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Elvi föhnte gerade ihre Haare, als Mabel anklopfte und etwas rief. Mürrisch schaltete sie den Föhn aus und erwiderte: „Was?”

„Bist du bald fertig?”, hörte sie die ungeduldige Stimme ihrer Freundin.

„Ja, ja, ich bin gleich da.” Sie wickelte die Schnur um den Haartrockner, ehe sie ihn weglegte, und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Wanne. Zwar hatte sie geduscht, aber ein Bad wäre ihr viel lieber gewesen. Elvi liebte ihre Badewanne, ein großer Whirlpool mit Unterwasserdüsen. Bei dieser Anschaffung hatte sie nicht gespart, denn sie fand, dass sie es sich verdient hatte. Schließlich hatte sie ihr luxuriöses Bett gegen einen Sarg eintauschen müssen, und da war eine solche Wanne zumindest eine Art gerechter Ausgleich.

Mabel war sich gar nicht so sicher gewesen, ob ein Bad überhaupt für sie infrage kam. Über Dracula war in dieser Hinsicht nirgendwo ein Wort erwähnt. Nachdem Elvi aber ihr Leben lang großen Wert auf Körperpflege gelegt hatte, würde sie auf keinen Fall darauf verzichten - ob sie nun tot war oder nicht. Falls sich ihre Haut ablöste, sobald sie mit Wasser in Berührung kam, war es dann eben so. Zwar war ihre Haut dann tot, aber wenigstens sauber. Zum Glück war das nicht geschehen, und Elvi hatte die letzten fünf Jahre wie gewohnt baden und duschen können, ohne dass sich irgendwelche negativen Folgen eingestellt hätten. Gott sei Dank.

„Wir sind spät dran”, rief Mabel von draußen.

Elvi verdrehte die Augen, ging zur Tür und öffnete. „Natürlich sind wir spät dran. Deinetwegen habe ich verschlafen”, gab sie gereizt zurück, als sie nur in ein Badelaken gewickelt aus dem Badezimmer kam.

„So viel zum Thema Dankbarkeit”, murmelte Mabel und drückte ihr ein Glas Blut in die Hand. „Trink das aus, und dann zieh dich an. Ich habe das neue Kleid auf dein Bett gelegt.”

Sie hob eine Braue, trank die kalte, dickliche Flüssigkeit zur Hälfte aus und entgegnete: „Ich habe kein Bett, Mabel, ich habe einen Sarg. Ich wünschte, ich hätte noch ein Bett.”

Während sie eine Grimasse schnitt, nahm Mabel das halb leere Glas an sich und gab Elvi einen Schubs, damit die sich in Bewegung setzte. „Anziehen!”

Elvi ging auf den Sarg in der Mitte ihres großen, fast leeren Schlafzimmers zu und ließ die Schultern hängen. Oh Gott, wie sehr fehlte ihr doch ihr Bett. Ein riesiges, luxuriöses Bett, das sie und Harry noch kurz vor seinem Tod gemeinsam ausgesucht hatten. Es hatte sich angefühlt, als würde man auf einer Wolke liegen. Und nun musste sie in einer Holzkiste schlafen.

Neben dem Sarg aus Walnussholz blieb sie stehen und betrachtete ihn finster.

Mabel bemerkte ihren düsteren Gesichtsausdruck und sagte: „Vielleicht kann Brendan etwas tun, damit der Sarg bequemer wird.”

Ihre Miene verfinsterte sich weiter. Sie hatte schon eine Bettdecke hineingelegt, aber wenn sie noch irgendetwas dazupackte, würde sie selbst nicht mehr hineinpassen, und es war schon jetzt bedrückend eng.

„Ich bezweifle, dass er etwas tun kann”, erwiderte sie, da sie nicht wollte, dass Mabel den örtlichen Leichenbestatter bemühte. Der Mann hatte schon genug Arbeit damit gehabt, den Boden mit Erde aus Mexiko und aus ihrem Garten zu bedecken und das Ganze so abzudichten, dass weder Geruch noch Erde durch den Satinbezug nach außen gelangten. Sie wollte ihn nicht noch mehr einspannen, da es ihr unangenehm war, anderen zur Last zu fallen.

Sie zog das Kleid an, das Mabel ihr hingelegt hatte, zupfte hier und da, bis es richtig saß. Als sie dann an sich herabsah, verzog sie den Mund. Es war zwar ein neues Kleid, aber es sah fast genauso aus wie alle anderen, die sie zur Arbeit trug. Lang, schwarz und gerade geschnitten, mit tiefem Ausschnitt und figurbetont bis zu den Knien, wo der Schlitz begann, damit sie einigermaßen gut laufen konnte. Trotzdem würde sie bei jedem Schritt nur bedingt ausholen können, und jedes Mal war dabei ihr Unterschenkel zu sehen.

Das war noch so eine ärgerliche Sache: die Garderobe der Untoten. Sie entsprach nämlich in keiner Weise ihrem eigenen Stil. „Ich wünschte, ich müsste diese dämlichen Kleider nicht tragen”, murmelte sie und griff hinter sich, um den Reißverschluss hochzuziehen.

„Alle sind begeistert davon”, erklärte Mabel und schob Elvis Hände zur Seite, um sich selbst um den Reißverschluss zu kümmern. „Das erwarten die Leute eben.”

„Hmm”, brummte Elvi. „Ob sie wohl enttäuscht wären, wenn ich zur Abwechslung Mal eine Jogginghose und ein T-Shirt tragen würde?”

„Das kannst du diese Woche nicht machen”, warnte Mabel sie entschieden. „Wir haben das Haus voller Gäste.”

„Wirklich?”, fragte Elvi überrascht. Nach jener schicksalhaften Reise, die Elvis Leben ein Ende gesetzt hatte, waren sie und Mabel auf die Idee gekommen, als Geschäftspartnerinnen tätig zu werden. Sie hatten ein mexikanisches Restaurant eröffnet, dem sie den Namen Bella Black’s gegeben hatten. Der Name war Mabels Idee gewesen, und es war auch ihre Idee gewesen, das Haus zu verkaufen, in dem sie mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann gelebt hatte, und bei Elvi einzuziehen, die nur drei Blocks vom Restaurant entfernt wohnte. Das hatte ihnen beiden vieles deutlich erleichtert. Aber für sie beide allein war das Haus einfach viel zu groß gewesen, bis Mabel auf die Idee gekommen war, das alte viktorianische Gebäude in eine Pension umzubauen, die als zweites finanzielles Standbein dienen konnte, sollten sie mit dem Lokal Schiffbruch erleiden.

Wovon allerdings kaum auszugehen war. Das Bella war an jedem Abend gut besucht, was sie wohl auch Elvis Status als eine Art stadtbekanntes Maskottchen verdankten. Den größten Teil ihrer Ehe war sie Hausfrau gewesen, sie liebte es, zu kochen und sich um das Wohl anderer zu kümmern. Auch wenn sie nun nichts mehr essen konnte, war es ihr weiterhin möglich, in der Küche zu wirken, und das tat sie auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Für sie gab es kaum etwas Schöneres, als die Speisen zu berühren und zu riechen, die sie selbst längst nicht mehr zu sich nehmen konnte. Wenn sie anderen dabei zusah, wie die ihre Gerichte aßen, dann kam es ihr fast wieder so vor, als würde sie auch davon kosten.

Also hatten sie das alte viktorianische Herrenhaus renoviert, den Speicher ausgebaut und drei Zimmer mit einem eignen Badezimmer ausgestattet, um das Casey Cottage zu eröffnen, das nach Elvis Tochter benannt war.

Das einzige Problem bestand darin, dass die meisten Gäste Einheimische waren, die eine Übernachtung buchten, nur damit sie anschließend erzählen konnten, eine Nacht im Haus einer Vampirin verbracht zu haben. Sie kamen mit bestimmten Vorstellungen dorthin, wie eine Vampirin aussehen und wie sie sich verhalten müsse. Vorstellungen, die vor allem auf Fernsehserien wie Elvira, Herrin der Finsternis und Ähnlichem basierten und die Elvi dazu zwangen, diese albernen Kleider nicht nur im Restaurant zu tragen, sondern dank der Übernachtungsgäste meistens auch noch im Haus. Diese verdammte Herrin der Finsternis hatte ihr damit wirklich einen Bärendienst erwiesen, fand Elvi. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass sie mittlerweile von jedem mit Elvi angesprochen wurde, obwohl ihr richtiger Vorname Ellen lautete. Sie wäre ja auch noch mit Ellie einverstanden gewesen, wie sie vor ihrem Tod von den meisten ihrer Freunde genannt worden war. Aber nein, jeder nannte sie einfach Elvi!

„Hier, vergiss nicht deine Glöckchen.”

Verärgert verzog Elvi den Mund, als sie das Fußkettchen mit den kleinen Glocken entgegennahm. Es war ein Geschenk von Mabel, das die ihr gleich nach ihrer Wandlung geschenkt hatte - angeblich, weil sie es für so reizend hielt. Elvi kannte aber den wahren Grund, denn Mabel wollte verhindern, dass sie sich an sie heranschlich und sie erschreckte. Mabel hätte das zwar nie zugegeben, doch seit Elvis Tod machte die ihr ein wenig Angst. Wären sie nicht schon so lange Zeit befreundet gewesen, hätte sie sich möglicherweise längst von Elvi abgewandt. Also trug sie die albernen Glöckchen zu Hause, während sie beide sich nach und nach an die Veränderungen ihrer Lebensgewohnheiten anpassten.

Außerdem sollte das angeblich zu ihrem Image als sinnliche Vampirin gehören. In ihrer Aufmachung kam sie sich allerdings überhaupt nicht sinnlich, sondern schlicht lächerlich vor. Dennoch kam sie all diesen Ansinnen widerspruchslos nach. Immerhin waren die Leute von Port Henry der einzige Grund, dass sie diesen gravierenden Einschnitt in ihr Leben überstanden hatte, und deren Besuch ihres Restaurants machte es ihr überhaupt möglich, über die Runden zu kommen. Wenn sie sie also in einem schwarzen Kleid und mit einem Fußkettchen mit kleinen 3 Glocken sehen wollten, dann würde sie ihnen diesen Gefallen eben tun.

„Fertig?”, fragte Mabel, als Elvi die Schultern straffte. „Ich muss noch meine Haare hochstecken”, sagte sie. „Lass sie heute Abend so”, schlug ihre Freundin vor. „Aber.... ”

„Es sieht so besser aus.”

Seufzend fuhr Elvi sich durchs Haar und wünschte, sie könne in einen Spiegel schauen, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Frisur ordentlich saß. Aber jeder wusste, Vampire hatten kein Spiegelbild, auch wenn es unmittelbar nach ihrem Tod noch der Fall gewesen war. Da sie davon ausging, dass dieser Zustand nach und nach eintrat und sie nicht auch noch diesen letzten Beweis für den Verlust ihrer Menschlichkeit sehen wollte, hatte sie im Bad und im Schlafzimmer alle Spiegel abgehängt, und verständnisvoll, wie Mabel nun einmal war, nahm sie auch die übrigen Spiegel im Haus von den Wänden, bis nur die in den Gästezimmern und einer in ihrem eigenen Badezimmer übrig waren. Elvi war deshalb vollständig darauf angewiesen, dass andere ihr sagten, ob sie gut aussah oder nicht.

„Brauche ich noch Make-up?”, fragte sie.

„Du brauchst nie Make-up”, erwiderte Mabel. „Aber nimm noch diesen weinroten Lippenstift, der dir so gut steht.”

Sie ging ins Badezimmer, trug den Lippenstift aus langjähriger Routine auch blind so auf, dass er nicht über die Konturen ihres Mundes hinausgeriet, dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück.

„Perfekt”, sagte Mabel, als sie sie sah. „Und jetzt komm.”

Auf dem Weg zum Restaurant schwieg Elvi und musterte Mabel aus den Augenwinkeln, wobei ihr mit Sorge auffiel, wie blass ihre Freundin war und dass sich dunkle Ränder unter ihren Augen abzeichneten. Mabel hatte behauptet, sie habe Elvi ausschlafen lassen, weil die so übermüdet wirkte, doch in Wahrheit sah sie selbst in letzter Zeit auch bleich und abgekämpft aus. Die Frau war zweiundsechzig, und sie sollte es mit der Arbeit etwas langsamer angehen lassen. Stattdessen jedoch kümmerte sie sich um das Restaurant, die Pension und zudem noch um alles, was am Tag im Haushalt anfiel, was Elvi nicht mehr erledigen konnte.

Anstatt einen Gang zurückzuschalten, hatte Mabel inzwischen mehr zu tun als zuvor, und das bereitete ihr Sorgen.

Mabel war nicht nur ihre Freundin, sie war auch so etwas wie ein Rettungsanker. Elvi war sich sicher, dass sie ohne ihre Freundin das alles nicht durchgestanden hätte, und in letzter Zeit grübelte sie oft darüber nach, was werden sollte, wenn Mabel irgendwann einmal starb. Sie hatten beide schon ihre Ehemänner und etliche Freunde an den Tod verloren. Wie viele Jahre würde Mabel noch dem Sensenmann aus dem Weg gehen können? Elvi hoffte, es würden noch mindestens zwanzig sein, aber da musste sie schon großes Glück haben. Wenn das Glück sie im Stich ließ, würden es deutlich weniger sein, und diese Vorstellung betrübte Elvi zutiefst.

„Da wären wir”, sagte Mabel gut gelaunt, als sie einparkte.

Elvi löste den Sicherheitsgurt und stieg aus, um Mabel zum Hintereingang des Lokals zu folgen. Dabei wanderte ihr Blick hinauf zum Nachthimmel, der von Sternen übersät war und den nicht eine einzige Wolke trübte. Den Tag über war es sicher genauso wolkenlos gewesen, und die Sonne hatte bestimmt für angenehm hohe Temperaturen gesorgt.

Diese Sonne war eine Sache, die Elvi ganz entsetzlich fehlte. Sie hatte den Sommer immer geliebt, wenn die Sonne schien und die Blumen, die Bäume und das Gras zum Wachsen brachte. Wäre sie vor die Wahl zwischen Essen und Sonne gestellt worden, sie hätte nicht gewusst, wofür sie sich entschieden hätte.

Ihr Blick glitt zum Hintereingang, als Mabel die Tür öffnete und ihnen eine Woge aus Lärm und Stimmengewirr entgegenschlug. Es war so laut, als würden sich die Gäste nicht im Lokal, sondern in der Küche aufhalten. Eine derartige Lautstärke hatte Elvi noch nie erlebt. Irritiert ging sie an Mabel vorbei und durchquerte die Küche, um in den kleinen Flur zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil des Lokals zu gelangen. Erstaunt schaute sie durch den Perlenvorhang und konnte kaum fassen, wie viele Leute sich an den Tischen und der Bar drängten.

„Mein Gott, das verstößt doch bestimmt gegen die Brandschutzvorschriften”, murmelte sie.

„Das hat der Brandmeister auch gesagt, als ich ihn und seine Familie zu ihrem Tisch geführt habe”, meinte Mabel amüsiert. „Er hat mich gewarnt, wenn wir noch mal so viele Gäste erwarten, müssten wir ein paar Tische draußen auf den Fußweg stellen.” Elvi nickte gedankenverloren, wunderte sich aber nicht, dass Mike Knight nicht auf einer Räumung des Lokals bestanden hatte.

Immerhin wurde die Party zu Ehren seines Sohnes gegeben. Mike war der Chef der örtlichen Feuerwache, und er war ein beliebter Mann, der Freunden und Nachbarn gern half. Das Gleiche ließ sich auch über seine Frau Karen sagen, und selbst Sohn Owen kam ganz nach seinen Eltern. Die Zahl der Teenager, die inmitten der Erwachsenen anwesend waren, lieferte dafür einen überzeugenden Beweis. Auf Elvi wirkte es, als habe sich die halbe Stadt in ihrem Lokal versammelt.

„Ich weiß, im ersten Stock ist nicht eingedeckt, aber vielleicht sollten wir ihn doch öffnen, damit es hier nicht ganz so voll ist”, überlegte Elvi und ignorierte den Hunger, der sich bei ihr angesichts so vieler Menschen regte. So überfüllt, wie das Lokal war, konnte die Klimaanlage der Hitze nicht Herr werden, die diese Menschen ausstrahlten. Es war warm, die Leute schwitzten, und die von ihnen ausgehenden Gerüche rollten wie eine Welle über Elvi hinweg, deren Zähne bereits zu wachsen begannen. Das halbe Glas Blut zu Hause war nicht genug gewesen, wie ihr jetzt mit Schrecken bewusst wurde. Sie hätte einen ganzen Beutel trinken sollen.

„Schon geschehen”, erwiderte Mabel und zeigte hinauf zur Empore, wo sich fast noch einmal so viele Menschen tummelten.

Elvi starrte nach oben, doch ihre Sinne waren allein auf Mabel gerichtet, und plötzlich stellte sie fest, dass sie langsam und tief einatmete, um das Aroma zu genießen. Mabel hatte Diabetes vom Typ 2, und ihr Blut war immer eine Spur süßlicher als das der anderen, obwohl sie Tabletten nahm. Süßlicheres Blut war zugleich köstlicher, wie Elvi bemerkt hatte, als sie ein paar Mal von ihrer Freundin getrunken hatte, da sie kurz nach ihrer Wandlung keine andere Quelle gewusst hatte, um ihren Hunger zu stillen. Sie gestattete es sich, das Aroma zu genießen, doch als sich ihre Zähne regten, da wandte sie sich mit einem leisen Stöhnen von Mabel ab.

„Du hast Hunger.” Mabel schaute sie besorgt an. Nach fünf Jahren erkannte sie die Anzeichen auf Anhieb. „Ich hätte dich das Glas austrinken lassen sollen, das ich dir gebracht hatte. Soll ich dir noch ein Glas bringen, bis der Kuchen fertig ist?”

Elvi überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. Es wühlte sie jedes Mal auf, wenn sie von einem anderen Menschen trank, weil sie sich dann vorkam wie ein Tier. Doch je stärker der Hunger wurde, umso weniger regte sie sich auf. Sie konnte warten, und das sagte sie ihr auch. Mabel nickte, ihr Blick jedoch wanderte zu den Helfern in der Küche, Pedro und Rosita, und zu den Kellnern, die hin- und hereilten, um alle Gäste zu bedienen.

Um das Personal auf sich aufmerksam zu machen, klatschte sie in die Hände. „Jeder, der hier nicht gebraucht wird, hält sich von der Küche fern. Außer Elvi, mir, Pedro und Rosita hat hier niemand was zu suchen.” Sie lächelte kurz dem mexikanischen Paar zu, dann fügte sie an: „Ich werde die Gerichte auf den Tisch im Flur stellen, sobald sie fertig sind, und ihr legt da auch die neuen Bestellungen hin, damit ich sie entgegennehmen kann.”

Elvi wurde etwas ruhiger, als die Bedienungen den Raum verließen, und sah Mabel dankbar an. Es war nicht das erste Mal, dass sie bis auf Pedro jeden weggeschickt hatte. Sie verstand es als Vorsichtsmaßnahme, wenn Elvi Hunger verspürte, und die wusste diese Geste zu schätzen.

„Ich kümmere mich besser mal um den Kuchen”, erklärte Elvi leise, entfernte sich von dem Perlenvorhang und schaute in die Küche. „Vielleicht sollte ich zwei backen, denn ich glaube kaum, dass einer bei dieser Masse Leute genügt.”

„Das hätte ich dir auch gleich vorgeschlagen”, stimmte Mabel ihr zu. Mit einem knappen Nicken machte sich Elvi an die Arbeit.

 

„Wer ist es?” DJ erhob sich von der Sitzbank und renkte sich den Hals aus, um zu sehen, wer das Lokal betreten hatte. Seine Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt.

„Niemand, den wir kennen”, versicherte Victor ihm. Von seinem Platz aus musste er sich nur zur Seite beugen, um den großen, schlanken jungen Mann zu sehen, der am Eingang stand.

Der Junge betrachtete mit finsterer Miene die Menge, die ihn nun genauso neugierig musterte wie zuvor Victor und DJ. Er konnte kaum älter als zwanzig sein und war in typischer Gothic-Manier gekleidet: weite schwarze Jeans, ein wallendes schwarzes Hemd, Nietenhalsband und ebensolche Armbänder. Sein Haar trug er lang, und es war so schwarz, dass es gefärbt sein musste. Dazu war er geradezu unnatürlich blass.

Er ist geschminkt, überlegte Victor, als er die schwarzen Lippen und die zahlreichen Piercings sah.

„Einer von uns?”, fragte DJ, der seine Bemühungen aufgab, etwas zu sehen, und sich zurück auf seinen Platz sinken ließ.

„Das wäre er gern”, brummte Victor und wandte sich von dem Jungen ab, mit dem sich mittlerweile Brunswick unterhielt.

„Gothic-Aufmachung, Make-up und die Miene auf finster getrimmt.”

„Wundert mich nicht”, meinte DJ. Als Victor ihn fragend anschaute, ergänzte er: „Na, ich meine damit, dass wohl kaum einer von unserer Art auf eine Kontaktanzeige in der Zeitung reagieren wird.”

„Hmm”, gab Victor vielsagend zurück. Seiner Meinung nach konnte niemand wissen, was andere Leute tun würden oder nicht. Er hatte in seinem Leben schon seltsamere Dinge zu Gesicht bekommen.

„Wenn sie tatsächlich eine von uns ist, dann wird sie den Typ sofort durchschauen”, sagte DJ unbesorgt. „Natürlich kann sie.... ”

Victor sah den jüngeren Mann neugierig an, da der mitten im Satz verstummt war. Als er dessen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte, fragte er: „Was ist los?”

„Ich glaube, dieser Leguan hat sich gerade bewegt”, antwortete er misstrauisch.

Als Victor sich daraufhin die leuchtend grüne Plastik genauer ansah, fiel ihm auf, dass es sich sogar um zwei erwachsene Leguane mit zwei Jungtieren auf dem Rücken handelte. Sie alle waren stocksteif, und Victor schüttelte schließlich den Kopf. „Sei nicht albern, das ist nur eine Skulptur.”

„Nein, ich bin mir sicher, eben.... ”

„Sie können sich zu diesen beiden Herren setzen.” Brunswick war offenbar nicht klar, dass der Junge sich nur für einen Vampir ausgab, da er ihn zu ihnen setzte.

„Vlad, das sind Victor Argeneau und DJ Benoit”, machte der Officer sie miteinander bekannt. „Gentlemen, das ist Vladimir Drake.”

„Vladimir Drake?”, wiederholte DJ und verzog dabei das Gesicht, als habe er Schmerzen. Victor wusste genau, was der jüngere Mann dachte. Es war schon schlimm genug, sich als Vampir auszugeben, aber so etwas zeigte nun wirklich nur schlechten Geschmack.

„Ja. Haben Sie damit etwa ein Problem?”, gab der Junge abweisend zurück und ging dann zum Gegenangriff über. „Und welcher Vampir nennt sich schon DJ? Wofür steht das überhaupt?”

„Das steht für Dieudonne Jules”, antwortete er freundlich. „Die Leute kommen mit DJ einfach besser zurecht.”

„Dieudonne? Wie in ,gottgegeben’?”, fragte Vlad spöttisch, der zumindest ein wenig Französisch zu beherrschen schien.

Allerdings war das keine sehr große Leistung, da sie sich in Kanada befanden. „Und Benoit ist die Kurzform von Benedictine, richtig? Das heißt so viel wie gesegnet’.” Nun verzog er den Mund. „Ein Vampir mit den Namen Gottgegeben und Gesegnet? Ja, sicher.”

DJ blickte zu Victor. „Man sollte meinen, dass er sich mit Namen richtig gut auskennt und intelligenter ist, als er aussieht, aber ich habe seinen Verstand gelesen.”

Victor musste flüchtig lächeln. Auch er hatte einen Blick in den Kopf des Jungen geworfen und dabei festgestellt, dass Vlad die Bedeutung von Dieudonne durch den Französischunterricht in der Schule hatte ableiten können und dass er selbst in Wahrheit Benedict hieß. Den Namen hatte er schon vor Jahren nach-geschlagen und dabei auch Benoit als Abwandlung entdeckt. Anschließend hatte er sich wochenlang von jedem so anreden lassen, bis er auf einen neuen Trend aufmerksam geworden war.

„Ja, als ob ihr zwei meine Gedanken lesen könntet”, amüsierte sich Vlad. „Ich möchte wetten, ihr seid nicht mal richtige Vampire.”

„Zeig du mir deine, dann zeige ich dir meine”, murmelte DJ-

„Was soll ich euch zeigen?”, fragte Vlad lachend. „Wollt ihr vielleicht meinen Schwanz sehen? Ihr seid keine Vampire, ihr seid Schwule!”

Victor legte beschwichtigend eine Hand auf DJs Arm, dann wandte er sich dem Jungen zu und sah ihm lange und eindringlich in die Augen, bis der sich unter seinem Blick zu winden begann. Schließlich machte er den Mund auf und ließ seine Zähne herausgleiten, damit sein Gegenüber die langen, scharfen und perlweißen Eckzähne betrachten konnte, dann zog er sie wieder ein und schloss den Mund.

„Heilige Scheiße!”, keuchte Vlad, der unter seinem bleichen Make-up noch weißer geworden war und zu zittern begann. Seinem großspurigen Gehabe zum Trotz hatte er ganz offensichtlich nicht damit gerechnet, an diesem Abend einem echten Vampir zu begegnen. Nach Victors Einschätzung war der Junge nur noch Sekunden davon entfernt, sich in die Hose zu machen.

„Lauf lieber nach Hause, Kleiner”, knurrte er ihn an, da seine Geduld bald am Ende war. „Hier spielen die großen Jungs, und bei denen hast du nun wirklich nichts zu suchen.”

Vlad zögerte vielleicht einen Herzschlag lang, dann sprang er von der Bank auf und rannte zur Tür. Victor lehnte sich zur Seite, um ihm nachzusehen, wie er das Restaurant verließ. Im gleichen Moment tauchte er in Vlads Gedanken ein, ließ ihn kurz innehalten, löschte seine Erinnerung und ersetzte sie durch eine an ein enttäuschendes Treffen mit einer übergewichtigen, alten Elvi.

Zufrieden darüber, dass Vlad nicht durch Toronto rennen und jedem von Vampiren berichten würde, die in Port Henry ihr Unwesen trieben, lehnte sich Victor zurück.

„Wenigstens einer weniger, für den wir ein Bett finden müssen”, erklärte Brunswick, als er zusah, wie die Tür hinter Vlad zufiel, dann setzte er sich wieder zu ihnen an den Tisch und musterte Victor neugierig. „Konnten Sie wirklich seine Gedanken lesen?”

Victor hob bei dieser Frage eine Augenbraue. Wenn Elvi tatsächlich eine von ihnen war, dann sollte sie diese Fähigkeit auch besitzen, und Brunswick müsste davon wissen. Schließlich behauptete er von sich, gut mit ihr befreundet zu sein. Andererseits war es Sterblichen meistens unangenehm, wenn sie wussten, dass jemand sich in ihrem Kopf umsehen konnte. Ein solches Wissen würde eine Freundschaft belasten, weshalb Elvi es womöglich für sich behalten hatte. Ehe er sich entschließen konnte, ob ein solches Eingeständnis für Ärger sorgen würde oder nicht, kamen die Gespräche im Lokal abermals zum Erliegen. Brunswick sah zur Tür. „Da ist noch einer. Wir reden später weiter.”

Victor sah ihm nach, als er den Tisch verließ, dann beugte er sich erneut zur Seite, um einen Blick auf den Neuankömmling zu werfen. Er fluchte, als er den großen blonden Mann hereinkommen sah, der sich im Lokal umsah.

„Wer ist es?”, wollte DJ wissen, der abermals versuchte, etwas zu sehen, obwohl das schon beim ersten Anlauf nicht geklappt hatte.

„Harpernus Stoyan”, erwiderte Victor, ohne den Deutschen aus den Augen zu lassen, der eine Cordhose und ein legeres Hemd trug.

„Harper?”, fragte DJ überrascht. „Hier? Woher weiß der denn.... ”

„Vermutlich aus der gleichen Quelle wie wir”, murmelte Victor und setzte sich wieder gerade hin, als Brunswick den Mann zu ihnen an den Tisch führte.

„Du meinst, er hat tatsächlich auf die Kleinanzeige geantwortet?”

Der jüngere Mann klang so verblüfft, dass Victor unwillkürlich die Augen verdrehte. Das war ein weiteres Zeichen für DJs Jugendlichkeit.... weniger auf sein Alter, als auf seine Denkweise bezogen. Victor selbst hatte vor langer Zeit erfahren müssen, dass ein Unsterblicher, wenn er eine gewisse Phase in seinem Dasein erreichte, zu fast allem bereit war, um einen Lebensgefährten zu finden. Zu seinem Leidwesen hatte er seine Lebensgefährtin bereits gefunden, geliebt und wieder verloren, sodass er sich keine großen Chancen ausrechnete, jemals auf eine andere Frau zu treffen, die seiner ersten nachfolgen konnte.

„Das ist begann Brunswick, als er den Tisch erreichte. Weiter kam er jedoch nicht, da Harper bereits erkannt hatte, wer dort saß.

„Victor! DJ!”, rief er. Seine freudige Überraschung verwandelte sich recht schnell in Verärgerung, und er schüttelte den Kopf.

„Nicht zu glauben, dass ich hier ausgerechnet auf euch beide stoße. Sieht aus, als hätte ich Konkurrenz bekommen.”

Brunswick stutzte. „Sie drei kennen sich?”

„Wir sind alte Freunde”, gab Victor zurück, während er aufstand, um Harper zu begrüßen.

„Also, das hätte ich nun wirklich nicht erwartet”, äußerte Brunswick, sah an ihnen vorbei zur Tür und seufzte wieder. „Nummer vier von sechs.”

Harper und Victor drehten sich gleichzeitig um und schauten zur Tür, dann zogen sie beide eine finstere Miene, als sie den nächsten Neuankömmling erkannten.

„Edward Kenric”, sagte DJ, der den Mann ebenfalls sehen konnte, da er an den Gang gerutscht war. Im Gegensatz zu den anderen war Edward offenbar der Meinung gewesen, ein mexikanisches Restaurant verlange nach Abendgarderobe, und so war er in einem Smoking erschienen, das Haar hatte er glatt nach hinten gekämmt, um seine aristokratischen Gesichtszüge zu betonen.

Brunswick entging DJs abfälliger Ton nicht. „Ich nehme an, den kennen Sie auch?”

„Oh ja, den kennen wir”, bestätigte DJ und fügte dann leise hinzu: „Diesen aufgeblasenen Arsch.”

Der Captain lächelte flüchtig, fragte dann aber sogleich: „Ist er einer von Ihnen?”

Fast hätte Victor verneint, in der Hoffnung, Brunswick würde den anderen Unsterblichen zum Gehen auffordern. Dann wäre die ganze Sache nicht mehr ganz so kompliziert. Doch als er eben zu einer Antwort ansetzen wollte, fiel ihm noch rechtzeitig ein, erst Brunswicks Gedanken zu überprüfen. Dabei stellte er fest, dass ihm fast ein schwerer Fehler unterlaufen wäre. Der Officer hatte an seiner Reaktion längst erkannt, mit wem sie es zu tun hatten, und seine Frage diente in Wahrheit dem Zweck festzustellen, ob Victor eine ehrliche Antwort gab oder ob er versuchen würde, einen Mitbewerber um Elvis Gunst auszuschalten.

„Ja, er ist einer von uns”, entgegnete er schließlich und ergänzte dann: „An unserem Tisch wird es allmählich zu eng. Vielleicht sollten Sie ihn woanders Platz nehmen lassen.”

„Vorzugsweise sehr weit von uns weg”, pflichtete Harper ihm bei.

„Zum Beispiel auf dem Parkplatz”, schlug DJ vor.

„Der Parkplatz ist im Moment belegt”, konterte Brunswick amüsiert. „Ich finde, er sollte sich zu Ihnen setzen. Danach werden wir uns wohl nach einem anderen Tisch umsehen müssen, vorausgesetzt, die anderen sind auch echt.”

Bevor einer von ihnen etwas erwidern konnte, hatte der Captain sich bereits umgedreht und ging zur Tür.

„Du hättest ihm sagen sollen, dass Edward keiner von uns ist”, murmelte DJ, während er Brunswick nachblickte. „Jetzt haben wir diesen Mistkerl am Hals.”

„Nein, das hätte er nicht”, widersprach Harper und setzte sich Victor und DJ gegenüber. „Das war ein Test. Brunswick hatte bereits geahnt, dass Edward zu uns gehört. Hätte Victor es verneint, dann hätte er gehen müssen.” Damit war bewiesen, dass er ebenfalls die Gedanken des Mannes gelesen hatte. Als er dann wieder zur Tür sah, machte er eine verwunderte Miene. „Ist das nicht.... wie heißt er doch gleich?” Harper dachte angestrengt nach. „Verdammt.... Allessandro irgendwas?”

„Cipriano”, murmelte Victor beim Anblick des Mannes, der soeben das Lokal betreten und sich zu Edward und Brunswick gestellt hatte. So wie sie war auch Allessandro recht lässig gekleidet, sein weites weißes Hemd steckte locker in der Jeans.

„Cipriano ist okay”, warf DJ ein. „Dann fehlt nur noch einer. Sobald er eintrifft, bekommen wir hoffentlich endlich diese Elvi zu sehen.”

„Dann sind wir insgesamt sechs?”, fragte Harper interessiert.

„Fünf. Ich bin nur sein Fahrer”, berichtigte DJ ihn und fügte hinzu: „Allerdings gab es noch einen sechsten Kandidaten, aber der war nur ein Möchtegern-Vampir und hat sich getrollt, nachdem Victor ihm die Zähne gezeigt hat.” Harper lachte, doch dann wurde er auf irgendetwas an der Tür aufmerksam.

„Der Letzte ist eingetroffen”, verkündete er und kniff die Augen zusammen. „Er ist keiner von uns, aber da ist etwas.... ” Er hielt inne und stutzte. „Da stimmt was nicht. Er ist schwer zu lesen, seine Gedanken sind chaotisch.”

Victor lehnte sich zur Seite und warf einen prüfenden Blick auf den Mann. Der machte einen recht normalen Eindruck: braune Haare, durchschnittliches Aussehen, eine Cordjacke über einem lässigen Oberteil, dazu eine Anzughose. Als Victor in den Geist des Mannes eindrang, begegnete ihm ein Durcheinander aus Zorn und unzusammenhängenden Gedanken. Sein Name war Jason Lerner, und Victor hatte sich kaum zu dessen wahren Absichten vorgearbeitet, da erklärte Harper „Er ist verrückt. Er ist hergekommen, um Elvi zu pfählen, aber nicht um zu sehen, ob sie seine Lebensgefährtin sein könnte.”

„Das war seine Absicht”, gab Victor zurück und kämpfte sich weiter durch den Kopf des Mannes. „Aber Brunswick hat ihm soeben Edward und Allessandro als Unsterbliche vorgestellt, und jetzt glaubt er, dass sie ihm als Ziel genügen.”

„Shit”, murmelte DJ und richtete sich auf, weil er sehen wollte, was sich da vorn abspielte.

„Ich glaube, keiner der beiden hat sich die Mühe gemacht, ihn zu lesen”, überlegte Harper „Kannst du den Mann kontrollieren, Victor? Ich kann es nicht, aber du bist älter, und vielleicht.... ”

Harper brach mitten im Satz ab, da Victor aufsprang und zur Tür rannte.