SAMSTAG

Der Tag

Am Samstag kehrte dann tatsächlich so etwas wie paradiesische Ruhe ein. Ein Mann, eine Frau, in einem Garten. Vorerst noch nicht nackt. Als Kopp erwachte, war Flora natürlich schon längst nicht mehr neben ihm. Hinaus auf die Terrasse. Ein Rest morgendlicher Kühle war noch da, aber nur noch wie ein schwaches Spinnennetz, eine halbe Stunde vielleicht noch, dann reißt es, und dahinter ist wieder die Hitze. Hinter den Kiefern stand schon weiß die Sonne.
Der Garten bei Tageslicht. So üppig, wie man es auf diesem Sandboden nicht erwarten würde. Eine Hecke aus Brom- und Stachelbeeren, davor büscheweise Tomaten, Erbsen, Rosenkohl, dichte Reihen Zwiebeln, Möhren, Salat (hochgeschossen), mannshoher Dill, ein riesiger Meerrettich (aber Kopp weiß nicht, dass es das ist), außerdem Blumen, deren Namen er ebenfalls nicht kennt, er vermutet Fingerhut, Stockrosen, Dahlien. Ein Apfelbaum, ein Walnussbaum, ferner Eichen und Kiefern, aber die gehören nicht mehr zum Grundstück - aber wo war sie?
Flo? Wo bist du?
Hier, sagten die Dillpflanzen.
Was machst du da?
Ich arbeite im Garten.
Sie kam näher, besah sich jede Pflanze einzeln, zupfte an ihnen herum.
Weißt du, dass ich das schon die ganze Nacht mache?
Du machst das schon die ganze Nacht?
Im Traum. Ich habe die ganze Nacht geträumt, dass ich im Garten arbeite. Ich bin richtig müde davon. Aber gut müde. Ich glaube, ich bin lachend aufgewacht. Ich habe an meinen Händen gerochen, ob sie nach Zwiebeln riechen. Ich hatte nämlich Zwiebeln angefasst.
Und? Haben sie nach Zwiebeln gerochen?
Nein. Ich war so enttäuscht, ich hab’s nicht ausgehalten, ich bin in den Garten gerannt und habe schnell Zwiebeln angefasst. Hier, riech mal.
Sie lachte, hielt ihm die Hand, in der keine trockenen Pflanzenteile waren, unter die Nase. Er roch an ihr, aber sie roch nach Dill.
Apropos Zwiebeln: Gibt es eigentlich was zu essen?
Gleich.
Sie warf die trockenen Pflanzenteile auf den Komposthaufen und ging in den Schuppen. Kam wieder heraus, mit irgendetwas in der Hand.
Was ist das?
Ein Vierkant.
Wozu?
Um den Wasserhahn mit dem Schlauch aufzuschließen. Normal gießt Gaby aus den beiden Regenwassertonnen, aber die sind jetzt leer.
Du hättest doch nicht etwa mit dem Eimer gegossen?
Doch, das hätte sie. Aber, wie gesagt, es ist kein Wasser da. Au!
Gib mal her, lass mich! Hier, bitte schön.
Danke schön.
Sie hielt den Daumen vor das Ende des Schlauchs, um den Strahl zu teilen.
Vorsicht mit den Liegen, ich will heute noch den ganzen Tag drauf liegen.
Zu Befehl.
Sie goss außer den Liegen alles, was sie erreichen konnte, auch die Bäume, die bereits zum Wald gehörten, schleppte den grünen Schlauch hinter sich her - Eine Schlange! Immer muss man das denken: Schlauch = Schlange. Grün, mit einem schwarzen Streifen - sie sah in die fliegenden Wassertropfen und lächelte.
Kopp, der sie beobachtete, lächelte ebenfalls.
Als sie ihm schon zu lange mit dem Wasser und den Pflanzen, ohne ihn, war, zog er sich nackt aus und rief:
Hierher!
Sie lachte und richtete den Wasserstrahl auf ihn. Sie teilte ihn mit dem Daumen, um ihn nirgends zu hart zu treffen. Er sprang jauchzend hin und her, machte sich zum Tier - je nachdem: Affe, Waschbär, Robbe - um ihr eine Freude zu machen, aber gleichzeitig achtete er auch darauf, sich tatsächlich Gesicht, Ohren, Hals, Achselhöhlen, Geschlecht und Afterspalte zu waschen. Morgentoilette eines Herrn am Anfang des dritten christlichen Jahrtausends.
Hoffentlich hat mich kein Nachbar gesehen. Beziehungsweise: und wenn schon.
Er half, den Hahn wieder zu schließen, sie brachte ihm ein Handtuch.
Trocknest du mich ab?
Sie tat es.
Aber so kannst du hier wirklich nicht herumstehen.
Sie gingen ins Haus und hatten Sex.
Anschließend gab es endlich etwas zu essen. Sie briet ein Omelett mit Gemüse. Kopp zeichnete sich aus, in dem er es schaffte, in einer fremden Küche ohne Espressoautomaten, aber mit Kaffeebereiter, Pulver und Wasserkocher, einen Kaffee zustande zu bringen.
Du bist der Held.
 
Frühstück auf der Terrasse. Der Garten dampfte, das Holz knarrte bei jeder Bewegung.
Diese Bohlen machen’s nicht mehr lange. Sie sind schon ganz zersplittert. Barfuß kann man nicht mehr auf ihnen gehen. Drinnen knarzt auch schon alles. Wenn du mal laut hustest - um nichts anderes zu sagen - rieselt Holzmehl aus der Decke. Wenn sie wirklich hier wohnen will, muss sie sich was einfallen lassen.
Sie will sich ein neues bauen. Sie ist sich nur noch nicht ganz grün, ob aus Lehm oder aus Strohballen.
Nicht ganz grün, ob aus Lehm oder aus Strohballen? Kopp hätte das gigantische Johlen, das an dieser Stelle in ihm aufstieg, gerne herausgelassen - am Morgen im Wald, ein schallendes Lachen - aber er traute sich nicht. Um den Ausbruch zu verhindern, tat er, was man in so einem Fall als Letztes tun sollte: er nahm einen großen Schluck von seinem Getränk. Wenn dir heißer Kaffee in die Nase steigt. Er hustete lange, gekrümmt. Dass sie nicht besorgt zu ihm sprang, zeigte ihm an, dass sie - wie meistens - genau wusste, was warum geschah.
Geht’s wieder?
Ja. Sie frühstückten in aller Stille weiter. Vögel zwitscherten. Kopp erkennt keinen an der Stimme. Außer:
Da, schau, ein Specht!
Tatsächlich.
 
Später lagen sie auf Sonnenliegen. Flora las.
Ist das das Stück?
Nein, das ist, wie du gut sehen kannst, ein Buch.
Wieso liest du nicht das Stück?
Weil ich zuerst etwas lesen möchte, von dem ich weiß, dass es gut ist.
Und zwar?
Sie zeigte ihm den Buchdeckel. Dort stand: Bessere Verhältnisse. Kopp konnte sich erinnern, dass sie das schon mehr als einmal gelesen hatte, aber ihm war alles, einfach alles entfallen, was sie ihm darüber erzählt hatte.
Ach so, das.
(Natürlich weiß sie auch, dass ich es vergessen habe.)
So blieben sie eine Weile. Sie las, er tat gar nichts. Paradiesische Ruhe.
Wie lange? 20 Minuten, eine halbe Stunde? Da sprang sie schon wieder auf, fing wieder an, im Garten hin und her zu laufen.
Er, wieder: Was machst du da, mein einziger Schatz?
Sie, wieder: Ich arbeite im Garten.
Zupfte an den Pflanzen, schleppte eine Hacke und eine Harke heran, und die Schubkarre nur deswegen nicht, weil irgendetwas drin war, scheinbar Humus, und sie hatte keine Informationen, was damit zu tun sei.
Du kriegst noch einen Schlag! In der Sonne! Warum kannst du dich nicht mal entspannen, ich verstehe das nicht. Komm her, leg dich wieder zu mir.
Wenn ich mich hinlege, schlafe ich ein.
Was wäre so schlimm daran?
Sie schlafe schon die ganze Zeit tagsüber, d. h. je nachdem, wie sie in den letzten 8 Wochen fast ohne Pause Tag-/Nacht-/ Tag-/Nachtschicht hatte. Ihr Schlafrhythmus ist durcheinander. Wenn sie vorhin gesagt habe, sie habe in der Nacht das und das geträumt, dann war das nicht ganz richtig, weil sie nämlich gar nicht geschlafen habe, oder wenn, dann nur sehr oberflächlich, sie horchte auf den Wald, nicht weil sie Angst hatte, sondern voller Freude, aber jetzt fühlte sie deutlich, dass sie einschlafen würde, sobald sie sich hinlegte, aber das wollte sie nicht, sie wollte etwas Sonne sehen und sie wollte die Natur genießen, gleichzeitig hatte sie die Befürchtung, wenn sie jetzt wach war, dann während der kommenden Nachtschicht nicht wach bleiben zu können - es gibt einfach keine gute Lösung! Ich wünschte, ich könnte mich einfach an- und ausknipsen, aber das geht nicht. Verdammte innere Uhr.
Willst du einen Rat vom Schlafkünstler hören? Schau, du liegst so da und döst, und wenn du manchmal die Augen einen Spalt öffnest, siehst du Garten, Bäume, Himmel und sagst dir: Sonne, Natur, Genuss. Danach döst du wieder ein bisschen und bist am Ende rundherum zufrieden.
Ein bisschen lachte sie. Deine positive Art, deine Glücksfähigkeit, Liebster, tröstet mich immer so schön. (Wenngleich es an der Grundkonstellation - meiner - nichts ändern kann. Egal jetzt. Jetzt, egal.) Sie wollte es wenigstens versuchen. Wart, ich wasch mir erst die Hände. Ein bisschen Erde bleibt unter den Fingernägeln zurück, das macht nichts, das ist sogar schön. Sie ließ sich auf die Liege plumpsen, wie er es sich nicht erlauben kann, und nahm wieder das Buch.
Was danach geschah, weiß Darius Kopp nicht, denn innerhalb der nächsten Minute war er eingeschlafen.
Er erwachte, weil sie ihn mit der Ecke des Buchs in den Oberarm piekte.
Komm, wir fahren baden!
 
Und da fuhr sie auch schon, wie der Wirbelwind, ihr Rock flatterte. Das entschädigte Kopp ein wenig, der auf dem vermeintlich robusteren der beiden zum Grundstück gehörenden klapprigen Damenfahrrädern hinter ihr her strampelte. Schön, eine Ehefrau zu haben, die gerne Röcke trägt. Das ist so weiblich. Männlich dafür ist, sich bei körperlichen Aktivitäten keine Blöße zu geben - was mir an Freude fehlt, mache ich durch Kraft wieder wett - aber das war gar nicht so einfach. Die Hitze, das miese, rostige Rad, und, nicht zu vergessen, der Bauch, dieser Dom - denn so wäre es richtig, eine Kathedrale hat eine ganz andere Form. Solange man im Wald unterwegs ist, geht es noch, es ist nur auf allfällige Zweige zu achten, die einem die Brille von der Nase und das Auge aus dem Kopf schlagen können. An den Wurzeln ist trotz größter Aufmerksamkeit kein Vorbeikommen, schüttel mich, rüttel mich. Er biss die Zähne zusammen.
Nach dem Wald kamen offene Felder, der Weg bestand aus nicht gerade mit größter Sorgfalt aneinander geteerten Betonplatten, oder es war schon zu lange her, dass das geschehen war. Rauer, heller Beton in sengender Sonne, die Felder abgeerntet, das hohe Gras am Rand vertrocknet, aber - angenommen, Kopp interessierte sich für weitere Details - ihm blieb kaum die Zeit, vielmehr, kaum die Kraft dazu, sie näher zu beobachten, denn nun fuhr Flora in einem Tempo, als wäre morgen, ach was, innerhalb der nächsten Stunde der See aus, als wäre es die allerletzte Möglichkeit, jemals in ihm zu baden. Die Strecke war hügelig und zwar weit mehr, als es angenehm war. Eine Endmoränenlandschaft, wie Kopp noch sehr gut aus der Schule weiß. - Ja, Schatz, das sagst du jedes Mal, nun werde ich es auch nicht mehr vergessen, bis ich sterbe. - Er krümmte sich, trat mit gesenktem Kopf in die Pedale, trotzdem drohte er stehenzubleiben, bevor er oben ankam, es sei denn, er ging aus dem Sattel. Auch das hätte er als sich eine Blöße geben empfunden - Wieso ist dir das so wichtig, es sieht dich doch keiner. Doch - er blieb trotzig sitzen. Das Rad quietschte bei jedem Tritt zum Herzerbarmen, Kopp sah zur Kette, sah, dass sie nichts als trockener Rost war, daneben, im unteren Dreieck des Rahmens, baumelte eine kleine Spinnwebe. Es war sogar eine kleine Spinne drin! Lebt sie noch? Nicht wahrscheinlich. Ich bringe eine tote Spinne einen Hügel hinauf. Da ging er aus dem Sattel.
Sie fuhren zwei Hügel hinauf und wieder hinunter, über eine nagelneue Holzbrücke über einem fast ausgetrockneten kleinen Wasserlauf, noch einen Hügel hinauf, an einem alten Friedhof vorbei, durch ein kleines Dorf, in einen anderen Wald hinein, wieder heraus, wieder durch ein Dorf, über Pflastersteine, vor der Kirche bogen sie ab, an Scheunen vorbei, einen Abhang hinunter, wieder in einen Wald hinein, und dann waren sie endlich da.
Diesmal waren sie nicht allein. Familien mit Kindern, Jugendliche, alle Welt. Aus Rücksicht auf die anderen entledigten sie sich diesmal nicht aller ihrer Kleidung. Sie schwammen. Am anderen Ufer, hinter Bäumen, war jetzt, da es Tag war, der Kirchturm zu sehen, davor ein anderer Strand, dort wurde eine Bühne für eine spätere (großes weißes Banner, schwarze Buchstaben:) BEACHPARTY aufgebaut.
Als sie aus dem Wasser kamen, wurden sie von einem Mann, einer Frau und einem Kleinkind (alle nackt) begrüßt, die Kopp vollkommen unbekannt waren. Ach so, die Wurzelzwerge. Ohne ihre Mützen erkennt man sie nicht wieder. Man unterhielt sich einige Minuten über nichts, Kopp hörte nur mit halbem Ohr hin. Nicht, dass er stattdessen anderswohin gehört hätte. Er hörte nirgends hin, oder höchstens zum Quietschen der Wasserpumpe im Sandkasten.
Danke, liebe Flora, dass du die aus Gabys Haus mitgenommene muffig riechende Decke nicht unmittelbar neben der ihren ausgebreitet hast.
Endlich las sie das Stück. Kopp tat wieder nichts. Das heißt: er beobachtete die anderen, die Leute. Er tat das durch einen schmalen Spalt, zu dem er seine Lider niedergelassen hatte. Wasser, Bäume, Himmel und dann wieder die anderen, aber all das unaufmerksam. Sobald er etwas, das da war, das geschah, gesehen hatte, vergaß er es sofort wieder. Auch die Ökos war er außerstande wiederzufinden. War es dieses blonde Kind oder jenes? Flora las. Auch er hätte jetzt gerne etwas gemacht. Ein wenig Surfen. Aber hier wäre es sinnlos. Bevor sie losfuhren, versteckte er noch den Laptop. Ins Auto einschließen oder ins Bett legen? Er entschied sich fürs Bett und legte Floras (!) Handy als Köder auf den Küchentisch.
Ja, ich bin wirklich ein wenig irre. Mein Portemonnaie zum Beispiel liegt keine zwei Schritte daneben. Das hab ich nicht versteckt. Den Autoschlüssel auch nicht. Er ärgerte sich über so viel chaotisches und irrationales Verhalten. Da fiel ihm das Geld der Armenier ein.
War es chaotisch und irrational, es zwischen die anderen Kartons zu stecken?
Nein, das war gut.
Der Gedanke daran, dass irgendwo, an einem Ort, zu dem er Zugang hatte, Bargeld lag, selbst wenn es nicht seins war, bescherte ihm ein Gefühl der Zufriedenheit. Er grinste.
Um das Gefühl zu vervollständigen, hätte er jetzt gerne noch jemandem darüber erzählt. Aber wer kam in Frage? Flora wusste es schon, und alle anderen waren unerreichbar.
Wie spät ist es? Laut Handy: um 2. An der Westküste um 5 Uhr morgens. Bill schläft noch. Schätzungsweise bis um 7. Dann geht er joggen, frühstückt, holt seine Kinder ab. Oder er hat sie schon Freitagabend abgeholt. Zum Frühstück kommt die Freundin dazu. Später picken sie Kopp an seinem Hotel auf und man fährt gemeinsam zum Baker Beach. Der Wind ist kräftig, das Wasser ist kalt, aber man hat einen Blick auf die Golden Gate Bridge, was für das meiste entschädigt. Zum Essen hat man selbst gemachte Sandwichs mit Hühnerfleisch und Salat dabei. Die Tochter ist schon 15 und hat große Brüste. War sich zunächst unschlüssig, ob sie mitkommen sollte. Dann kam sie mit, weil ihr berichtet wurde, Kopp sei aus Europa. Sie fragt ihn nach Paris, London und Berlin. Man unterhält sich angenehm mit ihr. Ihr Name ist Deirdra. Der Junge ist erst 10, noch ein kleines Kind und eifersüchtig. Keiner spielt mit ihm. Dann spielt Bill, später Deirdra mit ihm. Seinen Namen hat Kopp vergessen. Das war vor gut einem Jahr. Die Tochter ist also schon 16. Zum Abendessen gab’s Hühnerschenkel, Kartoffelecken, Salat, Wein. Bill kopierte für Kopp eine CD mit altem Soul, die ihm so gut gefallen hatte.
Es war sogar ein wenig Netz da, aber Kopp rief Bill nicht an und auch niemanden sonst, aber er vertrieb sich die Zeit damit, durch seine Datenbank zu blättern. Wen haben wir noch in derselben Untergruppe? Natürlich alle von der Firma, inklusive inzwischen Ehemaliger, aber nirgendwo sonst steht eine private Mobilnummer dabei. Hätte ich einen Internetzugang, könnte ich jetzt nachgucken, was Ken heute macht oder Vicky. (Und dann? Und dann wüsste ich es. Oder ich wüsste es nicht, weil ich sie nicht wiederfände, dann wäre eben das die Lehre aus der Geschichte.)
Was machst du da? Das Gepiepe nervt.
Entschuldige.
Er schaltete die Tastentöne aus, sah sich dann aber die Kontakte nicht weiter an. Er sah in den Baum über sich. Eine Eiche. Ich weiß noch nicht einmal, wie das Kaff hier heißt. Eine Beachparty. Oje. Während es in meinem Inneren licht und weit ist, wie am Strand von San Francisco. Armenien, das ist eine ganz andere alte Kulturlandschaft zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer. Die Berge sind gewiss atemberaubend.
Leider können wir das nicht aus erster Hand bestätigen, denn schließlich sind wir nicht hingefahren. Hat sich nicht ergeben. Unsere Kenntnisse stammen aus dem Internet und anderen Medien. Die Stadt Saitakan hat ca. 100 000 Einwohner, das Klima ist kontinental, der Boden fruchtbar, die Umgebung malerisch. Saitakan liegt in einem lieblichen Talkessel, die Topologie ist für das Errichten eines drahtlosen Netzes ideal, mit freien Luftlinien von mehreren Kilometern Länge. Die Brüder Bedrossian, Badrig und Barsam, sind hier geboren und fühlen sich bis heute, da sie in der Schweiz leben, mit der Stadt verbunden. Sie engagieren sich insbesondere in den Bereichen Sport und Kommunikation. Die auffindbaren Informationen zu Letzterer sind spärlich und noch dazu nicht aktuell, aber ich hatte ja keine Zeit mehr zu recherchieren. Ja, das ist ein Vorwurf, Flora. Aber Kopp wird sich nicht beschweren. Weil es sinnlos wäre.
Was, jetzt mal ganz ehrlich, würde Flora fragen, würde in diesem Fall am Montag anders sein als am Freitag?
Unter Umständen: alles, meine Liebe.
Und was könntest du tun?
Nicht viel, das ist wahr.
Du willst mir bloß das Wochenende kaputt machen.
Warum sollte ich das wollen? Ich liebe meine Frau und will, dass sie glücklich ist. Wenn meine Frau glücklich ist, bin ich es auch. Und schweige auch darüber, dass mich jedes Mal, wenn ich hier draußen bin, das Gefühl einholt, in der Verbannung zu sein. Quasi abgetrennt vom »richtigen« Leben. Also: überflüssig.
Wir sind alle überflüssig, würde Flora sagen.
Er würde es nicht verstehen, bzw. wäre damit nicht einverstanden, doch wieder würde er schweigen. Das ist meistens das Beste.
Er öffnete die Augen weit in den Himmel, damit er ein wenig geblendet war, wenn er sie wieder schloss. Ich werde jetzt abwechselnd an den Strand vor Frisco und an die nie gesehenen armenischen Berge denken, bis ich einschlafe. Berge und Strand, Berge und Strand.
 
Später weckte ihn Flora, indem sie ihn mit einer Weintraube am Mund kitzelte. Als er merkte, was es ist, grinste Kopp. Salve, sagte er, und biss ab.
Woher sind die?
Ein alter Mann kam mit einem Fahrrad und einem Korb vorbei und verkaufte sie.
Hattest du Geld dabei?
Offensichtlich.
War’s teuer?
Es ging.
Und, wie ist das Stück?
Ach so, das. Das ist Scheiße.
Inwiefern?
Insofern, als es um absolut nichts geht, das heißt, um nichts von Notwendigkeit, Gewicht, Relevanz. Um das zu überdecken, folgt eine Brutalität auf die nächste, während die Sprache gestelzt und gewollt poetisch daherkommt. Als Publikum würde ich sagen: Zeitverschwendung. Als Übersetzerin wird sie es vielleicht dennoch machen. Mit irgendwas muss man schließlich anfangen. Und es ist ja auch nicht ärgerlich schlecht. Es ist nur, wie gesagt, uninteressant. Aber vielleicht liegt es auch an mir. Das Problem ist, ich weiß nicht genau, wann ich das machen soll … Ich weiß! Ich weiß, dass ich das schon gesagt habe, und ich weiß auch, was du sagen willst, sag’s nicht. Ich kann den Job nicht hinschmeißen. Von einem mittelmäßigen Stück kann man nicht leben.
Auf dem Rückweg fuhr Flora langsam, trotzdem keuchte Kopp, oben auf dem Großen Hügel angekommen, so laut, dass er das Tschilpen der kleinen Vögel übertönte, die in einer Gruppe von vielleicht zwei Dutzend Tieren an ihnen vorbei taumelten, (wahrscheinlich) auf der Suche nach einem Schlafplatz.
Wo ist mein Spray? Im Haus geblieben. Lenke dich ab. Betrachte die Landschaft.
Vor ihnen lag ein bereits umgepflügtes Sonnenblumenfeld, stieß an eine von einer Allee gesäumte Landstraße (Dorfjugend, Mofas, Motorräder, Autos, Blumen und Kränze), dahinter ging es mit Mais weiter, aber auch der war schon geerntet. Was ist das glänzende Zeug in den Furchen? Wie Glassplitter. Wohl kaum. In der Mitte des Ackers ein Schatten gebender Baum. Was ist das für eine Sorte? Woher sollte einer wie Kopp das wissen? Am Grat des nächsten Hügels drei Windmühlen. Dahinter ging die Sonne unter. Am diesseitigen Ende des Felds, vor ihren Füßen, ein Graben mit hohem, trockenem Gras, rechts ein alter Kilometerstein, links Flora, die sich an das Fahrrad lehnt, den Hintern seitlich gegen den Sattel gedrückt, die Füße in den Boden gestemmt, geschickt. Ich kann das nicht. Die Gefahr umzufallen und die Pedale ins Kreuz zu bekommen ist einfach zu groß. Also ließ Kopp das Rad zu Boden gleiten, und verschränkte stattdessen die Arme. Das gibt mir, hier auf dem Hügel stehend, etwas Feldherrenhaftes. Aber ansonsten ist nichts martialisch an ihm. Ein dicklicher, blonder Mann in einer spätsommerlichen Abendlandschaft. Einpaar Fäden seines zu lang gewordenen Haars wurden von einem lauen Lüftchen bewegt, seine Ohren und seine Nase glühten.
Er blieb so lange so stehen, bis das Telefon durch Vibrieren und Piepen anzeigte, dass die Synchronisation abgeschlossen war, E-Mails und Sprachnachrichten.
In den Mails: außer Newslettern und den Verlockungen der Pharma- und der Sexindustrie sowie der Nigeria-Connection (So, so, man will mir also eine erste Rate von 500 000 Dollar auf mein Konto überweisen?): nichts.
Sprachnachrichten: Sie haben 3 neue Sprachnachrichten.
Als er das Telefon zum Ohr hob, blitzte ein letzter Strahl der scheidenden Sonne auf dem silbernen Gehäuse auf. Von Gottes Licht befruchtet. Kopp, ein geborener Heide, assoziierte natürlich in eine ganz andere Richtung: als wäre das der sichtbare Strahl, der vom Satelliten direkt zu ihm fiel und ihm die relevanten Informationen brachte.
 
Der erste Anrufer hatte aufgelegt.
Die zweite Nachricht war von seiner Mutter, die hoffte, dass es ihm gut ging.
Die dritte Nachricht war von seiner Schwester, die ebenfalls hoffte, dass es ihm gut ging, während es ihr selber grade miserabel ging, Danke der Nachfrage!
Darius Kopp auf dem Hügel seufzte.

Die Nacht

Darius Kopp der Jüngere wurde am 28. September 1965 geboren. Seine Mutter war eine Harpyie, sein Vater ein Egoist, wie so häufig. Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt. Mein Name ist Darius. Er war ein Bastard. Ein Pole als Vater war anzunehmen. Oma Olga schwieg sich aus. Der Vater ist doch egal. Nach einem Jahr flüchtiger Bekanntschaft gab es ein Betriebsfest, bei dem sie unter einem Dach aus grauem Wellenschiefer tanzten. Später in derselben Nacht zeugten sie ihren Erstgeborenen. Sie heirateten, obwohl ihnen, wie sie später übereinstimmend aussagten, sonnenklar (resp. wie Kloßbrühe) war, dass sie nicht zusammenpassten, aber er wollte nicht, dass sich diese Bastard-Geschichte ewig fortsetzte, und sie wollte gar nicht erst damit anfangen, sechziger Jahre hin oder her. Dass es überhaupt wenig gäbe, das sich ewig fortsetzen sollte, betonte Darius mehr als einmal, er betonte, die Abwechslung und die Veränderung zu lieben, dennoch beharrte er darauf, seinem Sohn exakt denselben Namen zu geben, den er selbst erhalten hatte. Darius, der Jüngere. Der kleine Darius. Aus ihm selbst wurde auf diese Weise, natürlich: der große. Die Mutter des Kindes fand den Namen überkandidelt, sie hasste alles Außergewöhnliche, aufzufallen ist asozial. Ist mir egal, sagte der Kindsvater, das Kind heißt Darius. Ist mir egal, sagte die Mutter, das Kind heißt Johannes. So kam es, dass sein Vater ihn Darius und seine Mutter Hansi nannte. Wenn man das bedenkt, bin ich mehr als normal geworden, findest du nicht, Flo?
Darius der Ältere war ein eitler Mann, ein schönerer Mann als Greta es als Frau ist. Das brachte einiges mit sich. Einen kleinen, engzinkigen Kamm in der Gesäßtasche (wie er neben dem Knopf herausschaut!), mit dem er sich das volle (!) Haar zu einer Tolle kämmte, auch später, als Tollen schon wieder aus der Mode waren. Fotos, auf denen er gigantische Koteletten trägt. Sitzt auf einem Motorrad, das ist, mit heutigen Augen gesehen, (etwas) lächerlich. Mit Koteletten auf dem Motorrad.
Dass sie, wenigstens anfangs oder wenigstens zeitweise auch das eine oder andere aneinander mochten, ist nicht auszuschließen, aber sie reden nicht darüber. Man könnte nur spekulieren, aber so wichtig ist es nun auch wieder nicht. (Für Marlene, früher, vielleicht. Jetzt können wir sie alle mal kreuzweise. Ich habe genug geheult.) Sie lebten in einer Proletarierdiktatur, die - für sie - weniger ihr gefährliches als ihr ödes Gesicht zeigte. Dementsprechend war auch ihr Leben etwas öde, aber die meiste Zeit störten sie sich nicht daran. Sie waren arm, aber sauber, das Wasser fürs Waschen, Kochen und die Windeln holten sie erst auf halber Treppe und erwärmten es auf einem Rechaud, später floss es aus Wasserhähnen in ihren eigenen vier Wänden, und es mangelte ihnen auch sonst an nichts.
Außer, natürlich, dass ich machen kann, was ich will, sagte Darius der Ältere, und weil er so tat, als scherzte er, zwinkerte er.
Aber Greta konnte man damit nicht kaufen, sie fragte beleidigt: Und das wäre?
Darius der Ältere zählte ab: Reise-, Konsum- und Unternehmungsfreiheit. Du siehst, ich bin nicht unersättlich, drei Finger reichen, auf Presse- und Versammlungs- bestehe ich nicht, das interessiert mich nicht so sehr. Ein gutes Auto mit Ersatzteilen und Garage und ein eigenes kleines Unternehmen, das würde mir schon reichen.
Du bist doch viel zu chaotisch, um etwas zu unternehmen. Und faul bist du außerdem.
Darüber war der sonst immer zu Scherzen Aufgelegte - Zwei Sachen haben mich immer an deinem Vater genervt: sein ständiges Gerede über freies Unternehmertum und seine blöden Witzeleien; muss denn wirklich immer alles lächerlich gemacht werden? - aber wirklich stinkig (Sein Wort. Da war ich aber wirklich stinkig, mein Junge). Er ging hinaus und soff trotzig so viel Bier, wie er es sich sonst versagte. - Ich sage dir die Wahrheit, mein Sohn, sagte er in einem der seltenen ohne-Scherz, also intimen Momente: Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich die ganze Zeit saufen. Das ist meine heimliche Leidenschaft, die ich mir versage, seitdem ich mit 14 das erste Mal etwas getrunken habe. Nein, ich habe nicht mit 14 das erste Mal getrunken, sondern viel früher, bei uns haben die Männer die kleinen Jungs immer damit aufgezogen, hier, willst du mal ein’ Schluck Bier?, und dann musste man auf einen Zug so viel wie möglich stehlen, damit sie johlten und klatschten und einem auf die Schulter klopften, aber geschmeckt hat es mir erst mit 14, und da erschrak ich, denn ich sah deutlich, dass ich trinken könnte, bis ich sterbe. - Also trank er auch diesmal nicht so viel, wie er eigentlich gewollt hätte, nur eben deutlich mehr, als es seiner Frau lieb gewesen wäre. Kopp sagte seinem Vater, dass er ihn sehr gut verstehen könne. Ihm ginge es so mit dem Essen. Eine 500-Gramm-Tafel Schokolade auf einmal. Aber nicht etepetete Stücke abbrechen, sondern reinbeißen, so. Auch ich wäre längst tot, bevor ich meinen Appetit gestillt hätte. Dieses Letzte sagte er nicht mehr, er ging nur bis zur 500-Gramm-Tafel, und der etwas angegangene Darius der Ältere nickte, aber er schaute ein wenig schräg. - Ein Mann mit Schokolade ist etwas anderes als ein Mann mit Alkohol. Ich weiß, dass er das denkt, und es wurmt mich. - Darius Kopp hat etwas Sehnsucht nach seinem Vater, aber ansonsten geht es ihm gut. Ich hasse die Regierung, meine Nachbarn, allgemein meine Mitmenschen und also auch meine Eltern nicht.
Dafür endete die Kompromissbereitschaft der Eltern schlussendlich in so etwas wie Hass. Nein, das ist ja die Krux. Nur meine Mutter hasst meinen Vater, weil er sie weder hasst noch liebt. Sie haben das ein Vierteljahrhundert lang unter dem Deckel gehalten, so lange, bis sie sich kurz nach der Wende scheiden ließen, um, Zitat, endlich auch mal an sich selbst zu denken im Rahmen der neuen Möglichkeiten.
Als Auslöser diente, dass Darius der Ältere seinen Job verlor, darüber aber nicht unglücklich war, sondern sich endlich seinen Traum erfüllen und selbstständig werden wollte. Ich wollte immer schon mein eigener Chef sein, der Mensch ist für das Gemeineigentum an Produktionsmitteln nicht geschaffen, mit 53 Jahren ist es noch nicht zu spät, in 10, 15 Jahren kann der Mensch noch einiges auf die Beine stellen, besonders jetzt, da es endlich nur noch auf dich ankommt. Es kommt jetzt nur noch auf dich an, sagte Darius der Ältere mit Blick zu seinem Sohn. (Wieso sagt er das jetzt zu mir?) Greta ihrerseits ging in Frührente. Ihr tat ohnehin schon seit Jahren alles weh. Frauen bringen Kinder zur Welt, machen das Haus und dann sollen sie noch bis sechzig etc. Das sagte sie nicht jetzt, sondern früher häufiger, deswegen schenkten ihr ihre Kinder auch ein Fußmassagegerät, in dem das Wasser sprudelt, damit sie abends ihre müden Füße pflegen konnte, aber darum geht es jetzt nicht.
Marlene war erst 12 und noch ein Kind, sie konnte noch nicht so kreischen, wie sie es heute kann, nah am Wasser gebaut war sie immer schon, aber damals liefen ihre Augen nur still mit Tränen voll - ihr Bruder bemerkte es gar nicht. Er sagte seinen Eltern, das sei ja schön, prima sei das, dass sie sich nicht der Angststarre und der rückwärts gewandten Lethargie mancher Leute ihres Alters hingeben, sondern etwas unternehmen wollen. Was wollen sie denn konkret unternehmen?
Sie, als solches, wollen gar nichts unternehmen, das war ja das eigentliche Thema.
Frank gesagt wollte Darius der Ältere den Rest seines Lebens lieber alleine sein. Mein Leben lang war ich gefesselt und geknebelt, mein Sohn. Jetzt ist Schluss damit.
Dieses »gefesselt und geknebelt« war zu viel für Greta. - Hast du’s ihr etwa erzählt?! Du Dummkopf?! Jetzt hast du den Schmutz, jetzt kannst du noch so viel erklären, dass er damit vielleicht nicht nur Ehe und Familie gemeint haben könnte. (In der Tat wollte Kopp aus aktuellem Anlass eigentlich über die DDR mit seiner Mutter reden - dazu kam es nicht mehr.) - Wir sind es, die die Kinder zur Welt bringen und uns um sie kümmern! (Das sagtest du bereits …) Wenn hier jemand gefesselt und geknebelt war, dann ich! Als Frau hast du die Arschkarte, so sieht es nämlich aus!
Hat sie wirklich Arschkarte gesagt? Kopp könnte es nicht beschwören. (Beschwöre es ruhig.)
Nun behauptete sie, das Ganze sei vor allem seine Idee gewesen. Aber auch ich wollte nicht mehr mit ihm zusammenleben! Dann wieder sagte sie, diese Ehe sei zwar auch nicht ihr größter Traum gewesen, aber sie habe durchaus vorgehabt, die Sache durchzustehen und mit ihm zusammenzubleiben, bis zum Ende ihrer Tage. Es anständig zu Ende bringen.
Wenn ich hundert Leben hätte, würde ich eins davon vielleicht sogar den verquasten Prinzipien deiner Mutter opfern, aber ich habe nun einmal nur ein einziges. Darius der Ältere hatte das schon viele, viele Jahre früher begriffen. Es wurde höchste Zeit, ich war dabei, mir ein Magengeschwür einzuhandeln.
Sie hoffte, er würde ohne sie verwahrlosen, mit seiner »Wegelagerer-Firma« scheitern - Mit EU-Geldern Feldwege asphaltieren -, aber nichts dergleichen: er blühte auf. Er tat seine Arbeit, strich die fetten Förderungen dafür ein -
Dieser ABM-Betrüger! Kungelt mit Lokalpolitikern.
Na und? Dafür sind die da.
Sie haben ihre Mitarbeiter unter Tarif bezahlt.
Sie haben sie überhaupt bezahlt.
Trotzdem ist einer mal betrunken am Gartenzaun stehen geblieben - es war nicht sein Gartenzaun, sondern der seines Geschäftspartners - und hat die Grillparty zerbrüllt!
- trank so oft und so viel Bier, wie er wollte, traf sich, mit wem er wollte, redete, was er wollte - Sie hatte ja ständig Schiss, ich könnt’ was Falsches sagen. Noch nicht mal mit meinen Kumpels durft’ ich reden. Halt, um Himmels willen, den Mund. Wenn nicht deinetwegen, dann der Kinder wegen. Und dann sagt sie noch, das wäre ein gutes Leben gewesen. Die spinnt doch - und fuhr fünfmal im Jahr in irgendeinen Urlaub. Respektive flog. - Das erste Mal bin ich mit 54 geflogen, mein Junge. Da hab ich was verpasst gehabt!
Greta redete anfangs ebenfalls davon, zu reisen, aber natürlich reiste sie nicht. Eine alleinstehende Frau in meinem Alter! Erst war Marlene zu jung, um ihr dabei eine Stütze zu sein, später hatte sie selber eine Familie.
Als Greta davon erfuhr, dass sich Darius der Ältere eine Freundin zugelegt hatte, musste sie sich hinsetzen, weil sie dachte, etwas verstanden zu haben. Er hat mich übers Ohr gehauen, von Anfang an. Wenig später verließ ihn die Freundin, Greta lachte auf. Als das Lachen vorbei war, fühlte sie einen Schmerz in den Armen und Beinen. Als würde das Lachen dort entweichen, wie Gift durch die Nieren, mit einem Schmerz. Aber der Schmerz entwich nicht, er blieb. Nach einigen Fehlvermutungen (die Nerven, die Gelenke) stellte man schließlich die Diagnose periphere arterielle Verschlusskrankheit oder auch die Schaufensterkrankheit oder auch das Raucherbein.
Ist das gerecht, mein Sohn, ist das gerecht? Niemals geraucht und dann ein Raucherbein. Während anderen Leuten alles in den Schoß fällt!
(Wem konkret? Und was? - Frag lieber nicht.)
Nun, da es schon einmal so weit ist, rückgängig machen können wir es nicht, aber wenn Sie auf regelmäßige Bewegung …
Wo soll ich denn hingehen?
… und eine gesunde Ernährung achten …
Ich habe keine Wahl, ich muss essen, was ich zu kochen gelernt habe: Fleisch und Kartoffeln.
Wichtig sind auch Ihre Blutfettwerte …
Ja, die sind miserabel.
… und der Blutdruck.
Hja.
Vergessen Sie nicht, Ihre Medikamente zu nehmen. Diese Thrombozytenaggregationshemmer verhindern das Anlagern von Blutplättchen und beugen Blutgerinnseln vor. Ab Stadium 2 (Belastungsschmerzen ab einer Entfernung von 200m, später von unter 200m) können zusätzlich zu einem Gehtraining Phosphodiesterase-Hemmer (PDE) verabreicht werden. Diese verhindern das Verklumpen von Blutplättchen. Ab Stadium 3 (Ruheschmerz, besonders nachts) werden Prostanoide über die Vene verabreicht. Vor einer Ballondehnung des verengten Oberschenkelgefäßes schreckte die 69jährige Patientin zurück.
Meine Schwester starb mit 69 bei einer Operation.
Sie hatte Krebs. Man hat sie wieder zugemacht.
Details.
Machst du wenigstens dein Gehtraining? Gehst du jeden Tag mehrmals 75% der Strecke, die du schmerzfrei bewältigen kannst, damit dein Körper angeregt wird, Umgehungskreisläufe zu bilden?
Umgehungskreisläufe? (Winkt ab.)
Du gehst mir auf die Nerven, weißt du das?
So lange, bis eines Tages ein schwarzer Punkt auf ihrem schmerzenden, rot angelaufenen kleinen Zeh erschien, als Zeichen dafür, dass sie sich bereits in Stadium 4 befand, also Gewebe abstarb. Die schwarze Verfärbung entsteht als Folge von Hämoglobinabbau. Totes Blut. Die Bakterien verbreiten sich schnell und infizieren die Umgebung. Es standen folgende Alternativen zur Verfügung.
1. Invasiv: Großzügiges Entfernen des nekrotischen Gewebes, anschließend ein Verband mit Hydrogel, die Gabe von Antibiotika und die Beobachtung der Wunde. Wenn sich keine Verbesserung einstellt, muss erneut Gewebe entfernt werden, so lange, bis der Prozess der Verwesung gestoppt ist.
2. Nicht-invasiv: eine Madentherapie. Dabei kommen die Maden der Goldfliegenart Lucilia sericata zum Einsatz. Gemeinhin besser als Schmeißfliege bekannt, doch, wie überall, macht auch hier der Ton die Musik, also sagen wir: Goldfliege. Um es kurz zu machen, haben diese Maden die Besonderheit, dass sie sich selektiv von abgestorbenem Gewebe ernähren, sie vertilgen das nekrotische Gewebe und den Bakterienbefall, intaktes Gewebe wird geschont, und die Enzyme, die in den von den Maden permanent ausgeschiedenen Verdauungssäften enthalten sind, regen sogar die Heilung an. Hier, auf dieser Abbildung sehen Sie, was es für Ergebnisse geben kann. Sie sehen das Perineum - das ist der Bereich zwischen Scrotum und Anus - eines 70jährigen Patienten: zunächst von einem ausgedehnten roten Geschwür bedeckt und drei Wochen später von zarter, neuer, rosa Haut.
Die Ärztin und Kopp waren für die Maden, Marlene wusste nicht, Greta war gegen alles.
Lieber sterbe ich!
Kommt nicht in Frage.
Das geht euch einen feuchten Dreck an, es ist mein Leben!
Gut, dann stirbst du halt. Frau Doktor, meine Mutter wünscht keine weiteren Behandlungen, sie wünscht zu sterben … Siehst du, jetzt weinst du.
Freundlich und geduldig erklärte die Ärztin, die eine aufgestellte Nasenspitze (Steckdose) und zu einer Banane hochgesteckte blonde Haare hatte (Ich wusste gar nicht, dass mir dieser Frauentyp auch gefällt …), erneut die Vorzüge der Behandlung mit Maden.
Ich bin Ihnen unendlich dankbar. Wie Sie es geschafft haben, das Vertrauen unserer Mutter zu gewinnen, die ansonsten keine Frauen mag! Das sollten Sie nicht persönlich nehmen, denn sie mag auch keine Männer, oder zumindest nicht sehr. Später wird sie Sie leider bis in alle Ewigkeit verfluchen, umsonst versuche ich, meine Schwester und sogar deren Lebensgefährte, Sie zu verteidigen, sie würdigt Sie keines Blickes mehr, sie wünscht, dass Sie aus ihrem Zimmer verschwinden und anschließend zur Hölle fahren, denn umsonst haben die Goldfliegenmaden fleißig an ihr geweidet und haben um das Hundertfache zugenommen, umsonst stellten sie nach getaner Arbeit die Nahrungsaufnahme ein und wurden gegen neue, frisch geschlüpfte Goldfliegenmaden mit entsprechendem Appetit ersetzt - es half nichts. Es musste schließlich doch geschnitten werden, und zwar nicht nur der kleine Zeh, sondern auch der daneben, der keinen Namen hat. Doch, man nennt ihn den vierten Zeh.
Das war vor einem Jahr. Seitdem geht es rein ins Krankenhaus, raus aus dem Krankenhaus, die Infusion fließt und fließt.
 
Kopps Ehrgeiz, ein guter Sohn und Bruder zu sein, ist vielleicht nicht so ausgeprägt wie auf anderen Gebieten, aber durchaus vorhanden. Aber es ist nicht einfach, Flo. Ich weiß nicht wie und wann, irgendwann unterwegs ist dieser Familie die normale Sprechweise abhandengekommen. Meine Mutter hatte immer schon dieses Dauerjammern, wie ein defekter Leierkasten, aber Marlene war einmal ein nettes Kind gewesen. Bis sie 4 war, holte ich sie mit dem Fahrrad aus dem Kindergarten ab, sie saß vorne im Kindersitz und sang die ganze Zeit, grüßte alle mit Glockenstimme, und die ganze Nachbarschaft mochte sie. Später verlor man sich etwas aus den Augen, bei dem Altersunterschied, sie schrieb rührende Briefchen auf rosa Papier, in der rechten oberen Ecke schwebten violette Herzen, ich schrieb nur einmal zurück, ich brauchte sechs Wochen und einen Tag für eine Seite, ich schwitzte Blut und Wasser - Über ein Geschäftsessen. Es gab Rindercarpaccio, Scampi in Weinsoße, Chianti, Eis mit Feigen und grünem Pfeffer - dann war es auch damit vorbei, und als sie mir das nächste Mal bewusst wurde, war bei beiden nur noch Heulen und Zähneklappern da. Jedes Mal, als würden sie eimerweise heiße Suppe über einen auskippen. Wusch! Als wäre ich das belagernde Heer und sie die tapferen Verteidigerinnen. Manchmal bekomme ich richtig Angst, wenn ich ihre Stimmen höre.
 
Er hätte einen Rückruf vielleicht noch bis morgen hinauszögern können, wir waren in einem Funkloch usw., aber wie ich mich kenne, werde ich auch das wieder verschwitzen, und dann rufen sie am Montag im Büro an, als wäre ich ein Amt, dann lieber gleich jetzt.
Also seufzte Darius Kopp dort oben auf dem Hügel, in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne stehend, und wählte die Nummer der Frau, die ihn geboren hatte.
Wen rufst du an? fragte Flora.
Er antwortete nicht.
(Das ist ganz schön uncharmant, weißt du das?
Aber du weißt doch, dass ich dich liebe, auch wenn ich manchmal eine Antwort vergesse, oder nicht?)
Mutter, sagte er, ich bin’s. Womit Floras Frage doch noch beantwortet worden ist.
(Das ist nicht dasselbe? Wieso nicht?)
 
Hansi? Bist du das?
Ja, natürlich. Wie viele Söhne außer mir hast du noch?
Das ist eine gute Frage, mein Sohn, das ist eine gute Frage.
Ignoriere das. Sei die Gelassenheit selbst, das ist, wie du sehr gut weißt, deine Rolle in dieser Geschichte, einer muss es ja machen, ja, lasst mich das Gebirge sein, an dem ihr abregnet, bitte sehr, in diesem Sinne frage ich euch ruhig und mit zärtlicher Fürsorge in meiner Stimme, wie geht es dir, Mütterchen, Schwesterherz, erzähl.
Wie soll’s mir schon gehen, mein Sohn? Ich habe Schmerzen, kann kaum laufen und nichts heben und deine Schwester redet mit mir wie ich nicht mit Nachbars Hund.
Was sagt sie denn?
Was ich sage? Dass ich auch noch ein eigenes Leben habe, mit zwei Kindern und einer Ausbildung und einem Haushalt und einem beschäftigungslosen - das ist sein Wort! - ehemaligen Ringer von einem Lebensabschnittsgefährten - auch das ist sein Wort und eines Tages erwürge ich ihn dafür! - der sehr gerne den Einkauf für seine Schwiegermutter machen würde, hätte er nur nicht vor 100 Jahren diesen Bandscheibenvorfall gehabt und wäre er nicht immer schon so unendlich faul, also macht es die mit Abstand Kräftigste in der ganzen Familie, Marlene, mit ihren 48 Kilo, sie bittet nur darum, es tun zu dürfen, wenn sie grad mal Zeit hat, und dann vielleicht auch mal ein Danke zu hören und nicht nur Kritik und Klagen oder Sätze wie: Niemand hat dich gezwungen, mit 17 ein Kind zu bekommen, und wenn du dich so doll kümmerst, wieso ist dann Merlin fett und maulfaul wie ein Kloß - Maulfaul wie ein Kloß? Kopp kicherte. Wo sie recht hat, hat sie recht - dafür ist Lore magersüchtig, raucht wie ein Schlot und hurt abends vor dem Moritzkino herum. Wer darauf nicht zu brüllen anfängt, ob die Mutter sie noch alle habe, der ist nicht normal. Wie kann sie so was sagen?
Ich habe das überhaupt nicht gesagt. Ich hab das nicht so gesagt.
Ich werde sie mal aufnehmen. Mit dem Handy geht das. Ich werde sie aufnehmen und es ihr dann abspielen, damit sie hört, wie sie redet. Es wird einfach immer schlimmer. Sie spricht alles aus, was sie denkt, und das sind niemals Nettigkeiten. Ich dachte schon, sie bekommt Alzheimer, weil sie auch alles so salzt, als gäb’s kein Morgen.
Was hat Salz mit Alzheimer zu tun?
Marlene habe gelesen, dass ein nachlassender Geschmackssinn und zunehmende Garstigkeit frühe Zeichen für Alzheimer sein können.
Kopp bat darum, ihn nicht so zu erschrecken.
Er könne sich abregen, Marlene habe die Ärztin dazu gefragt, und weiß du, was sie gesagt hat? Guppys werden mit dem Alter auch immer ruppiger.
Was? Guppys?
Ja, diese Fische.
Sie werden mit dem Alter immer ruppiger?
Angeblich.
Kopp konnte nicht anders, er musste lachen.
Eigentlich ist das nicht lustig …
Die Guppys werden immer ruppiger?
Nun lachten sie beide. Kopp länger als seine Schwester, die irgendwann weitersprach: Im Grunde hat sie gesagt: Erstens wird Ihre Mutter alt und zweitens ist sie einfach kein sehr herzlicher Mensch.
Hier hatte auch Kopp aufgehört zu lachen.
Natürlich hat sie’s nicht so gesagt. Aber man konnte es verstehen.
Sie behalten immer das Wechselgeld, mein Junge. Ich wollte ja nichts sagen, aber das ist nicht korrekt. Korrekt wäre: sie geben es mir wieder und ich gebe es dann ihnen wieder, fürs Bringen. Aber sie geben es mir gar nicht. Und trotzdem habe ich nichts gesagt, erst, als sie mir die Sachen - aber wortwörtlich - vor die Füße gepfeffert haben, da hast du’s, das muss jetzt für eine Woche reichen, ich hab nicht ständig Zeit, die paar Schritte zur Kaufhalle kannst du echt mal selber laufen.
a) hatten wir es eilig, Merlin musste zum Fußball, er ist total schlecht im Fußball, aber er liebt es und er soll ja auch abnehmen, und b) kann sie wirklich die 100 Meter gehen, sie will bloß nicht, und c) muss ich lernen, ich habe nächste Woche Prüfungen, ich bin jetzt fast 31, das ist meine letzte Chance, aber das interessiert ja keinen, sie vergisst sogar, was ich da lerne, oder sie sagt es absichtlich falsch, sie sagt Masseuse, dabei ist es Physiotherapie, Phy-si-o-the-ra-pie, herrgottnochmal.
Ist ja gut, schrei nicht so. Sie ist eine alte Frau, sie hat Schmerzen, sie will, dass man sich um sie kümmert.
Gut, dass du das erwähnst, Bruderherz.
Ja, ja, schon gut, ich werde mich kümmern. Ich hatte viel um die Ohren in letzter Zeit, und jetzt ist, wie’s aussieht, wieder was Neues im Anmarsch, wie es halt so ist.
Hm, sagte Marlene, die, sobald es nicht um sie geht, kein Interesse mehr hat.
Hm, sagte Greta, die nicht so viel von diesen Dingen versteht, sie will auch nichts davon verstehen, sie will am besten gar nichts davon hören, vor allem will sie nichts von Schwierigkeiten hören, und jede Veränderung ist für sie zugleich eine Schwierigkeit, sie nimmt immer das Schlimmste an, malt Armeen von Teufeln an die Wand, ich weiß das selbst, mein Sohn, so ist meine Veranlagung, deswegen will ich ausschließlich Gutes hören, dass es dir gut geht, dass ich mir wenigstens um dich keine Sorgen machen muss, du bist dasjenige von meinen Kindern, um das man sich keine Sorgen machen muss, und Sorgen wären das Einzige, was ich mir machen könnte, helfen könnte ich nicht, wie sollte ich denn helfen, ich weiß selber weder ein noch aus.
 
Natürlich fand dieses Telefonat nicht so statt, sondern so, dass er erst die eine anrief, dann die andere, dann wieder die eine und schließlich wieder die andere. Währenddessen wartete Flora, spazierte auf der Stelle, sah Pflanzen und Tieren und schließlich den Sternen zu, wie einer nach dem anderen sich schlafen legte bzw. herauskam. Immer zwischen zwei Telefonaten fluchte sich Kopp kurz aus - … …! - sie sah zu ihm herüber, fragte aber nichts, es wäre auch gar keine Zeit dafür gewesen, er rief schon wieder an. Irgendwann hatte Flora genug. Sie spazierte so lange, bis sie in sein Gesichtsfeld kam. - Das war gar nicht so einfach, Liebster. Du hast dich immer dorthin gedreht, wo ich nicht war. - Sie musste beim Herumgehen mehrfach die Richtung ändern, wie in einem Stück Modern Dance. Sie zeigte ihm an, dass sie Durst hatte: hohle Hand, die ein Glas hält, Mund, der sich öffnet, Kopf, der nach hinten kippt, zeigte in die Richtung, in der sie wohnten, zeigte erneut »trinken« an, und dann wieder nach vorne. Kopp nickte und zeigte 5 Finger: in 5 Minuten.
Nach Kopps Empfinden 10 Minuten, laut Flora eine halbe Stunde später wiederholte sich dasselbe noch einmal, diesmal von ihrer Seite um einiges ungeduldiger: Durst! Ich fahre jetzt!, von seiner um Nachsicht bittend und resigniert: Gut, ich komme hinterher, in 5 Minuten. Sie rollte den Hügel hinunter, ihr Rock flatterte, sie verschwand im Wald.
 
Im Übrigen hatte es dann wirklich nur noch 5 Minuten gedauert. Wenn ich mich beeile, kann ich sie noch einholen. Auch Kopp hatte jetzt großen Durst - abgekämpft, wie nach einer Woche Messe, in den Ohren dröhnt es, die Augen brennen, der Mund ist eine Wüste, bis hinunter in Speise- und Luftröhre, nicht abwaschbarer Schweiß sitzt in allen Falten, aber besonders am Hals, er klebt, die Hände kleben - also verlor er keine weitere Zeit mehr, ließ den Blick nicht noch einmal über die Landschaft schweifen - da, schau, ein kleines Flugzeug, das über die Baumwipfel zieht, eine Zlin - sondern schwang sich unverzüglich in den Sattel. Tatsächlich: schwang, als wäre es ein Herrenfahrrad, aber es war keins, und so fing es gefährlich zu schwanken an, gleich falle ich hin, aber er fiel nicht, er rettete sich, beide Füße auf den Pedalen, und jetzt treten, sonst fällst du noch wirklich. Er trat, das Fahrrad rollte los, den Hügel hinunter. Beim Aufsetzen merkte er, dass ihm der Hintern wehtat. Das berührte ihn unangenehm, er wurde gereizt davon, aber dann kam das Rollen in Gange und er genoss es, wie es nicht anders möglich ist.
 
Flora hatte Durst angezeigt, Durst, also Ausflugslokal, also am Waldrand links. Das Rollen hatte sich verbraucht, er trat wieder in die Pedale, auf flacher Strecke ging es besser, eine Weile genoss er nun das: Kraftausübung, Geschwindigkeit aufnehmen. Vorfreude auf das Ausflugslokal, auf Schnitzel und Bier. Nachfreude darüber, dass er das Familientelefonat also hinter sich gebracht hatte. Eine Woche habe ich mindestens gewonnen. (Ist das nett von mir? Nein. Tut mir leid.) Die Sonne war längst untergegangen, aber hier im Norden ist die Dämmerung lang, selbst mit einem Fahrrad ohne Beleuchtung auf dem Lande kann man noch weit kommen. Darius Kopp rollte zwischen Feldern, querte nicht mehr benutzte Eisenbahnschienen, fuhr an einem alten Genossenschaftsgelände und einem Friedhof vorbei, in ein Dorf mit holprigem Pflaster, hielt unter Eichen, dort war das Lokal.
Es saßen Menschen im Außenbereich, mehr Männer als Frauen, Landbewohner, mittlere bis höhere Semester, Flora war nicht dabei. War sie im Innenbereich? Nein. Auf der Damentoilette? Das können wir legal nicht feststellen. Also ging Kopp wieder hinaus. Ich warte lieber draußen. Lauer Abend unter Eichen, große Bierkrüge. Das Fahrrad ohne Schloss im Auge behalten. Die Leute sind unfassbar, sie klauen selbst rostige alte Damenfahrräder.
Da fiel bei ihm endlich der Groschen. Floras Fahrrad war nicht da. Also war sie ebenfalls nicht da. Deswegen konnte ich sie nicht einholen. Sie war nicht meilenweit und Stunden voraus, so lange habe ich nicht telefoniert!, es hat schlicht und einfach ein Missverständnis gegeben, und sie ist gar nicht hierher gefahren. Hast du sie am Waldrand etwa links abbiegen gesehen? Nein. Sie ist im Wald verschwunden. Idiot. Durst, also Ausflugslokal. Wie kommst du darauf? Nur, weil du Lust auf Schnitzel und Biere hast? Es für dich so ausgemacht hast, dass du nach so viel körperlicher Anstrengung in der oh, so holden Natur, Schnitzel und Biere verdient hättest? Jetzt stehst du da, mit dem blanken Arsch. Natürlich nicht wörtlich, sondern nur ohne Geld. Das Portemonnaie liegt bei Gaby auf dem Küchentisch, und umsonst ist bekanntlich nicht der Tod.
Kopp fluchte gotteslästerlich (aber leise, wir wollen nicht unnötig Aufsehen erregen) und fuhr wieder los.
Auch im Norden hat die Dämmerung einmal ein Ende, mittlerweile konnte er die Dunkelheit mit freiem Auge anwachsen sehen. Das Hellste jetzt: der weiße Müllersand am Rand des groben Asphaltwegs, und teilweise darauf. Strand, dachte Kopp, Strand und Sand. Als es später wieder ein wenig hügelan ging, dachte Kopp: Berge. Fuhr durch die ländliche Nacht zu seinem für diese Nacht geliehenen Zuhause und dachte, um sich vom frustrierenden Hier-und-Jetzt abzulenken, über fremde Landschaften nach. Land und Leute, Bill und die Brüder Bedrossian, Hühnerfleischsandwichs (der Hunger!) und frisch gepressten Orangensaft und über Geld in einem Karton - Ich muss Juri noch davon erzählen! - Juri, die letzten vier Wochen, die Bar, Flora, der Einarmige, Ulysses, Melania, das Trampolin, die Beachvolleyball-Meisterschaft, wieder Juri, Juri ist bis Sonntagabend in Amsterdam, ich war schon mal in Amsterdam, aber ich habe kein Bild mehr davon, wollen wir mal nach Amsterdam, Flora? Flora, Marlene, Mutter, Vater, ihn müsste man auch mal anrufen, wann habe ich das letzte Mal mit ihm gesprochen, wann habe ich das letzte Mal mit Bill und wann mit Anthony gesprochen, Anthony, Stephanie, Sandra, die anderen Kollegen, die Landschaft um Sunnyvale in sunny California, Pinien und Lupinen auf den Hängen, Platanen in der Straße, in der die Firma sitzt, und wieder essen, einmal Surf’n turf und ein großes Bier bitte.
So lange, bis er auf einen mit alten Betonbahnschwellen ausgelegten Weg kam. Er dachte noch: Arbeit für meinen Alten, wenn er noch Feldwege asphaltieren würde, wieso asphaltiert er eigentlich keine Feldwege mehr, dann erst wurde ihm klar, dass er über so einen Weg, über solche Bahnschwellen hier noch nie gefahren war, weder heute noch zu früheren Gelegenheiten, niemals, dass er sich also verfahren hatte. Wo, wann, wie war das passiert? Ich weiß es nicht. Er meinte, alles ganz genau so - das heißt: genau andersherum - gemacht zu haben, wie auf dem Herweg. Und trotzdem war er jetzt hier, und nicht dort, wo er sein sollte: am Fuße des Hügels, am Rande des Walds. Das ist schon längst im Wald. Wie dunkel es doch eigentlich auf der Erde ist. Hast du Angst? Ja, aber nur konkret. Ich möchte meine Vorderzähne nicht verlieren.
Er hielt an, nahm das Handy. Mein kleines, viereckiges, bläuliches Licht in der Dunkelheit. Das, und nicht mehr. Kein Netz. Eine Mücke landete auf Darius Kopps Handgelenk unterhalb der Tastatur. Er schlug zu. Er verpasste sie. Mistvieh!
Preisfrage: fährt man in so einem Fall weiter, in der Hoffnung, dass man wieder irgendwo hinkommt, wo man sich auskennt, oder fährt man zurück, bis man wieder irgendwo hinkommt, wo man sich auskennt? Normalerweise hätte sich Darius Kopp für die erste Variante entschieden (Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann zurückzugehen …), aber das Fahren auf den Bahnschwellen war unmöglich, also drehte er um und fuhr zur letzten Kreuzung zurück. Das machte ihn nicht schlauer, er war sich nicht einmal mehr sicher, auf welchem dieser Wege er gekommen war, er schämte sich vor sich selbst, ich kann doch nicht so ein Trottel sein, Männer sind Jäger, sie können sich orientieren. Fluch. Schließlich nahm er einfach irgendeinen der Wege, das heißt den, der am Waldrand entlangführte.
Zumindest eine Weile, dann führte auch dieser Weg wieder in den Wald hinein. Kopp fluchte, wendete diesmal aber nicht, sondern fuhr einige Minuten in wachsender Verzweiflung und Wut einfach in sein Verderben, und dachte dabei auch nichts anderes mehr als: ich fahre mit wachsender Verzweiflung und Wut in mein Verderben. Was, wenn ich die ganze Nacht hier herumirre? Was, wenn Flora, auf der Suche nach mir, die ganze Nacht hier herumirrt? Beim Gedanken daran hielt er wieder an. Stand auf dem Waldweg, zwei weiße Streifen waren davon zu sehen, mehr als gar nichts. Stand eine Weile nur da und horchte. Etwas raschelte. Flora? Aber er traute sich nicht, nach ihr zu rufen, denn im Augenblick darauf dachte er schon: Wildschweine. Mannsgroße, wütende Wildschweine in Verteidigung ihrer Brut und ihres Territoriums.
Aber es war ein Reh, das nach einer ewigen (in Wahrheit: kurzen) Weile Ratlosigkeit und zunehmenden Herzklopfens auf den Weg spaziert kam. Kam auf den Weg spaziert, blieb stehen und starrte Darius Kopp aus zu Tode erschrockenen leuchtenden Augen an.
Standen beide mit klopfendem Herzen da: Kopp und das Reh.
Ein Reh, nur ein Reh. Rühr dich nicht.
Er rührte sich nicht.
(Geh weg!)
Aber es ging nicht weg.
Bis Kopp schließlich dahinterkam, was die Lösung war. (Rühr dich.) Er rührte sich, drehte den Kopf zur Seite. Als er ihn wieder zurückdrehte, war das Reh verschwunden.
Kopp fuhr weiter - versuchte, dabei leiser zu sein - und kam kurze Zeit später an eine Kreuzung. An der Kreuzung gab es, gesegnete Zivilisation!, einen Wegweiser, der ihm anzeigte, dass er nach rechts musste. Er fuhr nach rechts. Es kam ihm noch der Gedanke, was, wenn einer, eine Gruppe Dorfjugendlicher, zwei besoffene Waldhüter, ein zu Scherzen aufgelegter einsamer Wanderer den ganzen Wegweiser verdreht hatte, aber da sah er schon die erste von insgesamt drei Straßenlaternen der Siedlung aufleuchten.
 
So eine blöde Scheiße!
Was ist passiert?
Wie konntest du mich nur dalassen?
Was ist passiert?
Ich habe telefoniert, dann bin ich zum Biergarten gefahren, weil ich dachte, du hättest gesagt, dass du dorthin fährst.
Wann fahre ich je zum Biergarten?
Ich dachte, du warst durstig.
Ja, und deswegen fuhr sie nach Hause, was wesentlich näher war, und trank Wasser aus dem Hahn.
Elende Scheiße! Und dann hab ich mich verirrt.
Du hast dich verirrt?
Ja, klassisch, im Wald! Ich hab alles so gemacht, wie auf der Hinfahrt, trotzdem. Ich wäre fast mit einem Reh kollidiert.
Du wärst fast mit einem Reh kollidiert?
Sie sagt, das täte ihr leid, aber sie lacht dabei.
Lach nicht!
Ich lache nicht.
Der ganze Wald klebt an mir, ich weiß gar nicht mehr, wo ich mich zuerst kratzen soll, wenn ich mich in der Ellenbeuge kratze, fängt die Kniekehle an und der Hals, mein Hintern tut weh, mein Sack ist eingeschlafen, weißt du, wie unangenehm das ist?
Woher sollte ich das wissen, mein einziger Schatz?
Sie lachte, streichelte sein Gesicht.
Er sagte, er habe großen Durst und auch Hunger. Mein Dom ist schon ganz schlaff, schau. Haben wir noch was zu essen da?
Schlug sich auf die Stirn, dass es nur so klatschte: Ich wollte doch grillen!
Ihrer Meinung nach war es dafür schon zu spät.
Papperlapapp! Er fing zu hantieren an, Holzkohle etc., und gegen Mitternacht biss er dann tatsächlich in ein Stück Rippe. Er zeigte sie dem in voller Blüte stehenden Mond: Siehst du das? Siehst du das? Er fuchtelte triumphierend mit dem halb abgenagten Knochen, sein Kinn war voller Fett. Siehst du das?
Und sie lachten noch ein letztes Mal.