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»Wer ist auf die bescheuerte Idee gekommen, durch diesen Sumpf zu waten?«, schnaufte Grashoff, nachdem sie kaum fünfzig Meter zurückgelegt hatten. »Warum sind wir nicht wenigstens bis zum Hoftor gefahren? Wahrscheinlich würden die uns überhaupt nicht bemerken.«
Edgar wünschte sich nichts sehnlicher als einen Knebel, den er Sunny zwischen die Zähne schieben konnte. Hatte dieses Weichei tatsächlich einmal Tiermedizin studiert? Musste man in diesem Beruf nicht eine ganze Menge Unbequemlichkeiten und Dreck in Kauf nehmen? Am meisten ärgert sich Edgar allerdings darüber, dass der Mistkerl womöglich recht hatte. Es erwies sich nämlich zunehmend als dämliche Entscheidung, sich dem Hof von hinten über Stock und Stein zu nähern. Einige Schritte lang war er so in zornige Gedanken versunken, dass er nicht darauf achtete, wohin er trat. Und plötzlich bis zu den Waden im Schlamm steckte.
»Was für eine Scheiße!«, fluchte er, als das Brackwasser die Innenseite seiner Schnürboots hinunterlief und die Socken durchtränkte.
»Probleme?« Offenbar war Grashoff außerstande, sich einen bissigen Kommentar zu verkneifen.
»Halten Sie die Klappe«, mischte sich Frey ein, der die Spitze der traurigen Gruppe bildete. »Am besten gehen Sie zurück und warten im Wagen, bis das alles hier vorbei ist.«
»Auf gar keinen Fall!«, fuhr Edgar dazwischen. »Wir können auf niemanden verzichten. Und deshalb wird sich auch jeder von uns klarmachen, dass wir verdammt noch mal nicht aus Zucker sind!« Nur einen Schritt später bereute er seine Ansprache. Zwar wartete hinter dem dornigen Gestrüpp, das sie gerade bezwungen hatten, ein ebenes Stück Viehweide. Allerdings wurde diese durch einen Entwässerungsgraben begrenzt, der zu einem imposanten Kanal angeschwollen war.
»Ups, ich fürchte, wir haben das Schlauchboot vergessen«, sagte Grashoff. Niemand verbot ihm den Mund.
»Was soll´s«, entschied Edgar. Er war ohnehin bis auf die Knochen durchnässt.
Kurz entschlossen wagte er einen Schritt vorwärts und stand augenblicklich bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Wütend kämpfte er sich etwa eineinhalb Meter durch den Graben und kroch auf der gegenüberliegenden Seite die durchweichte Grasnarbe hinauf. »Was ist? Hat etwa jemand eine bessere Idee?« Eine nicht gerade motivierende Aufforderung, aber die B-Note war ohnehin nicht mehr zu retten. Er stapfte voran, ohne sich noch einmal umzusehen. Mit einer Mischung aus Verblüffung und Erleichterung stellte er alsbald fest, dass die anderen drei seinem Beispiel tatsächlich gefolgt waren. Mit hohlen Gesichtern und schlotternden Gliedern erreichten sie schließlich die Rückseite einer Scheue, die in einem günstigen Winkel zum Wohnhaus stand. Von hier aus konnte Edgar relativ gefahrlos beobachten, ob sich noch weitere Personen zu einem Spontanbesuch auf dem Haarmann-Hof entschlossen hatten. Abgesehen von dem roten Toyota, der nur wenige Meter von der Haustür entfernt parkte, gab es jedoch nichts, das die geisterhafte Stimmung durchbrach.
»Ist das der Wagen seiner Schwester?«, fragte er.
»Ja, zweifellos«, bestätigte Frey und schickte sich an, das dürftige Versteck zu verlassen.
Edgar bekam ihn am Kragen zu fassen und zog ihn so unsanft zurück, dass er mit dem Rücken gegen die Ziegelmauer krachte. »Sind Sie wahnsinnig?!«
»Wie lange wollen Sie denn noch hinter dieser Ecke kauern? Glauben Sie, die Geschwister veranstalten da drinnen einen fröhlichen Kaffeeklatsch?«, keuchte Frey und rieb sich die Schulter.
»Nein, diese Alina geht gerade erst ins Haus«, sagte Edgar. Die Frau im weißen Regenmantel war wie ein Geist auf den flachen Stufen vor dem Eingang erschienen und entschwand ebenso rasch ins Innere. »Jetzt sollten wir gehen, und zwar schnell.« Auf der Zunge lagen ihm noch etliche Ermahnungen, keinen Lärm zu veranstalten und nach Möglichkeit Deckung zu suchen. Doch von nun an musste er sich einfach darauf verlassen, dass jeder von ihnen über genügend eigene Hirnleistung verfügte. Davon abgesehen waren sie alle dermaßen schlammverdreckt, dass sie förmlich mit der Umgebung verschmelzen mussten.
Auf diese Weise erreichten sie unbehelligt das Vordach. Ein letztes Mal mahnte Edgar mit einer Geste zur Vorsicht und drückte so geräuschlos wie möglich die Türklinke herunter. Sie drängten sich in den Flur, der abgesehen von einer mit Arbeits- und Regenkleidung vollgestopften Garderobe vollkommen leer war. Die einzigen Laute stammten von ihrem eigenen, schweren Keuchen.
»Wie gut kennen Sie sich hier drinnen aus?«, wandte sich Edgar im Flüsterton an Jacob Frey.
»Na ja, Alina hat mir eine Menge Geschichten über dieses Haus erzählt. Von daher …«, er zuckte mit den Schultern.
Edgar unterdrückte ein Stöhnen. »Sie bleiben dicht hinter mir«, befahl er. Dann zog er seine Pistole aus dem Halfter und vergewisserte sich, dass Esther dasselbe tat. Die verdreckten Profilsohlen verursachten auf den rissigen Bodenfliesen ein erbärmliches Quietschen, als sich der kleine Trupp erneut in Bewegung setzte.
»Dort drüben müsste die Küche liegen«, raunte ihm Frey ins Ohr und deutete auf eine schäbige, alte Holztür, von der die weiße Farbe abblätterte. »Ein guter Ort, um mit der Suche nach Alina zu beginnen.«
Eine kleine Pfütze deutete darauf hin, dass erst vor Kurzem jemand hier gewesen war, der sich zuvor im Freien aufgehalten hatte. Was auf die Frau im weißen Regenmantel definitiv zutraf. Den Pistolenlauf voran stieß Edgar die Küchentür auf und trat über die Schwelle. Die Waffenmündung folgte exakt seinem Blick, der die Umgebung akribisch vermaß. Schließlich wagte er sich weiter in den Raum hinein. Plötzlich gewahrte er aus dem Augenwinkel eine fahle Gestalt, die hinter dem Fenster vorbeihuschte.
»Gibt es hier einen zweiten Ausgang?«, raunte er.
Einen Herzschlag später glaubte Edgar, auf eine Sinnestäuschung hereingefallen zu sein. Nur Freys Gesicht, das sich dem Farbton von Tafelkreide näherte, bewies, dass er ebenfalls etwas gesehen hatte. Edgar war also gewarnt. Und vermasselte es trotzdem.
Jacob Frey machte auf dem Absatz kehrt und stürmte zur Küchentür in den Flur hinaus, bevor die anderen auch nur begriffen, was geschah.
In Edgars Kehle formierte sich noch der zornige Aufschrei, als er eine weibliche Stimme hörte, die vom Flur zu ihnen hereindrang. Instinktiv hielten auch Grashoff und Esther den Atem an und drückten sich neben den Türpfosten an die Wand. Edgar selbst ging zwischen Küchenbank und Anrichte in die Hocke und hoffte, vom Schatten verschluckt zu werden.
»Ich wusste, du würdest herkommen«, sagte Alina. In ihrer Hand blitzte eine breite Klinge, die sie hinterrücks an Freys Kehle presste. »Leider stehe ich nicht auf deine kleinen Fesselspielchen. Jetzt endet also alles hier, wo es vor vierzig Jahren begonnen hat. Das Schicksal hat einen eigentümlichen Sinn für Humor, findest du nicht?«
»Ich wüsste nicht, was ich mit den Machenschaften deiner gestörte Familie zu tun habe«, entgegnete Frey bemerkenswert ruhig. »Aber nach Lachen ist mir trotzdem nicht zumute.«
Okay, Sportsfreund, du kennst diese Madame weitaus besser, als du zugeben wolltest. Dir hätte also verdammt noch mal klar sein müssen, dass du ihr buchstäblich ins Messer läufst. Im selben Moment begriff Edgar, dass Frey genau das von Anfang an geplant hatte. Dafür, dass Leichtsinn nicht gerade zu seinen Stärken zählte, schien sein Vorhaben geradezu irrsinnig. Doch im Moment sah Edgar keinen Grund, ihn daran zu hindern, den Helden zu mimen.
Frey hatte es irgendwie geschafft, sich in eine Position zu bringen, in der er Edgar geradewegs ins Gesicht schauen konnte, ohne dass Alina etwas davon mitbekam. Ihre Blicke trafen sich gerade lange genug, um sich wortlos auf zwei Dinge zu verständigen. Erstens: Frey würde so lange keinen Versuch unternehmen, Alina zu überwältigen, bis sie ihn – und damit auch Edgar – zu Jan Haarmann und Marja Storm geführt hatte. Zweitens: Wenn es die Umstände erfordern sollten – und davon durfte er getrost ausgehen – , würde er seinen Arsch allein retten müssen.
»Du warst es doch, der sich ungebeten eingemischt hat«, sagte Alina; in ihrem Tonfall schwang leichtes Bedauern mit. »Aber du hast deine Rolle verdammt gut gespielt. Für eine Weile war ich wirklich überzeugt, dass du etwas für mich empfindest. Dabei wolltest du nichts weiter von mir als die Lebensgeschichte eines Serienkillers. Eine Story, die dich endlich über Nacht berühmt macht.«
»Meine Gefühle für dich sind echt. Ich liebe dich, Alina.«
»Nein, tust du nicht. Du liebst das Fantasiebild eines unnahbaren, empfindsamen, unschuldigen jungen Mädchens, das keine Ahnung von den Grausamkeiten des Lebens hat. Mit diesen Idealen hat die reale Alina absolut nichts gemeinsam, egal wie sehr du es dir auch wünschen magst.«
»Was, wenn du dich irrst? Wenn du dein wahres Ich in genau diesem Moment zu Grabe trägst, um deinem kranken Bruder dabei zu helfen, eine Frau brutal zu ermorden?«
Sie stieß ein so herablassendes Lachen aus, dass Edgars Sorge um den Journalisten unbekannte Dimensionen erklomm. »Ach Jacob, du bist wirklich süß, weißt du das?«, höhnte sie weiter. »Aber wer sagt, dass Jan meine Hilfe überhaupt noch braucht? Er ist ein großer Junge und kriegt das bestimmt auch allein hin. Wollen wir nachsehen?« Sie stieß ihn so abrupt vorwärts, dass ihr Messer genau dort, wo sich die Halsschlagader befinden musste, einen blutigen Schnitt hinterließ. »Bitte entschuldige«, sagte sie, »das wollte ich nicht. Ich möchte meinem Bruder doch nicht den Spaß verderben.«
Frey schnaufte verächtlich, sparte sich jedoch eine Entgegnung. Mit einem stolpernden Schritt verschwand er aus Edgars Sichtfeld.
Kurz darauf hörte Edgar die Haustür in den Angeln schnarren. Fast lautlos schoss er aus seiner dunklen Ecke hervor, bedachte Esther mit einem beschwörenden Blick, wohl wissend, dass sie die Situation vollkommen verstand.
»Sie bleiben einfach hinter uns, weichen keinen Schritt zur Seite und vor allem: halten Sie die Klappe, verstanden?«, zischte er Grashoff ins Ohr. Ohne eine Reaktion abzuwarten, rannte Edgar den Flur entlang und zur Haustür hinaus. Die beiden Gestalten vor ihm wurden schon fast von dem dichten Regenvorhang verschluckt. Nur Alinas weißer Mantel schimmerte matt im grauen Zwielicht und erlaubte es ihm, genügend Abstand zu halten. Sollte sich die Frau aus einem dummen Zufall umdrehen, würde sie ihre Verfolger nicht bemerken. Jedenfalls nicht sofort.
Innerhalb kürzester Zeit war Edgar klar, dass sie ohne Freys Wagemut so gut wie chancenlos auf diesem Hof umhergeirrt wären. Bei leichtem Regen hätten sich vielleicht noch Fußabdrücke oder Trampelpfade ausfindig machen lassen. Doch die Sintflut verwischte selbst die letzten Spuren.
Die weiße Frau ließ Jacob Frey vor der weit offenen Tür eines flachen Ziegelstein-Gebäudes innehalten.
»Schätze, wir sind da«, hauchte Esther Edgar in den Nacken, »aber wir können nichts tun, solange wir nicht mitbekommen, was da drinnen vorgeht.«
»Siehst du den alten Traktorenanhänger dort drüben? Auf drei!«, flüsterte Edgar zurück, zählte den Countdown herunter und rannte los. Normalerweise hätte er einen weitaus größeren Bogen geschlagen, um ein Ziel zu erreichen, das kaum drei Meter hinter dem Rücken einer bewaffneten Irren lag. Mittlerweile hatte er jedoch so viele Fehler begangen und überstanden, dass es noch einmal gut gehen musste. Es gelang. Kurz darauf duckten sich auch Esther und Grashoff hinter der Ladefläche, ohne dass Alina etwas bemerkte. Offenbar war sie zu sehr damit beschäftigt, die Aufmerksamkeit ihres Bruders zu erlangen, der ihr den Rücken zukehrte. Zwar war der Raum, in dem er sich befand, von fleckigen Neonröhren erhellt, doch seine massige Gestalt verdeckte fast gänzlich, mit was auch immer er so intensiv beschäftigt war. Somit benötigte Edgar einige Sekunden, um drei Katastrophen gleichzeitig wahrzunehmen. Zum einen erinnerte ihn das Interieur stark an einen Ort, den er erst vor Kurzem verlassen hatte: das Schlachthaus. Allerdings war von den Kindern dort drinnen nichts zu sehen. Dafür war an zwei der Ketten, die von der Decke baumelten,
… daran fixiert man je ein Hinterbein, um die Tiere auszuweiden, also die Gedärme und Innereien …
jeweils ein menschlicher Fußknöchel gefesselt. Sowohl die dazugehörigen Füße als auch das kurze Stück des Schienbeins, das Edgar erkennen konnte, wirkten unversehrt. Auch wenn er unmöglich sagen konnte, ob die misshandelte Frau noch am Leben war, schöpfte er neue Hoffnung.
Ein Gefühl, das Matthias Grashoff keineswegs mit ihm teilte. »Sie sind nicht dort! Er hat die Mädchen überhaupt nicht!«, schrie er mit nur mühsam gedrosselter Stimme.
Es grenzte an ein Wunder, dass er sich mit dieser Dummheit nicht augenblicklich in den Fokus der Geschwister katapultierte. Doch das Glück blieb ihnen hold. Instinktiv bereitete sich Edgar darauf vor, dass es das unwiderruflich letzte Mal gut gegangen war. Rein prophylaktisch griff er zu dem einzigen Mittel, das eine vorzeitige Katastrophe noch verhindern konnte: Mit geballter Faust verpasste er Grashoff einen Schlag gegen die Schläfe. Es verschaffte ihm eine bedenkliche Befriedigung, als Sunnyboy wie ein Mehlsack zu Boden fiel. Esther kräuselte die Stirn und unterdrückte ein zustimmendes Lächeln.
»Okay, vergessen wir erst einmal die Kinder und holen die Storm da raus«, flüstere sie. »Ich übernehme die Frau und du den Schlachter. Auf drei!«
Beide rannten sie gleichzeitig, ohne dass einer von ihnen auch nur bis eins gezählt hätte.
Aus dem Augenwinkel sah Edgar, wie sie noch vor dem Eingang zum Schlachthaus Alinas Handgelenk packte und mit ihr um das Messer rang. Irgendein Ellenbogen erwischte Frey unter dem Kinn und ließ ihn gegen die Backsteinmauer taumeln. Jedenfalls vermutete Edgar, dass es sich in etwa so abspielte, denn er selbst musste weiter, ins Innere der Hölle, um Jan Haarmann zu erreichen, der durch den plötzlichen Tumult längst alarmiert war. Und dem somit ausreichten Zeit blieb, Marja zu töten. Falls er es nicht längst getan hatte.
Während Edgar die vier oder fünf Schritte bis zu seinem Ziel sprintete, konnte er nur bruchstückhaft erkennen, dass die Frau, die kopfüber an Ketten gefesselt von der Decke hing, so gut wie nackt war. Es mutete absurd an, dass der Killer genügend Anstand besaß, seinem Opfer Slip und BH zu lassen; das T-Shirt war ihren Oberkörper herabgerutscht und verdeckte das Gesicht weitgehend. Dafür entblößte es tiefe, blutenden Schnittwunden, die den weißen Leib überzogen. In diesem Augenblick durfte er sich jedoch weder durch Wut noch durch Angst oder Mitleid ablenken lassen. Wie ein ausgehungerter Wolf fokussierte er all seine Sinne auf seinen Gegner, um ihm die Beute mit einem einzigen Hieb zu entreißen.
Aber Jan Haarmann war selbst ein Raubtier, das sich nicht von dilettantischen Angriffen eines Schwächeren beeindrucken ließ. Er wartete. Und passte die perfekte Millisekunde ab, um sich mit dem blitzenden Messer in der Hand umzudrehen. Und es Edgar in den Bauch zu rammen.
Edgar vermochte später niemals zu sagen, welcher Instinkt ihn ermahnt hatte, beiseitezuspringen. Er tat es. Nur einen unfassbar kurzen Moment zu spät. Die Klinge durchdrang mühelos seine Lodenjacke, das Tweedjackett und schnitt tief in die Haut links unterhalb seiner Rippen. Er spürte, wie das Blut in heißen Strömen seine Flanke bis zum Gürtel hinablief und sich seinen weiteren Weg suchte. Der einzige Segen war das Adrenalin, das seinen gesamten Organismus beherrschte und ihn keinen Schmerz spüren ließ. Vorerst.
Trotzdem erreichte Haarmann, was er beabsichtigt hatte: Sein Gegner war lange genug beeinträchtig, um nun mit einem gezielten Stich ins Herz vollends ausgeschaltet zu werden.
Am Ende war es Marja Storm, die Edgar das Leben rettete. Wie eine Turnerin richtete sie ihren Oberkörper ein klein wenig auf und holte Schwung, um mit beiden Händen nach dem Ärmel von Haarmanns Holzfällerhemd zu greifen und sich darin ein oder zwei Sekunden lang festzukrallen. Ihre Kräfte schwanden bereits, als ein Schuss krachte. In einem gnadenlosen Echo hallte er von den gekachelten Wänden wider und drohte, mehrere Trommelfelle zu zerfetzen. Ein sehr geringer Preis, um Jan Haarmann, den Menschenschlachter, niedergestreckt und bewegungslos am Boden zu sehen.
Edgars aufflackernde Erleichterung erstickte im Keim, als er sich zu der Schützin umdrehte, die wie ein Geist im Rahmen der offenen Tür stand. Unmittelbar hinter Esthers Rücken gewahrte er eine schwarze Silhouette, die gleich darauf eine ebenso bizarre wie unverkennbare Gestalt annahm.
»Der Hund!«, versuchte er zu schreien. Doch seine Stimme überschlug sich zu einem unartikulierten Gurgeln. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als das Mistvieh seine Pranken in Esthers Schulterblätter krachen ließ und sie zu Boden warf. Sofort war die Bestie über ihr, um ihre Zähne in Esthers weißen Hals zu schlagen. In jenem Moment war Edgar davon überzeugt, dass er viel zu spät abgedrückt hatte. Er spürte noch den Rückstoß der Pistole in seinem Handgelenk und fragte sich, warum eine Kugel so unendlich lange brauchte, um einen verfluchten Köter zu treffen.
In albtraumhafter Zeitlupe stolperte er Esther entgegen, die unter dem Körper der toten Dogge fast vollständig begraben lag. Ihre grünen Augen standen weit offen. Er beugte sich über sie, um zu ergründen, ob sie noch atmete. Bevor er es herausfinden konnte, spürte er, wie sich etwas Kaltes, Spitzes und ziemlich Scharfes in seinen Nacken bohrte. Alina. Esther hatte sie aus ihrer Gewalt lassen müssen, um den Bruder zu erschießen und Edgar zu retten. Also wo zum Teufel steckte Frey? Dies wäre die perfekte Gelegenheit, um seinen Heldenstatus ein für alle Mal in Stein zu meißeln. Sofern er noch am Leben war.
»Versprechen Sie mir, dass ihr nichts geschieht«, hörte er plötzlich die zitternde Stimme des Journalisten.
Jacob Frey hatte sich die Pistole geschnappt, die Esther beim Angriff des Hundes aus den Händen gefallen sein musste. Jetzt richtete er sie auf Edgar und spannte den Hahn.
»Was ist? Wollen Sie mich erschießen, bevor Ihre Freundin mir das Rückenmark durchsticht?« Edgar fühlte sich keineswegs in der Stimmung für einen sarkastischen Schlagabtausch. Nur stellte er sich diese Frage im Moment tatsächlich. Absolut nichts an dieser absurden Situation ergab irgendeinen kranken Sinn.
»Ja, schon möglich. Aber vor allem will ich von Ihnen die Garantie, dass man Alina nicht ins Gefängnis steckt.«
»Haben Sie ein Laptop dabei? Oder reicht es, wenn ich den Freibrief mit dem Finger in den Dreck schreibe?« Edgar rang nach Sauerstoff, um seine überforderten Gehirnzellen auf Trab zu bringen. In diesem Moment streifte Freys Blick den seinen. Und endlich begriff er.
»Sie können einen Stock nehmen, wenn Sie wollen. Aber lesen Sie jedes Wort, das Sie schreiben, laut vor, damit wir es beide von Ihnen persönlich hören, Herr Hauptkommissar.«
Edgar gab vor, dem Befehl nachzukommen. Er schaffte es, sich einige Handbreit nach vorn zu beugen, ohne dass Alinas Messer seinem Nacken folgte. Frey feuerte einen Schuss ab. Edgar konnte den Lufthauch der Kugel spüren, die über seinen Kopf hinwegfegte, während er sich bäuchlings zu Boden fallen ließ. Blind für das, was hinter seinem Rücken geschehen war, richtete er sich auf und blinzelte den Dreck aus seinen Augen. Frey stand mit leicht gespreizten Beinen vor ihm, die Pistole zu Boden gerichtet, das Gesicht war das eines Toten. Trotz des Regens konnte Edgar sehen, dass der Mann regungslos weinte. Es war vorbei. Fast.
»Frey? Können Sie Marja da herunterholen?«, versuchte er zu ihm durchzudringen.
Doch der schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das übernimmt schon der andere.«
Nur sehr langsam begriff Edgar, wen er damit meinte. »Grashoff? Nein! Bitte, Frey, lassen Sie es ihn nicht allein tun!« Hätte er sich in zwei Hälften zerreißen können, wäre er längst zur Stelle, um Marja eigenhändig von den Ketten zu befreien. Aber bevor er nicht wusste, wie es um Esther stand… Warum hatte er verflucht noch mal keine Verstärkung angefordert?
Somit konnten die heulenden Sirenen, die sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit näherten, bestenfalls in seiner Fantasie existieren. Vielleicht hatte es auch einen Unfall auf der Landstraße gegeben, weil irgendein BMW-Fahrer in die überfluteten Spurrillen gerast war. Oder …
»Scheiße, die kommen direkt auf uns zu!« Der Ausruf kam von Frey und klang so hoffnungsvoll, dass Edgar für einen kurzen Moment einfach nur die Augen schloss. Und gleich darauf wieder aufschlug.
Nein, weder Traum noch Halluzination. Zwei Streifenwagen gefolgt von einer Limousine und einem Rettungsfahrzeug preschten die Hofeinfahrt entlang. Und erlaubten es ihm, sich endlich um Esther zu kümmern.
Aus einer klaffenden Halswunde floss Blut. Viel zu viel Blut. Aber sie blinzelte. Und griff nach seiner Hand, als wollte sie ihn um Verzeihung bitten.
»Warst du das? Hast du unsere Kollegen zur Hilfe gerufen?«, begriff er langsam, aber sicher.
Ihre Lippen zuckten. Doch er schüttelte den Kopf, um sie am Sprechen zu hindern. »Gott sei Dank kann wenigstens einer von uns beiden klar denken«, sagte er.
Bremsende Reifen schleuderten eine neue Schlammfontäne in seine Richtung. Sanitäter stießen ihn unsanft beiseite. Edgar lächelte.
Vermutlich tat er es noch, als er Marja auf den Armen eines uniformierten Kollegen gewahrte, der sie zum Krankenwagen trug. Ein zweiter Polizist legte im Gehen eine Decke über ihren nackten Körper.
Schon wieder war es Frey, der seine Geistesgegenwart am schnellsten unter Kontrolle bekam. »Wo ist Grashoff?«, fragte er.
»Ich dachte, Sie waren bei ihm, als …«
»Er sagte mir, er würde sich um Marja kümmern. Seither ist er nicht wieder aufgetaucht.«
»Verfluchter Mist, der haut ab!« Mit zitternden Gliedmaßen hievte sich Edgar auf die Beine, wurde jedoch von einer Person mit den Körpermaßen eines Profibasketballers davon abgehalten, blindlings drauflos zu stürmen.
»Vermissen Sie jemanden?«, fragte Gernot Hagedorn.
»Matthias Grashoff, Veterinäramt Bremen, etwa ein Meter fünfundachtzig, dunkelblond, Anfang vierzig…«
»Schon gut, er ist bereits zur Fahndung ausgeschrieben. Eine seiner Töchter behauptet, sie habe gesehen, wie er ihre Mutter umgebracht hat.«
»Wie bitte? Die Mädchen sind überhaupt nicht …? Was …?«
»Die Kinder waren ausgerissen und sind wohlauf. Zumindest physisch. Allerdings interessiert mich momentan viel mehr, was Sie mit diesem Typen zu schaffen haben. Und was Sie hier sonst noch so tun.«
»Ja. Natürlich«, antwortete Edgar, wohl wissend, welch erbärmliches Bild er abgab, »aber das ist eine ziemlich lange Geschichte.«