SAMSTAG
Der Tag
Am Samstag kehrte dann tatsächlich so etwas wie
paradiesische Ruhe ein. Ein Mann, eine Frau, in einem Garten.
Vorerst noch nicht nackt. Als Kopp erwachte, war Flora natürlich
schon längst nicht mehr neben ihm. Hinaus auf die Terrasse. Ein
Rest morgendlicher Kühle war noch da, aber nur noch wie ein
schwaches Spinnennetz, eine halbe Stunde vielleicht noch, dann
reißt es, und dahinter ist wieder die Hitze. Hinter den Kiefern
stand schon weiß die Sonne.
Der Garten bei Tageslicht. So üppig, wie man es auf
diesem Sandboden nicht erwarten würde. Eine Hecke aus Brom- und
Stachelbeeren, davor büscheweise Tomaten, Erbsen, Rosenkohl, dichte
Reihen Zwiebeln, Möhren, Salat (hochgeschossen), mannshoher Dill,
ein riesiger Meerrettich (aber Kopp weiß nicht, dass es das ist),
außerdem Blumen, deren Namen er ebenfalls nicht kennt, er vermutet
Fingerhut, Stockrosen, Dahlien. Ein Apfelbaum, ein Walnussbaum,
ferner Eichen und Kiefern, aber die gehören nicht mehr zum
Grundstück - aber wo war sie?
Flo? Wo bist du?
Hier, sagten die Dillpflanzen.
Was machst du da?
Ich arbeite im Garten.
Sie kam näher, besah sich jede Pflanze einzeln,
zupfte an ihnen herum.
Weißt du, dass ich das schon die ganze Nacht
mache?
Du machst das schon die ganze Nacht?
Im Traum. Ich habe die ganze Nacht geträumt, dass
ich im Garten arbeite. Ich bin richtig müde davon. Aber gut müde.
Ich glaube, ich bin lachend aufgewacht. Ich habe an meinen Händen
gerochen, ob sie nach Zwiebeln riechen. Ich hatte nämlich Zwiebeln
angefasst.
Und? Haben sie nach Zwiebeln gerochen?
Nein. Ich war so enttäuscht, ich hab’s nicht
ausgehalten, ich bin in den Garten gerannt und habe schnell
Zwiebeln angefasst. Hier, riech mal.
Sie lachte, hielt ihm die Hand, in der keine
trockenen Pflanzenteile waren, unter die Nase. Er roch an ihr, aber
sie roch nach Dill.
Apropos Zwiebeln: Gibt es eigentlich was zu
essen?
Gleich.
Sie warf die trockenen Pflanzenteile auf den
Komposthaufen und ging in den Schuppen. Kam wieder heraus, mit
irgendetwas in der Hand.
Was ist das?
Ein Vierkant.
Wozu?
Um den Wasserhahn mit dem Schlauch aufzuschließen.
Normal gießt Gaby aus den beiden Regenwassertonnen, aber die sind
jetzt leer.
Du hättest doch nicht etwa mit dem Eimer
gegossen?
Doch, das hätte sie. Aber, wie gesagt, es ist kein
Wasser da. Au!
Gib mal her, lass mich! Hier, bitte schön.
Danke schön.
Sie hielt den Daumen vor das Ende des Schlauchs, um
den Strahl zu teilen.
Vorsicht mit den Liegen, ich will heute noch den
ganzen Tag drauf liegen.
Zu Befehl.
Sie goss außer den Liegen alles, was sie erreichen
konnte, auch die Bäume, die bereits zum Wald gehörten, schleppte
den grünen Schlauch hinter sich her - Eine Schlange! Immer muss man
das denken: Schlauch = Schlange. Grün, mit einem schwarzen Streifen
- sie sah in die fliegenden Wassertropfen und lächelte.
Kopp, der sie beobachtete, lächelte
ebenfalls.
Als sie ihm schon zu lange mit dem Wasser und den
Pflanzen, ohne ihn, war, zog er sich nackt aus und rief:
Hierher!
Sie lachte und richtete den Wasserstrahl auf ihn.
Sie teilte ihn mit dem Daumen, um ihn nirgends zu hart zu treffen.
Er sprang jauchzend hin und her, machte sich zum Tier - je nachdem:
Affe, Waschbär, Robbe - um ihr eine Freude zu machen, aber
gleichzeitig achtete er auch darauf, sich tatsächlich Gesicht,
Ohren, Hals, Achselhöhlen, Geschlecht und Afterspalte zu waschen.
Morgentoilette eines Herrn am Anfang des dritten christlichen
Jahrtausends.
Hoffentlich hat mich kein Nachbar gesehen.
Beziehungsweise: und wenn schon.
Er half, den Hahn wieder zu schließen, sie brachte
ihm ein Handtuch.
Trocknest du mich ab?
Sie tat es.
Aber so kannst du hier wirklich nicht
herumstehen.
Sie gingen ins Haus und hatten Sex.
Anschließend gab es endlich etwas zu essen. Sie
briet ein Omelett mit Gemüse. Kopp zeichnete sich aus, in dem er es
schaffte, in einer fremden Küche ohne Espressoautomaten,
aber mit Kaffeebereiter, Pulver und Wasserkocher, einen Kaffee
zustande zu bringen.
Du bist der Held.
Frühstück auf der Terrasse. Der Garten dampfte,
das Holz knarrte bei jeder Bewegung.
Diese Bohlen machen’s nicht mehr lange. Sie sind
schon ganz zersplittert. Barfuß kann man nicht mehr auf ihnen
gehen. Drinnen knarzt auch schon alles. Wenn du mal laut hustest -
um nichts anderes zu sagen - rieselt Holzmehl aus der Decke. Wenn
sie wirklich hier wohnen will, muss sie sich was einfallen
lassen.
Sie will sich ein neues bauen. Sie ist sich nur
noch nicht ganz grün, ob aus Lehm oder aus Strohballen.
Nicht ganz grün, ob aus Lehm oder aus
Strohballen? Kopp hätte das gigantische Johlen, das an
dieser Stelle in ihm aufstieg, gerne herausgelassen - am Morgen im
Wald, ein schallendes Lachen - aber er traute sich nicht. Um den
Ausbruch zu verhindern, tat er, was man in so einem Fall als
Letztes tun sollte: er nahm einen großen Schluck von seinem
Getränk. Wenn dir heißer Kaffee in die Nase steigt. Er hustete
lange, gekrümmt. Dass sie nicht besorgt zu ihm sprang, zeigte ihm
an, dass sie - wie meistens - genau wusste, was warum
geschah.
Geht’s wieder?
Ja. Sie frühstückten in aller Stille weiter. Vögel
zwitscherten. Kopp erkennt keinen an der Stimme. Außer:
Da, schau, ein Specht!
Tatsächlich.
Später lagen sie auf Sonnenliegen. Flora
las.
Ist das das Stück?
Nein, das ist, wie du gut sehen kannst, ein
Buch.
Wieso liest du nicht das Stück?
Weil ich zuerst etwas lesen möchte, von dem ich
weiß, dass es gut ist.
Und zwar?
Sie zeigte ihm den Buchdeckel. Dort stand:
Bessere Verhältnisse. Kopp konnte sich erinnern, dass sie
das schon mehr als einmal gelesen hatte, aber ihm war alles,
einfach alles entfallen, was sie ihm darüber erzählt hatte.
Ach so, das.
(Natürlich weiß sie auch, dass ich es vergessen
habe.)
So blieben sie eine Weile. Sie las, er tat gar
nichts. Paradiesische Ruhe.
Wie lange? 20 Minuten, eine halbe Stunde? Da sprang
sie schon wieder auf, fing wieder an, im Garten hin und her zu
laufen.
Er, wieder: Was machst du da, mein einziger
Schatz?
Sie, wieder: Ich arbeite im Garten.
Zupfte an den Pflanzen, schleppte eine Hacke und
eine Harke heran, und die Schubkarre nur deswegen nicht, weil
irgendetwas drin war, scheinbar Humus, und sie hatte keine
Informationen, was damit zu tun sei.
Du kriegst noch einen Schlag! In der Sonne! Warum
kannst du dich nicht mal entspannen, ich verstehe das nicht. Komm
her, leg dich wieder zu mir.
Wenn ich mich hinlege, schlafe ich ein.
Was wäre so schlimm daran?
Sie schlafe schon die ganze Zeit tagsüber, d. h. je
nachdem, wie sie in den letzten 8 Wochen fast ohne Pause
Tag-/Nacht-/ Tag-/Nachtschicht hatte. Ihr Schlafrhythmus ist
durcheinander. Wenn sie vorhin gesagt habe, sie habe in der Nacht
das und das geträumt, dann war das nicht ganz richtig, weil
sie nämlich gar nicht geschlafen habe, oder wenn, dann nur sehr
oberflächlich, sie horchte auf den Wald, nicht weil sie Angst
hatte, sondern voller Freude, aber jetzt fühlte sie deutlich, dass
sie einschlafen würde, sobald sie sich hinlegte, aber das wollte
sie nicht, sie wollte etwas Sonne sehen und sie wollte die Natur
genießen, gleichzeitig hatte sie die Befürchtung, wenn sie jetzt
wach war, dann während der kommenden Nachtschicht nicht wach
bleiben zu können - es gibt einfach keine gute Lösung! Ich
wünschte, ich könnte mich einfach an- und ausknipsen, aber das geht
nicht. Verdammte innere Uhr.
Willst du einen Rat vom Schlafkünstler hören?
Schau, du liegst so da und döst, und wenn du manchmal die Augen
einen Spalt öffnest, siehst du Garten, Bäume, Himmel und sagst dir:
Sonne, Natur, Genuss. Danach döst du wieder ein bisschen und bist
am Ende rundherum zufrieden.
Ein bisschen lachte sie. Deine positive Art, deine
Glücksfähigkeit, Liebster, tröstet mich immer so schön. (Wenngleich
es an der Grundkonstellation - meiner - nichts ändern kann. Egal
jetzt. Jetzt, egal.) Sie wollte es wenigstens versuchen. Wart, ich
wasch mir erst die Hände. Ein bisschen Erde bleibt unter den
Fingernägeln zurück, das macht nichts, das ist sogar schön. Sie
ließ sich auf die Liege plumpsen, wie er es sich nicht erlauben
kann, und nahm wieder das Buch.
Was danach geschah, weiß Darius Kopp nicht, denn
innerhalb der nächsten Minute war er eingeschlafen.
Er erwachte, weil sie ihn mit der Ecke des Buchs in
den Oberarm piekte.
Komm, wir fahren baden!
Und da fuhr sie auch schon, wie der Wirbelwind,
ihr Rock flatterte. Das entschädigte Kopp ein wenig, der auf dem
vermeintlich robusteren der beiden zum Grundstück gehörenden
klapprigen Damenfahrrädern hinter ihr her strampelte. Schön,
eine Ehefrau zu haben, die gerne Röcke trägt. Das ist so
weiblich. Männlich dafür ist, sich bei körperlichen
Aktivitäten keine Blöße zu geben - was mir an Freude fehlt, mache
ich durch Kraft wieder wett - aber das war gar nicht so einfach.
Die Hitze, das miese, rostige Rad, und, nicht zu vergessen, der
Bauch, dieser Dom - denn so wäre es richtig, eine Kathedrale hat
eine ganz andere Form. Solange man im Wald unterwegs ist, geht es
noch, es ist nur auf allfällige Zweige zu achten, die einem die
Brille von der Nase und das Auge aus dem Kopf schlagen können. An
den Wurzeln ist trotz größter Aufmerksamkeit kein Vorbeikommen,
schüttel mich, rüttel mich. Er biss die Zähne zusammen.
Nach dem Wald kamen offene Felder, der Weg bestand
aus nicht gerade mit größter Sorgfalt aneinander geteerten
Betonplatten, oder es war schon zu lange her, dass das geschehen
war. Rauer, heller Beton in sengender Sonne, die Felder abgeerntet,
das hohe Gras am Rand vertrocknet, aber - angenommen, Kopp
interessierte sich für weitere Details - ihm blieb kaum die Zeit,
vielmehr, kaum die Kraft dazu, sie näher zu beobachten, denn nun
fuhr Flora in einem Tempo, als wäre morgen, ach was, innerhalb der
nächsten Stunde der See aus, als wäre es die allerletzte
Möglichkeit, jemals in ihm zu baden. Die Strecke war hügelig und
zwar weit mehr, als es angenehm war. Eine Endmoränenlandschaft, wie
Kopp noch sehr gut aus der Schule weiß. - Ja, Schatz, das sagst du
jedes Mal, nun werde ich es auch nicht mehr vergessen, bis ich
sterbe. - Er krümmte sich, trat mit gesenktem Kopf in die Pedale,
trotzdem drohte er stehenzubleiben, bevor er oben ankam, es sei
denn, er ging aus dem Sattel. Auch das hätte er als sich eine Blöße
geben empfunden - Wieso ist dir das so wichtig, es sieht dich doch
keiner. Doch - er blieb trotzig sitzen. Das Rad quietschte bei
jedem Tritt zum Herzerbarmen, Kopp sah zur Kette, sah, dass
sie nichts als trockener Rost war, daneben, im unteren Dreieck des
Rahmens, baumelte eine kleine Spinnwebe. Es war sogar eine kleine
Spinne drin! Lebt sie noch? Nicht wahrscheinlich. Ich bringe eine
tote Spinne einen Hügel hinauf. Da ging er aus dem Sattel.
Sie fuhren zwei Hügel hinauf und wieder hinunter,
über eine nagelneue Holzbrücke über einem fast ausgetrockneten
kleinen Wasserlauf, noch einen Hügel hinauf, an einem alten
Friedhof vorbei, durch ein kleines Dorf, in einen anderen Wald
hinein, wieder heraus, wieder durch ein Dorf, über Pflastersteine,
vor der Kirche bogen sie ab, an Scheunen vorbei, einen Abhang
hinunter, wieder in einen Wald hinein, und dann waren sie endlich
da.
Diesmal waren sie nicht allein. Familien mit
Kindern, Jugendliche, alle Welt. Aus Rücksicht auf die anderen
entledigten sie sich diesmal nicht aller ihrer Kleidung. Sie
schwammen. Am anderen Ufer, hinter Bäumen, war jetzt, da es Tag
war, der Kirchturm zu sehen, davor ein anderer Strand, dort wurde
eine Bühne für eine spätere (großes weißes Banner, schwarze
Buchstaben:) BEACHPARTY aufgebaut.
Als sie aus dem Wasser kamen, wurden sie von einem
Mann, einer Frau und einem Kleinkind (alle nackt) begrüßt, die Kopp
vollkommen unbekannt waren. Ach so, die Wurzelzwerge. Ohne ihre
Mützen erkennt man sie nicht wieder. Man unterhielt sich einige
Minuten über nichts, Kopp hörte nur mit halbem Ohr hin. Nicht, dass
er stattdessen anderswohin gehört hätte. Er hörte nirgends hin,
oder höchstens zum Quietschen der Wasserpumpe im Sandkasten.
Danke, liebe Flora, dass du die aus Gabys Haus
mitgenommene muffig riechende Decke nicht unmittelbar neben der
ihren ausgebreitet hast.
Endlich las sie das Stück. Kopp tat wieder nichts.
Das heißt:
er beobachtete die anderen, die Leute. Er tat das durch einen
schmalen Spalt, zu dem er seine Lider niedergelassen hatte. Wasser,
Bäume, Himmel und dann wieder die anderen, aber all das
unaufmerksam. Sobald er etwas, das da war, das geschah, gesehen
hatte, vergaß er es sofort wieder. Auch die Ökos war er außerstande
wiederzufinden. War es dieses blonde Kind oder jenes? Flora las.
Auch er hätte jetzt gerne etwas gemacht. Ein wenig Surfen. Aber
hier wäre es sinnlos. Bevor sie losfuhren, versteckte er noch den
Laptop. Ins Auto einschließen oder ins Bett legen? Er entschied
sich fürs Bett und legte Floras (!) Handy als Köder auf den
Küchentisch.
Ja, ich bin wirklich ein wenig irre. Mein
Portemonnaie zum Beispiel liegt keine zwei Schritte daneben. Das
hab ich nicht versteckt. Den Autoschlüssel auch nicht. Er ärgerte
sich über so viel chaotisches und irrationales Verhalten. Da fiel
ihm das Geld der Armenier ein.
War es chaotisch und irrational, es zwischen die
anderen Kartons zu stecken?
Nein, das war gut.
Der Gedanke daran, dass irgendwo, an einem Ort, zu
dem er Zugang hatte, Bargeld lag, selbst wenn es nicht seins war,
bescherte ihm ein Gefühl der Zufriedenheit. Er grinste.
Um das Gefühl zu vervollständigen, hätte er jetzt
gerne noch jemandem darüber erzählt. Aber wer kam in Frage? Flora
wusste es schon, und alle anderen waren unerreichbar.
Wie spät ist es? Laut Handy: um 2. An der Westküste
um 5 Uhr morgens. Bill schläft noch. Schätzungsweise bis um 7. Dann
geht er joggen, frühstückt, holt seine Kinder ab. Oder er hat sie
schon Freitagabend abgeholt. Zum Frühstück kommt die Freundin dazu.
Später picken sie Kopp an seinem Hotel auf und man
fährt gemeinsam zum Baker Beach. Der Wind ist kräftig, das Wasser
ist kalt, aber man hat einen Blick auf
die Golden Gate Bridge, was für das meiste entschädigt. Zum Essen
hat man selbst gemachte Sandwichs mit Hühnerfleisch und Salat
dabei. Die Tochter ist schon 15 und hat große Brüste. War sich
zunächst unschlüssig, ob sie mitkommen sollte. Dann kam sie mit,
weil ihr berichtet wurde, Kopp sei aus Europa. Sie fragt ihn nach
Paris, London und Berlin. Man unterhält sich angenehm mit ihr. Ihr
Name ist Deirdra. Der Junge ist erst 10, noch ein kleines Kind und
eifersüchtig. Keiner spielt mit ihm. Dann spielt Bill, später
Deirdra mit ihm. Seinen Namen hat Kopp vergessen. Das war vor gut
einem Jahr. Die Tochter ist also schon 16. Zum Abendessen gab’s
Hühnerschenkel, Kartoffelecken, Salat, Wein. Bill kopierte für Kopp
eine CD mit altem Soul, die ihm so gut gefallen hatte.
Es war sogar ein wenig Netz da, aber Kopp rief Bill
nicht an und auch niemanden sonst, aber er vertrieb sich die Zeit
damit, durch seine Datenbank zu blättern. Wen haben wir noch in
derselben Untergruppe? Natürlich alle von der Firma, inklusive
inzwischen Ehemaliger, aber nirgendwo sonst steht eine private
Mobilnummer dabei. Hätte ich einen Internetzugang, könnte ich jetzt
nachgucken, was Ken heute macht oder Vicky. (Und dann? Und dann
wüsste ich es. Oder ich wüsste es nicht, weil ich sie nicht
wiederfände, dann wäre eben das die Lehre aus der
Geschichte.)
Was machst du da? Das Gepiepe nervt.
Entschuldige.
Er schaltete die Tastentöne aus, sah sich dann aber
die Kontakte nicht weiter an. Er sah in den Baum über sich. Eine
Eiche. Ich weiß noch nicht einmal, wie das Kaff hier heißt. Eine
Beachparty. Oje. Während es in meinem Inneren licht und weit ist,
wie am Strand von San Francisco. Armenien, das ist eine ganz andere
alte Kulturlandschaft zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer. Die
Berge sind gewiss atemberaubend.
Leider können wir das nicht aus erster Hand
bestätigen, denn schließlich sind wir nicht hingefahren. Hat sich
nicht ergeben. Unsere Kenntnisse stammen aus dem Internet und
anderen Medien. Die Stadt Saitakan hat ca. 100 000 Einwohner, das
Klima ist kontinental, der Boden fruchtbar, die Umgebung malerisch.
Saitakan liegt in einem lieblichen Talkessel, die Topologie ist für
das Errichten eines drahtlosen Netzes ideal, mit freien Luftlinien
von mehreren Kilometern Länge. Die Brüder Bedrossian, Badrig und
Barsam, sind hier geboren und fühlen sich bis heute, da sie in der
Schweiz leben, mit der Stadt verbunden. Sie engagieren sich
insbesondere in den Bereichen Sport und Kommunikation. Die
auffindbaren Informationen zu Letzterer sind spärlich und noch dazu
nicht aktuell, aber ich hatte ja keine Zeit mehr zu recherchieren.
Ja, das ist ein Vorwurf, Flora. Aber Kopp wird sich nicht
beschweren. Weil es sinnlos wäre.
Was, jetzt mal ganz ehrlich, würde Flora fragen,
würde in diesem Fall am Montag anders sein als am Freitag?
Unter Umständen: alles, meine Liebe.
Und was könntest du tun?
Nicht viel, das ist wahr.
Du willst mir bloß das Wochenende kaputt
machen.
Warum sollte ich das wollen? Ich liebe meine Frau
und will, dass sie glücklich ist. Wenn meine Frau glücklich ist,
bin ich es auch. Und schweige auch darüber, dass mich jedes Mal,
wenn ich hier draußen bin, das Gefühl einholt, in der Verbannung zu
sein. Quasi abgetrennt vom »richtigen« Leben. Also:
überflüssig.
Wir sind alle überflüssig, würde Flora sagen.
Er würde es nicht verstehen, bzw. wäre damit nicht
einverstanden, doch wieder würde er schweigen. Das ist meistens das
Beste.
Er öffnete die Augen weit in den Himmel, damit er
ein wenig geblendet war, wenn er sie wieder schloss. Ich werde
jetzt abwechselnd an den Strand vor Frisco und an die nie gesehenen
armenischen Berge denken, bis ich einschlafe. Berge und Strand,
Berge und Strand.
Später weckte ihn Flora, indem sie ihn mit einer
Weintraube am Mund kitzelte. Als er merkte, was es ist, grinste
Kopp. Salve, sagte er, und biss ab.
Woher sind die?
Ein alter Mann kam mit einem Fahrrad und einem Korb
vorbei und verkaufte sie.
Hattest du Geld dabei?
Offensichtlich.
War’s teuer?
Es ging.
Und, wie ist das Stück?
Ach so, das. Das ist Scheiße.
Inwiefern?
Insofern, als es um absolut nichts geht, das heißt,
um nichts von Notwendigkeit, Gewicht, Relevanz. Um das zu
überdecken, folgt eine Brutalität auf die nächste, während die
Sprache gestelzt und gewollt poetisch daherkommt. Als Publikum
würde ich sagen: Zeitverschwendung. Als Übersetzerin wird sie es
vielleicht dennoch machen. Mit irgendwas muss man schließlich
anfangen. Und es ist ja auch nicht ärgerlich schlecht. Es
ist nur, wie gesagt, uninteressant. Aber vielleicht liegt es auch
an mir. Das Problem ist, ich weiß nicht genau, wann ich das machen
soll … Ich weiß! Ich weiß, dass ich das schon gesagt habe, und ich
weiß auch, was du sagen willst, sag’s nicht. Ich kann den Job nicht
hinschmeißen. Von einem mittelmäßigen Stück kann man nicht
leben.
Auf dem Rückweg fuhr Flora langsam, trotzdem
keuchte Kopp, oben auf dem Großen Hügel angekommen, so laut, dass
er das Tschilpen der kleinen Vögel übertönte, die in einer Gruppe
von vielleicht zwei Dutzend Tieren an ihnen vorbei taumelten,
(wahrscheinlich) auf der Suche nach einem Schlafplatz.
Wo ist mein Spray? Im Haus geblieben. Lenke dich
ab. Betrachte die Landschaft.
Vor ihnen lag ein bereits umgepflügtes
Sonnenblumenfeld, stieß an eine von einer Allee gesäumte Landstraße
(Dorfjugend, Mofas, Motorräder, Autos, Blumen und Kränze), dahinter
ging es mit Mais weiter, aber auch der war schon geerntet. Was ist
das glänzende Zeug in den Furchen? Wie Glassplitter. Wohl kaum. In
der Mitte des Ackers ein Schatten gebender Baum. Was ist das für
eine Sorte? Woher sollte einer wie Kopp das wissen? Am Grat des
nächsten Hügels drei Windmühlen. Dahinter ging die Sonne unter. Am
diesseitigen Ende des Felds, vor ihren Füßen, ein Graben mit hohem,
trockenem Gras, rechts ein alter Kilometerstein, links Flora, die
sich an das Fahrrad lehnt, den Hintern seitlich gegen den Sattel
gedrückt, die Füße in den Boden gestemmt, geschickt. Ich kann das
nicht. Die Gefahr umzufallen und die Pedale ins Kreuz zu bekommen
ist einfach zu groß. Also ließ Kopp das Rad zu Boden gleiten, und
verschränkte stattdessen die Arme. Das gibt mir, hier auf dem Hügel
stehend, etwas Feldherrenhaftes. Aber ansonsten ist nichts
martialisch an ihm. Ein dicklicher, blonder Mann in einer
spätsommerlichen Abendlandschaft. Einpaar Fäden seines zu lang
gewordenen Haars wurden von einem lauen Lüftchen bewegt, seine
Ohren und seine Nase glühten.
Er blieb so lange so stehen, bis das Telefon durch
Vibrieren und Piepen anzeigte, dass die Synchronisation
abgeschlossen war, E-Mails und Sprachnachrichten.
In den Mails: außer Newslettern und den
Verlockungen der
Pharma- und der Sexindustrie sowie der Nigeria-Connection (So, so,
man will mir also eine erste Rate von 500 000 Dollar auf mein Konto
überweisen?): nichts.
Sprachnachrichten: Sie haben 3 neue
Sprachnachrichten.
Als er das Telefon zum Ohr hob, blitzte ein letzter
Strahl der scheidenden Sonne auf dem silbernen Gehäuse auf. Von
Gottes Licht befruchtet. Kopp, ein geborener Heide, assoziierte
natürlich in eine ganz andere Richtung: als wäre das der sichtbare
Strahl, der vom Satelliten direkt zu ihm fiel und ihm die
relevanten Informationen brachte.
Der erste Anrufer hatte aufgelegt.
Die zweite Nachricht war von seiner Mutter, die
hoffte, dass es ihm gut ging.
Die dritte Nachricht war von seiner Schwester, die
ebenfalls hoffte, dass es ihm gut ging, während es ihr selber grade
miserabel ging, Danke der Nachfrage!
Darius Kopp auf dem Hügel seufzte.
Die Nacht
Darius Kopp der Jüngere wurde am 28. September
1965 geboren. Seine Mutter war eine Harpyie, sein Vater ein
Egoist, wie so häufig. Sie hatten sich bei der Arbeit
kennengelernt. Mein Name ist Darius. Er war ein Bastard. Ein Pole
als Vater war anzunehmen. Oma Olga schwieg sich aus. Der Vater ist
doch egal. Nach einem Jahr flüchtiger Bekanntschaft gab es ein
Betriebsfest, bei dem sie unter einem Dach aus grauem
Wellenschiefer tanzten. Später in derselben Nacht zeugten sie ihren
Erstgeborenen. Sie heirateten, obwohl ihnen, wie sie später
übereinstimmend aussagten, sonnenklar (resp. wie Kloßbrühe)
war, dass sie nicht zusammenpassten, aber er wollte nicht, dass
sich diese Bastard-Geschichte ewig fortsetzte, und sie wollte gar
nicht erst damit anfangen, sechziger Jahre hin oder her. Dass es
überhaupt wenig gäbe, das sich ewig fortsetzen sollte, betonte
Darius mehr als einmal, er betonte, die Abwechslung und die
Veränderung zu lieben, dennoch beharrte er darauf, seinem Sohn
exakt denselben Namen zu geben, den er selbst erhalten hatte.
Darius, der Jüngere. Der kleine Darius. Aus ihm selbst wurde auf
diese Weise, natürlich: der große. Die Mutter des Kindes fand den
Namen überkandidelt, sie hasste alles Außergewöhnliche, aufzufallen
ist asozial. Ist mir egal, sagte der Kindsvater, das Kind heißt
Darius. Ist mir egal, sagte die Mutter, das Kind heißt Johannes. So
kam es, dass sein Vater ihn Darius und seine Mutter Hansi nannte.
Wenn man das bedenkt, bin ich mehr als normal geworden, findest du
nicht, Flo?
Darius der Ältere war ein eitler Mann, ein
schönerer Mann als Greta es als Frau ist. Das brachte einiges mit
sich. Einen kleinen, engzinkigen Kamm in der Gesäßtasche (wie er
neben dem Knopf herausschaut!), mit dem er sich das volle (!) Haar
zu einer Tolle kämmte, auch später, als Tollen schon wieder aus der
Mode waren. Fotos, auf denen er gigantische Koteletten trägt. Sitzt
auf einem Motorrad, das ist, mit heutigen Augen gesehen, (etwas)
lächerlich. Mit Koteletten auf dem Motorrad.
Dass sie, wenigstens anfangs oder wenigstens
zeitweise auch das eine oder andere aneinander mochten, ist nicht
auszuschließen, aber sie reden nicht darüber. Man könnte nur
spekulieren, aber so wichtig ist es nun auch wieder nicht. (Für
Marlene, früher, vielleicht. Jetzt können wir sie alle mal
kreuzweise. Ich habe genug geheult.) Sie lebten in einer
Proletarierdiktatur, die - für sie - weniger ihr gefährliches als
ihr ödes Gesicht zeigte. Dementsprechend war auch ihr Leben etwas
öde, aber die meiste Zeit störten sie sich nicht daran. Sie waren
arm, aber sauber, das Wasser fürs Waschen, Kochen und die Windeln
holten sie erst auf halber Treppe und erwärmten es auf einem
Rechaud, später floss es aus Wasserhähnen in ihren eigenen vier
Wänden, und es mangelte ihnen auch sonst an nichts.
Außer, natürlich, dass ich machen kann, was ich
will, sagte Darius der Ältere, und weil er so tat, als scherzte er,
zwinkerte er.
Aber Greta konnte man damit nicht kaufen, sie
fragte beleidigt: Und das wäre?
Darius der Ältere zählte ab: Reise-, Konsum- und
Unternehmungsfreiheit. Du siehst, ich bin nicht unersättlich, drei
Finger reichen, auf Presse- und Versammlungs- bestehe ich nicht,
das interessiert mich nicht so sehr. Ein gutes Auto mit
Ersatzteilen und Garage und ein eigenes kleines Unternehmen, das
würde mir schon reichen.
Du bist doch viel zu chaotisch, um etwas zu
unternehmen. Und faul bist du außerdem.
Darüber war der sonst immer zu Scherzen Aufgelegte
- Zwei Sachen haben mich immer an deinem Vater genervt: sein
ständiges Gerede über freies Unternehmertum und seine blöden
Witzeleien; muss denn wirklich immer alles lächerlich gemacht
werden? - aber wirklich stinkig (Sein Wort. Da war ich aber
wirklich stinkig, mein Junge). Er ging hinaus und soff trotzig so
viel Bier, wie er es sich sonst versagte. - Ich sage dir die
Wahrheit, mein Sohn, sagte er in einem der seltenen ohne-Scherz,
also intimen Momente: Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde
ich die ganze Zeit saufen. Das ist meine heimliche Leidenschaft,
die ich mir versage, seitdem ich mit 14 das erste Mal etwas
getrunken habe. Nein, ich habe nicht mit 14 das erste Mal
getrunken, sondern viel früher, bei uns haben die Männer die
kleinen Jungs immer damit aufgezogen, hier, willst du mal
ein’ Schluck Bier?, und dann musste man auf einen Zug so viel wie
möglich stehlen, damit sie johlten und klatschten und einem
auf die Schulter klopften, aber geschmeckt hat es mir erst
mit 14, und da erschrak ich, denn ich sah deutlich, dass ich
trinken könnte, bis ich sterbe. - Also trank er auch diesmal nicht
so viel, wie er eigentlich gewollt hätte, nur eben deutlich mehr,
als es seiner Frau lieb gewesen wäre. Kopp sagte seinem Vater, dass
er ihn sehr gut verstehen könne. Ihm ginge es so mit dem Essen.
Eine 500-Gramm-Tafel Schokolade auf einmal. Aber nicht etepetete
Stücke abbrechen, sondern reinbeißen, so. Auch ich wäre längst tot,
bevor ich meinen Appetit gestillt hätte. Dieses Letzte sagte er
nicht mehr, er ging nur bis zur 500-Gramm-Tafel, und der etwas
angegangene Darius der Ältere nickte, aber er schaute ein wenig
schräg. - Ein Mann mit Schokolade ist etwas anderes als ein Mann
mit Alkohol. Ich weiß, dass er das denkt, und es wurmt mich. -
Darius Kopp hat etwas Sehnsucht nach seinem Vater, aber ansonsten
geht es ihm gut. Ich hasse die Regierung, meine Nachbarn, allgemein
meine Mitmenschen und also auch meine Eltern nicht.
Dafür endete die Kompromissbereitschaft der Eltern
schlussendlich in so etwas wie Hass. Nein, das ist ja die Krux. Nur
meine Mutter hasst meinen Vater, weil er sie weder hasst noch
liebt. Sie haben das ein Vierteljahrhundert lang unter dem Deckel
gehalten, so lange, bis sie sich kurz nach der Wende scheiden
ließen, um, Zitat, endlich auch mal an sich selbst zu denken im
Rahmen der neuen Möglichkeiten.
Als Auslöser diente, dass Darius der Ältere seinen
Job verlor, darüber aber nicht unglücklich war, sondern sich
endlich seinen Traum erfüllen und selbstständig werden wollte. Ich
wollte immer schon mein eigener Chef sein, der Mensch ist für das
Gemeineigentum an Produktionsmitteln nicht geschaffen, mit 53
Jahren ist es noch nicht zu spät, in 10, 15 Jahren kann
der Mensch noch einiges auf die Beine stellen, besonders jetzt, da
es endlich nur noch auf dich ankommt. Es kommt jetzt nur noch auf
dich an, sagte Darius der Ältere mit Blick zu seinem Sohn. (Wieso
sagt er das jetzt zu mir?) Greta ihrerseits ging in Frührente. Ihr
tat ohnehin schon seit Jahren alles weh. Frauen bringen Kinder zur
Welt, machen das Haus und dann sollen sie noch bis sechzig etc. Das
sagte sie nicht jetzt, sondern früher häufiger, deswegen schenkten
ihr ihre Kinder auch ein Fußmassagegerät, in dem das Wasser
sprudelt, damit sie abends ihre müden Füße pflegen konnte, aber
darum geht es jetzt nicht.
Marlene war erst 12 und noch ein Kind, sie konnte
noch nicht so kreischen, wie sie es heute kann, nah am Wasser
gebaut war sie immer schon, aber damals liefen ihre Augen nur still
mit Tränen voll - ihr Bruder bemerkte es gar nicht. Er sagte seinen
Eltern, das sei ja schön, prima sei das, dass sie sich nicht der
Angststarre und der rückwärts gewandten Lethargie mancher Leute
ihres Alters hingeben, sondern etwas unternehmen wollen. Was wollen
sie denn konkret unternehmen?
Sie, als solches, wollen gar nichts
unternehmen, das war ja das eigentliche Thema.
Frank gesagt wollte Darius der Ältere den Rest
seines Lebens lieber alleine sein. Mein Leben lang war ich
gefesselt und geknebelt, mein Sohn. Jetzt ist Schluss damit.
Dieses »gefesselt und geknebelt« war zu viel für
Greta. - Hast du’s ihr etwa erzählt?! Du Dummkopf?! Jetzt hast du
den Schmutz, jetzt kannst du noch so viel erklären, dass er damit
vielleicht nicht nur Ehe und Familie gemeint haben könnte.
(In der Tat wollte Kopp aus aktuellem Anlass eigentlich über
die DDR mit seiner Mutter reden - dazu kam es nicht mehr.) -
Wir sind es, die die Kinder zur Welt bringen und uns
um sie kümmern! (Das sagtest du bereits …) Wenn hier jemand
gefesselt
und geknebelt war, dann ich! Als Frau hast du die Arschkarte, so
sieht es nämlich aus!
Hat sie wirklich Arschkarte gesagt? Kopp könnte es
nicht beschwören. (Beschwöre es ruhig.)
Nun behauptete sie, das Ganze sei vor allem
seine Idee gewesen. Aber auch ich wollte nicht mehr mit ihm
zusammenleben! Dann wieder sagte sie, diese Ehe sei zwar auch nicht
ihr größter Traum gewesen, aber sie habe durchaus vorgehabt, die
Sache durchzustehen und mit ihm zusammenzubleiben, bis zum Ende
ihrer Tage. Es anständig zu Ende bringen.
Wenn ich hundert Leben hätte, würde ich eins davon
vielleicht sogar den verquasten Prinzipien deiner Mutter opfern,
aber ich habe nun einmal nur ein einziges. Darius der Ältere hatte
das schon viele, viele Jahre früher begriffen. Es wurde höchste
Zeit, ich war dabei, mir ein Magengeschwür einzuhandeln.
Sie hoffte, er würde ohne sie verwahrlosen, mit
seiner »Wegelagerer-Firma« scheitern - Mit EU-Geldern Feldwege
asphaltieren -, aber nichts dergleichen: er blühte auf. Er tat
seine Arbeit, strich die fetten Förderungen dafür ein -
Dieser ABM-Betrüger! Kungelt mit
Lokalpolitikern.
Na und? Dafür sind die da.
Sie haben ihre Mitarbeiter unter Tarif
bezahlt.
Sie haben sie überhaupt bezahlt.
Trotzdem ist einer mal betrunken am Gartenzaun
stehen geblieben - es war nicht sein Gartenzaun, sondern der seines
Geschäftspartners - und hat die Grillparty zerbrüllt!
- trank so oft und so viel Bier, wie er wollte,
traf sich, mit wem er wollte, redete, was er wollte - Sie hatte ja
ständig Schiss, ich könnt’ was Falsches sagen. Noch nicht mal mit
meinen Kumpels durft’ ich reden. Halt, um Himmels willen, den Mund.
Wenn nicht deinetwegen, dann der Kinder wegen.
Und dann sagt sie noch, das wäre ein gutes Leben gewesen. Die
spinnt doch - und fuhr fünfmal im Jahr in irgendeinen Urlaub.
Respektive flog. - Das erste Mal bin ich mit 54 geflogen, mein
Junge. Da hab ich was verpasst gehabt!
Greta redete anfangs ebenfalls davon, zu reisen,
aber natürlich reiste sie nicht. Eine alleinstehende Frau in meinem
Alter! Erst war Marlene zu jung, um ihr dabei eine Stütze zu sein,
später hatte sie selber eine Familie.
Als Greta davon erfuhr, dass sich Darius der Ältere
eine Freundin zugelegt hatte, musste sie sich hinsetzen,
weil sie dachte, etwas verstanden zu haben. Er hat mich übers Ohr
gehauen, von Anfang an. Wenig später verließ ihn die Freundin,
Greta lachte auf. Als das Lachen vorbei war, fühlte sie einen
Schmerz in den Armen und Beinen. Als würde das Lachen dort
entweichen, wie Gift durch die Nieren, mit einem Schmerz. Aber der
Schmerz entwich nicht, er blieb. Nach einigen Fehlvermutungen (die
Nerven, die Gelenke) stellte man schließlich die Diagnose periphere
arterielle Verschlusskrankheit oder auch die Schaufensterkrankheit
oder auch das Raucherbein.
Ist das gerecht, mein Sohn, ist das gerecht?
Niemals geraucht und dann ein Raucherbein. Während anderen Leuten
alles in den Schoß fällt!
(Wem konkret? Und was? - Frag lieber
nicht.)
Nun, da es schon einmal so weit ist, rückgängig
machen können wir es nicht, aber wenn Sie auf regelmäßige Bewegung
…
Wo soll ich denn hingehen?
… und eine gesunde Ernährung achten …
Ich habe keine Wahl, ich muss essen, was ich zu
kochen gelernt habe: Fleisch und Kartoffeln.
Wichtig sind auch Ihre Blutfettwerte …
Ja, die sind miserabel.
… und der Blutdruck.
Hja.
Vergessen Sie nicht, Ihre Medikamente zu nehmen.
Diese Thrombozytenaggregationshemmer verhindern das Anlagern von
Blutplättchen und beugen Blutgerinnseln vor. Ab Stadium 2
(Belastungsschmerzen ab einer Entfernung von 200m, später von unter
200m) können zusätzlich zu einem Gehtraining
Phosphodiesterase-Hemmer (PDE) verabreicht werden. Diese verhindern
das Verklumpen von Blutplättchen. Ab Stadium 3 (Ruheschmerz,
besonders nachts) werden Prostanoide über die Vene verabreicht. Vor
einer Ballondehnung des verengten Oberschenkelgefäßes schreckte die
69jährige Patientin zurück.
Meine Schwester starb mit 69 bei einer
Operation.
Sie hatte Krebs. Man hat sie wieder
zugemacht.
Details.
Machst du wenigstens dein Gehtraining? Gehst du
jeden Tag mehrmals 75% der Strecke, die du schmerzfrei bewältigen
kannst, damit dein Körper angeregt wird, Umgehungskreisläufe zu
bilden?
Umgehungskreisläufe? (Winkt ab.)
Du gehst mir auf die Nerven, weißt du das?
So lange, bis eines Tages ein schwarzer Punkt auf
ihrem schmerzenden, rot angelaufenen kleinen Zeh erschien, als
Zeichen dafür, dass sie sich bereits in Stadium 4 befand, also
Gewebe abstarb. Die schwarze Verfärbung entsteht als Folge von
Hämoglobinabbau. Totes Blut. Die Bakterien verbreiten sich
schnell und infizieren die Umgebung. Es standen folgende
Alternativen zur Verfügung.
1. Invasiv: Großzügiges Entfernen des
nekrotischen Gewebes, anschließend ein Verband mit Hydrogel, die
Gabe von Antibiotika und die Beobachtung der Wunde. Wenn sich keine
Verbesserung einstellt, muss erneut Gewebe entfernt werden, so
lange, bis der Prozess der Verwesung gestoppt ist.
2. Nicht-invasiv: eine Madentherapie. Dabei
kommen die Maden der Goldfliegenart Lucilia sericata zum Einsatz.
Gemeinhin besser als Schmeißfliege bekannt, doch, wie überall,
macht auch hier der Ton die Musik, also sagen wir:
Goldfliege. Um es kurz zu machen, haben diese Maden die
Besonderheit, dass sie sich selektiv von abgestorbenem Gewebe
ernähren, sie vertilgen das nekrotische Gewebe und den
Bakterienbefall, intaktes Gewebe wird geschont, und die Enzyme, die
in den von den Maden permanent ausgeschiedenen Verdauungssäften
enthalten sind, regen sogar die Heilung an. Hier, auf dieser
Abbildung sehen Sie, was es für Ergebnisse geben kann. Sie sehen
das Perineum - das ist der Bereich zwischen Scrotum und Anus -
eines 70jährigen Patienten: zunächst von einem ausgedehnten roten
Geschwür bedeckt und drei Wochen später von zarter, neuer, rosa
Haut.
Die Ärztin und Kopp waren für die Maden, Marlene
wusste nicht, Greta war gegen alles.
Lieber sterbe ich!
Kommt nicht in Frage.
Das geht euch einen feuchten Dreck an, es ist mein
Leben!
Gut, dann stirbst du halt. Frau Doktor, meine
Mutter wünscht keine weiteren Behandlungen, sie wünscht zu sterben
… Siehst du, jetzt weinst du.
Freundlich und geduldig erklärte die Ärztin, die
eine aufgestellte Nasenspitze (Steckdose) und zu einer Banane
hochgesteckte blonde Haare hatte (Ich wusste gar nicht, dass mir
dieser Frauentyp auch gefällt …), erneut die Vorzüge der Behandlung
mit Maden.
Ich bin Ihnen unendlich dankbar. Wie Sie es
geschafft haben, das Vertrauen unserer Mutter zu gewinnen, die
ansonsten keine Frauen mag! Das sollten Sie nicht persönlich
nehmen, denn sie mag auch keine Männer, oder zumindest nicht sehr.
Später
wird sie Sie leider bis in alle Ewigkeit verfluchen, umsonst
versuche ich, meine Schwester und sogar deren Lebensgefährte, Sie
zu verteidigen, sie würdigt Sie keines Blickes mehr, sie wünscht,
dass Sie aus ihrem Zimmer verschwinden und anschließend zur Hölle
fahren, denn umsonst haben die Goldfliegenmaden fleißig an ihr
geweidet und haben um das Hundertfache zugenommen, umsonst stellten
sie nach getaner Arbeit die Nahrungsaufnahme ein und wurden gegen
neue, frisch geschlüpfte Goldfliegenmaden mit entsprechendem
Appetit ersetzt - es half nichts. Es musste schließlich doch
geschnitten werden, und zwar nicht nur der kleine Zeh, sondern auch
der daneben, der keinen Namen hat. Doch, man nennt ihn den vierten
Zeh.
Das war vor einem Jahr. Seitdem geht es rein ins
Krankenhaus, raus aus dem Krankenhaus, die Infusion fließt und
fließt.
Kopps Ehrgeiz, ein guter Sohn und Bruder zu sein,
ist vielleicht nicht so ausgeprägt wie auf anderen Gebieten, aber
durchaus vorhanden. Aber es ist nicht einfach, Flo. Ich weiß nicht
wie und wann, irgendwann unterwegs ist dieser Familie die
normale Sprechweise abhandengekommen. Meine Mutter hatte immer
schon dieses Dauerjammern, wie ein defekter Leierkasten, aber
Marlene war einmal ein nettes Kind gewesen. Bis sie 4 war, holte
ich sie mit dem Fahrrad aus dem Kindergarten ab, sie saß vorne im
Kindersitz und sang die ganze Zeit, grüßte alle mit Glockenstimme,
und die ganze Nachbarschaft mochte sie. Später verlor man sich
etwas aus den Augen, bei dem Altersunterschied, sie schrieb
rührende Briefchen auf rosa Papier, in der rechten oberen Ecke
schwebten violette Herzen, ich schrieb nur einmal zurück, ich
brauchte sechs Wochen und einen Tag für eine Seite, ich schwitzte
Blut und Wasser - Über ein Geschäftsessen. Es gab Rindercarpaccio,
Scampi in Weinsoße,
Chianti, Eis mit Feigen und grünem Pfeffer - dann war es auch
damit vorbei, und als sie mir das nächste Mal bewusst wurde, war
bei beiden nur noch Heulen und Zähneklappern da. Jedes Mal, als
würden sie eimerweise heiße Suppe über einen auskippen. Wusch! Als
wäre ich das belagernde Heer und sie die tapferen Verteidigerinnen.
Manchmal bekomme ich richtig Angst, wenn ich ihre Stimmen
höre.
Er hätte einen Rückruf vielleicht noch bis
morgen hinauszögern können, wir waren in einem Funkloch usw.,
aber wie ich mich kenne, werde ich auch das wieder verschwitzen,
und dann rufen sie am Montag im Büro an, als wäre ich ein Amt, dann
lieber gleich jetzt.
Also seufzte Darius Kopp dort oben auf dem Hügel,
in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne stehend, und wählte
die Nummer der Frau, die ihn geboren hatte.
Wen rufst du an? fragte Flora.
Er antwortete nicht.
(Das ist ganz schön uncharmant, weißt du das?
Aber du weißt doch, dass ich dich liebe, auch wenn
ich manchmal eine Antwort vergesse, oder nicht?)
Mutter, sagte er, ich bin’s. Womit Floras Frage
doch noch beantwortet worden ist.
(Das ist nicht dasselbe? Wieso nicht?)
Hansi? Bist du das?
Ja, natürlich. Wie viele Söhne außer mir hast du
noch?
Das ist eine gute Frage, mein Sohn, das ist eine
gute Frage.
Ignoriere das. Sei die Gelassenheit selbst, das
ist, wie du sehr gut weißt, deine Rolle in dieser Geschichte, einer
muss es ja machen, ja, lasst mich das Gebirge sein, an dem ihr
abregnet, bitte sehr, in diesem Sinne frage ich euch ruhig und mit
zärtlicher
Fürsorge in meiner Stimme, wie geht es dir, Mütterchen,
Schwesterherz, erzähl.
Wie soll’s mir schon gehen, mein Sohn? Ich habe
Schmerzen, kann kaum laufen und nichts heben und deine Schwester
redet mit mir wie ich nicht mit Nachbars Hund.
Was sagt sie denn?
Was ich sage? Dass ich auch noch ein eigenes Leben
habe, mit zwei Kindern und einer Ausbildung und einem Haushalt und
einem beschäftigungslosen - das ist sein Wort! -
ehemaligen Ringer von einem Lebensabschnittsgefährten - auch
das ist sein Wort und eines Tages erwürge ich ihn dafür! - der sehr
gerne den Einkauf für seine Schwiegermutter machen würde, hätte er
nur nicht vor 100 Jahren diesen Bandscheibenvorfall gehabt und wäre
er nicht immer schon so unendlich faul, also macht es die mit
Abstand Kräftigste in der ganzen Familie, Marlene, mit ihren 48
Kilo, sie bittet nur darum, es tun zu dürfen, wenn sie grad mal
Zeit hat, und dann vielleicht auch mal ein Danke zu hören und nicht
nur Kritik und Klagen oder Sätze wie: Niemand hat dich gezwungen,
mit 17 ein Kind zu bekommen, und wenn du dich so doll kümmerst,
wieso ist dann Merlin fett und maulfaul wie ein Kloß - Maulfaul
wie ein Kloß? Kopp kicherte. Wo sie recht hat, hat sie recht -
dafür ist Lore magersüchtig, raucht wie ein Schlot und hurt abends
vor dem Moritzkino herum. Wer darauf nicht zu brüllen anfängt, ob
die Mutter sie noch alle habe, der ist nicht normal. Wie kann sie
so was sagen?
Ich habe das überhaupt nicht gesagt. Ich hab das
nicht so gesagt.
Ich werde sie mal aufnehmen. Mit dem Handy geht
das. Ich werde sie aufnehmen und es ihr dann abspielen, damit sie
hört, wie sie redet. Es wird einfach immer schlimmer. Sie spricht
alles aus, was sie denkt, und das sind niemals Nettigkeiten.
Ich
dachte schon, sie bekommt Alzheimer, weil sie auch alles so salzt,
als gäb’s kein Morgen.
Was hat Salz mit Alzheimer zu tun?
Marlene habe gelesen, dass ein nachlassender
Geschmackssinn und zunehmende Garstigkeit frühe Zeichen für
Alzheimer sein können.
Kopp bat darum, ihn nicht so zu erschrecken.
Er könne sich abregen, Marlene habe die Ärztin dazu
gefragt, und weiß du, was sie gesagt hat? Guppys werden mit dem
Alter auch immer ruppiger.
Was? Guppys?
Ja, diese Fische.
Sie werden mit dem Alter immer ruppiger?
Angeblich.
Kopp konnte nicht anders, er musste lachen.
Eigentlich ist das nicht lustig …
Die Guppys werden immer ruppiger?
Nun lachten sie beide. Kopp länger als seine
Schwester, die irgendwann weitersprach: Im Grunde hat sie gesagt:
Erstens wird Ihre Mutter alt und zweitens ist sie einfach kein sehr
herzlicher Mensch.
Hier hatte auch Kopp aufgehört zu lachen.
Natürlich hat sie’s nicht so gesagt. Aber
man konnte es verstehen.
Sie behalten immer das Wechselgeld, mein Junge. Ich
wollte ja nichts sagen, aber das ist nicht korrekt. Korrekt wäre:
sie geben es mir wieder und ich gebe es dann ihnen wieder, fürs
Bringen. Aber sie geben es mir gar nicht. Und trotzdem habe ich
nichts gesagt, erst, als sie mir die Sachen - aber wortwörtlich -
vor die Füße gepfeffert haben, da hast du’s, das muss jetzt für
eine Woche reichen, ich hab nicht ständig Zeit, die paar Schritte
zur Kaufhalle kannst du echt mal selber laufen.
a) hatten wir es eilig, Merlin musste zum Fußball,
er ist total schlecht im Fußball, aber er liebt es und er soll ja
auch abnehmen, und b) kann sie wirklich die 100 Meter gehen,
sie will bloß nicht, und c) muss ich lernen, ich habe nächste Woche
Prüfungen, ich bin jetzt fast 31, das ist meine letzte Chance, aber
das interessiert ja keinen, sie vergisst sogar, was ich da lerne,
oder sie sagt es absichtlich falsch, sie sagt Masseuse, dabei ist
es Physiotherapie, Phy-si-o-the-ra-pie, herrgottnochmal.
Ist ja gut, schrei nicht so. Sie ist eine alte
Frau, sie hat Schmerzen, sie will, dass man sich um sie
kümmert.
Gut, dass du das erwähnst, Bruderherz.
Ja, ja, schon gut, ich werde mich kümmern. Ich
hatte viel um die Ohren in letzter Zeit, und jetzt ist, wie’s
aussieht, wieder was Neues im Anmarsch, wie es halt so ist.
Hm, sagte Marlene, die, sobald es nicht um sie
geht, kein Interesse mehr hat.
Hm, sagte Greta, die nicht so viel von diesen
Dingen versteht, sie will auch nichts davon verstehen, sie will am
besten gar nichts davon hören, vor allem will sie nichts von
Schwierigkeiten hören, und jede Veränderung ist für sie zugleich
eine Schwierigkeit, sie nimmt immer das Schlimmste an, malt Armeen
von Teufeln an die Wand, ich weiß das selbst, mein Sohn, so ist
meine Veranlagung, deswegen will ich ausschließlich Gutes
hören, dass es dir gut geht, dass ich mir wenigstens um dich keine
Sorgen machen muss, du bist dasjenige von meinen Kindern, um das
man sich keine Sorgen machen muss, und Sorgen wären das Einzige,
was ich mir machen könnte, helfen könnte ich nicht, wie sollte ich
denn helfen, ich weiß selber weder ein noch aus.
Natürlich fand dieses Telefonat nicht so statt,
sondern so, dass er erst die eine anrief, dann die andere, dann
wieder die eine
und schließlich wieder die andere. Währenddessen wartete Flora,
spazierte auf der Stelle, sah Pflanzen und Tieren und schließlich
den Sternen zu, wie einer nach dem anderen sich schlafen legte bzw.
herauskam. Immer zwischen zwei Telefonaten fluchte sich Kopp kurz
aus - … …! - sie sah zu ihm herüber, fragte aber nichts, es wäre
auch gar keine Zeit dafür gewesen, er rief schon wieder an.
Irgendwann hatte Flora genug. Sie spazierte so lange, bis sie in
sein Gesichtsfeld kam. - Das war gar nicht so einfach, Liebster. Du
hast dich immer dorthin gedreht, wo ich nicht war. - Sie musste
beim Herumgehen mehrfach die Richtung ändern, wie in einem Stück
Modern Dance. Sie zeigte ihm an, dass sie Durst hatte: hohle Hand,
die ein Glas hält, Mund, der sich öffnet, Kopf, der nach hinten
kippt, zeigte in die Richtung, in der sie wohnten, zeigte erneut
»trinken« an, und dann wieder nach vorne. Kopp nickte und zeigte 5
Finger: in 5 Minuten.
Nach Kopps Empfinden 10 Minuten, laut Flora eine
halbe Stunde später wiederholte sich dasselbe noch einmal, diesmal
von ihrer Seite um einiges ungeduldiger: Durst! Ich fahre jetzt!,
von seiner um Nachsicht bittend und resigniert: Gut, ich komme
hinterher, in 5 Minuten. Sie rollte den Hügel hinunter, ihr Rock
flatterte, sie verschwand im Wald.
Im Übrigen hatte es dann wirklich nur noch 5
Minuten gedauert. Wenn ich mich beeile, kann ich sie noch einholen.
Auch Kopp hatte jetzt großen Durst - abgekämpft, wie nach einer
Woche Messe, in den Ohren dröhnt es, die Augen brennen, der Mund
ist eine Wüste, bis hinunter in Speise- und Luftröhre, nicht
abwaschbarer Schweiß sitzt in allen Falten, aber besonders am Hals,
er klebt, die Hände kleben - also verlor er keine weitere Zeit
mehr, ließ den Blick nicht noch einmal über die Landschaft
schweifen - da, schau, ein kleines Flugzeug, das
über die Baumwipfel zieht, eine Zlin - sondern schwang sich
unverzüglich in den Sattel. Tatsächlich: schwang, als wäre
es ein Herrenfahrrad, aber es war keins, und so fing es gefährlich
zu schwanken an, gleich falle ich hin, aber er fiel nicht, er
rettete sich, beide Füße auf den Pedalen, und jetzt treten, sonst
fällst du noch wirklich. Er trat, das Fahrrad rollte los, den Hügel
hinunter. Beim Aufsetzen merkte er, dass ihm der Hintern wehtat.
Das berührte ihn unangenehm, er wurde gereizt davon, aber dann kam
das Rollen in Gange und er genoss es, wie es nicht anders möglich
ist.
Flora hatte Durst angezeigt, Durst, also
Ausflugslokal, also am Waldrand links. Das Rollen hatte sich
verbraucht, er trat wieder in die Pedale, auf flacher Strecke ging
es besser, eine Weile genoss er nun das: Kraftausübung,
Geschwindigkeit aufnehmen. Vorfreude auf das Ausflugslokal, auf
Schnitzel und Bier. Nachfreude darüber, dass er das
Familientelefonat also hinter sich gebracht hatte. Eine Woche habe
ich mindestens gewonnen. (Ist das nett von mir? Nein. Tut mir
leid.) Die Sonne war längst untergegangen, aber hier im Norden ist
die Dämmerung lang, selbst mit einem Fahrrad ohne Beleuchtung auf
dem Lande kann man noch weit kommen. Darius Kopp rollte zwischen
Feldern, querte nicht mehr benutzte Eisenbahnschienen, fuhr an
einem alten Genossenschaftsgelände und einem Friedhof vorbei, in
ein Dorf mit holprigem Pflaster, hielt unter Eichen, dort war das
Lokal.
Es saßen Menschen im Außenbereich, mehr Männer als
Frauen, Landbewohner, mittlere bis höhere Semester, Flora war nicht
dabei. War sie im Innenbereich? Nein. Auf der Damentoilette? Das
können wir legal nicht feststellen. Also ging Kopp wieder hinaus.
Ich warte lieber draußen. Lauer Abend unter Eichen, große
Bierkrüge. Das Fahrrad ohne Schloss im
Auge behalten. Die Leute sind unfassbar, sie klauen selbst rostige
alte Damenfahrräder.
Da fiel bei ihm endlich der Groschen. Floras
Fahrrad war nicht da. Also war sie ebenfalls nicht da.
Deswegen konnte ich sie nicht einholen. Sie war nicht meilenweit
und Stunden voraus, so lange habe ich nicht telefoniert!, es hat
schlicht und einfach ein Missverständnis gegeben, und sie ist gar
nicht hierher gefahren. Hast du sie am Waldrand etwa links abbiegen
gesehen? Nein. Sie ist im Wald verschwunden. Idiot. Durst,
also Ausflugslokal. Wie kommst du darauf? Nur, weil du Lust
auf Schnitzel und Biere hast? Es für dich so ausgemacht hast, dass
du nach so viel körperlicher Anstrengung in der oh, so holden
Natur, Schnitzel und Biere verdient hättest? Jetzt stehst du da,
mit dem blanken Arsch. Natürlich nicht wörtlich, sondern nur ohne
Geld. Das Portemonnaie liegt bei Gaby auf dem Küchentisch, und
umsonst ist bekanntlich nicht der Tod.
Kopp fluchte gotteslästerlich (aber leise, wir
wollen nicht unnötig Aufsehen erregen) und fuhr wieder los.
Auch im Norden hat die Dämmerung einmal ein Ende,
mittlerweile konnte er die Dunkelheit mit freiem Auge anwachsen
sehen. Das Hellste jetzt: der weiße Müllersand am Rand des groben
Asphaltwegs, und teilweise darauf. Strand, dachte Kopp, Strand und
Sand. Als es später wieder ein wenig hügelan ging, dachte Kopp:
Berge. Fuhr durch die ländliche Nacht zu seinem für diese Nacht
geliehenen Zuhause und dachte, um sich vom frustrierenden
Hier-und-Jetzt abzulenken, über fremde Landschaften nach. Land und
Leute, Bill und die Brüder Bedrossian, Hühnerfleischsandwichs (der
Hunger!) und frisch gepressten Orangensaft und über Geld in einem
Karton - Ich muss Juri noch davon erzählen! - Juri, die letzten
vier Wochen, die Bar, Flora, der Einarmige, Ulysses, Melania, das
Trampolin, die Beachvolleyball-Meisterschaft, wieder Juri,
Juri ist bis Sonntagabend in Amsterdam, ich war schon mal in
Amsterdam, aber ich habe kein Bild mehr davon, wollen wir mal nach
Amsterdam, Flora? Flora, Marlene, Mutter, Vater, ihn müsste man
auch mal anrufen, wann habe ich das letzte Mal mit ihm gesprochen,
wann habe ich das letzte Mal mit Bill und wann mit Anthony
gesprochen, Anthony, Stephanie, Sandra, die anderen Kollegen, die
Landschaft um Sunnyvale in sunny California, Pinien und Lupinen auf
den Hängen, Platanen in der Straße, in der die Firma sitzt, und
wieder essen, einmal Surf’n turf und ein großes Bier bitte.
So lange, bis er auf einen mit alten
Betonbahnschwellen ausgelegten Weg kam. Er dachte noch: Arbeit für
meinen Alten, wenn er noch Feldwege asphaltieren würde, wieso
asphaltiert er eigentlich keine Feldwege mehr, dann erst wurde ihm
klar, dass er über so einen Weg, über solche Bahnschwellen hier
noch nie gefahren war, weder heute noch zu früheren Gelegenheiten,
niemals, dass er sich also verfahren hatte. Wo, wann, wie war das
passiert? Ich weiß es nicht. Er meinte, alles ganz genau so - das
heißt: genau andersherum - gemacht zu haben, wie auf dem Herweg.
Und trotzdem war er jetzt hier, und nicht dort, wo er sein sollte:
am Fuße des Hügels, am Rande des Walds. Das ist schon längst
im Wald. Wie dunkel es doch eigentlich auf der Erde ist.
Hast du Angst? Ja, aber nur konkret. Ich möchte meine Vorderzähne
nicht verlieren.
Er hielt an, nahm das Handy. Mein kleines,
viereckiges, bläuliches Licht in der Dunkelheit. Das, und nicht
mehr. Kein Netz. Eine Mücke landete auf Darius Kopps Handgelenk
unterhalb der Tastatur. Er schlug zu. Er verpasste sie.
Mistvieh!
Preisfrage: fährt man in so einem Fall weiter, in
der Hoffnung, dass man wieder irgendwo hinkommt, wo man sich
auskennt, oder fährt man zurück, bis man wieder irgendwo hinkommt,
wo man sich auskennt? Normalerweise hätte sich
Darius Kopp für die erste Variante entschieden (Wenn ich etwas
nicht leiden kann, dann zurückzugehen …), aber das Fahren
auf den Bahnschwellen war unmöglich, also drehte er um und fuhr zur
letzten Kreuzung zurück. Das machte ihn nicht schlauer, er war sich
nicht einmal mehr sicher, auf welchem dieser Wege er gekommen war,
er schämte sich vor sich selbst, ich kann doch nicht so ein Trottel
sein, Männer sind Jäger, sie können sich orientieren. Fluch.
Schließlich nahm er einfach irgendeinen der Wege, das heißt den,
der am Waldrand entlangführte.
Zumindest eine Weile, dann führte auch dieser Weg
wieder in den Wald hinein. Kopp fluchte, wendete diesmal aber
nicht, sondern fuhr einige Minuten in wachsender Verzweiflung und
Wut einfach in sein Verderben, und dachte dabei auch nichts anderes
mehr als: ich fahre mit wachsender Verzweiflung und Wut in mein
Verderben. Was, wenn ich die ganze Nacht hier herumirre? Was, wenn
Flora, auf der Suche nach mir, die ganze Nacht hier herumirrt? Beim
Gedanken daran hielt er wieder an. Stand auf dem Waldweg, zwei
weiße Streifen waren davon zu sehen, mehr als gar nichts. Stand
eine Weile nur da und horchte. Etwas raschelte. Flora? Aber er
traute sich nicht, nach ihr zu rufen, denn im Augenblick darauf
dachte er schon: Wildschweine. Mannsgroße, wütende Wildschweine in
Verteidigung ihrer Brut und ihres Territoriums.
Aber es war ein Reh, das nach einer ewigen (in
Wahrheit: kurzen) Weile Ratlosigkeit und zunehmenden Herzklopfens
auf den Weg spaziert kam. Kam auf den Weg spaziert, blieb stehen
und starrte Darius Kopp aus zu Tode erschrockenen leuchtenden Augen
an.
Standen beide mit klopfendem Herzen da: Kopp und
das Reh.
Ein Reh, nur ein Reh. Rühr dich nicht.
Er rührte sich nicht.
(Geh weg!)
Aber es ging nicht weg.
Bis Kopp schließlich dahinterkam, was die Lösung
war. (Rühr dich.) Er rührte sich, drehte den Kopf zur Seite. Als er
ihn wieder zurückdrehte, war das Reh verschwunden.
Kopp fuhr weiter - versuchte, dabei leiser
zu sein - und kam kurze Zeit später an eine Kreuzung. An der
Kreuzung gab es, gesegnete Zivilisation!, einen Wegweiser, der ihm
anzeigte, dass er nach rechts musste. Er fuhr nach rechts. Es kam
ihm noch der Gedanke, was, wenn einer, eine Gruppe
Dorfjugendlicher, zwei besoffene Waldhüter, ein zu Scherzen
aufgelegter einsamer Wanderer den ganzen Wegweiser verdreht
hatte, aber da sah er schon die erste von insgesamt drei
Straßenlaternen der Siedlung aufleuchten.
So eine blöde Scheiße!
Was ist passiert?
Wie konntest du mich nur dalassen?
Was ist passiert?
Ich habe telefoniert, dann bin ich zum Biergarten
gefahren, weil ich dachte, du hättest gesagt, dass du dorthin
fährst.
Wann fahre ich je zum Biergarten?
Ich dachte, du warst durstig.
Ja, und deswegen fuhr sie nach Hause, was
wesentlich näher war, und trank Wasser aus dem Hahn.
Elende Scheiße! Und dann hab ich mich
verirrt.
Du hast dich verirrt?
Ja, klassisch, im Wald! Ich hab alles so gemacht,
wie auf der Hinfahrt, trotzdem. Ich wäre fast mit einem Reh
kollidiert.
Du wärst fast mit einem Reh kollidiert?
Sie sagt, das täte ihr leid, aber sie lacht
dabei.
Lach nicht!
Ich lache nicht.
Der ganze Wald klebt an mir, ich weiß gar nicht
mehr, wo ich mich zuerst kratzen soll, wenn ich mich in der
Ellenbeuge kratze, fängt die Kniekehle an und der Hals, mein
Hintern tut weh, mein Sack ist eingeschlafen, weißt du, wie
unangenehm das ist?
Woher sollte ich das wissen, mein einziger
Schatz?
Sie lachte, streichelte sein Gesicht.
Er sagte, er habe großen Durst und auch Hunger.
Mein Dom ist schon ganz schlaff, schau. Haben wir noch was zu essen
da?
Schlug sich auf die Stirn, dass es nur so
klatschte: Ich wollte doch grillen!
Ihrer Meinung nach war es dafür schon zu
spät.
Papperlapapp! Er fing zu hantieren an, Holzkohle
etc., und gegen Mitternacht biss er dann tatsächlich in ein Stück
Rippe. Er zeigte sie dem in voller Blüte stehenden Mond: Siehst du
das? Siehst du das? Er fuchtelte triumphierend mit dem halb
abgenagten Knochen, sein Kinn war voller Fett. Siehst du das?
Und sie lachten noch ein letztes Mal.