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Alinas Kopf fühlte sich an, als wäre er mit glühender Lava gefüllt. Die Festung, die sie seit Kindheitstagen erschuf, um darin nach eisernen Regeln und Prinzipien zu leben, verwandelte sich in flüssiges Gestein, schmolz dahin und trug die Schollen, an die sie sich verzweifelt klammerte, weit hinaus ins Unbekannte. Noch immer redete sie sich ein, dass Jacobs Verschlagenheit daran schuld war, dass ihr gesamtes Leben mit einem gigantischen Erdrutsch zur Hölle fuhr. Andererseits spürte sie diese Erosionen bereits, seit sie ihrem Märchenprinzen das erste Mal begegnet war. Schritt für Schritt hatte er damit begonnen, ihre verkrusteten Überzeugungen aufzuweichen. Oft waren seine Zärtlichkeiten daran schuld, ein andermal eine Bemerkung, die in ihrem Innern einen kleinen Sprengsatz zündete. Und in seltenen, unheimlichen Momenten hatte er in ihr sogar den Wunsch ausgelöst, sich von der Bürde ihres Bruders zu befreien. Doch wie konnte er nur erwarten, dass sie diesem absurden Gefühl jemals nachgeben würde?
Ihre gesamte Erinnerung bestand aus dem allumfassenden Plan, ihren kleinen Bruder zu beschützen. Genau genommen war Jan fast zwei Jahre älter als sie, doch aus irgendeinem Grund nicht richtig gewachsen. Sein schmächtiger Körperbau hatte ihn nicht nur zum Gespött anderer Kinder gemacht, sondern auch zu einem leichten Opfer für ihre hilflos überforderte Mutter. Erst als alle dachten, er würde sich mit einem Meter sechzig durch die Welt schlagen müssen, war er noch einmal in die Höhe geschossen. Gleichzeitig hatte er angefangen, wie verrückt zu trainieren, und plötzlich eine Schlägerei nach der anderen gewonnen. Nicht nur die Halbstarken, sondern auch Mama hatten fortan darauf verzichtet, sich mit ihm anzulegen. Nur Alina wusste, dass es schon damals zu spät gewesen war. Jan Hurensohn, wie Mutter ihn voller Verachtung nannte, hatte die Schule seiner Peiniger von Anfang bis Ende durchlaufen und mit Bravour abgeschlossen. Aus dem ängstlichen Schlappschwanz, der nicht einmal ein Huhn schlachten konnte, war ein Killer geworden. In einen Knirps, der tiefe Trauer über jedes überfahrenen Tierchen am Straßenrand empfand, hatte eine verbitterte, unerbittliche Frau den Drang zu töten systematisch eingepflanzt. Also wie konnte es sich Alinas selbst ernannter weißer Ritter anmaßen, über ihn zu urteilen und zu richten?
Hinter ihren Schläfen pochte der Schmerz so heftig, dass sie ihn geradezu hören konnte. Deshalb entging ihr völlig, wie jemand in ihre Wohnung eindrang und offenbar nach ihr suchte. Erst als der Vulkan in ihrem Schädel eine kleine Ruhepause einlegte, glaubte sie, ihren Namen zu hören. Jacob? Hatte er Vernunft angenommen und sein Himmelfahrtskommando abgeblasen? Noch bevor sie überhaupt in der Lage war zu entscheiden, ob es sie glücklich machten würde, begriff sie, dass es jemand anderes sein musste. Aber wer kam auf die Idee, ihr am frühen Sonntagmorgen einen Besuch abzustatten? Gab es noch jemanden, der sie durchschaut hatte und mit ihrer Hilfe Jan zur Strecke bringen wollte? Oder ging es vielmehr um das Gegenteil: Jemand wollte sie töten, um sicherzugehen, dass sie ihren Bruder nicht verriet? In dem Fall war derjenige bestimmt längst über die Graf-Akten gestolpert, die sie aus dem Veterinäramt gestohlen hatte. Jetzt musste er nur noch die richtige Zimmertür aufstoßen, um sein Opfer wehrlos und sauber verschnürt auf dem Präsentierteller vorzufinden. Es wäre ein Kinderspiel, sie mit einem Kissen zu ersticken. Wenn er sich nicht ganz dämlich dabei anstellte, würde jeder Verdacht auf Jacob zurückfallen – und Bingo! Die Fleisch-Mafia hätte auf ganzer Linie gesiegt.
Aber welchen Zweck erfüllte es noch, dass sie sich ihren malträtierten Kopf zerbrach? Sie lag gefesselt und geknebelt auf ihrem Bett und konnte rein gar nichts ausrichten, um die Ereignisse noch zu beeinflussen. Oder doch?
Gerade hatte der Einbrecher erneut ihren Namen gerufen. Zum ersten Mal identifizierte Alina eine weibliche, nicht mehr ganz junge Stimme. Kurz drauf wusste sie genau, wer sich um sie sorgte. Frau Albers, ihre Vermieterin. Sie waren zum Morgenkaffee verabredet gewesen und hielten gleichermaßen große Stücke auf Pünktlichkeit. Aber würde die alte Dame ihr Schamgefühl überwinden und im Schlafzimmer nachsehen? Alina nahm ihren Atem zusammen und entlockte ihrem Kehlkopf sämtliche Töne, die er zustande brachte. Nur wenige Sekunden später flog die Tür auf. Frau Albers‘ Gesicht erstarrte kreidebleich. Dann eilte sie auf das Bett zu und begann mit erstaunlichem Geschick, die Fesseln zu lösen.
»Sie schickt Gott höchstpersönlich«, sagte Alina, sobald sie den Knebel ausgespuckt hatte. Sie war heiser und durstig, doch darauf konnte sie im Moment keine Rücksicht nehmen. Ebenso wenig wie auf ihre gütige, grenzenlos entsetzte Retterin.
»Bitte Frau Albers, hören Sie mir einfach nur gut zu, in Ordnung?«