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Aus dem Augenwinkel beobachtete Marja, wie Matthias das iPhone in der Innentasche seiner eleganten Wildlederjacke verstaute. Vorrangig war sie jedoch damit beschäftigt, die neuen Informationen zu verdauen. Also was genau hatte ihr der Krankenpfleger soeben zähneknirschend verraten?
Erstens: Sarahs Verstand war die ganze Zeit, in der Marja vor der Krankenzimmertür herumgestanden hatte, absolut klar gewesen. Zweitens: Es war ihr verdammt wichtig, mit Marja zu sprechen. Also hatte sie höchstwahrscheinlich vor dem Unglück etwas Prekäres herausgefunden. Und drittens: Matthias Grashoff war ein eiskalter Lügner. Hätte der Pfleger sie nicht im letzten Moment aufgehalten, wäre Marja der Geschichte von bleibenden Hirnschäden arglos auf den Leim gegangen. Also warum wollte ihr Kollege mit allen Mitteln verhindern, dass sie persönlich mit Sarah sprach? Und war es nicht äußerst merkwürdig, dass die Apparate im Krankenzimmer verrückt gespielt hatten, als er bei war?
Sie strich sich das Haar aus der Stirn, straffte die Schultern und drehte sich zu Grashoff um, der eine äußerst glaubhafte Unschuldsmiene zum Besten gab.
»Mit wem hast du gerade telefoniert?«, fragte sie ihn so beiläufig wie möglich. Vielleicht lenkte ihn ein bisschen Small Talk davon ab, sich neue Märchen auszudenken.
»Oh, das war Lea. Die Mädels sind übers Wochenende bei ihren Großeltern. Natürlich streiten sie sich die ganze Zeit. Wenn meine Mutter sie nicht gerade mit Kuchen und Kakao vollstopft.« Er verzog die Mundwinkel zu einem hilflosen Lächeln. Netter Versuch.
»Gehen wir noch irgendwo einen Kaffee trinken?«, schlug sie vor. Vielleicht half ein neutraler Ort mit gemütlicher Atmosphäre dabei, etwas mehr aus ihm herauszukitzeln. »Offen gestanden weiß ich nicht so recht, was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll. Jetzt, wo Sarah …«
»Tut mir wirklich leid«, flüchtig streiften seine Finger ihre Schulter, »aber ich muss mich um die Mädels kümmern, bevor sie mein Elternhaus in Schutt und Asche legen.« Er fuchtelte ungelenk mit dem iPhone herum, das er schon wieder gezückt hielt. »Sorry, ehrlich«, fügte er noch einmal hinzu. Irgendwie gelang es ihm, auch ohne Lächeln die Grübchen auf seine Wangen zu zaubern.
Marja hielt es für das Beste, so zu tun, als erläge sie seinem Charme. »Okay, also dann sehen wir uns am Montag.« Sie hob flüchtig die Hand und blieb im überdachten Eingangsbereich der Klinik stehen.
Der Nieselregen hatte sich zu einem Vorhang aus dicken, senkrecht fallenden Tropfen verdichtet, der sie selbst auf dem kurzen Heimweg vollkommen durchnässen würde. Dennoch schlug Matthias nicht einmal vor, sie im Auto mitzunehmen. Stattdessen rannte er mit eingezogenem Kopf zu seinem Jeep und schoss in übertrieben sportlicher Manier über den Parkplatz. Obwohl er sie mit mehr Fragen als Antworten zurückließ, war sie froh, als der mächtige Geländewagen außer Sicht geriet.
Eher unbewusst tastete sie in den Jackentaschen nach ihrem Handy und starrte gefühlte zehn Minuten lang auf das schwarze Display. Irgendwann bemerkte sie, wie ihre Finger die Ziffernfolge von Edgar Thorens‘ Mobilfunknummer aus dem Gedächtnis tippten. Bevor sich ihre Vernunft zu Wort melden konnte, drückte die grüne Taste und lauschte den monotonen Ruftönen. Wohl ein Dutzend verhallten ungehört, bevor sich die Mailbox einschaltete. Frustriert legte Marja auf und beobachtete, wie die Anzeige des Telefons wieder in schweigende Dunkelheit verfiel. Endlich zog sie den Reißverschluss bis zum Kinn und trat in den strömenden Regen hinaus. Sie beeilte sich nicht, nach Hause zu kommen, denn nach wie vor fehlte ihr jegliche Eingebung, wie sie das Wochenende in Untätigkeit überstehen sollte.
Tropfnass erreichte sie ihr Haus. Im unteren Flur zog sie die geballte Ladung an Werbeprospekten aus dem Briefkasten, blätterte ohne wirkliches Interesse durch die bunt bedruckten Seiten und nahm die Stufen in den vierten Stock in Angriff. Auf dem Treppenabsatz vor der Mansarde angekommen, kramte sie den Wohnungsschlüssel hervor, überlistete das widerspenstige Schloss – und verharrte regungslos in ihrer unbequemen Pose. Obwohl es keinen konkreten Anhaltspunkt gab, war sie plötzlich felsenfest überzeugt davon, das irgendetwas faul war.
Marja hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange sie einfach nur so dastand und darauf wartete, dass etwas passierte. Schließlich erlöste sie das banale, physikalische Gesetz der Schwerkraft, indem sich der sperrige Stapel Altpapier unter ihrem Arm verselbstständigte und zu Boden rauschte.
Seufzend raffte sie das Chaos zusammen und betrat ihre Wohnung. Sie schaffte es gerade noch, ihre Lasten auf dem Küchentresen zu deponieren. Dann wurde das schwere Atmen hinter ihrem Rücken zur Gewissheit. Ein archaischer Instinkt gab das Kommando zur Flucht. Aber sie war zu langsam. Ein überwältigender Schmerz schoss durch ihren Schädel. Dann versank sie in vollkommener Finsternis.