich: kauf
sie einfach vom Markt weg. Noonday Technologies, Miclicor,
Mackenzy, Finlay and Peace, und, als neueste Errungenschaft: die
Eloxim-Kontrollbox, herzlich willkommen! Im Übrigen ist das ein
schönes Produkt, 7 Millionen sind ein Spottpreis dafür, wenn du
mich fragst, der Finne hätte selbst richtig reich werden können
damit, aber das wäre Arbeit gewesen und Risiko, nicht alle
sind wir dafür prädestiniert, kein Grund, so ein trauriges Gesicht
zu machen. Sei nicht traurig, so ist das Leben, wusstest du nicht,
dass so das Leben ist?
Ich bin nicht traurig, ich weiß, dass so das Leben
ist. Ich denke nur nach.
Und? lallte Stavridis, der mittlerweile außerhalb
seines Korridors angekommen war, es bemerkte, und prustend
lachen musste. Uuuund? wiederholte er deutlicher, auf Deutsch. Was
denkst du?
Dass so das Leben ist, sagte Darius Kopp.
Aris Stavridis lachte, als wäre das der beste
Spruch gewesen, den er seit Langem gehört hatte. Er ließ seine
fleischige und sehr warme Hand auf Kopps Schulter fallen.
Ich kann dich gut leiden, sagte Stavridis. Genauer
gesagt sagte er: Je t’ai à la bonne, was Kopp natürlich nicht
verstand.
Er verlor Stavridis ein Jahr später, als man das
Büro in Paris zumachte. Den Stein hatte Stav selber ins Rollen
gebracht, indem er fragte, ob es nicht möglich wäre, dass er seine
Region von Athen aus betreute. Als Grund nannte er, dass seine
Mutter dort im Sterben liege.
Und, stimmte das?
Ja.
Was er den Chefs nicht auf die Nase band, aber Kopp
erzählte, war, dass zugleich auch seine zweite Ehe im Sterben lag.
Die Französin, für die er in Paris wohnte, hatte genug von ihm
bekommen, auch so etwas kommt vor. Die Kinder sind schon groß, ich
muss jetzt nicht mehr da bleiben. Obwohl er Paris mochte. Egal.
Athen mochte er auch. Und noch mehr Istanbul, aber das war nicht
das Thema.
Dann passierte etwas nicht so Erfreuliches. Man
überlegte, rechnete nach und stellte fest: da die Firma in den
letzten Jahren ihr Engagement in Nordafrika und Vorderasien,
genauer gesagt, in allen muslimisch geprägten Staaten,
zurückgefahren hatte, war Stavridis’ Wirkungsbereich auf Istanbul,
Griechenland, Georgien und Armenien zusammengeschrumpft, und für so
einen kleinen Markt einen Extramann zu beschäftigen, ist Nonsens.
In Paris mit zwei anderen - ihre Namen sind: Bernard und Amélie -
mitsitzend fällt es nicht so auf. Allein in Griechenland fällt es
auf. Also bekam Kopp Istanbuler, Griechen, Georgier und Armenier
unter dem Label »Osteuropa« zugeschlagen. (Heißt das jetzt, ich bin
befördert? Die Antwort kannst du dir selber geben.) Wenig
später bekam er die französische Schweiz dazu, Frankreich und der
Mittelmeerraum kamen zu London und das Büro in Paris wurde
geschlossen.
έτσι είναι η ζωή, sagte Aris Stavridis.
Der deswegen keine Minute aufgehört hat, sich um
seine Leute zu kümmern. Der Kopp auch seitdem immer wieder
Möglichkeiten zuschanzte. Zuletzt einen Deal mit Istanbul.
Warst du schon mal in Istanbul, Flo?
Du weißt, dass ich das nicht war.
Die Schönheit des Bosporus sollte jeder einmal
gesehen haben. Laut Stavridis war es bei so einem großen Geschäft,
1500 APs, unabdingbar, dass Kopp persönlich nach Istanbul kam, um
eine Präsentation zu machen. Der türkische Ansprechpartner, ein
Herr Bülent, ein schöner junger Mann, war Kopp von Anfang an
sympathisch, und noch mehr, nachdem dieser ihn und Aris seiner
warmherzigsten Gastfreundschaft teilhaftig werden ließ. Sie führten
ihn durch Zelte, deren Himmel Goldstoff und deren Seiten mit Bäumen
bestickt und dessen Boden mit feinsten persischen Tapeten belegt
war, zeigte ihm Waffen und Barthaar des Propheten und luden ihn
schließlich zu einem prächtigen Festmahl ein. Dabei lenkten sie das
Gespräch auf verschiedene Gegenstände, und auf welchen Gegenstand
auch immer die Rede kam, sprach Herr Bülent mit so viel Kenntnis,
Verstand und gutem Geschmack, dass die gute Meinung, welche sich
Kopp gleich anfangs von ihm gefasst hatte, vollends bestärkt
wurde.
Are you kidding with me? fragte Anthony. Die Firma
des Freundes deines Freundes hat engste Beziehungen zu Syrien.
Weißt du, was passiert, wenn mit Hilfe unserer Produkte
abhörsichere Funknetze in Syrien oder, hoppala, wie ist das
passiert, im Iran auftauchen? Ob sie umlabeln oder nicht, ist
irrelevant. Wir reden hier nicht von Chips und Cola. So etwas kommt
raus. Und übrigens wäre es an dir gewesen, das zu wissen. Oder,
wenn man es schon nicht weiß, schaut man nach. Wofür gibt es das
Internet?
Es soll für eine Universität in der Osttürkei
…
Warst du da? Hast du es gesehen?
(Nein, ich habe mir nur in Istanbul den Bauch
vollgeschlagen.)
Aber selbst wenn du irgend etwas gesehen
hättest: die Sache ist zu unsicher. By the way ist das nicht die
erste derartige Nummer deines Freundes. (Immer dieses your
friend. Wie eine Brandmarke. Übertreibung. Ein Vorwurf.) Was
meinst du, warum er geflogen ist?
Es wäre wirklich eine Universität gewesen,
sagte Stavridis später am Telefon.
Kopp tat es furchtbar leid.
Das braucht es nicht, sagte Stav. Es ist doch nur
Business. Es wird andere Gelegenheiten geben.
Der Gedanke an Anthony ließ das Lächeln aus Darius
Kopps Gesicht schmelzen. Andererseits bot er ihm auch die
Gelegenheit, ins Hier-und-Jetzt zurückzukehren. Er wandte sich vom
Fenster ab. Wie spät ist es? Fast schon um 11. Stavridis’
Ankündigung hatte natürlich einen Einfluss auf den geplanten
Tagesablauf, aber nur geringfügig. Ich wäre ohnehin mittagessen
gegangen. Dass es bis dahin nur mehr (geschätzt) 2 Stunden waren,
motivierte Kopp zusätzlich. Er setzte sich hin.
Öffne Startseite, siehe, sie hat sich in den
letzten 12 Stunden nicht verändert, verlasse Startseite, öffne
Suchmaschine. Suche: Bedrossian + Saitakan + WIFI.
Damit verging die nächste Stunde. Anfangs war es
gut. Es ist gut, wenn man zunächst Sachen herausfindet, die man
bereits herausgefunden hat. Das vermittelt einem das Gefühl, auf
dem richtigen Weg zu sein. So las Kopp noch einmal das Wichtigste
über die Brüder: Geburtsdaten, sportliche Laufbahn, Werbeverträge,
Charity-Aktivitäten. Obgleich sie in der
Schweiz leben, stehen sie ihrer Heimatstadt Saitakan mit Rat, Tat
und Mitteln zur Verfügung, u. a. durch den Plan, die Stadt
»kommunikativ zu vernetzen«. Das wären dann also wir. Eine längere
Zeit hielt sich Kopp damit auf, sich durch mehrere Websites mit
Informationen zum gegenwärtigen Stand der Versorgung der
armenischen Bevölkerung mit drahtlosen Netzen zu hangeln. Das war
anstrengend, denn das meiste war auf Englisch, wahlweise auf
Russisch, und Kopps Englisch ist leider, leider nicht so gut, dass
es ihn nicht nach einer Weile anstrengen würde, es zu benutzen. Und
ich sollte aufhören, in meinem Lebenslauf zu behaupten, ich könnte
- da ich es in der Schule gelernt habe - Russisch. Nein. Aber er
blieb dran, kaute sich durch den Breiberg von (teilweise
widersprüchlichen) Zahlen, fand Namen von Firmen und Personen,
konnte sie aber, ermangelst eingehender Kenntnisse der örtlichen
Gegebenheiten mit kaum etwas in Verbindung bringen. Wie es schien
(behauptet wurde), gab es durchaus noch Lücken, die man füllen
konnte, diese wurden jedoch - Wer hätte etwas anderes erwartet? -
zunehmend kleiner und weniger. Die Konkurrenz hatte Besseres zu
tun, als zu schlafen. Auch das wussten wir bereits vor einem Jahr.
Auch zahlreiche Informationen über Armenien, die Region im
Allgemeinen haben wir schon eingeholt. Der Konflikt in Georgien
führt dazu, dass ab und zu Glasfaserkabel durchgetrennt werden, und
die Internetversorgung unterbrochen wird. Dies bezog sich auf einen
Fall in Jerewan (Yerevan, Eriwan). Luftaufnahmen zeigen die
wunderschöne, kreisförmige Anlage der Innenstadt mit dem
atemberaubenden Berg Ararat im Hintergrund. Die Berglandschaft um
Saitakan ist nicht minder schön, ein Fluss durchschneidet die Stadt
- Wie heißt er, wie lang ist er, wo ist seine Quelle, wo seine
Mündung? - Trauerweiden am Ufer. Oh, auf dieser Seite gibt es sogar
einen Service, mit dem man live Erdbeben erleben
kann! Farben zeigen das Alter und die Stärke des Bebens an. Was
WIFI anbelangte, war die einzige nähere Information, dass 1 Min im
Web des Hotels Awan Dsoraget 8 AMD kosten. Die visuelle Suche nach
WLAN-Antennen an Gebäuden oder anderen prominenten Punkten war
selbstverständlich sinnlos. Selbst wenn da etwas war, verschmolz es
bei dieser Auflösung mit dem Hintergrund. Darius Kopp konnte
trotzdem nicht anders, als die Augen anzustrengen, bis sie
schmerzten.
Als ob es nicht egal wäre, ob sie unsere
Komponenten verbaut oder vergraben haben.
Eben nicht.
Während er nicht anders konnte, als in seinem
Herzen erfreut zu sein über die Schönheit der Landschaft - Schöner,
viel schöner als Sunnyvale. Eines Tages sollten wir doch dahin,
Flora - konnte Kopp ebenfalls nicht anders, als zunehmend betrübt
und besorgt zu sein über die Unauffindbarkeit der Spuren seines
eigenen (mittelbaren) Wirkens vor Ort. So verließ er ihn und suchte
stattdessen nach Sasha Michaelides. Er suchte in allen möglichen
Variationen, Schreibweisen - Meinten Sie: Sascha Michaelides? -,
fand einen Neurologen und einen Architekten, die wenigstens ähnlich
hießen, suchte in Foren, in Blogs und schließlich sogar in Bildern,
obwohl das sinnlos war. Ich weiß ja nicht, wie er aussieht. Und
Frau Bach ist in Venezuela. Übrigens erschienen bei der Bildsuche
hauptsächlich Röntgenaufnahmen von mit Schrauben fixierten
menschlichen Gliedmaßen. Kopp fiel seine Mutter ein, ihre Arme und
Beine, er stand auf einem heißen, abendlichen Hügel mit einem
Fahrrad an der Hand, im Tal staubige, kreisförmige Ruinen, er hatte
quälenden Durst, er ließ das Fahrrad (=die Maus) los, als wäre sie
zu stark von der Sonne aufgeheizt worden, stieß sich mit dem
Rollstuhl ab - Kontrolliert! Die Kartons sind nah! - damit die
Tastatur außer Reichweite rückte
und sich auch die Augen vom Bildschirm lösen mussten … Ich hatte
heute noch gar kein Frühstück! Schnell hinaus in die Küche, um es
nachzuholen!
Ein Glas Orangensaft, ein Cappuccino mit
Extrazucker. Und, heute zum ersten Mal: Fruchtjoghurt. Ein Tablett
mit Fruchtjoghurts, obenauf ein gelber Zettel: Bitte, jeder nur 1.
In Herrn Lasockas Handschrift. Ich erkenne Lasockas Handschrift.
Kopp fand die Bitte auf unnötige Weise Enge erzeugend (kleinlich,
ja fast unverschämt) und nahm aus Trotz: 0. Aber einen zweiten
Cappuccino, diesen trug er zurück ins Büro.
Er blieb hinter der Tür stehen, um einen Schluck
Schaum zu nehmen. Eintauchen, auf der Oberlippe bleiben Reste
zurück, sie mit Zunge und Unterlippe herunterholen. Dabei fiel sein
Blick zum Karton der Armenier auf der Säule neben dem Fenster. Er
stellte die Tasse vorsichtig auf eine freie Ecke des Tisches. Er
holte den Karton von der Säule, öffnete die Lasche, sah hinein. Er
sah das weiße Kopierpapier, erkannte Knicke darin, die er selbst am
Vorabend verursacht hatte. Er zog das Geld nicht heraus, er schloss
die Lasche, legte den Karton wieder ab und setzte sich hin. Auf dem
Laptop hatte sich in der Zwischenzeit der Bildschirmschoner
aktiviert. Er zeigte ein Urlaubsfoto: wolkiger Himmel, davor grüne
Hügel, dazwischen ein Tal voller Tulpenbäume (afrikanisch, rot), im
Vordergrund ein blaues Holzhäuschen. Kopp imaginierte Sas(c)ha
Michaelides, der gerade in dieser Landschaft aus einem Bus stieg.
Er hat einen für das Klima unpassenden dunklen Anzug an und ein
Aluminiumköfferchen in der Hand.
Nein, das ist meiner.
Michaelides schätzen wir eher schweinsledern ein.
Oder, im Gegenteil: neuestes Hightechmaterial, frisch aus der
Weltraumforschung.
Über solche Eitelkeiten kann ein Aris Stavridis nur lachen. Er
läuft mit billigen Plastikumhängetaschen (angeblichen
Laptoptaschen) mit Werbeaufdruck einer beliebigen Firma aus dem
IT-Bereich herum. Aus diesen verteilt er seine Geschenke. Er kommt
nie ohne Geschenke.
Aris Stavridis. Der es - welche Mächte lenken ihn?
- immer schafft, im richtigen Moment aufzutauchen. Oder redest du
dir das nur ein? Weil du dich freust. Ja, ich freue mich, ich bin
gerne mit ihm zusammen, er ist ein netter Mensch und weiß immer
alles. Nicht alles, aber vieles, was ein Darius Kopp sonst erst
Wochen später, wenn überhaupt, mitbekommen würde. Seitdem Stav
nicht mehr bei der Firma ist, ist unsere Versorgung mit
Informationen beträchtlich spärlicher geworden. Obwohl man immer
noch gelegentlich telefoniert. Seit der Istanbul-Geschichte
allerdings nicht mehr. Kopp war es zu peinlich. Als hätte ich mir
ihm gegenüber etwas zuschulden kommen lassen.
Klatsch! Kopp schlug sich auf die Stirn, aber so
plötzlich und laut, dass jemand, der mit im Raum gewesen wäre,
unweigerlich erschrocken wäre. Aber natürlich! Mit einem Mal war es
Kopp klarer als die Sonne: Wenn einer etwas weiß, dann Stav! Nicht,
weil ein Grieche den anderen kennt, sondern weil auch das
Armenien-Geschäft von keinem anderen als ihm vermittelt worden war.
Er hatte es nur bis jetzt geheim gehalten, um mir keine
Schwierigkeiten zu machen!
Erfreut darüber, wie schön doch alles zusammenhing,
und darüber, das herausgefunden zu haben, lachte Darius Kopp auf,
kippte den letzten Schluck Cappuccino - der Schaum kroch zu
langsam, er gab ihn auf - warf sich gegen die Rückenlehne, so dass
sein Stuhl kräftig federte, und wählte.
1.
2. London.
In London klingelte es, Kopp memorisierte: Hellou,
nicht Godday, Stephanie, how is it going, hallo, Anthony, how is it
going, I got some interesting news, the Armenians have/had
brought(?) the money … the Armeniens did actually pay …
(Gottverdammtes Lampenfieber. Wieso?)
Es klingelte etwa 15x, bevor Kopp begriff, dass
niemand ranging, auch nicht der Anrufbeantworter.
Verwählt? Falsch verbunden? Noch einmal.
Dasselbe. Klingeln, keine Antwort.
Wie spät ist es? 11:40. Montagsmeeting? Haltet ihr
so etwas überhaupt ab, bei zweieinhalb Leuten? Oder bist du grad
auf dem Klo, Stephanie?
Kopp imaginierte das Büro in London, den Korridor,
die Toilettentür … (Was ist los, heute bin ich so bildreich …) Er
wandte sich schnell dem Laptop zu, bevor er sich noch mehr
vorgestellt hätte - Stephanies weiße Knie, Stephanies schwarzen
Schlüpfer um die Knie - …: schnell, den Browser auf! Während du
etwas Zeit vergehen lässt - 15 Minuten zwischen zwei Anrufen sind
angemessen und sinnvoll - prüfe die Nachrichten und die
Mails.
Wie öffnen die Börsen?
Die Übernahme von Fannie und Freddie hat ein wenig
Erleichterung gebracht, aber im Wochenausblick erwartet man
insgesamt eine Woche ohne große Euphorie?
Exilepark freut sich über einen neuen Chef? Hier,
seine Telefon- und Faxnummer sowie seine E-Mail-Adresse, falls Sie
ihm schreiben wollen. »Lieber Klaus, gratuliere zur
Beförderung«?
Daimler im Visier der Hedgefonds?
Ölpreis steigt um 2 Dollar. Die Scheichs weisen
jede Verantwortung von sich? Die Spekulanten sind schuld?
Nicht die Spekulanten sind schuld am Anstieg der
Lebensmittelpreise, sondern verfehlter Klimaschutz und zu viel
Fleisch?
Erneut vergammeltes Fleisch gefunden? Es ist auf
die Autobahn gefallen? Die Feuerwehr brauchte Atemschutzmasken bei
der Beseitigung?
Bei einer Tombola hat eine Milliardärin eine Reise
nach Mallorca gewonnen - und will den Preis behalten?
Verlasse News-Seite, minimiere Browser, öffne
Mailbox.
Die Newsletter vom Sonntag, und einige Nachzügler
von heute früh. Einladungen zu Messen und Tagungen. Ausland
spioniert deutsche Wirtschaft aus - Fachtagung Security und
Ähnliches.
Natürlich Werbung. Begrüßen Sie den Herbst
romantisch und fliegen Sie in die Stadt der Liebe! Nur 29 Euro.
Sternchen.
Ein Alert. Darius Kopp on Netigator. Diesen
Fachartikel mit dem Titel »Smog in der Messehalle« habe ich
geschrieben. Das ist schon ein halbes Jahr her, wieso ich jetzt
eine Benachrichtigung darüber bekomme, ist nicht transparent,
freuen darf ich mich trotzdem. Die größten Gefahren für die Störung
der Datenkommunikation sind …
Er las eine Weile in seinem eigenen Artikel, obwohl
er ihn auswendig kannte. Unterbreche mich doch jemand!
Er unterbrach sich selbst und rief in London
an.
Während es klingelte, schaute er in die leere
Cappuccino-Tasse: angetrocknete braune Pfütze, angetrocknete braune
Äderungen, brauner Spitzenrand. So lange, bis das Klingeln in
London abbrach und zu einem Besetztzeichen wurde.
Allmählich muss ich mich wundern.
Er versuchte es noch einmal. Dasselbe Ergebnis.
Langes Klingeln, am Ende besetzt. Wie spät ist es?
Sie haben eine neue Mail-Nachricht erhalten!
Ich gestehe es, Darius Kopp legte etwas erleichtert
auf, um so zu tun, als wäre es eine wichtige Nachricht. Dabei sah
er schon, dass es wieder eine Mail von Thomas Schatz war. Sie
stattete Bericht darüber ab, dass Thomas Schatz offenbar nicht nur
sein Profil auf BizNet aktualisiert, sondern auch ein neues auf
Plexus, Ihrem neuen Businessportal, angelegt hatte.
Darauf hatte Kopp nun wirklich keine Lust. Das
heißt, wenn man ein wenig nachdenkt: Was kann schon der Grund dafür
sein? Entweder er ist dabei, seinen Job zu verlieren, hat ihn schon
verloren, oder er ist einfach nur unzufrieden und schaut sich um.
Das wiederum weckte Kopps Interesse (und tröstete ihn ein wenig).
Das Profil ertrage ich kein zweites Mal, aber vielleicht könnte man
ihn direkt anrufen. Denn eigentlich, im persönlichen Umgang,
ist Thomas Schatz ein angenehmer Mensch. Sich über die Irritation
hinwegsetzen, das ist immer oder meistens gut - Denn: Was willst
du? Ausschließlich mit Genies und Heiligen verhandeln? - freundlich
nachfragen: Wie geht es dir, Schätzchen, etc. Was es auch ist, auf
seiner Seite sein, so gehört es sich. Und nebenbei vielleicht auch
etwas von den eigenen Angelegenheiten voranbringen. Indem man ihn
z. B. (halboffen) nach der Tauglichkeit seines Distributors (4.!)
fragt.
Kopp öffnete nicht Schatz’ Profil, sondern die
Seite seines Arbeitgebers Exacom. Dort wurde Schatz noch als
Systems Engineer geführt. Kopp stellte erleichtert fest, dass seine
Erleichterung darüber überwog. Wenige Sekunden lang.
Hallo? Eine mürrische Stimme, tief, aber keine
Männerstimme. Eine Frau. Eine beinahe bis zur Unfreundlichkeit
mürrische Frauenstimme, die Kopp nicht bekannt war. Er war
irritiert, unterdrückte das, und sprach mit ihr, als wäre es mit
Schatz persönlich (sorglos, kumpelhaft): Ob denn der Thomas da
sei?
Wer?
Thomas Schatz, sagte Kopp freundlich. Ich bin …
sogar bereit, mich zu legitimieren.
Aber die mürrische Person hatte kein Interesse. Sie
schnitt ihm das Wort ab:
Herr Schatz arbeitet hier nicht mehr.
Oh, sagte Kopp und sah noch einmal auf die
Firmen-Seite. Dort stand sein Name, sein Titel und diese
Telefonnummer.
Oh, sagte Darius Kopp, und in seiner Verwirrung:
Entschuldigung.
Bitte, sagte seine Gesprächspartnerin und legte
auf.
Darius Kopp schüttelte den Kopf, als wäre ihm
Wasser ins Ohr geraten.
Ja, hat denn die den Verstand verloren? So
telefoniert man doch nicht! Das ist schließlich kein Amt, sondern
eine Firma!
Es juckte ihn in den Fingern, irgendwo anzurufen,
es jemandem zu sagen, vornehmlich Thomas Schatz, von dem er annahm,
dass er höhergestellt war als die Frau, aber Schatz arbeitete ja
nicht mehr dort.
Kopp beschloss, diesen verwirrenden Exkurs
abzubrechen. Wir klären das irgendwann, wenn wir Zeit haben, oder
nie. (Er war wieder etwas verärgert über Schatz. Als ob der etwas
dafür könnte! Dann bedauerte er ihn wieder.) Er sah auch nicht mehr
nach, wer Distributor für Exacom war, er schloss die Seite schnell,
als könnte man die Irritation so wegschließen.
Er versuchte es abermals in London. Abermals ohne
Ergebnis. Beziehungsweise mit demselben Ergebnis wie zuvor. Er ließ
es so lange klingeln, bis die Telefongesellschaft ihm die freie
Leitung wegnahm, um sie jemandem zu geben, der sie womöglich
dringender brauchte.
Kopp legte den Hörer sorgfältig auf, schob nach,
damit auch
wirklich aufgelegt war. Sonst kann es nämlich passieren, dass man
gar nicht bemerkt, wie man abgeschnitten ist vom Rest der Welt,
nicht wahr, Stephanie? Oder die Störung liegt woanders. Fakt ist:
irgendwas ist mit dem Telefon. Ich werde ihnen eine Mail schreiben
müssen.
Dachte es, und dann nichts mehr. Herr Doktor, was
soll ich machen, mindestens einmal am Tag habe ich so einen toten
Moment. Manche sagen: Punkt. Egal, ob ich gerade etwas tue, das ich
gerne tue oder das Gegenteil. Es scheint davon ganz unabhängig zu
sein. Immer kommt dieser Moment, wenn Kopp deutlich spürt:
ein Weg ist zu Ende, ein Schwung hat sich verbraucht. Selbst wenn
man noch entfernt ahnt, was man theoretisch als Nächstes tun
könnte, ist gerade das nicht möglich. Um was auch immer zu
tun, braucht man seinen Körper, und dieser fühlt sich im Moment an,
als wöge er 6 Tonnen. 6 Tonnen schwer, Arme gelähmt, hänge ich in
meinem perfekt gefederten Sessel. Was jetzt hilft, ist nur noch
eine Ablenkung. Der moderne Büromensch wird, wie man allseits lesen
kann, von permanenten Unterbrechungen gepiesackt. Alle 11 Minuten,
spätestens, will einer etwas von einem, oder man ist selber nur
allzu bereit … Aber auf der anderen Seite kann eine Unterbrechung
auch fruchtbar sein. Sich regenerieren. Sich neu orientieren. Eine
oder mehrere neue Perspektiven gewinnen. Zum Beispiel kann man,
ganz einfach, beim Fenster hinausschauen.
Kopp sah beim Fenster hinaus. Er sah nichts. Da war
der Platz. Ja, ich weiß. Nichts.
Zurück zum Tisch. Der Laptop mit dem karibischen
Bildschirmschoner (nichts), und drum herum der Wust der Zettel. Das
allerdings war etwas: 5. Die eigenen Abrechnungen.
Nicht jetzt. Ich bin müde. Und hungrig. Wie spät
ist es? Immerhin schon um 12. Wann Stavridis genau kommen würde,
war nicht bekannt. Wir nehmen an: um 1. Da fiel Kopp das Tablett
mit den Joghurts ein, Fruchtjoghurts, mit mindestens einer
Zuckerart, außerdem Eiweiß und Fett, kurz gesagt: Energie.
Entschlossen sprang er auf, aber bevor er auch nur einen Schritt
getan hätte, klingelte das Telefon, und der Vormittag erhielt
wieder eine neue, ungeahnte Richtung. Ich hätte gedacht, Stavridis’
Auftauchen wäre bereits die Sensation des Tages gewesen, das allem
anderen seinen Stempel aufdrücken würde. Aber es war Herr Pecka,
der Anlageberater.
Herr Pecka!
Kopp begrüßte ihn dankbar (für die Ablenkung, für
die Zeit, die ich mit Ihnen verbringen darf, bevor ich zum
Mittagessen gehe, so lange muss ich mir den Kopf wenigstens nicht
über Komplizierteres zerbrechen) und daher wieder fröhlich: Herr
Pecka! Wie geht es Ihnen?
Herrn Pecka ging es gut. Er war im Urlaub gewesen,
nun rief er seine treuen Kunden an, meldete sich zurück.
(6. Die Kontakte durchtelefonieren, sich aus dem
Urlaub zurückmelden … Vorsicht! Du warst gar nicht im Urlaub! …
sich nicht aus dem Urlaub, sondern nur generell zurückmelden, sich
erkundigen, das Eisen schmieden …)
Das ist ja schön! Wo waren Sie im Urlaub? Fahrrad
fahren auf Island? Kopp war nicht bewusst, dass sein Anlageberater
so eine Sportskanone ist. Letztes Jahr war er Goldwaschen in
Finnland? Ist das Ihr Ernst? Als Bänker waren Sie Gold waschen? Sie
erkennen den Witz darin nicht? Ach, doch, aber Sie haben es nicht
deswegen getan, sondern weil Sie ein sehr naturverbundener Mensch
sind, und das war blanke Natur, mit Myriaden von Mücken und
dem Klappspaten als Klo? Was man nicht alles voneinander
erfährt.
Herr Pecka rief im Wesentlichen an, um zu
beruhigen. Bekam
er viele Anrufe von nervösen Kunden? Ja. Die Immobilienkrise zieht
uns alle mit hinunter. Auch von Kopps Fonds haben nur zwei ein
minimales Plus gemacht, alle anderen sind im Minus, selbst der
Wasserfonds, in den wir so viel Hoffnung gesteckt hatten.
Ja, Kopp wusste das, ich habe gerade gestern wieder
einen Blick aufs Depot geworfen. Was will man machen, Herr Pecka,
so ist es eben. Ich bin, was das anbelangt, kein besonders nervöser
Typ. (In Wahrheit habe ich, wie jedes Mal, wenn es um Geld geht,
die Hosen voll, das ist die dämliche Erziehung meiner Mutter, aber
dann reiße ich mich jedes Mal umso mehr zusammen, erinnere mich an
meinen Vater, der wusste: wer nicht wagt, der nicht gewinnt, und
wenn es 55 Jahre gedauert hat, bis er das in die Tat umsetzen
konnte, schließlich hat er es getan, und ich bin stolz auf ihn und
wünschte mir, auch er … etc.) Ich bin dafür, es auszusitzen. Das
Wasser wird schon noch kommen, wenn etwas todsicher ist, dann, dass
das Wasser kommt.
Herr Pecka stimmte dem zu. Das Wasser würde ich
wirklich unangetastet lassen. Aber er empfahl etwas anderes.
Nämlich die beiden Fonds, die ein bisschen Gewinn gebracht haben,
aufzulösen und stattdessen ein Papier zu kaufen, das auf ein
weiteres Nachlassen der Börsen spekulierte.
Sie meinen, es geht noch weiter runter?
Auf jeden Fall geht es noch weiter runter, sagte
Herr Pecka mit Überzeugung. Den Finanzmarktwerten werden alle
anderen folgen.
Kopp war schon auf der Seite der Bank, hatte die
genannte Option auf dem Bildschirm, verstand aber natürlich nicht
besonders viel (gar nichts). Aber wissen Sie was, Herr Pecka, der
Zynismus dieses Vorgehens gefällt mir einfach zu gut. Machen Sie
es. Wo muss ich unterschreiben? Kommt mit der
Post oder Sie bringen es auf dem Nachhauseweg vorbei, Sie sitzen
ja wortwörtlich in der Nachbarschaft. Wären unsere Büros anders
platziert, könnten wir einander vielleicht sogar sehen. Das
besprechen wir jedes Mal. Und in Wahrheit sehe ich niemanden, nur
den Platz, die Kreuzung. Hat auch was. Ja. Auch Ihnen noch frohes
Schaffen, Herr Pecka.
Als er aufgelegt hatte, fiel ihm ein, dass er Pecka
auch wegen des Armenier-Geldes hätte fragen können. Er rief ihn
zurück. Und jetzt geschah es:
Ja, sagte Herr Pecka. Das ist kein Problem. Sie
brauchen nur Ihren Identitätsnachweis und den Nachweis über die
Herkunft des Geldes.
Was meinen Sie mit: Über die Herkunft des
Geldes?
Wie Kopp wisse, sagte Herr Pecka, habe man ein
Geldwäschegesetz.
Ja, und?
In diesem steht, zusammengefasst, dass man bei
Barbeträgen, die höher als 10 000 sind, nachweisen muss, aus
welchen, ich sage mal »Transaktionen« dieses Geld stammt.
Sie brauchen nicht in Anführungszeichen zu
sprechen, Herr Pecka, ein Kunde hat bar bezahlt, und zwar … ein
wenig mehr als 10 000. So, jetzt wissen Sie’s.
Wie viel wenig mehr? fragte Pecka.
Das Vierfache, gab Kopp zu.
Das ist ja nicht so sehr viel, sagte Herr
Pecka.
Nein, sagte Kopp. (Aber ist das gleich ein Grund,
erleichtert und hoffnungsvoll zu sein? Nein.)
Na ja, sagte Herr Pecka, eigentlich ist es egal, ob
10 001 oder 100 000. Sie müssen der Bank gegenüber einen Nachweis
erbringen.
»Sie« heißt in diesem Fall: ich?
Der Einzahler. Der muss den Ausweis haben und auch
alles
andere. In Ihrem Fall: der Kunde legitimiert sich Ihnen gegenüber,
Sie legitimieren sich der Bank gegenüber.
Und wenn nicht?
Wenn nicht was?
Wenn kein Nachweis da.
Dann wird im Falle einer behördlichen Prüfung das
Geld konfisziert. Ob auch ein Strafverfahren eingeleitet wird,
entscheidet der Staatsanwalt.
Konfisziert?! Der Staatsanwalt? Kopp mochte es
nicht fassen. Das ist … Wir haben eine rechtmäßige Forderung!
Dass Ihre Forderung rechtmäßig ist, hat damit
nichts zu tun, sagte Herr Pecka. Heißt: eine Rechnung, die Sie dem
Kunden ausgestellt haben, ist kein Nachweis. Der Einzahler muss
nachweisen, dass das Geld von einem sauberen Konto stammt. Darum
geht’s, um nichts anderes.
Verstehe, sagte Kopp. Danke, Herr Pecka.
Nichts zu danken, sagte Herr Pecka.
Wie spät war es zu diesem Zeitpunkt? 12:30. Eine
halbe Stunde, um unsere Gedanken wenigstens in groben Zügen zu
ordnen. Das Problem als solches hatte Kopp sogleich begriffen, es
gab daran nichts, das nicht zu begreifen gewesen wäre. Viel
Bargeld, Nachweis, sonst Annahme von Illegalität, Verlust, Anzeige.
Im schlimmsten Fall. Aber auf jeden Fall eine Menge Querelen. Kopp
war über diese neu gewonnene Perspektive auf die Dinge nicht
glücklich. Nein, er fluchte. Ausgerechnet mir muss das passieren,
wo ich bürokratisch doch so unbegabt bin. Der dämliche Grieche. Der
dem Geld beigelegte Brief war nicht einmal unterschrieben. Aber
selbst wenn. Zu unserem tiefsten Bedauern können wir diesen
geduldigen Fetzen Papier nicht als Nachweis einer weißen Weste
akzeptieren.
Kopp stand zwischen seinen Kartonwänden. Sie waren
ihm:
nahe. Auf, zwischen den Kartons Staub. Woher kommt dieser
ganze Staub, wenn doch die Fenster niemals geöffnet werden? (Durch
die Tür. Die Ritzen. - Aber so viel?) Um sich nicht
weiter zu gruseln, stellte sich Kopp auf die Zehenspitzen und holte
den Karton der Armenier erneut vom Stapel neben dem Fenster. Er
achtete darauf, keinen anderen Karton zu berühren.
Nahm wieder den Karton, öffnete wieder die Lasche,
sah drinnen das weiße Kopierpapier, schloss die Lasche, legte den
Karton wieder ab. Allerdings nicht mehr ganz oben, sondern drei
Reihen weiter unten. Es gibt keinen besseren Platz dafür im
Moment.
Setzte sich in seinen Stuhl und schaukelte. Vor ihm
schaukelte der Platz. Im Gehsteig gegenüber, nah an der Hauswand,
klaffte hinter einer Absperrung aus rotweißen Bändern ein Loch.
Männer waren heute nicht zu sehen. Es war windiger als in den Tagen
zuvor. Die Bänder tanzten. Rotweiß, rotweiß.
Schließlich gab sich Kopp einen Ruck, suchte die
Nummer von Michaelides heraus und rief an. Erwartungsgemäß war
keiner zu erreichen. Der ist weg. In meinem Bildschirmschoner oder
eher sonst wo. Bleiben die Bedrossians, die eigentliche Quelle des
Geldes. Kopp rekapitulierte, was er jemals von Michaelides über die
Bedrossians gehört hatte. Die Herren Spitzensportler … kommen
vorbei, mit einem Koffer … Sie wissen ja … die lieben Kaukasier …
auch mir einen Teil meiner operativen Kosten schuldig geblieben …
auch mir einen Teil …
Womit sich also der Kreis schloss. Wir sind wieder
dort, wo wir angefangen haben. Kopp ging ins Internet, suchte
wieder nach den Bedrossians. Nur war diesmal die Fragestellung eine
andere: Sind die Bedrossians vertrauenswürdige Geschäftspartner, ja
oder nein?
Suchte und fand, wie schon zuvor: nichts
Verwertbares. Viel
über Sport, viel über Charity, nichts über andere geschäftliche
Aktivitäten.
Als ihm nichts anderes mehr einfiel, gab er in die
Suchmaschine ein: Bedrossian + illegal.
Er bekam immerhin 836 Treffer, er schränkte sie
ein, indem er die Vornamen der Brüder eingab und landete damit bei
0 Treffern. Er ließ die Vornamen weg, bekam sein vorheriges
Ergebnis zurück und fing an, sich durch die 836 zu lesen -
oberflächlich, ungeduldig, an etwas anderes denkend. Nämlich: Das
ist nicht der Weg, das ist nicht der Weg. Und: Wieso ist mir das
Problem nicht selbst und nicht gleich aufgefallen? (Sei froh. So
hattest du wenigstens ein einigermaßen erträgliches Wochenende.)
Sowie: Wieso habe ich jetzt ein schlechtes Gewissen, als wäre ich
schuld daran, dass es so kompliziert ist?
Auch wenn er nichts fand, nicht einmal ein zum
Thema passendes Gerücht, war er sich sicher: den Bedrossians war
nicht zu trauen. Glaubst du eher einem zwielichtigen, verkoksten
Griechen, oder hast du schlicht und ergreifend Vorurteile? Schlicht
und ergreifend Vorurteile. Nicht immer, manchmal. Jetzt, konkret:
einen Instinkt. Was, wenn sie zum Beispiel sagen: Tausendmal
Entschuldigung, der Grieche ist schuld an allem, geben Sie uns das
Geld zurück, wir überweisen es, wie es sich gehört. Und denken
natürlich nicht daran! Darius Kopp biss die Zähne aufeinander. Ich
werde dieses Geld für uns verteidigen, koste es, was es
wolle. Na, ganz so viel vielleicht doch nicht. Mein Leben zum
Beispiel nicht. Heldenhafter Sparkassenkassierer. Aber das mir
Mögliche will ich tun. Was ist das mir Mögliche?
In diesem Zustand war er, als Stavridis anrief und
sich das Tempo erneut änderte.
Ich habe einen Mordshunger! rief Aris
Stavridis ins Telefon. Schon 2 Meetings hinter mir! Bin in 10
Minuten da! Mit dem Taxi! Warte unten!
Wäre das vor einer halben Stunde gewesen, wäre Kopp
hinunter geflogen, Treppe statt Fahrstuhl, leichtfüßig und
enthusiastisch, wie ein Backfisch, seine Sakkoschöße hätten geweht.
Der Portier im Foyer hätte nicht gewusst, ob er vor Freude oder vor
Sorge rannte, Kopp hätte sich im Rennen umdrehen müssen und
beruhigend winken. Jetzt ging er langsam, rief den Fahrstuhl, fuhr
eine Etage nach unten (Wände aus grauem, gebürstetem Metall, kühl,
still, stell dich mit dem Rücken zum Spiegel, eine Erholung), ging
mit klopfenden Absätzen durch das Foyer.
Draußen war eine große Helligkeit, wie eine Wand,
er stieß sich an ihr, musste stehen bleiben, blinzeln. Ein Taxi
hupte, er wandte den Kopf in die Richtung. Jemand winkte, Kopp
stellte scharf auf ihn, da war er: Stavridis. Kleiner, dicker,
grauhaariger, bebrillter, als er ihn in Erinnerung hatte. Stand
neben dem Wagen, hielt die Tür auf für ihn, wie ein Galaportier,
ließ ihn aber nicht einsteigen, bevor er ihn nicht fest umarmt
hatte:
Du siehst gut aus!
Du auch.
Wie der eine unmittelbar ist, nirgendwo
anders als hier, Körper und Gedanken in der Gegenwart, und wie der
andere sich zwar aufrichtig freut und sich dazu alle Mühe gibt,
aber noch zu sehr unter Einfluss steht, ein Paket (Hja!) zu
tragen hat und deswegen vorerst nicht mehr kann, als daneben zu
sitzen.
Während Stavridis den Fahrer hieß, sie zu einem der
besten (aber nicht unbedingt teuersten) Italiener der Stadt zu
bringen. Den Stav kennt, obwohl er nicht hier wohnt, und den Kopp
nicht kennt; man kann schließlich nicht alles kennen. Stavridis
hatte, wie schon erwähnt, einen Bärenhunger, wie schon erwähnt,
zwei Meetings hinter sich, ein Powerfrühstück, gegessen
haben wir natürlich nichts, ich glaube, der Typ war auf Diät, nur
Wasser getrunken, Stavridis einen Orangensaft, der ein wenig mehr
sättigt und zudem Vitamine enthält, aber essen traust du dich dann
natürlich nicht, wie sieht das aus: der Mund voller Omelett.
Stavridis lachte, Kopp lächelte.
Während Stavridis über das Wetter redete, die
Temperaturen in Athen, die Temperaturen in Berlin.
Während Stavridis die gesamte Menüfolge für beide
bestellte:
als Vorspeise: Salami, Käse, Schinken, Focaccia,
mit Fleisch
gefüllte, panierte Oliven, Artischockencarpaccio, in Zi-
trone und Öl eingelegte Pfifferlinge, gegrillte Zucchini,
Auberginen und Paprika, Vitello tonnato und Salat mit
Sardellenpaste,
als Pasta: Linguini alla Puttanesca,
als Hauptgericht: mit Peperonata überbackenes Kalbs-
schnitzel.
gefüllte, panierte Oliven, Artischockencarpaccio, in Zi-
trone und Öl eingelegte Pfifferlinge, gegrillte Zucchini,
Auberginen und Paprika, Vitello tonnato und Salat mit
Sardellenpaste,
als Pasta: Linguini alla Puttanesca,
als Hauptgericht: mit Peperonata überbackenes Kalbs-
schnitzel.
Dazu nehmen wir einen leichten Chianti. Obwohl
Stavridis’ Lieblingswein im Moment ein Metochi Cromitsa war, hier
hast du eine Flasche in einer dekorativen Holzkiste.
Nicht doch …
Magst du keinen griechischen Wein?
Doch, doch …
Und hier, ein MP3-Player. Nicht das neueste Modell,
wie du sehen kannst, aber vielleicht wird sich deine Nichte
trotzdem freuen. Oder dein Neffe. Oder deine Schwester …
Dass du dich an all das noch erinnerst …
… oder du.
Danke, Aris. Du bist zu großzügig.
Der Hersteller ist pleitegegangen. Ich habe
versucht, sie zu verkaufen, es lief nicht gut. Ich habe noch eine
Menge davon.
Sie werden sich bestimmt freuen.
Die Speisen kamen, sie aßen sie. Sie waren allein
im Inneren des Lokals, wer sonst da war, saß draußen, nah an der
Straße, aber ich sage dir, da ist es wärmer als hier, außerdem
stinkt es und es ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht
versteht, in Athen sitzt kein vernünftiger Mensch freiwillig auf
der Straße.
Hier entstand eine Pause, schließlich musste
Stavridis auch mal Luft holen. Er holte Luft, und mit der Ausatmung
sagte er:
Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben.
Das brachte Kopp endlich zu sich. Zudem war die
Vorspeise gegessen, auch das half.
Oh, sagte er. Mein aufrichtiges Beileid. Obwohl ich
sie nicht kannte. Aber ich weiß, wie viel sie dir bedeutet
hat.
Danke, sagte Stavridis. Ich hatte sie bis zum
Schluss gepflegt. Das war schön. Ja, schön, wirklich. Am Ende war
sie so verwirrt, dass sie nicht sah, dass wir in Athen waren. Sie
dachte, sie wäre auf dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Saß bei
mir im Innenhof, wo unter einem gelben Wellplastikdach in Kübeln
einpaar Oleander stehen, und sagte immer zu mir: Schau, wie schön
dieser Garten ist! Und erzählte, was die Zicklein und die Entlein
heute gemacht haben, und wenn die Frau über uns das Wasser auf das
Plastikdach warf, weißt du, das soll sie nicht machen, sie macht
das Wasser einfach so, wusch, aus dem Fenster, weil sie auch vom
Dorf kommt, das Wasser fällt auf das gelbe Dach, und läuft dann da
runter und tropft, und wenn sie also das machte, dann quietschte
meine Mutter vor Vergnügen. Sie lachte wie ein kleines Mädchen.
Apropos kleines Mädchen, Irini hat eine Tochter bekommen.
Christina. Jetzt bin ich also Opa.
Wie schön. Gratuliere.
Ja. Den Vater der Kleinen will sie nicht heiraten,
so kriegen sie mehr vom Staat. Und auch Stavridis unterstützt sie
weiterhin finanziell, obwohl sie schon 30 ist, aber so ist es eben.
Die
Söhne auch. Valéry studiert Diplomatie, ein perfekter Gentleman,
du wärst erstaunt, Mathieu hat gerade Abitur gemacht und ist zu mir
nach Athen gekommen, er weiß noch nicht so richtig, jetzt reisen
wir ein bisschen herum.
Selbstverständlich reiste Aris Stavridis nicht zu
seinem bloßen Vergnügen, wenngleich es ihm auch Vergnügen
bereitete, sondern weil er gerade dabei war, etwas Neues
aufzuziehen. Mit Bernard zusammen.
Oh? Wie geht es dem guten Bernard? fragte
Kopp.
So la la. Er ist bei einer Firma für
Sicherheitstechnik und nicht sehr glücklich. Die Branche als solche
wäre gut. Wie das Bestattungsgewerbe. Stirbt nie aus, hähä. Die
Leute haben immer Angst, Staaten, Firmen, Einzelpersonen, und
häufig nicht einmal zu Unrecht.
Ja, sagte Kopp und steuerte bei, was er neulich
über die Wohnungseinbrüche gehört hatte.
Stavridis nickte und fuhr wortreich fort, über
Bernards Arbeitsplatz zu erzählen. Sie führen ein breites
Sortiment, angefangen von Messern (!), Schlagstöcken (!),
Handschellen (!), bis hin zu Audio-, Video- und Telefonüberwachung,
hinken aber etwas hinterher bei Peilsendern, GPS-Ortung,
GPS-Blocker, Handy-Blocker …
Hier begann Kopps Aufmerksamkeit bereits wieder
nachzulassen, bzw. sie trat weiter zurück, dorthin, wo er seinen
eigenen Task zu laufen hatte. Es ging damit nicht wesentlich voran.
Er dachte immer wieder dasselbe: neue Situation + einzahlen geht
nicht + und was geht? + ich muss anrufen. Während er die Gabel in
den Nudeln drehte. Zwischen den Nudeln waren noch andere
Lebensmittel, rot, olivschwarz, grün und sardellenfarben, Kopp sah
aus, als würde er sich darauf konzentrieren, alles zu erwischen. Er
nickte manchmal auch wie jemand, der zuhört.
… Bernard, er ist ein ehrgeiziger Junge … in so
einer »traditionsreichen« Firma sind die Strukturen so fest … für
die klitzekleinste Änderung ein Aufwand … als ginge es darum, den
Mount Everest woanders hinzuschaufeln … Einfach jeder, sagt
Bernard, jeder dort ist dümmer als ich.
Der arme Bernard. Immer ist jeder dümmer als
er.
… Bernards Leben war auch sonst gerade nicht sehr
sonnig … Am Wochenende einen Konflikt gegeben mit der Frau … Als
man Fidelis Paris aufgelöst hat … ein paar Sachen übrig geblieben …
Harmony-Router, Antennen, Kleinkram … in keiner Liste … also
Bernard sie mit nach Hause … ein bisschen Zeit vergehen lassen …
übers Netz verkaufen … Er hat ein Zimmer … vollgestopft mit
sämtlichen Computern und Zubehör … das erste Mobiltelefon, groß wie
ein kleineres Auto … und so weiter. Du kennst das.
Stavridis lachte, Kopp lachte mit, war aber doch
ein wenig verwundert. (War er jemals bei mir zu Hause? Ich sollte
endlich aufmerksamer sein.)
Bernard also, nicht wenig mitgenommen vom
Wochenende, erschien am Montag bei der Arbeit, und es wartete neuer
Ärger auf ihn. Ihm schien, zwei Produkte, zwei Messersets (Bernard
kann nichts dafür, immer, wenn diese Messersets gekauft werden,
wird ihm so absurd; seine Worte: Mir wird so absurd) mit
dementsprechend zwei Produktnummern waren eigentlich nur eins. Nur
ein Messerset. Aber zwei Produktnummern. Wenn du was anderes zu tun
hast, und wann hast du nichts anderes zu tun, sagst du dir, scheiß
der Hund drauf, suchst du dir halt eine von beiden aus und fertig.
Aber Bernard, dem gerade eine Standpauke bzgl. Ordnung gehalten
worden war, wollte der Sache auf den Grund gehen, und ging also ins
Musterlager, um ein für alle Mal klarzusehen: zwei Messersets oder
ein Messerset. Und wie er da in der großen Unlogik, denn die
Anordnung
im Lager war im großen Stil unlogisch, umherirrte, bekam er einen
Anruf von einem Kunden von vor 100 Jahren, der ihm erklärte, er sei
seine letzte Hoffnung, er brauche händeringend 2 Dutzend Harmonys.
Und das war der Moment, in dem Bernard über alle, die ihm in dieser
Phase seines Lebens zusetzten, mit einem Schlag triumphierte. Denn
ihm ist die Idee gekommen. Vielen Dank!
Dies zum Kellner, der die Teller abräumte.
Die Idee ist, sagte Stavridis und hob die Stimme
ein wenig, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, der Kellner drehte
sich um, sah, dass er nicht gemeint war, und ging weiter, Stavridis
beugte sich über den Tisch, dorthin, wo eben noch der Teller war,
die Idee ist, sagte er Kopp ins Gesicht, eine IT-Rarelist zu
erstellen und zu verwalten.
Was ist eine IT-Rarelist? stellte Stavridis die
rhetorische Frage.
Die IT-Rarelist wird die erste EDV-Handelsplattform
in Europa sein, die außerhalb des üblichen Marktes Verfügbarkeiten
von »end of life« Produkten, Restposten, Remarketing-Ware und
Vorführgeräten zeigt. Sie wird EDV-Händlern europaweit die optimale
Möglichkeit bieten, ihre Lagerbestände einzustellen und nach mehr
als 150 000 abgekündigten Produkten zu suchen sowie die direkte
Anfrage an den Anbieter zu stellen. Es ist an der Zeit, IT-Händlern
eine Transparenz außerhalb der üblichen Channels zu bieten und
einen direkten Draht zu neuen Anbietern aufzubauen … und so weiter,
im offiziellen Ton, den will ich dir nicht antun, ich hab’s nur
heute früh schon den Wießies erzählt.
Was sind Wießies?
V. C. Venture Capital.
Ach so.
Bernard hatte schon etwas Geld in Frankreich
besorgt, Aris
in Athen, aber er kannte auch hier jemanden, und hatte dann noch
einen zweiten Kontakt bekommen, du weißt, ich kenn Gott und die
Welt, von einer Frau, einer ehemaligen Geschäftspartnerin, die
jetzt für einen dieser Business Angel arbeitet. Der Typ ist ein
Riese.
Bitte?
Der Mann, den Aris heute früh getroffen hat. 2,14
m, rote Haare, Zickenbart. Dazu der Name: Himmelbauer! Ist das
nicht ein schöner Name für einen Risikokapitalisten?
Stavridis’ Brummbass-Lachen brachte die dafür
anfälligen Strukturen im Restaurant (Gläser, Teller) zum
Klingeln.
Die Frau ist verliebt in ihn! So etwas habe ich
schon lange nicht mehr gesehen. Sie ist älter als er. Fast in
meinem Alter. Saß seitlich von uns und himmelte ihn
an!
Stavridis lachte.
Apropos (?), lass uns das Dessert woanders
einnehmen, ein kleiner Spaziergang wird uns guttun. Und außerdem
müsste ich dringend mal auf die Toilette. Entschuldige mich.
Mittlerweile hatte Kopp aufgehört, immer dasselbe
zu denken. Nun dachte er an gar nichts mehr. Er hatte einen
schweren Kopf, das Essen, der Wein, beides?, er hatte sein
Zeitgefühl verloren, saß nur da, dann war ihm, als wachte er auf.
Bin ich eingeschlafen? Es war nicht nachzuprüfen. Er sah auf die
Uhr, da war eine Uhrzeit, Kopp sah betäubt drauf, konnte sie aber
mit nichts ins Verhältnis setzen. Er trank das restliche Wasser aus
und wurde wieder etwas klarer. Dafür hatte er auch Zeit genug, denn
Stavridis blieb sage und schreibe 20 Minuten weg. Da Kopp sich
immer wieder umsah, kam der Kellner zu ihm.
Noch einen Wunsch?
Kopp hatte immer noch Durst, bestellte aber kein
Wasser mehr nach, sondern die Rechnung. Das belebte ihn wieder ein
wenig. Bezahlen ist des Griechen Ehre, und bis heute war
es Kopp noch nie, niemals, bei keiner Gelegenheit gelungen, Stav
zu irgendetwas einzuladen. Es war sogar schon mal vorgekommen, dass
Stavridis vortäuschte, auf die Toilette zu gehen, aber in Wahrheit
bezahlen ging! Diesmal nicht. Kopp gab 15% Trinkgeld.
All das war schon längst vorbei, und Stavridis
immer noch nicht zurück. Um sich die Zeit zu vertreiben,
synchronisierte Kopp seine E-Mails mit dem Handy. Hätte seine mails
synchronisieren wollen, als er sah, dass offenbar Flora angerufen
hatte. Ich hab’s nicht gehört. Hätte Flora zurückrufen wollen, aber
da stand plötzlich Stavridis neben ihm.
Tut mir leid. Meine Hämorrhoiden. Jetzt können wir
gehen. Ich kenne einen guten Eisladen, nur 15 Minuten den Fluss
hinunter. Soll ich den Wein tragen?
Kommt nicht in Frage.
Sie gingen am Fluss entlang. Er lag unten, zwischen
hohen, schwarz gewordenen Mauern, am Ufer eine schön gepflasterte
neue Promenade, darauf nicht wenige, die Zeit und Muße hatten, bei
diesem strahlenden Sonnenschein Anfang September dasselbe zu tun,
wie Stav und Kopp: gehen, reden. Das Quaken der Bandaufnahmen der
Sightseeingschiffe, eins nach dem anderen, als Untermalung.
Und? Was hältst du davon? fragte Stavridis.
Wovon?
Von der Rarelist natürlich.
Ach, das. Nicht so schlecht. Nein, die Idee ist
gut. Obwohl ich eher ein Typ für das Neue bin. Aber ich weiß, ich
bin kein Maßstab. Du hast es mir auch gut erklärt, überzeugend.
Aber die Idee ist alles, was ihr habt, oder? Wenn sie euch einer
klaut? Oder euch zuvorkommt? Schneller das Geld zusammen hat?
Stavridis nickte heftig.
Natürlich. Du hast recht. Obwohl, Geld braucht man
gar
nicht so viel. Könnte man direkt selber haben. Leider haben es
Aris und Bernard nicht selber. Aber sie wollen nicht mit
einem großen Investor arbeiten, sie, insbesondere Bernard,
haben Bedenken, dass man sie, die sie selbst kaum etwas beisteuern
können, dann leichter ausbooten könnte. Deswegen arbeiten sie
lieber mit mehreren, nicht so großen Quellen. Das kostet wiederum
mehr Zeit. Obwohl, ich will ehrlich sein, es ist nicht so, dass
sich uns ein Großer aufgedrängt hätte und wir hätten ihn abgelehnt.
Wir müssen nehmen, was wir kriegen. Stavridis selbst ist, ehrlich
gesagt, eher an der zweiten Phase interessiert. Was ist die zweite
Phase? In der zweiten Phase, und das war dann meine Idee,
wenn wir etwas Geld verdient haben werden, und das wird schnell
gehen, hast du eine Ahnung, wie gefragt diese alten Dinger sind,
besonders im Osten und im Süden?!, und da kenne ich mich aus!,
also, was das eigentliche Ziel ist, oder eben die nächste Sache,
aber auch die wollen wir gemeinsam machen, dass wir etwas Eigenes
entwickeln, etwas nicht Überkandideltes, aber Praktisches und vor
allem Erschwingliches für die Länder, die sich euer teures
Zeug nicht leisten können. Denn das ist euer Problem. Ihr denkt nur
an den Hochpreissektor. Aber der Markt ist klein und heiß umkämpft.
Und was macht ihr? Ihr verknappt das Angebot auch noch künstlich,
um den Preis hochzuhalten! Stavridis ist leidenschaftlich gegen so
eine Strategie! Eure Hochnäsigkeit wird euch noch teuer zu stehen
kommen! Wir hingegen, rief Stavridis, wollen was für arme Leute
machen! Natürlich wird das wesentlich teurer werden als die erste
Phase, aber ich gehe davon aus, dass wir das Geld bis dahin schon
haben werden. Und wenn nicht: wofür gibt es Engel, nicht
wahr?
Stavridis lachte.
Selbstverständlich kennen wir einpaar Leute, die
für uns entwickeln würden. Kannst du dich noch an Silver erinnern?
Er
war bei uns, das heißt, bei Fidelis, ein sehr talentierter Junge,
ist nicht mal ein Jahr geblieben.
Nein, Kopp erinnerte sich nicht.
Bernard kennt auch jemanden, mal sehen. Und
Mathieu, mein Junge, der ist auch sehr geschickt. Erst 18, hat aber
schon eine Antenne nachgebaut, die war einwandfrei.
Von wem hat er was nachgebaut?
Pscht! Stavridis legte einen Finger an seine Lippen
und lachte.
(Müsste ich das verstehen? Ich tue es nicht.)
Hier entstand wieder eine Pause, sie trotteten vor
sich hin. Das heißt: Stavridis spazierte, Kopp trottete.
So lange, bis es Kopp unangenehm auffiel und er
Lampenfieber bekam. Dieser tote Punkt dauert schon zu lange. Der
Moment, wenn es Stavridis spätestens auffallen müsste, dass mit mir
etwas nicht stimmt, dass ich abwesend und bedrückt bin,
verschlossen und uninteressiert, stand unmittelbar bevor. Kopp
wollte diesen vermeiden, ihm zuvorkommen, irgendetwas sagen (Wie
wär’s mit der Wahrheit? Aris, ich habe das und das Problem und bis
vor Kurzem dachte ich, du könntest mir dabei behilflich sein, aber
neuere Entwicklungen haben mich wieder durcheinander gebracht, so
dass ich im Moment nicht weiß, wem ich vertrauen kann … Nein, so
nicht …) aber Stavridis schnitt selbst das sich dehnende Schweigen
ab:
Und, fragte Stavridis, wie läuft es bei dir?
Gut, sagte Kopp.
Wie geht es deiner lieben Frau?
Gut.
In der Ehe? Läuft es gut?
Ja.
Versucht ihr noch, ein Kind zu bekommen?
(Woher weiß er das? Habe ich es ihm erzählt?)
Ja, ja, weißt du, so halbwegs.
Halbwegs? Stavridis lachte, wenn auch nicht mehr so
herzlich wie zu Anfang. Ihr müsst es schon richtig machen!
Ja, sagte Kopp, wir machen es richtig. Es klappt
nur nicht.
Es wird schon noch klappen! Stavridis war sofort
bereit, zu trösten. Er kannte Leute, bei denen es 4 Jahre gedauert
hat! Und andere, bei denen waren es 7! Es kommt, wenn es kommen
will, mach dir keine Sorgen!
Nein, sagte Kopp.
Hier ist der Laden, den ich meine!
Sie nahmen jeweils drei Kugeln, im Becher, nicht in
der Waffel. So war es aber dann doch zu kompliziert: Wein,
MP3-Player, Becher, Löffel... Sie setzten sich auf eine Bank, mit
dem Gesicht zum Fluss. Das Wasser war nun, da sie saßen, nicht zu
sehen, nur die Quaimauer, und dann die Quaimauer auf der
gegenüberliegenden Seite. Sie löffelten das Eis.
Herrje, wie ein Sohn mit seinem Sonntagsvater! Was
hat er mir in den Wein getan? Kopp war schon seit einer Weile
sentimental. Erst die Erwähnung des Kindes, und jetzt fiel ihm auch
noch sein Vater ein (immer, wenn ich mit Aris bin, passiert das),
und im Alter von 43 Jahren bekam er einen Stich ins Herz. Er dachte
wieder an das Kind - wir wünschen uns beide einen Jungen - und nahm
sich etwas vor. Davon bekam er Tränen in die Augen. Herrje, mit
Tränen in den Augen löffele ich mein Eis. Vanille, Schokolade,
Kokos.
Er verpasste wieder die Hälfte davon, was Aris
sagte.
Was? Entschuldige. Ich war so in dieses Eis
vertieft.
Stavridis wiederholte, dass sowohl er als auch
Bernard gerne wieder mit Kopp zusammenarbeiten würden. Noch nicht
jetzt, das wäre zu früh, aber später, wenn es gut läuft.
Ich bin geschmeichelt.
Wir sollten uns alle in Paris treffen! Hast du
Zeit, mitzukommen
nach Paris? Wir können bei Bernard wohnen. Er hat eine Wohnung mit
Blick auf den Eiffel-Turm, zwar nur seitlich, aber immerhin.
Mit seitlichem Meerblick?
Kopp lachte. Der seitliche Meerblick gefiel ihm so
sehr, dass er nach Stunden wieder eine echte Chance gehabt hätte,
aus seinem Loch herauszuklettern, da fragte Stavridis:
Wie läuft es in der Firma?
Worauf Kopp wieder nicht anders konnte, als »gut«
zu sagen.
In diesem Moment hupte ein vorbeifahrendes Schiff,
kein Ausflugsschiff, ein kleiner, leerer Lastkahn genau auf ihrer
Höhe, ohne jeden ersichtlichen Grund und in einer Lautstärke, dass
Kopp bis ins Mark erschrak, fluchte, sich die Ohren zuhielt. (Sich
mit einem mittlerweile zum Glück fast leeren Eisbecher in der Hand
das Ohr zuhalten …) Stavridis ebenfalls, er jedoch kichernd. Eine
Sekunde später war Kopp schon wieder dankbar, erstens dafür,
geweckt worden zu sein, und zweitens sich einige Augenblicke
unter dem Tuten verstecken zu können, sich dort sammeln, um
am anderen Ende wieder neu anfangen zu können, diesmal
richtig:
Das heißt: Ich muss dich was fragen, Aris. Kennst
du einen Menschen namens Sascha Michaelides?
Wer soll das sein? fragte Stavridis, während sie
die Becher wegwarfen und sich wieder in Bewegung setzten, weg von
dem Ort, an dem sie so erschreckt worden waren, weiter die
Promenade entlang. Kopp mit Geschenken bepackt, Stavridis mit einer
jetzt leeren Umhängetasche mit Werbeaufschrift, schlendernd. Wer
soll das sein? Ein Grieche? Dann müsste es »-dis« heißen.
Michaelidis. Mit i.
Ich kenne ihn mit »-des«. Kennst du ihn
anders?
Ich kenne ihn gar nicht. Wer soll das sein?
Es war also nicht dein Lead?
Mein Lied?
Kopp erklärte es endlich verständlich.
Stavridis sagte, weder der Grieche noch die
Armenier seien ihm bekannt. Aber wieso?
Ach, ich dachte nur, sagte Kopp, fing wieder zu
zögern an - Bin ich nicht sogar verpflichtet, Stillschweigen zu
bewahren, es zumindest nicht jedem zu erzählen? Das sind
Geldangelegenheiten, schwierige Geldangelegenheiten - andererseits
brauchte er einen Rat und weiters merkte er, wie Stavridis anfing,
ebenfalls bedrückt zu werden, er entschied sich wieder um:
beziehungsweise, um es von Anfang an zu erzählen …
Er erzählte den Armenier-Kasus von Anfang an,
inklusive des Konflikts mit Anthony, obwohl das gar nicht
unmittelbar dazu gehörte, aber er hoffte auch diesbezüglich auf
einen erleichternden Kommentar, und wenn es nur ein Satz wäre (Aber
du kennst ihn doch! Er hatte ihn dir bereits gesagt: »Mach dir
nichts daraus. Er respektiert niemanden.« - Also respektiert
er mich nicht? Ist es das? So einfach, so brutal?), bis zum
vorläufigen, etwas herben Ende. Mit jeder neuen Wendung leuchteten
Stavridis’ Äuglein etwas mehr, die Sonne spiegelte sich in seinen
Brillengläsern, seine Wangen erglühten, und am Ende ließ er ein
unerwartet hohes, perlendes Lachen erklingen.
Die Geschichte erinnerte ihn an seinen ersten Job
in Paris! Bei einem gewissen Herrn (Kopp verstand:) Almari. Der hat
auch alles immer in bar bezahlt, nie was aufgeschrieben, trotzdem
wusste er immer wem wie viel, er war ein sehr korrekter Verbrecher,
der Herr Soundso. Ein sehr korrekter Verbrecher.
Stavridis gluckste vergnügt vor sich hin.
Kopp grinste mit, endlich jemand, der die Story
honoriert. Erst nach etwa 2 Minuten, in denen Stavridis nur lachte,
gluckste, kicherte, sich amüsierte, begann Kopp die Kopfhaut taub
zu werden vor Ungeduld und dem zu einer Grimasse verkommenen
Grinsen: so lustig ist das nun auch wieder nicht, bzw.
deswegen habe ich es nicht erzählt.
Mach dir keine Sorgen, sagte schließlich Stavridis,
blieb stehen, sah Kopp, wie diesem schien, mit Zärtlichkeit
an. Kopp verzieh ihm sofort. Stavridis legte ihm eine Hand auf den
Oberarm. Mach dir keine Sorgen, wiederholte er. Das ist kein großes
Problem. Erstens hat der Bankmensch nicht recht. Bzw., natürlich,
er muss so sprechen. Aber in Wahrheit wird es überhaupt nicht jedes
Mal nachgeprüft. Und zweitens kann man’s einfach in Raten machen.
Natürlich musst du das mit der Firma besprechen. Du musst dafür ein
Extrakonto eröffnen, und dann zahlst du mal 9000 ein, das nächste
Mal, 6 Wochen später, wieder irgendwas, und so weiter. Müssen sie
halt ein bisschen warten, umgekehrt machen sie es schließlich auch
so. Weißt du, ich bin nicht im Streit gegangen, ich bin immer noch
gut mit ihnen, aber es hat bis vor 3 Wochen gedauert, und es hat
mich dutzende Mahnungen gekostet, bis sie mir meinen letzten Bonus
ausgezahlt haben.
Ach was, sagte Kopp. Tatsächlich? (Du hast Boni
bekommen?)
Ja, sagte Stavridis fröhlich und watschelte wieder
los. Da sind sie immer schon Schlampen gewesen, das sagt man doch
so? Oder ist das zu hart?
Nein, sagte Kopp. Es zu einer Frau zu sagen wäre
hart. Bei einer Firma geht’s.
Sie lachten. Danke, Aris. Für den Ratschlag, die
Beruhigung, die wiedergekehrte Leichtigkeit. Die freudige
Anspannung, die durch die Aussicht auf ein kleines, illegales Spiel
entsteht, bei dem man - angenommen - nicht viel zu befürchten
hatte. Meine Gelegenheit, Gangster zu spielen. Natürlich nur in
homöopathischen Dosen. In homöopathischen Dosen Gangster,
was denkst du da wieder zusammen. Darius Kopp kicherte.
Ich hoffe, bei dir gibt es damit keine Probleme?
fragte Stavridis.
Was? fragte Kopp, durch das eigene Kichern etwas
taub geworden.
Mit der Bezahlung, sagte Stavridis. Ich hoffe, sie
zahlen anständig.
Ja, sagte Kopp und schloss den Mund. Seine Kopfhaut
fing wieder zu kribbeln an.
Das ist gut, sagte Stavridis und steckte die Nase
etwas höher hinauf, um einen extra Zug Luft zu nehmen. Wenn sie
schon überall Geld eintreiben, sollen wenigstens auch wir was davon
haben, nicht wahr?
Kopp verkniff sich die (dumme) Frage, woher
Stavridis davon wisse. Erstens weiß er immer alles. Und zweitens
ist es kein Geheimnis. Was sich herumsprechen kann, spricht sich
herum.
Und, fragte Stavridis heiter, wer steht diesmal auf
der Einkaufsliste?
Auf welcher Einkaufsliste? (Ich werde wirklich
immer blöder.)
Stavridis lachte. (Ich weiß, du weißt es, du willst
es mir bloß nicht sagen.)
Nein, sagte Kopp aufrichtig. Das ist es nicht. Wir
wollen eine dritte Fertigungsstraße bauen.
Stavridis lächelte und wiegte professoral den
Kopf.
Und hier wurde es Kopp dann doch allmählich
überdrüssig. Beziehungsweise, erinnerte sich. Ich sage die
Wahrheit, wenn ich sage, es sei jedes Mal ein Fest mit dir, Aris.
Aber wahr ist auch, dass du jedes Mal anfängst, mit mir zu spielen.
Katze mit Maus. Andeutungen, kleine Provokationen, aber wenn man
nachfragt, sind deine Lippen versiegelt oder es war nur ein Scherz.
Obwohl man neben dir geht, hat man das Gefühl, dir
hinterher zu dackeln. Das ist anstrengend. Einmal hatte Kopp
versucht, dem entgegenzusteuern, indem er Stavridis um Rat
anfragte, wie mit einem fiktiven XY umzugehen sei, der sich
manipulativ verhalte. Stavridis lachte und sagte: Manipulieren
musst du dich schon lassen! (Muss ich das? Du kennst die
Antwort.)
Vielleicht, hörte er Stavridis neben sich sagen,
Kopp sah nicht mehr hin, er sah vor seine Füße, grauer Vogelflaum
zitterte dort, wo sich Kanalwand und Gehsteig trafen, vielleicht
stimmt es, sagte Stavridis, und ihr kauft diesmal wirklich nicht
wieder ein. Die Kontrollbox, die ihr mit Eloxim eingekauft habt,
ach so, das warst ja du, also: das ist eine gute Sache. Die Frage
ist, wann die Leute das merken, ob sie’s rechtzeitig tun. Weißt du,
sagte Stavridis nachdenklich, anfangs ist eine Firma vor allem
eins: eine Idee. Ein Produkt, Produkte und Menschen, die sie
entwickeln und vermarkten. Und sie ist, natürlich, von Anfang an
und immer: Geld. In Firmen, wo es gut läuft, achtet man darauf,
dass die Balance erhalten bleibt. Produkt, Idee, Menschen, Geld.
Bei euch gehen Produkt, Idee, Mensch zurück, was bleibt also? Geld.
Deswegen sammelt ihr Geld ein. Ganz einfach. Das ist die Antwort.
Ihr sammelt Geld ein, weil die Firma Geld ist. Willst du was
trinken? Ich bin schon wieder am Verdursten. Diese Hitze. Da ist
eine Hotelterrasse, lass uns was nehmen!
In der Tat hatte auch Kopp einen trockenen Mund,
dazu der Anblick des Vogelflaums, ihm wurde etwas übel, er presste
die Lippen aufeinander, nickte nur.
Sie bestellten zweimal Sprudelwasser. Die reine
Vernunft. Gewünscht hätte ich mir ein Bier. Kopps Hände klebten ein
wenig (das Eis). Er fasste das Glas an, ließ es los, fasste es an.
Er sah Richtung Fluss, damit es so aussah, als hätte er eine
Richtung. Während es sich in ihm drehte. Hin und her und hin und
her, in seinem Kopf. Stavridis’ letzte Sentenzen hatten
sich vernünftig angehört, auch tröstlich (Er mag mich, er will mir
nichts Böses, er ist bloß gierig auf Klatsch), aber Kopp hätte
nicht sagen können, was das Tröstliche war, wie sie als Tröstung
funktionieren sollten. Vielleicht, wenn er zur Gänze verstanden
hätte, was gesagt worden war. Aber ich habe es nicht verstanden.
Ich verstehe immer weniger. Sagen konnte er jetzt schon gar nichts
mehr. Sie saßen da, bei ihren Sprudeln, endgültig ins Schweigen
versunken. Das war gut, es gab Kopp die Gelegenheit, sich wieder in
die Umgebung einzuhören. Sich dadurch wieder zurückzubringen -
in die Realität. Kopp horchte. Nicht auf die nahen Geräusche
(Wasser, Schiffe, Kaffeehausbetrieb), sondern auf die fernen: wo
ist die nächste Straße, wo fahren die Autos, wie spät ist es
eigentlich?
Stavridis blickte auf seine Armbanduhr und sagte:
Gleich 5.
Sein Flug ging um 7.
Kopp war drauf und dran, sich für ihn zu
erschrecken, da sagte Stavridis:
Ah, da ist ja Mathieu!
Ein dünner junger Mann mit abstehenden Ohren kam
auf sie zu. Stavridis stellte Darius Kopp seinen jüngeren Sohn
vor.
Holst du unsere Koffer, Mathieu? Das ist nämlich
unser Hotel. Danke, dass du mich bis hierher begleitet hast.
Das Gesicht, das Kopp machte, löste in Stavridis
das zweite Mal an diesem Tag ein perlendes Lachen aus. Er riss Kopp
an sich und drückte ihn so fest an seine Brust, dass sich das Handy
schmerzlich in Kopps Rippen bohrte.
Mathieu kam mit zwei kleinen Boardkoffern aus dem
Hotel heraus.
Es war schön mit dir. Wir bleiben in Kontakt! Du
musst mich mal in Athen besuchen!
Und bevor Kopp es richtig begriff, waren sie
fort.
1. Flora zurückrufen
Er nahm eines der Taxis, die vor dem Hotel
warteten, und ließ sich ins Büro fahren.
2. London anrufen,
oder umgekehrt, aber davor noch einen Cappuccino,
bevor ich stehenden Fußes einschlafe. Aber dann ging er einfach an
der Küche vorbei, gleich auf sein Büro zu, denn er spürte, es war
schon zu spät. Erreichte das Büro quasi schon mit geschlossenen
Augen, stieg sich, sobald die Tür hinter ihm zu war, in den Hacken,
stieg aus dem einen Schuh (kleiner Schmerz, bald nicht mehr
sichtbare Abschürfung), dann aus dem anderen, legte sich auf den
Boden, auf den nachtblauen Teppich, und schlief, wie niedergekeult,
sofort ein.
Die Nacht
Er schlief gut. Tief, erholsam. Er hatte 20
Minuten geplant, es wurden anderthalb Stunden. Eine gute Mütze
Schlaf. Er träumte nichts. Trotzdem erwachte er wie aus einem
Traum, mit einem Ruck, saß plötzlich, der Speichel wollte ihm aus
dem Mundwinkel rinnen, er zog ihn schnell zurück, es gelang nicht
vollständig, er musste mit dem Handrücken nachwischen.
Wie spät ist es? Er blinzelte, stellte auf seine
Armbanduhr scharf: halb 7. Flora ist schon bei der Arbeit. In
London ist es halb 6. Ein wenig war ihm schwindlig, er blieb
sitzen, sah nicht zum Fenster, hinter dem nur der wolkenlose Himmel
war, davon schwindelt einem noch mehr, er sah hinunter, zu seinen
Beinen in den Anzughosen, drum herum nachtblauer Teppichboden. Wie
schmutzig er ist. Machen die hier gar nicht mehr sauber? Der
Papierkorb war auch immer noch voll. An einem Montag. Wie ist das
möglich?
Er rappelte sich auf, angelte nach seinem Stuhl,
setzte sich hinein. Auf dem Platz toste noch das Leben -
abnehmender Tagverkehr, beginnender Abendverkehr - die Sonne schien
noch aus voller Kraft, bis Mitternacht könnte man noch beinahe
einen ganzen Arbeitstag hinlegen.
Um 18:42 rief erneut in London an.
Bis zum fünften Klingeln ging keiner ran, dann
musste Kopp auflegen, denn gleichzeitig mit dem ersten Klingelton
überkam ihn ein mächtiger Harndrang. Er rannte zur Toilette.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Herr Lasocka am
Etagenempfang noch da war, aber bereits dabei, seinen
Arbeitsbereich aufzuräumen. Er sieht mir mit Anerkennung und etwas
Bedauern hinterher. Ich sehe aus wie ein schwer arbeitender Mann.
Verschwitzt und zerzaust. Und schon wieder auf Socken. Was soll’s.
Jeder hat seine Marotten. Kennt man Kopp halt als den, der immer
auf Socken durch das Bürohaus unterwegs ist. (Stinken sie? Ich
merke nichts.)
Er wusch sich Hände und Gesicht mit nach
Maiglöckchen riechender Flüssigseife. Er trocknete sich ab, in dem
er sich mit den nassen Händen durchs Haar strich. Wasser lief ihm
in den Kragen. Das war so angenehm, dass er - nach einem Blick nach
hinten, zur Eingangstür, da, sieh an, abschließbar - nah dran war,
das Hemd und das Unterhemd auszuziehen und sich den ganzen
Oberkörper zu waschen. Er unterließ es. Der Spiegel ist übrigens
getönt, zitiert eine polierte Goldfläche, in einer kleinen Vase
links steht (heute) eine pinkfarbene Orchidee. Darius Kopp
verstrich das Wasser sorgfältig im Nacken und sah sich dabei an.
Ich bin ein fetter Mann, dennoch sehe ich irgendwie gut aus,
besonders in diesem Spiegel.
Zurück im Büro rief er nicht noch einmal an,
sondern verfasste zwei Mails. Eine an Sandra mit cc Anthony: Bitte,
mit
den besten Grüßen, in simple english, um Information bzgl.
aktueller Lieferzeiten sowie Kontostand. Und eine zweite nur an
Anthony: Bitte um Rückruf, wichtige Neuigkeiten im Armenien-case.
Zögerte, ob er Bill bcc setzen sollte. Verzichtete. Ich gebe dir
noch genau einen Tag, Anthony. Bzw. eine Nacht.
Ein letzter Blick auf die E-Mails. Und die Werbung
höret niemals auf. Once again Multipack is the preferred partner!
Wir geben Ihnen die Freiheit, den richtigen Weg zu finden! Vielen
Dank.
Er dachte daran, eine Blume für Flora zu
kaufen, eine rote Rose. Oder eine, die besonders wäre. Er ging
extra zu Fuß, so war die Chance größer, unterwegs einen Blumenladen
zu sehen. Wärst du lieber gleich ins Einkaufszentrum gegangen, vor
deiner Nase, bzw. unter deinen Füßen, ins Souterrain, wo die
Lebensmittel sind, da ist ein Blumenstand. Aber es fiel ihm nicht
ein. Und natürlich ergab sich unterwegs keine einzige Gelegenheit,
eine Blume zu kaufen. Kein Laden, kein Kiosk, kein Stand, kein
fliegender Rosenverkäufer. Die Stadt kochte, nein, dazu braucht es
Wasser, das hier war trocken, sie glühte also, überall Roste: in
den Gehsteigen, um Baumstämme herum, an den Balkonen, an den Türen,
an den Autos, Bauzäune, Fahrräder, Fahrradständer, Poller,
Brückengeländer. Tische und Stühle aus Metall. Normalerweise fällt
mir so etwas nicht so auf. Vermutlich hatte er Durst. Ja, er hatte
Durst, und auch der gute Schlaf im Büro hatte ihn nicht in dem Maße
erfrischt, wie er zunächst gedacht hatte. Vor allen Dingen wurden
ihm schon wieder die Füße zu heiß. Der kilometerlange Marsch mit
Stavridis hatte seine Spuren hinterlassen. Ich brauche wirklich
neue Schuhe. Oder wenigstens neue Socken.
Kurz und gut, der Weg zum Strand, dürstend in Hitze
und nicht enden wollender Rushhour, war eine mittlere Tortur.
Schau, wie verschwitzt ich bin, Flora, sag nicht, ich hätte es
leichter. Kurz vor Schluss, gerade, als er dachte, hätte ich mal
die Orchidee vom Klo mitgenommen, exakt auf dem Nachbargrundstück
des Strands, kam er doch noch zu seiner Rose. Links und rechts
neben dem Eingang wuchsen dort zwei Kletterrosen. Kopp beschloss,
sich nicht einmal umzusehen. Wenn du dich erst umsiehst, bist du
verloren. Wenn mich einer fragt, sage ich mit meinem charmantesten
Lächeln, ich brauche eine Blume für meine Frau, es ist sehr
wichtig, ich habe gerade erfahren, dass sie schwanger ist. Wer
könnte einem da noch an den Kragen gehen?
Es ging ihm keiner an den Kragen, aber die Rose war
widerspenstig und stach ihn. Er musste fluchen und an ihr zerren,
sie riss nicht sauber ab, unten am Stiel blieb ein Stück Rinde
hängen, und überhaupt war sie zu kurz, man sieht, dass ich sie
irgendwo geklaut habe. Aber ist das nicht noch ein wenig
charmanter?
Flora war offenbar sehr sauer, denn sie kam nicht
einmal in die Nähe seines Tisches. Kann sein, sie hatte die Rose
gar nicht gesehen.
Aber Melania kam.
Grüß dich, sitzt du absichtlich nicht in Floras
Bereich?
Das hier ist nicht Floras Bereich? Ich bin
vielleicht ein Trottel. Danke, Melania.
Er setzte sich um, Flora kam.
Es tut mir leid, ich hab’s nicht mehr rechtzeitig
geschafft, ich bin herumgelaufen wie ein scheißender Köter, aber
schau, was ich dir geklaut habe.
Scheißende Köter laufen nicht herum, im Gegenteil,
Danke für die Blume, ist die von nebenan? Und ansonsten, was
soll’s, ich bin’s ja gewohnt. Was darf ich bringen?
Das größte Bier, das ihr habt, ich bin am
Austrocknen.
Sie brachte das Bier, er fragte, warum sie
angerufen habe. Der Chef war nicht da, sie konnten ein wenig
entspannter reden als sonst.
Nichts weiter. Das heißt, sie war - nicht das erste
Mal - von einem dämlichen Werbeanruf geweckt worden.
Was für einem Werbeanruf?
Was weiß ich. Versicherung, Telefon, irgendwas. Ich
hab gleich wieder aufgelegt. Aber sie ärgerte sich, denn sie hatte
ihn schon 100mal gebeten, ihr zu erklären, wie man bei ihrer Anlage
das Telefon aus- oder wenigstens leise stellen kann.
Ich weiß es doch auch nicht. Steht bestimmt im
Handbuch.
Und wo ist das Handbuch?
Das wusste Kopp nicht.
Es wird irgendwo in deinem Misthaufen sein. … Eines
Tages wird uns dieses Chaos verschlingen. Flora sah es bildlich vor
sich. Es sieht aus wie ein Monster aus einer Kindergeschichte, ein
großer Kloß, Arme, Beine unwichtig, entscheidend ist der Bauch, es
ist ein Bauch und ein riesiger Schlund in einem, der aufgeht und:
hamm!
Kopp lachte ein wenig.
Außerdem ist ein Brief vom Steuerberater
gekommen.
Ein Brief vom Steuerberater? Wieso schreibt er mir
einen Brief? Wieso ruft er nicht an?
Das wusste Flora nicht.
Was steht drin?
Ich habe ihn nicht aufgemacht. Aber was wird es
schon sein? Du hast seit zwei Jahren keine Steuererklärung
abgegeben. Tu mir den Gefallen und regle endlich deine Finanzen,
ja? Das ist auch so ein Chaos. Wirklich. Tu mir den Gefallen.
Ja, ja. Sobald ich Zeit habe. Ich hab ja nicht
einmal Zeit, mir ein neues Spray zu holen.
Dazu sagt sie nichts. (Was soll ich dazu sagen?
Das kann ich dir nicht abnehmen. Das Gesetz verbietet
es mir. Du musst selber zum Arzt.)
Er weiß das sehr gut und sagt ebenfalls nichts
mehr.
Sie ging weg, sie arbeitete. Sobald er wieder
Blickkontakt hatte, winkte er sie heran. Sie kam.
Kann ich ein Glas Wasser für meine Rose
haben?
Sie ging, kam mit dem Wasser zurück.
Warum regst du dich eigentlich auf? Wir sind
getrennt veranlagt.
Aber wir haben ein gemeinsames Budget. Wenn du
wieder hunderte oder tausende Euro Strafe zahlen musst, spielt das
auch für mich eine Rolle.
Ja, ja, ja, er versprach, er werde sich darum
kümmern.
Er saß eine Weile da, sah ihr zu. Glaub’s oder
nicht, er bekam wieder Hunger. Aber er bestellte nichts mehr, auch
kein Bier.
An der S-Bahn, nach dem Aussteigen, kaufte er sich
dann einen Döner. Er aß ihn, während er nach Hause lief. Nicht
durch den schlecht beleuchteten Grünstreifen, sondern über die
Straße. Es war noch nicht so spät, aber hier war schon keiner mehr
unterwegs. Das Klopfen seiner Absätze.
Flora hatte auch etwas zu essen eingekauft. Wurst,
Käse, Gemüse, Obst, Brot. Keine Schokolade. Kopp nahm einen Whisky.
Und Stavridis’ Wein? Den hatte er im Büro vergessen. Besser so.
Sonst würde ich den auch noch trinken. Als Bernard das erste Mal im
Leben Wodka zu trinken bekam, kotzte er nachher an die Wand des
Hotelflurs. Am nächsten Morgen entschuldigte er sich bei uns. Dabei
hatten wir es gar nicht gesehen.
Der Steuerberater hatte eine Mahnung geschickt. Sie
haben meine letzte Rechnung immer noch nicht bezahlt. Nach
nunmehr
2 Jahren empfand der Steuerberater es als angebracht, ihm
Zinsen zu berechnen. Außerdem teilte er mit, dass er ihn nicht mehr
vertreten würde. Zuletzt wies er noch darauf hin, dass, wenn Kopp
weiterhin keine Steuererklärung abgäbe, ihm in naher Zukunft eine
Schätzung von Amts wegen drohe, und zwar auf der Grundlage des
letzten versteuerten Einkommens. Kopp warf den Brief auf den Tisch
zurück. Er holte das Bügelbrett hervor und stellte es vor dem
Fernseher auf. Er bügelte Hemden und sah dabei sinnlos fern.
Später, nachdem das Bügeln beendet war, holte er
sich noch einen Whisky und setzte sich auf das Sofa.
Wie man nicht aufhören kann, immer und immer wieder
von vorne durch zu zappen, obwohl nichts kommt. Vor allem
sah er gar nicht hin, er sah sich den Bildschirm selbst an. Das
Problem war schon einige Wochen alt, bis jetzt hatte er darüber
hinweggesehen, um sich nicht ärgern zu müssen. In der Mitte des
Bildschirms waren zwei dunkle Streifen entstanden, als wäre er
gewellt, wie eine schlecht gespannte (alte) Kinoleinwand. Ich habe
Funkmechaniker gelernt, mit Röhrenfernsehern, die heute kein Mensch
mehr benutzt, dennoch, so viel war ihm klar: von einer Reparatur
konnte nicht die Rede sein. Das teure Scheißding ist kaputt. Es
muss ein neuer her. Aber vielleicht doch lieber ein Beamer.
Er holte seinen Laptop und recherchierte nach
Beamern.
Später bekam er Hunger, nahm ein Würstchen aus dem
Kühlschrank, riss ein grünes Blatt von einer Porreestange ab, hielt
beides in einer Hand und biss ab, während er mit der anderen
surfte. Später nahm er noch einen dritten Whisky.
Der Gedanke, früh ins Bett zu gehen, tauchte auf,
aber dann surfte er weiter und weiter, sah dabei weiter und weiter
fern, mit der Zeit wurde das Programm auch ein wenig besser, er
legte den Laptop beiseite. Er sah sich einen Schieß- und
Verfolgungsfilm
an, schlief darüber ein, wachte mitten in einem anderen Schieß-
und Verfolgungsfilm auf und brauchte eine Weile, bis er begriffen
hatte, dass das nicht dieselben Autos und nicht dieselben Kanonen
waren. Später kam ein Western, später wurde es wieder schlimmer, es
kamen fast nur noch kein bisschen erotische Titten und Ärsche und
hirnverbrannte Spiele. Sie bekommen 40 000 Euro (Sternchen: 2000
garantiert), wenn Sie diese Buchstaben zu einem sinnvollen Wort
ordnen: FELPA.
Na! Jetzt aber! Ran ans Telefon und angerufen! Was
ist los mit Ihnen? Wieso rufen Sie nicht an?
Weil ich vielleicht viel Dummes denke, sage und
tue, aber ein Idiot bin ich nicht. Er schaltete trotzig den
Fernseher aus und ging ins Bett, noch bevor Flora zu Hause
war.