11

„Tut mir leid”, begann DJ, als Victor ihm die Tür öffnete. „Wir haben uns allmählich Sorgen gemacht. Erst will Elvi die Tür aufschließen, und es passiert nichts, und dann verschwindest du im Haus, und wieder ist Funkstille. Wir dachten, dass vielleicht irgendwas nicht stimmt.” Allessandro, der auf der Treppe eine Stufe hinter DJ stand, nickte bestätigend.

„Nein, es ist alles in Ordnung”, versicherte Victor ihnen. „Elvi hat es bloß vergessen und stattdessen ein Bad genommen.”

„Aha”, murmelte DJ, sah ihn dann aber fragend an, als erwarte er eine Erklärung dafür, wieso es denn Victor nicht gelungen war, die Tür aufzuschließen. Victor ignorierte den Blick und stand abwartend da, ohne sich von der Stelle zu rühren.

„Allessandro muss auf die Toilette, und ich brauche einen Beutel Blut. Ich habe seit heute Morgen nichts mehr zu mir genommen”, ließ DJ ihn wissen, als Victor weiterhin schwieg.

„Oh.” Er zögerte einen Moment, schaute über die Schulter zur geschlossenen Badezimmertür und machte den anderen dann unwillig Platz.

„Danke”, sagte Allessandro, als er aus dem Schlafzimmer in den Flur ging. „Ich schließe die Küchentür auf, wenn ich wieder nach draußen gehe.”

„Ja, ist gut.” Victor nickte zustimmend und sah DJ erwartungsvoll an. Anstatt zu gehen, drehte sich der jüngere Mann zu ihm um und fragte ernst: „Hast du heute schon getrunken?”

Victor kniff die Augen ein wenig zusammen. Er war kein kleines Kind, auf das man aufpassen musste. Außerdem war die Antwort darauf ein klares Nein. Er hätte das Haus kurz verlassen sollen, bevor er sich an den Herd stellte, doch er wollte sicherstellen, dass das Frühstück fertig war, wenn Elvi aufwachte. Er war seitdem auch nicht mehr auf die Idee gekommen, etwas zu trinken, und erst jetzt, als DJ ihn mit seiner Frage daran erinnerte, begann sich sein Magen zu verkrampfen.

„Hast du nicht, richtig?” DJs Stimme hatte einen unverhohlen triumphierenden Tonfall angenommen. „Ich finde nämlich, dass du ziemlich blass aussiehst.”

„Ich kümmere mich darum”, versicherte er ihm, obwohl es Dinge gab, mit denen er sich im Moment viel lieber befassen wollte.

DJ nickte. „Ich begleite dich. Dann kann ich helfen, auf der Straße die Augen offen zu halten. Außerdem müssen wir uns sowieso unterhalten.”

Victor wollte jetzt nichts trinken, und er wollte sich jetzt auch nicht unterhalten. Er wollte nur zu Elvi, aber es sah ganz danach aus, dass er nicht das bekommen sollte, was er haben wollte. DJ stand da und wartete auf ihn. Seufzend warf er einen bedauernden Blick auf die geschlossene Badezimmertür, dann folgte er DJ in den Flur und zog die Schlafzimmertür hinter sich zu.

„Edward erwähnte etwas von einem Pfeil, der heute Abend auf euch abgefeuert worden sein soll”, begann DJ ohne Vorwarnung, als sie Augenblicke später die Straße entlanggingen. „Was genau ist da passiert?”, fragte er sorgenvoll.

Victor verzog den Mund und schilderte in wenigen Worten, was sich zugetragen hatte. Er erwähnte auch Elvis Ansicht, es müsse ein Unfall gewesen sein, und falls es das nicht war, dann müsse der Pfeil ihm gegolten haben.

„Dir?”, fragte DJ erstaunt. „Warum solltest du für irgendjemanden ein Ziel abgeben?”

An der Main Street angelangt, bog Victor nach rechts ab. Es war Samstagnacht, kurz nach zwei. Die Zeit, zu der die Bars schlossen. Auf dem Bürgersteig waren etliche Passanten unterwegs, die nach Hause gingen. Wie ein Jäger musterte Victor diese Leute, während er erklärte: „Sie sagt, sie hat ihr ganzes Leben hier zugebracht, und nie hat jemand versucht, ihr etwas anzutun. Da ich ein Fremder hier bin, würde man es eher auf mich abgesehen haben.”

Er verdrehte die Augen angesichts dieses albernen Arguments, doch DJ schaute nachdenklich drein. „Hmm”, machte er schließlich.

„Hmm?” Victor wollte seinen Ohren nicht trauen. „DJ, niemand hier hat einen Grund, mich zu töten.”

„Hmm.” DJ schien davon nicht überzeugt zu sein, was wiederum Victor ins Grübeln brachte.

„Was denkst du gerade?”, fragte er ein wenig argwöhnisch und wurde langsamer.

DJ zuckte mit den Schultern. „Nun, ich habe überlegt, wenn sie in den fünf Jahren seit ihrer Wandlung nie Ärger mit irgendwem aus Port Henry und Umgebung hatte, dann ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass jetzt jemand ihren Tod will.”

„Stimmt, aber es gibt auch keinen Grund, mich zu töten”, betonte Victor.

„Naja”, begann DJ zurückhaltend.

„Was?”

„Da wäre die Sache mit dem Pflock”, sagte er.

„Was für eine Sache mit welchem Pflock?”

„Du weißt schon. Im Restaurant. Als du losgerannt bist, weil du dachtest, Elvi würde diesen Owen beißen.” Er zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Vielleicht hat dir jemand diese Ausrede nicht abgenommen, dass du den Pflock zurückgeben wolltest. Es könnte sein, dass sie versuchen, Elvi vor dir zu beschützen.” Victor dachte, dass DJ damit durchaus recht haben konnte. Er hatte den Zwischenfall mit dem Pflock schon ganz vergessen.

„Wo waren die anderen Männer?”, wollte DJ plötzlich wissen.

Überrascht sah Victor ihn an. „Draußen, vor dem Geschäft. Wieso?”

„Waren sie vollzählig?”

„Ja.” Victor dachte kurz nach. „Nein, Edward war zuerst nicht da, als ich zu ihnen zurückging.” „Wo war er?”

„Der hatte nach einem passenden Busch gesucht’”, zitierte er Edwards Erklärung. „Er ist von der anderen Seite um das Gebäude herumgekommen. Wieso? Was denkst du?”

„Es hätte einer von ihnen sein können”, gab DJ zu bedenken.

Victor riss den Kopf herum. „Warum sollte mich einer von ihnen umbringen wollen?”

„Vielleicht, um die Konkurrenz auszuschalten.”

„Welche Konkurrenz?” Er blieb stehen und sah DJ verständnislos an.

„Beim Wetteifern um Elvis Gunst”, erklärte der geduldig.

„Sei nicht albern.” Victor wischte das Argument entschieden beiseite und ging weiter. „Die haben inzwischen sicher längst versucht, Elvi zu lesen, und dabei festgestellt, dass sie es können und dass sie für keinen von ihnen die Lebensgefährtin ist.”

„Und warum sind sie dann noch hier?”, hielt DJ dagegen.

Victor dachte kurz darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf, da er nicht mal in Erwägung ziehen wollte, einer der anderen Männer könnte der Lebensgefährte der Frau sein, auf die er ein Auge geworfen hatte. Es war ein Gefühl, das er seit sehr langer Zeit nicht mehr verspürt hatte und das zu ignorieren er unter keinen Umständen bereit war.

„Ich weiß nicht, wieso sie noch hier sind”, gab er zu. „Aber sie kann nicht für jeden von ihnen eine Lebensgefährtin sein.”

„Kann sie das nicht?”, fragte DJ. „Und was ist mit dieser Geschichte, die Harper uns im Restaurant erzählt hat? Was ist mit diesem Freund und dessen Cousin, die beide die gleiche Frau nicht lesen konnten?”

Der Gedanke an diesen Bericht sorgte dafür, dass sich ihm der Magen umdrehte, was ihn wiederum daran erinnerte, warum sie auf den Straßen von Port Henry unterwegs waren. Wie Victor Elvi ganz richtig gesagt hatte, verstieß es gegen ihre Gesetze, von einem Sterblichen zu trinken, außer es handelte sich um einen Notfall. Für Victor war es immer ein Notfall, da eine genetische Anomalie es verhinderte, dass er sich von Blutbeuteln ernährte. Er konnte noch so viele Beutel austrinken, es würde ihm nicht helfen. Er musste direkt von der Quelle trinken. Sie kamen an einem Park zwischen zwei Gebäuden vorbei, wo Victor ein Pärchen entdeckte. Der Mann war offensichtlich volltrunken, weshalb er für Victor nicht infrage kam. Schließlich wollte er keinen Rausch bekommen. Die Frau dagegen hatte wohl nur ein paar Drinks zu sich genommen, und es bereitete ihr Mühe, ihren wesentlich größeren Freund zu stützen, der sich aus eigener Kraft kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Victor bog in den Park ein, um der Frau seine Hilfe anzubieten. Er würde im Gegenzug auch nur ein wenig von ihr trinken. Seiner Ansicht nach war das ein fairer Tausch. DJ folgte ihm. Fünfzehn Minuten und drei Pärchen später verließen Victor und DJ den Park und machten sich auf den Weg zurück nach Casey Cottage.

„Ich wüsste noch eine andere Möglichkeit”, sagte der junge Unsterbliche und griff das Thema, über das sie sich zuvor unterhalten hatten, so selbstverständlich wieder auf, als wären sie nie unterbrochen worden.

„Und zwar?”, fragte Victor. „Ihr Schöpfer.”

Victor sah ihn überrascht an. „Ihr Schöpfer? Welcher Schöpfer? Laut Elvi gibt es keinen.”

„Ja, aber wir wissen beide, dass das nicht möglich ist”, betonte DJ. „Einer von unserer Art muss ihr Blut gegeben haben.... und wer immer das auch war, könnte jetzt versuchen, Elvi umzubringen. Womöglich hat er herausgefunden, dass der Rat von ihrer Existenz erfahren hat. Vielleicht hatte er schon zuvor einen Sterblichen gewandelt, und sie war sein zweites Opfer, was ihm beim Rat große Schwierigkeiten einbringen würde. Es wäre doch denkbar, dass er Elvi töten will, bevor wir seine Identität feststellen können.”

Victor schwieg. Er wollte diese Theorie lieber nicht in Erwägung ziehen, aber er konnte sie auch nicht so leichtfertig abtun. Jemand hatte Elvi zur Unsterblichen gemacht, sie aber anschließend nicht so ausgebildet, wie er es hätte tun sollen. Selbst wenn sie das erste Opfer dieses unbekannten Unsterblichen war, würde er sich damit erheblichen Ärger einhandeln. Großen Ärger. Wenn er sie zum Schweigen brachte, konnte er damit seinen Kopf retten.

„Also können wir noch immer nicht mit Sicherheit sagen, für wen von uns beiden der Pfeil bestimmt war”, überlegte Victor.

DJ nickte und fragte dann: „Kannst du sie lesen?”

Gereizt gab Victor zurück: „Ich weiß nicht. Ich habe es nicht versucht.”

„Wieso nicht?”, wunderte sich DJ.

„Ich habe einfach nicht dran gedacht”, gab er zu und kam sich albern vor. Er hätte allein schon aus dem Grund versuchen sollen, sie zu lesen, um mit der Arbeit an diesem Fallschneller voranzukommen. Warum zum Teufel war ihm das bloß nicht in den Sinn gekommen? Weil sie ihn mit ihrem berauschenden Duft ablenkte, sobald er in ihre Nähe kam, und weil er dann jedes Mal dieses breite, arglose Lächeln und diese wunderschönen großen Augen sah.

„Ich möchte wetten, du kannst sie nicht lesen”, sagte DJ plötzlich. „Ich wette, sie ist für dich ein Buch mit sieben Siegeln.”

Victor stutzte. „Kannst du sie nicht lesen?”

„Habe ich nicht ausprobiert. War mir auch egal, seit ich festgestellt hatte, dass ich Mabel nicht lesen kann.” Auf einmal wurden seine Augen groß. „Vielleicht gilt das für die ganze Stadt. Vielleicht kann hier niemand gelesen werden.”

„Was?”, fragte Victor.

„Ja, genau.” DJ war angesichts seiner eigenen Überlegung ganz aus dem Häuschen. „Möglicherweise ist ja hier irgendwas im Wasser, was die Leute für uns unlesbar macht.”

„Das ist doch albern”, murmelte Victor.

„Nein, hör doch mal zu”, beteuerte DJ. „Ich kann Mabel nicht lesen, und keiner der Männer kann Elvi lesen.”

„Die können sie nicht lesen?” Beunruhigt blickte er auf. „Haben sie das zugegeben?”

„Naja.... ” DJ zuckte mit den Schultern. „Edward behauptet, er kann sie lesen, und er bleibt nur noch in Port Henry, weil die Architektur so interessant ist. Allessandro behauptet das auch, und sein Argument, weshalb er nicht abreist, sind die Frauen, die hier alle so ,bella’ sind. Darum will er den Best der Woche bleiben, aber.... ” Er machte eine zweifelnde Miene. „Komm schon, nimmst du ihnen diese Ausreden ab?”

Victor legte die Stirn in Falten. Er hatte nicht in Erwägung gezogen, die anderen könnten Elvi nicht lesen. Er war in Gedanken längst damit beschäftigt gewesen, sie für sich zu beanspruchen. Ihm gefiel die Vorstellung ganz und gar nicht, dass er es mit mehreren Konkurrenten zu tun haben könnte.

„Ich glaube, wenn sie sie wirklich lesen könnten, wären sie längst abgereist”, erklärte DJ voller Überzeugung. „Keiner von ihnen ist mit großer Begeisterung hergekommen, und am ersten Abend hatte jeder von ihnen gesagt, dass er sofort wieder abreisen würde, falls er sie lesen könne.... aber sie sind alle noch hier.” Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Die lügen alle. Keiner von ihnen kann Elvi lesen.”

„Warum sollten sie lügen?”, wunderte sich Victor.

„Wer weiß? Vielleicht warten sie ab, was der Rat mit ihr machen wird.”

Victor verzog das Gesicht. Bei dem Tempo, in dem er an dem Fall arbeitete - oder besser gesagt: nicht arbeitete -, würden sie noch lange warten müssen, um zu erfahren, wie der Rat entschied. „Was ist mit Harper?”, fragte er schließlich.

DJ schürzte seine Lippen. „Ich weiß nicht. Mit ihm hatte ich noch nicht reden können, aber ich vermute, er kann sie auch nicht lesen.... was meine Ansicht bestätigt. Hast du jemals davon gehört, dass drei oder vier Unsterbliche nicht in der Lage sind, ein und dieselbe Frau zu lesen?” Ohne Victor zu Wort kommen zu lassen, fuhr er fort: „Es muss hier was im Grundwasser sein. Oder im Boden. Dadurch wird die ganze Stadt unlesbar.”

Victor wunderte sich über diesen Gedankengang und über die Freude des jüngeren Mannes darüber, dass Mabel vielleicht doch nicht seine Lebensgefährtin war und er sie nur deshalb nicht lesen konnte, weil die ganze Stadt unlesbar war. Doch dann erinnerte er sich daran, wie beharrlich DJ ihr nachgestellt hatte. Angesichts dessen musste es für ihn eine große Erleichterung sein, die Frau nun doch nicht so lange umwerben zu müssen, bis sie endlich einlenkte. Es tat Victor leid, ihm diese Hoffnung zu rauben, aber er machte es trotzdem und sagte: „An dem Abend, an dem wir herkamen, habe ich den Sheriff gelesen.”

„Oh.” DJ war einen Moment lang enttäuscht, doch dann hellte sich seine Miene gleich wieder auf. „Vielleicht sind nur die Frauen davon betroffen. Vielleicht können die Männer gelesen werden, und nur die Frauen sind blockiert.”

Diese Vorstellung entsetzte Victor. Sollte das zutreffen, wäre Elvi doch nicht seine Lebensgefährtin, und alle seine Hoffnungen der letzten Tage wären vergebens gewesen. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Sollte das zutreffen, wäre Elvi doch nicht seine Lebensgefährtin? Wann hatte er denn entschieden, dass sie seine Lebensgefährtin sein könnte? Zugegeben, er aß wieder, und er hätte fast einen Herzinfarkt erlitten, als sie am Frühstückstisch ohnmächtig geworden war. Und es hatte ihm auch gefallen, wie sie auf der Fahrt zum Möbelgeschäft auf seinem Schoß gesessen und sich an ihn gedrückt hatte, als sei er die einzige sichere Zuflucht für sie. Es war auch amüsant gewesen, dass der Geschäftsführer im Möbelladen sie beide für ein Paar hielt. Er konnte auch nicht leugnen, dass sie die erste Frau seit dreihundert Jahren war, die seine Lust weckte, aber.... eine Lebensgefährtin?

Er konnte sie immer noch in seinen Armen spüren, er schmeckte sie auf seiner Zunge. Und er wollte mehr von ihr spüren und schmecken. Verdammt, dachte er bestürzt. Er wollte sie tatsächlich als Lebensgefährtin haben. Zwar hatte er nicht versucht, sie zu lesen, und konnte daher auch gar nicht sagen, ob er dazu fähig war oder nicht. Aber DJ hatte bereits die Möglichkeit ins Spiel gebracht, es könnte sich um ein Phänomen handeln, das die ganze Stadt betraf, dass also keine Frau in Port Henry gelesen werden konnte. Nein, das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein.

„Victor?” DJs Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen, und er sah sich auf der dunklen Straße um. Sie waren an der Ecke zu der Straße angekommen, die zurück zu Elvis Haus führte. Alles war wie ausgestorben, und das ausgerechnet jetzt, wo er dringend eine Frau aus Port Henry benötigte.

„Mabel”, murmelte er und ging zügig weiter.

„Was ist mit Mabel? Wohin willst du?”, fragte DJ nervös und lief hinter ihm her.

„Ich muss Mabel finden”, sagte Victor, als er das Tor zum Casey Cottage erreicht hatte und es öffnete.

„Sie hat sich längst schlafen gelegt”, erwiderte er und folgte ihm zur Haustür.

„Umso besser”, gab er zurück. „Dann ist sie leichter zu finden.”

„Victor!”, rief er besorgt.

Als der jüngere Mann versuchte, seinen Arm zu fassen und ihn aufzuhalten, stieß Victor ihn mit einer lässigen Geste weg, als würde er nach einer Mücke schlagen. „Ich kläre das jetzt auf.”

„Aber.... ”

„Es gibt kein Aber”, widersprach er. „Wenn die Frauen in dieser Stadt nicht gelesen werden können, dann will ich das wissen. Es betrifft alles. Wer nicht gelesen werden kann, bei dem kann man auch so gut wie gar nicht die Erinnerung löschen - aber in dieser Stadt muss eine Menge gelöscht werden. Und was sollen wir machen, wenn genau das gar nicht möglich ist? Was wird der Rat entscheiden?” Das war zwar im Augenblick nicht seine Hauptsorge, aber es war ein Grund zur Sorge, und der genügte, um seine plötzliche Entschlossenheit zu rechtfertigen.

„Was kann der Rat entscheiden?”, fragte DJ besorgt.

„Ich weiß nicht”, musste Victor zugeben, während er das Haus betrat. „Aber es wird nichts Gutes sein. Es geht nicht, dass eine ganze Stadt von unserer Existenz weiß. Die Gefahr ist immens, dass einer von ihnen zu reden beginnt. Das wird der Rat nicht dulden.”

„Verflucht”, schimpfte DJ und folgte ihm nach oben in den ersten Stock.

An der Tür zu Mabels Zimmer angekommen, wollte Victor anklopfen, entschied sich dann aber dagegen. Wenn die Frau schlief, konnte er in Ruhe in ihren Geist eindringen und herausfinden, ob es ihm möglich war, sie zu lesen, ohne sie zu wecken. Wenn nicht, konnte er immer noch behaupten, er habe sich im Zimmer geirrt und eigentlich zu Elvi gewollt. Er nickte bestätigend, umfasste den Türknauf und öffnete die Tür.

Mabel schlief nicht, sondern saß im Bett und las einen dieser schrecklichen Liebesromane. Überrascht über die Störung schaute sie auf und zog gereizt die Augenbrauen zusammen, als sie Victor und DJ in der Tür stehen sah. „Haben Sie schon mal was von Anklopfen gehört?”, fragte sie energisch. „Was wollen Sie?”

Victor antwortete gar nicht erst, sondern konzentrierte sich ganz auf ihre Stirn und schickte seine Gedanken los, um ihre zu finden. Zu seiner großen Erleichterung glitt er in ihren Geist wie ein warmes Messer in ein Stück Butter. Als er ihre Gedanken und Gefühle wahrnahm, bekam er vor Staunen den Mund fast nicht mehr zu. Mabel war gar nicht so schroff und abgebrüht, wie sie sie glauben machen wollte. Die raue Schale diente nur als Schutz vor der Welt da draußen. Ihr erster Ehemann war schwach gewesen, sodass sie sich gezwungen gesehen hatte, sich mit all den Dingen zu beschäftigen, die auch nur im Ansatz mit Schwierigkeiten verbunden gewesen waren - von der Erziehung der Kinder bis zum Umgang mit unwilligem Dienstpersonal. Es hatte ihr nie gefallen, sich allein um alles zu kümmern und keinen Rückhalt von ihrem Ehemann zu bekommen, der ihr wie ein starker, energischer Mann erschienen war, als er um sie warb.

Sie war so unglücklich darüber gewesen, dass sie sich womöglich hätte scheiden lassen. Doch als sie herausfand, wie verweichlicht er sich in Wahrheit verhielt, da erwartete sie bereits ihr erstes Kind. Dass er nicht der Macho war, für den er sich immer ausgegeben hatte, war ihr nicht als ausreichender Grund erschienen, um ihr Kind unter einer Scheidung leiden zu lassen. Zumindest erwies er sich als keiner von diesen Männern, die ihre Ehefrau schlugen oder die sich regelmäßig betranken, also fasste sie sich ein Herz und trug alle Kämpfe allein aus, die ihr jeder andere Ehemann abgenommen hätte.

Das war aber nicht der Grund für Victors maßloses Erstaunen. Ihre Sorge um Elvis Wohl hatte ihm längst gezeigt, dass sie gar nicht so hart war, wie sie sich gern darstellte. Unfassbar war dagegen, welcher Wirbel aus Gefühlen durch ihr gemeinsames Erscheinen in ihrem Schlafzimmer ausgelöst wurde.

Dass Victor dort stand, verwirrte die Frau nicht, vielmehr ärgerte sie sich einfach über seine Anwesenheit. Aber DJ war ein ganz anderes Thema. Mabel mochte den jüngeren Unsterblichen, doch das störte sie nicht annähernd so sehr wie die Tatsache, dass sie ihn auf eine unerträgliche Weise attraktiv fand. Sein Aussehen weckte in ihr Verlangen und Lust in einer Weise, die sie seit ihrer Teenagerzeit nicht mehr erlebt hatte. Das wiederum löste Schuldgefühle und Entsetzen in ihr aus, weil sie ihn für so viel jünger hielt. Und sie empfand es als krank, mit einem Jungen erotische Fantasien zu verbinden, der so alt war wie ihr eigener Sohn.

„Also?”, fauchte Mabel sie an, doch er wusste jetzt, es war diese Abscheu vor sich selbst, die ihren Ton hervorrief.

„Victor?”, zischte DJ ihm zu. Er musste nicht die Gedanken des Unsterblichen lesen, um zu wissen, was der mit seiner Frage bezweckte. Er wollte wissen, ob Victor sie lesen konnte.

„Ja”, antwortete ihm Victor, woraufhin DJ die Erkenntnis überkam, dass er in Mabel sehr wohl seine Lebensgefährtin gefunden hatte. Seine eigene Situation mochte verfahren sein, aber das musste nicht zwangsläufig auch für den jüngeren Mann gelten.

„Hallooo!”, rief Mabel ihnen gereizt zu. „Gibt es einen Grund dafür, mitten in der Nacht in mein Zimmer zu platzen? Wollen Sie irgendwas?”

„Ich nicht, aber DJ. Er will Sie.” Mit diesen Worten packte Victor ihn am Kragen und schob ihn in den Raum. Er ignorierte DJs Protest und Mabels entsetzten Aufschrei, dann wollte er die Tür schließen, hielt aber noch einmal kurz inne, um hinzuzufügen: „Auch wenn er nicht so aussieht, Mabel, er ist hundertelf Jahre alt. Ein älterer Mann, kein junger Hengst. Es gibt keinen Grund, warum Sie sich nicht an ihm erfreuen sollten. Sie können aufhören, sich wegen Ihrer Gefühle für ihn schuldig zu fühlen.”

Dann zog er die Tür zu, blieb aber im Flur stehen und lauschte. Schließlich bückte er sich sogar und spähte durch das Schlüsselloch, da das Schweigen sich allzu lange hinzog. Er würde so lange bleiben, bis er wusste, dass DJ es nicht verbockt hatte und dass er nicht weiter zwischen den beiden vermitteln musste. Entweder würde DJ seine Lebensgefährtin bekommen oder aber das Ganze komplett in den Sand setzen.

„Hat er hundertelf gesagt?”, fragte Mabel im Flüsterton.

DJ räusperte sich, dann endlich sah er sie an und nickte ernst. „Eigentlich sogar hundertzwölf. Ich hatte letzte Woche Geburtstag.”

Mabel ließ sich nach hinten gegen das Kopfende ihres Betts sinken, die Hände konnten nicht länger das Buch festhalten, das auf ihrem Schoß landete. „Hundertzwölf’, murmelte sie schwach, da sie offenbar Schwierigkeiten hatte, diese Zahl zu begreifen und gleichzeitig zu verstehen, was das für sie bedeutete.

DJ blieb so lange reglos stehen, dass Victor fast die Tür aufgerissen und ihm einen Schubs gegeben hätte, doch dann straffte der jüngere Unsterbliche die Schultern und stellte sich zu ihr ans Bett. „Er hat auch die Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, dass ich dich will, Mabel.”

„Du meinst, um von mir zu trinken?”, fragte sie unsicher.

„Nein.” DJs Stimme war jetzt kräftig, als er um das Bett herumging und sich Mabel näherte. „Ich will dich. Ich finde dich unglaublich faszinierend, amüsant und aufregend. Ich will dich, deinen Körper, deinen Geist, dein Herz. Einfach nur dich.”

„Nein, das willst du nicht”, widersprach sie entschieden. „Ich bin alt.”

„Ich bin älter, und das werde ich auch immer sein”, hielt DJ amüsiert dagegen.

„Aber ich sehe auch alt aus”, konterte Mabel sofort und machte große Augen, als er noch näher kam. Sie griff nach ihrer Decke und zog sie bis unters Kinn.

„Ich liebe es, wie du aussiehst”, erklärte er.

„In dem Fall brauchst du eine Brille”, wehrte sie mürrisch ab. „Mein Gesicht ist so runzlig wie eine Dörrpflaume.”

„Dein Gesicht trägt die Züge deines Lebens, geprägt von Liebe und Lachen, von Leiden und Tränen. Es ist wunderschön.” Er setzte sich zu ihr aufs Bett.

„Aber.... ”

DJ wartete nicht darauf, dass sie noch weitere Befürchtungen äußerte, sondern beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn, auf die Augenlider und dann auf den Mund. Es war ein hitziger Kuss, und Victor musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu rufen: „So ist’s richtig, mein Junge!”

Fast wäre er gegangen, aber er wartete noch, weil er wissen wollte, ob sie ihn vielleicht doch noch rauswarf oder ob sie sich dem Unvermeidlichen hingab. Frauen konnten in solchen Situationen schwierig sein. Unsterbliche wussten, wenn sie einmal einen Vertreter des anderen Geschlechts gefunden hatten, den sie nicht lesen konnten, dann hatten sie ihren Lebensgefährten gefunden. Sie akzeptierten diese Tatsache, sobald sie ihnen klar wurde. Sterbliche benötigten dagegen im Allgemeinen eine Weile, um sich mit dieser Situation anzufreunden, da sie fürchteten, überstürzt zu handeln und einen Fehler zu machen.

DJ beendete den Kuss und lehnte sich zurück, um ihr eine Chance zu geben, auf seine Avancen zu reagieren. Er und Victor hielten gleichermaßen gebannt den Atem an, während sie warteten. Mabel saß nur da und starrte ihn an. Ihr Gesicht verriet, welche widersprüchlichen und verwirrenden Gedanken ihr durch den Kopf gingen. Schließlich warf sie ihr Buch zur Seite und packte DJ, um ihn an sich zu ziehen.

„Braves Mädchen, Mabel”, murmelte Victor und wollte sich eben aufrichten, da zuckte er zusammen, als plötzlich hinter ihm eine Tür zugeworfen wurde. Besorgt drehte er sich um und entdeckte Elvi, die vor ihrem Schlafzimmer stand.