Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich nicht mehr träumte. Ihre Stimme war nicht in meinem Kopf, sondern sie drang von außen an mein Ohr: »Dieser verdammte Mistkerl hat euch verraten! Steht endlich auf, ihr müsst sofort hier weg!«

Als sich meine bleiernen Lider öffneten, blickte ich in zwei von Tränen glitzernde Rehaugen. Hill zerrte an der Bettdecke und entblößte ungeniert unsere nackten Körper.

»Hab mich um ihn gekümmert, ihm seine Lügen geglaubt … War doch einer von uns, oder? Wie konnte ich mich nur so täuschen? Dieser Hurenbock hat euch verraten, ich fass es nicht … Steht doch endlich auf!«, schrie sie hysterisch. Blut klebte an ihren Händen. Endlich war ich voll da – und begriff.

Jack, der es immerhin schon in seine Hose geschafft hatte, warf hektisch unsere Sachen in die Taschen. Aber ich war wie gelähmt. Gebannt starrte ich auf Hills Hände.

Das Blut! »Was ist passiert, bist du verletzt? Wo ist George jetzt?« Endlich setzte sich auch mein Körper in Bewegung. Umständlich schlüpfte ich in meine Hose und wäre dabei fast hingefallen. Mein Puls klopfte hart in meinen Schläfen. Bloß keine Panik! Hill würde doch hören, wenn sie kamen?

»Dieser blöde Wichser verpfeift keinen mehr«, sagte sie trotzig und schniefte.

»Du hast ihn doch nicht umgebracht?«, rief ich, wobei ich sie am Handgelenk packte. Innerhalb weniger Sekunden sah ich, was passiert war:

George schleuderte Hill gegen die Küchenzeile und ließ ihren Schädel auf die dicke Platte knallen. Keine Frage, er wollte sie töten!

Benommen packte Hill nach dem Erstbesten, was sie zu fassen bekam, und rammte ihm ein Messer seitlich durch die Kehle. Blut spritze aus seinem Hals, als sie die Klinge herauszog.

»Danke für den Fick, du Miststück«, röchelte George und knallte nach hinten auf die Fliesen, wo er mit einem steifen Lächeln auf seinem knochigen Gesicht starb …

»Dachte wohl, ich würde schon schlafen und das leise Kratzen des Stiftes nicht hören, als er der AMF eine Nachricht in sein MP schrieb, doch selbst im Schlaf entgeht mir nicht das kleinste Geräusch!« Hill schluchzte laut auf. »Ich schaute neugierig über seine Schulter, um zu sehen, was er MALVE mitten in der Nacht mitteilen wollte, aber ich erkannte sofort, dass er ein Verräter war. Sie sind hier, hat er geschrieben. Er hat die eMess gesendet, bevor ich es verhindern konnte!« Hills Haare waren jetzt tiefschwarz.

Irgendwie tat sie mir leid. Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon genug durchgemacht.

Oh Gott, wir waren verraten worden! Schon wieder mussten wir fliehen.

»Eure Karre ist da. Steht in der Garage. Kommt schon!«

Zu dritt liefen wir nach unten. Als Jack den Wagen sah, huschte trotz der Hektik ein entzückter Ausdruck über sein Gesicht. »Warum hatten wir gestern nicht schon so ’nen coolen Schlitten? Ein Taifun! Ich fass es nicht!«

Seine Augen leuchteten beim Anblick des silberfarbenen Gefährts wie die eines Kindes an Weihnachten. Wie konnte er in so einem Moment an ein blödes Auto denken, dessen Form zudem Ähnlichkeit mit einem Fisch hatte? Ich hasste Fisch!

»Musste noch auf eure ID-Codes programmiert werden«, erklärte ihm Hill weniger euphorisch.

»Oh Mann, ich flipp gleich aus! Da hat MALVE wirklich keine Kosten gescheut.« Wie ein Gockel um seine Hühner schlich er um den Wagen, wobei er seine Hand sanft über die Karosserie gleiten ließ.

Fast wäre ich auf ein Auto eifersüchtig geworden. »Ich möchte dich nur daran erinnern, dass wir es eilig haben, hier wegzukommen!«

Meine Worte erreichten ihn anscheinend und er wurde sich wieder der Gefahr bewusst, in der wir uns befanden.

Nachdem wir zu dritt vorne Platz genommen hatten, Hill in unserer Mitte, schlossen sich die Türen wie von Geisterhand und auf dem Display im Mittelteil der Konsole strahlte uns eine hübsche Frau an.

»Willkommen an Board, Mr. Sheridan, Mrs. Anderson und Miss McKenzie. Xara begrüßt Sie! Bitte lehnen Sie sich zurück. Die Gurte schließen automatisch.« Das Auto erkannte uns tatsächlich anhand unserer ID-Chips!

Nachdem der Wagen uns die Gurte angelegt hatte, startete der Taifun selbstständig und das Garagentor fuhr nach oben. Xara säuselte mit ihrer lieblichen Stimme weiter: »Bitte schalten Sie auf AUTOPILOT und genießen Sie die Fahrt.«

Doch Jack hatte nicht die Absicht, uns von dieser virtuellen Mieze rumkutschieren zu lassen. »So eine Gelegenheit lass ich mir nicht entgehen«, sagte er grinsend und wechselte sofort in den manuellen Modus. Mit durchdrehenden Reifen schossen wir rückwärts aus der Garage in die dunkle Nacht.

»Wo soll es denn hingehen, Schätzchen Xara?«, scherzte Jack mit der künstlichen Intelligenz, die ihm auch sogleich antwortete: »Bei der nächsten Kreuzung rechts abbiegen.«

Jack drehte den Regler für die Beschleunigung fast bis zum Anschlag rauf. Zum Glück war es sehr spät in der Nacht und die Straßen deshalb so gut wie leer, denn Jack schoss mit schlitternden Reifen um die Kurve und driftete dabei auf die Gegenfahrbahn. Der Teer war nass, aber wenigstens hatte der Regen aufgehört. Wenn wir weiterhin in dieser halsbrecherischen Geschwindigkeit dahinschossen, würden wir nicht mehr lebendig ans Ziel kommen. Mein Freund war wohl lebensmüde!

Gerade, als ich mich irgendwo festkrallen wollte, schlug unser MP Alarm. Es war Ron. »Tut mir leid, dass etwas schief gelaufen ist, aber wir hielten George für vertrauenswürdig. Wie wir von Hill erfahren haben, arbeitete er für die Gegenseite. Ist sie bei euch?«

»Yeah, bin hier«, warf sie bedrückt ein.

»Xara, Route wird geändert. Zwischenstopp bei Wendys Inn«, befahl Ron der künstlichen Intelligenz.

Der Computer gehorchte. »Zwischenstopp wird ausgeführt! Wendys Inn.«

»Da steigst du aus, Hill. Jemand wird sich dort um dich kümmern, Kleines.« Ron klang ernsthaft besorgt.

»Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass uns seit Fahrbeginn ein schwarzer Lightning folgt. Entfernung des Objekts: 0,5 Meilen. Geschwindigkeit: 60 Meilen pro Stunde«, unterbrach uns Xaras digitale Stimme.

»Verdammt«, fluchte Ron aus dem MP. »Xara! Suche Peilsender!«

»Peilsender wird gesucht … bitte warten … bitte warten … Peilsender gefunden.«

»George!«, rief Hill wütend. »Dieser Scheißkerl!«

Jack gab noch mehr Gas. Diesmal krallten sich meine Finger wirklich in das Sitzpolster.

»Xara, Peilsender deaktivieren!«, befahl Ron.

»Peilsender wird deaktiviert. Initialisierung eingeleitet. Deaktivierung erfolgt mittels elektronischer Entladung an der Karosserie. Bitte berühren Sie nicht das Chassis. Entladung in 3 … 2 … 1 …« Ein Teppich aus vielen kleinen Lichtblitzen zog über das Auto hinweg und es roch nach Ozon. »Sender erfolgreich zerstört.«

Die Erleichterung darüber war nicht zu überhören. Sogar ich merkte erst jetzt, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten hatte, den ich nun gepresst ausstieß.

»Okay, ihr liefert Hill ab und folgt weiterhin Xaras Anweisungen. Die programmierte Route bringt euch an einen sicheren Ort. Meldet euch bei mir, wenn ihr am Ziel seid. Ich hoffe, es wird nun nichts mehr schiefgehen!« Mit diesen Worten verabschiedete sich Ron von uns.

Mein rasendes Herz beruhigte sich langsam, doch Jack schien zusehends nervöser zu werden. »Was ist los?«, wollte ich wissen.

»Xara«, sagte er. »Was für ein Auto fährt hinter uns?«

Unvermittelt blickte ich in den Seitenspiegel und erkannte einen dunklen Schatten, der auf uns zuraste.

»Ein schwarzer Lightning.«

»Fuck!«, schrie Jack und schlug mit den Händen aufs Lenkrad. »Gut festhalten, Mädels, mal sehen, was diese Kiste so drauf hat!«

Jack jagte den Motor gnadenlos nach oben und mit ihm meinen Puls.

»Xara, Nachtsichtmodus aktivieren!«

»Nachtsichtmodus aktiviert«, erwiderte Dame Xara und schaltete die Scheinwerfer ab. Tiefschwarze Dunkelheit lag nun vor uns. An die Frontscheibe wurden leuchtend grün die Umrisse der Straße projiziert.

»An der nächsten Kreuzung rechts abbiegen«, kommandierte sie Jack. Dieser konnte so weit abbremsen, dass der Wagen sich nicht überschlug, als wir in die nächste Seitenstraße einbogen. Mit quietschenden Reifen düsten wir weiter durch die Nacht.

Und wieder einmal würden mir die Sehenswürdigkeiten dieses Ortes verborgen bleiben …

»Nach der nächsten Brücke rechts abbiegen«, sagte Xara.

Der Wagen schoss eine unsichtbare Anhöhe nach oben, verlor für einen kurzen Moment die Bodenhaftung und donnerte dann unvermittelt auf die Fahrbahn, als es auf der anderen Seite bergab ging. Sofort stieg Jack auf die Bremse, riss gekonnt das Steuer herum und das Fahrzeug schlitterte um die Kurve.

»Wow, Baby, wo hast du so fahren gelernt?« Entzückt klatschte Hill in die Hände, nachdem Jack bei »in zehn Metern links abbiegen« einen weiteren halsbrecherischen Drift hingelegt hatte.

»Fahrsicherheitstraining«, antwortete er cool, seine Augen konzentriert auf die hellgrüne Projektion an der Scheibe gerichtet.

Mit schweißnassen Händen krallte ich mich in den Sitz, den Puls auf hundertachtzig, und sah ihn unter hochgezogenen Brauen an. »Fahrsicherheitstraining? Ich mach mir gleich in die Hose! Die Lektion hieß wohl eher: Wie-bringe-ich-meine-Freundin-um-ohne-selbst-Hand-anzulegen.«

»Gut, ich bin in meiner Jugend Straßenrennen gefahren«, gestand er.

Ein lang gezogenes »Cool!« kam aus Hills Mund.

Das war doch nicht zu fassen! Ich hatte immer versucht nicht aufzufallen, während Jack es anscheinend voll darauf angelegt hatte. Aber wie hieß es so schön: jung und dumm! Obwohl uns jetzt Jacks Dummheit von damals sehr gelegen kam, wie ich widerwillig einsah.

Xara lotste uns kreuz und quer durch die Stadt. Anscheinend war sie auf Verfolgungsfahrten programmiert, denn wenn wir weiterhin in diesem Zickzack durch die Gegend fuhren, würden wir unser Ziel nie erreichen. Und mein Mageninhalt war schon wieder einmal der Meinung, dass er sich von alldem gerne ein persönliches Bild gemacht hätte.

Endlich erlöste uns ihre digitale Stimme. »Schwarzen Lightning abgehängt. Nehme Kurs auf Wendys Inn.«

Jack schaltete auf AUTOPILOT und lehnte sich stöhnend zurück. »Oh Mann, bin ich aus der Übung.«

»Du warst galaktisch, Baby!« Hill gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Dieses Kind …

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»Ziel erreicht! Willkommen auf dem Snowy Mountain«, weckte uns Xaras Stimme.

Nachdem wir Hill abgesetzt hatten, hatte uns der Taifun die restliche Nacht gut getarnt im Stealth-Modus durch den halben Staat gefahren. Irgendwann waren wir eingeschlafen.

Jetzt schien es früher Vormittag zu sein. Wir hatten keine Ahnung, wo wir uns befanden, weit und breit umgab uns nur tiefster Wald und ich musste dringend für kleine Mädchen.

Während ich mich hinter einer großen Tanne erleichterte, sprach Jack mit Ron. Leider war ich zu weit entfernt, um irgendetwas verstehen zu können. Als ich zum Auto zurückging, das auf einem fast komplett zugewachsenen Waldweg stand, war das Gespräch beendet.

»Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter. Ron hat mir gerade die Route auf das MP überspielt.« Jack ging zum hinteren Teil des Wagens. »Xara, Kofferraum öffnen!«, befahl er und sofort fuhr der Deckel nach oben.

Nachdem Jack zwei weitere große Rucksäcke voller Lebensmittel und anderer wichtiger Dinge, die wir in dieser unzivilisierten Wildnis vielleicht brauchten, herausgeholt hatte, marschierten wir los.

»Was passiert mit dem Auto?«, fragte ich, als wir einen schmalen Pfad nach oben stiegen, der kaum noch zu erkennen war.

»Fährt in die nächste Stadt zurück. Dort wird jemand von MALVE dafür sorgen, dass es uns an nichts fehlt. Xara wird alle drei Tage hier mit Nachschub auf uns warten.«

Er sprach von dem Auto, als wäre es eine Person. Männer und ihre Fahrzeuge … daran würde sich wohl nie etwas ändern.

Ein mildes Klima herrschte auf diesem Berg. Das MP meldete angenehme vierundzwanzig Grad, die Sonne strahlte. Und wie es roch! Nach feuchten Blättern und moosigem Waldboden.

Die Bergluft war unglaublich klar, alles war perfekt; nur die Vögel beschwerten sich zwitschernd über unsere Anwesenheit. Einfach himmlisch! Kein Staub, kein Fisch, kein Lärm. Für einen Moment verdrängte ich den Gedanken, dass wir uns auf der Flucht vor einem kriminellen Konzern befanden, und stellte mir vor, hier mit meinem Tiger ein paar unbeschwerte Tage zu verbringen. Ja, genauso hatte ich mir meinen Urlaub immer ausgemalt! Und was für ein Gentleman Jack war: Voll bepackt – an Bauch und Rücken je einen Rucksack, in den Händen die restlichen Taschen – marschierte er lockeren Schrittes voran. Ich spürte deutlich, wie es ihm auch um sein Herz immer leichter wurde je höher wir kamen. In dieser verlassenen Gegend würde uns niemand finden.

Snowy Mountain – das hörte sich wunderschön an, auch wenn es auf diesem Berg seit Jahrzehnten nicht mehr geschneit haben mochte. Doch der Name des Berges kam mir irgendwie bekannt vor. Als ich nach zwei Stunden Fußmarsch und mindestens drei Blasen an meinen Füßen das kleine Blockhaus sah, vor dem sich in der Sonne ein tiefgrüner Bergsee spiegelte, wusste ich, warum: Hier hatte ich einmal als ganz kleines Mädchen einen traumhaften Urlaub mit meinen Eltern verbracht.

Es war die Hütte von Sam und meinem Vater! Ein nettes Häuschen, das auf kurzen Pfählen stand. Auf dem Dach waren Sonnenkollektoren angebracht, die jedoch kaum auffielen.

Gemeinsam schritten Jack und ich die drei Holzstufen nach oben. Vor der Haustür gab es eine kleine Veranda, die übersät war mit braunen Tannennadeln und altem Laub. Dort stellte Jack unser Gepäck ab.

Auf Zehenspitzen stehend suchte er über dem Türrahmen nach etwas und zog schon bald darauf einen rostigen Schlüssel hervor. Anschließend schaltete er das MP ab, das ihm bis jetzt den Weg gezeigt hatte, und steckte es sich in seine hintere Hosentasche. Genauso wie ich es immer mache, dachte ich grinsend.

Knarzend und schwerfällig ließ sich der Schlüssel im Schloss drehen, doch die alte Tür ging ohne weiteres auf. Im Inneren der Hütte war es dunkel, stickig und staubig. Sofort kribbelte meine Nase und ich musste mehrmals niesen.

Als ich mich von meinem Anfall erholt hatte, war Jack dabei das dritte und letzte Fenster zu öffnen. Davon gab es nur eins neben dem Eingang und zwei weitere an den Seiten. Der kleine Raum war noch genauso eingerichtet wie ich es in Erinnerung hatte, nur dass ein feiner grauer Schleier wie Puderzucker über den Möbeln lag. Gleich rechts, vor dem Fenster neben der Tür, stand ein alter Holztisch mit vier einfachen Stühlen. Daneben gab es eine kleine Anrichte, in dessen Regalen sich verstaubte Teller, Tassen und Töpfe türmten. Im hinteren Teil der Hütte, an der einzigen fensterlosen Wand, stand ein großer Kleiderschrank neben einem winzigen Bett. Es war dasselbe Kinderbett, in dem ich vor vielen Jahren abenteuerliche Nächte verbracht hatte. Aufregende Tage, so wie sie mir mit Jack hoffentlich auch bevorstanden, und erregende Nächte!

In der Wand ohne Fenster befand sich eine weitere Tür. Jack öffnete sie. »Okay«, sagte er gedehnt. »Das Badezimmer ist nicht nach dem neusten Standard eingerichtet.«

Ich schaute an ihm vorbei. Es gab eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette. »Du bist ganz schön anspruchsvoll«, erwiderte ich schmunzelnd.

Jack öffnete den Stromkasten, der neben dem kleinen Badfenster hing, und legte einen Schalter um. Ein leises Summen ertönte. »Die Sonnenkollektoren funktionieren noch, das ist ja schon mal was.« Eine Kontrollleuchte blinkte rot auf.

»Und was bedeutet das?« Ich zeigte auf den blinkenden Punkt.

»Die Batterie ist kaputt. Das bedeutet: Nachts gibt es kein warmes Wasser und wir sitzen im Dunkeln.«

Na ja, man konnte nicht alles haben. Ich war mir jedoch sicher, dass Ron uns eine neue Speicherbatterie besorgen konnte.

»Und wo gedenken wir zu schlafen, Schneewittchen?«, fragte Jack grinsend, als er in den Hauptraum zurückging und das Kinderbettchen betrachtete.

»Na da oben, mein Prinz!« Ich zog ihn zur Leiter, die auf der linken Seite im Raum stand und zu einer Zwischendecke führte.

Jack stieg hinauf, landete aber keine Sekunde später mit einem Satz vor meinen Füßen, sodass er eine Unmenge Staub aufwirbelte. »Da wohnt schon jemand.«

»Was …?« Das wollte ich mir persönlich ansehen. Also zog ich mich an der wackeligen Leiter nach oben und für einen kurzen Augenblick blieb mir vor lauter Freude das Herz stehen: Inmitten der zerrupften Matratze saß zitternd ein Eichhörnchen, das mich aus großen schwarzen Augen ansah. Ich war überwältigt vom Anblick dieses wilden, aber harmlosen Tieres.

»Da sitzt doch nur ein putziges Eichhörnchen!« Ich fand es unglaublich süß.

»Das mein ich ja auch nicht«, drang Jacks Stimme von unten herauf.

Jetzt erst bemerkte ich die unzähligen Spinnennetze, die in den dunklen Ecken der Schlafkoje hingen. »Ich verstehe. Du meinst unsere achtbeinigen Freunde.« Da konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Als ich wieder unten ankam, fand ich Jack vor der Tür auf der kleinen Veranda. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. »Ich schlafe hier draußen. Unter freiem Himmel ist es sowieso viel romantischer.«

»Meinst du, dort gibt es weniger Spinnen als im Haus? Komm, lass uns saubermachen und die Plagegeister vertreiben.« Aber zuerst wollte ich das Eichhörnchen rausbringen, das ich in Gedanken Chipsy getauft hatte.

Als ich zurück in die Schlafkoje kletterte, war es verschwunden. Es musste durch die Klappe am Dach entwischt sein, die ein paar Zentimeter offen stand. Auf diesem Weg war das süße Pelzknäuel wahrscheinlich auch hineingelangt. Schade, dass es sich schon aus dem Staub gemacht hatte. Ich hätte es mir so gerne genauer angesehen.

Gemeinsam trugen Jack und ich die wenigen Möbel nach draußen, damit wir die Hütte gründlich vom Schmutz und Staub der letzten zwanzig Jahre befreien konnten. Jack erwies sich dabei als überaus passabler Hausmann. Logischerweise war ich dafür zuständig, die Spinnweben und Netze unserer mehrbeinigen Hausbesetzer zu entfernen, womit ich ihn natürlich wieder aufzog.

Jacks Rache folgte augenblicklich: Er packte mich und legte mich über seine Schulter. Dann rannte er mit mir in das kühle Wasser des Sees, wo er mich gnadenlos untertauchte. Wir prusteten beide vor Lachen und ich fühlte mich wie ein verliebter Teenager. Wenigstens waren wir jetzt sauber. Doch die schlimmste Arbeit lag noch vor uns.

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Ich könnte nicht behaupten, dass die Hütte vor Sauberkeit glänzte, aber der Boden war gekehrt, die Möbel vom Staub befreit, die Regale gewischt, das Geschirr gewaschen, die Schränke ausgeputzt und das Badezimmer konnte auch wieder barfuß betreten werden.

Die alten Matratzen und zerschlissenen Kissen hatten wir hinter die Blockhütte geräumt. Bis Xara mit der nächsten Lieferung kam, mussten wir mit unseren Schlafsäcken vorlieb nehmen.

Mittlerweile war der Abend hereingebrochen und Jack und ich fix und fertig. Vor der Hütte, am Ufer des Sees, hatte Jack ein Lagerfeuer entzündet, in dessen Glut eine alte Eisenpfanne stand. Darin brutzelten Bratkartoffeln. Der Geruch von gebratenem Speck ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Plötzlich fühlte ich mich viele Jahre zurückversetzt, als ich mit Pa, Mum und Sam an genau derselben Stelle gesessen und Stockbrot im Feuer geröstet hatte. Ich fragte mich, ob Jack sich auch wie im Abenteuerland fühlte, doch sein ernster Gesichtsausdruck ließ das nicht vermuten. Er wirkte sehr nachdenklich und bedrückt.

»Hey«, sagte ich aufmunternd, als ich mich neben ihn auf seinen Schlafsack setzte und einen Arm um seine Schultern legte, »was ist los?«

»Nichts.« Jack versuchte ein unbekümmertes Lächeln aufzusetzen. »Nur müde.«

Er wollte nicht darüber reden. Das war okay. Nach all dem Grauen, das er erlebt hatte, brauchte er Zeit. Zeit, um zu vergessen. Zeit, um darüber hinwegzukommen. Falls das jemals möglich war.

»Es muss fantastisch für dich gewesen sein, als du in deiner Kindheit schon einmal hier warst.« Er versuchte das Thema zu wechseln. Worauf wollte er hinaus? Was beschäftigte ihn? Ich spürte deutlich, dass er sehr intensiv über etwas nachdachte.

»Es war wundervoll. Jetzt, wo ich hier bin, kehren die Erinnerungen Stück für Stück zurück. Ich wünschte, meine Eltern hätten mit mir mehr dieser Ausflüge unternommen.« Ich kuschelte mich enger an ihn, um meinen Kopf auf seine Schulter zu legen. Da er kein Shirt trug, genoss ich die Wärme seiner Haut auf meinem Gesicht.

Jack vergrub die Nase in meinen Haaren, wie er es schon des Öfteren getan hatte, worauf sein stoppelbärtiges Kinn meine Stirn berührte.

Ich wollte nicht schnüffeln – ehrlich! Aber auf einmal sah ich, was Jack beschäftigte: eine Vorstellung, ein bloßer Gedanke und ein möglicher Blick auf die Zukunft.

Zwei Kinder, etwa im Alter von fünf und sieben Jahren, stürzten vergnügt auf uns zu.

»Daddy, erzählst du uns eine Gruselgeschichte?«, flehte ihn das kleine rothaarige Mädchen an.

Jack schloss es lächelnd in seine Arme. »Natürlich, Prinzessin. Welche willst du hören?«

»Die mit dem Gespenst ohne Kopf!«, rief der etwas ältere braunhaarige Junge zu uns herüber, der wie ein Indianer um das prasselnde Lagerfeuer tanzte und einen selbst gebastelten Tomahawk schwang. Während er um das Feuer lief, schossen Flammenkugeln in den Nachthimmel. Keine Frage: Der Junge war der Grund dafür!

»Nein. Lieber die mit dem Gruselhund«, sagte seine Schwester, vor der sich plötzlich der Schatten eines schwarzen Hundes materialisierte.

Auf einmal waren die Kinder verschwunden und Jack saß allein vor der Feuerstelle, mit einem Stock in der Glut stochernd. Er fühlte sich unendlich einsam und traurig.

Jack räusperte sich: »Essen ist fertig.« Der Strom seiner Gedanken riss abrupt ab.

Während er mir einen vollen Teller reichte und wir schweigend aßen, versuchte ich herauszufinden, was das, was er sich gerade vorgestellt hatte, bedeutete. Wünschte er sich vielleicht Kinder? Mit mir? Nein – dafür kannten wir uns zu kurz, als dass sich ein Mann darüber schon Gedanken machte. Fragen konnte ich ihn auch schlecht, weil er glauben würde, ich hätte ihn absichtlich ausspioniert. Also ließ ich es erst einmal auf sich beruhen.

Nachdem wir gegessen hatten, kuschelte ich mich in Jacks Arme, um im Schein des Feuers in dem Tagebuch meines Vaters zu lesen. Ich war zu neugierig und bis jetzt nicht richtig dazugekommen, es anzusehen. Also zog ich das kleine Abspielgerät aus meiner Hosentasche, holte das Buch heraus und überflog ein paar Einträge:

Manchmal höre ich Kates Stimme in meinem Kopf. So deutlich, als würde sie direkt zu mir sprechen. Sie wendet diesen Trick immer an, wenn sie unbedingt etwas haben möchte.

Wie erklärt man einer Dreijährigen, dass sie zum Sprechen ihren Mund benutzen soll und nicht ihre Kräfte? Am besten, wir vermeiden jeden Kontakt zu anderen Menschen, solange sie nicht weiß, was sie tut. Die Gefahr ist zu groß, dass sie entdeckt wird. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn mein Vorgesetzter Norris davon erfährt. Sie ist doch noch ein Kind. Meine kleine Kate – ich würde es nicht überleben, sollte ihr etwas zustoßen … Rose möchte kündigen, damit sie sich selbst um Kate kümmern kann, aber Norris macht Schwierigkeiten … Das Warrior-Projekt steht kurz vor dem Durchbruch. Die Föten habe alle überlebt und sind außergewöhnlich widerstandsfähig. Es ist mir diesmal nicht gelungen, das Projekt zu sabotieren. Norris hat mir Dr. Harcourt zur Seite gestellt, der jeden meiner Schritte überwacht. Er ist ein schrecklicher Mensch

Jack, der bis jetzt über meine Schulter gespäht hatte, um ein paar Blicke auf die Aufzeichnungen zu werfen, nahm mir plötzlich das kleine Buch aus der Hand und klappte es zu.

»Hey«, protestierte ich nicht sehr überzeugend. »Ich wollte mir gerade ein paar Erziehungstipps für meine zukünftigen Kinder einholen, falls ich meine mutierten Gene an sie weitergeben sollte.« Eigentlich wollte ich nur witzig sein, doch Jack nahm das Thema äußerst ernst.

»Leute wie wir sollten erst gar keine Kinder in diese Welt setzen. Das gibt nur Probleme.«

Seine Worte versetzten mir einen Stich ins Herz.

»Du verhütest doch, oder?« Seine Stimme klang kühl.

»Natürlich, aber …«

»Gut«, sagte er, womit für ihn dieses Thema erledigt war.

Ich schluckte und musste schwer gegen meine aufsteigende Enttäuschung ankämpfen. Jack hatte mir soeben unmissverständlich klargemacht, dass er auf keinen Fall Nachwuchs haben wollte. Sofort schossen mir seine Gedanken von vorhin durch den Kopf, als er seine Kinder vor dem Lagerfeuer gesehen hatte. Allein die Vorstellung, Kinder mit besonderen Fähigkeiten in die Welt zu setzen, die von der Gesellschaft niemals akzeptiert würden, jagte ihm unwahrscheinlich große Angst ein. Lieber blieb er allein.

Das kam jetzt reichlich spät, wie ich fand. Als wir uns gestern so leidenschaftlich unter der Dusche geliebt hatten, schien es ihm egal zu sein, ob ich ein MRB-Implantat in meinem Uterus hatte. Der Molekül-Rezeptor-Blocker verhinderte ein Andocken der Spermien an der Eizelle.

Ich hob die Stimme. »Vielleicht willst du auch wissen, ob ich gegen Aids, Hepatitis und PV geimpft bin?« Wo war nur mein Charmeur geblieben? Mein liebenswerter Gentleman? Wenn die Männer eine Frau erst erobert hatten, zeigten sie ihr wahres Gesicht. Und ich dumme Kuh hatte geglaubt, bei Jack würde alles anders sein.

Ich befreite mich aus seiner Umarmung und stapfte beleidigt zur Hütte.

Jack sprang sofort auf, um mir nachzueilen. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen. Ich hab nicht nachgedacht. Aber ein Kind kommt für mich niemals in Frage, das musst du doch verstehen!« Mittlerweile hatte er mich auf der Veranda eingeholt und hielt mich am Arm fest.

»Es ist ja nicht so, als ob ich von dir ein Kind möchte …« jedenfalls nicht gleich, beendete ich meinen Satz in Gedanken. Ich versuchte, ihm nicht direkt in die Augen zu blicken, denn er sollte meine Tränen nicht sehen.

Jack hatte natürlich längst bemerkt, was mit mir los war. Er zog mich fest an sich und ich verfluchte sogleich, dass mich seine Gegenwart dermaßen schwach machte. Als ich mein Gesicht auf seine nackte Brust legte, hatte ich ihm schon so gut wie vergeben.

»Es gibt Menschen, die wollen mich tot sehen«, flüsterte er. »Was wäre ich für ein verantwortungsloser Vater, wenn ich meinen Kindern keine sichere Zukunft bieten könnte? Stell dir nur vor, sie würden meine Mutationen erben. Man würde sie jagen, genauso wie mich. Würdest du das wollen?«

Ich schüttelte den Kopf und mein Herz wurde schwer.

»Ich habe schon genug damit zu tun, selbst zu überleben. Ich kann es mir ja kaum verzeihen, dass ich dich da mit hineingezogen habe.«

»Das war nur eine Verkettung unglücklicher Umstände …« Ich schniefte, umarmte ihn fester.

»Umstände, die mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht haben.« Jack nahm mein Gesicht in seine warmen Hände, und obwohl ich seine Augen in der Dunkelheit kaum sah, traf sein Blick genau in mein Herz. »Du bist das Beste, das mir in meinem Leben passiert ist. Sag nie wieder, dass wir unsere Beziehung einem unglücklichen Umstand zu verdanken haben.«

»Jack …« Ich musste ihn einfach küssen, musste von seine Lippen kosten und schmeckte dabei meine Tränen. »Mir tut es auch leid«, hauchte ich an seinen Mund. »Ich habe mich sehr egoistisch verhalten. Es steht mir nicht zu über dich zu urteilen, nach allem, was dir widerfahren ist.«

Langsam streichelte er mir über den Rücken. »Lass uns schlafen gehen, Kate. Lass uns einfach vergessen, was heute alles passiert ist. Es war so ein langer Tag. Wir sind beide überreizt.«

»Torri, nicht Kate«, wisperte ich und löste mich von ihm.

Während Jack das Feuer löschte und die Schlafsäcke in die Koje brachte, dachte ich über den heutigen Tag nach: Als Hill uns tief in der Nacht geweckt hatte, waren wir noch in Otumi gewesen. Sie hatte George ermordet. Das hatte ich beinahe vergessen. Was sie wohl jetzt machte? Sicher war ihr sehr elend zumute.

Dann wurden wir ja auch verfolgt! Nur Xara, diesem Superauto, und Jacks Fahrkünsten hatten wir es zu verdanken, dass uns die Gegenseite nicht geschnappt hatte. »Geschnappt« war gut ausgedrückt – wahrscheinlich hätten sie uns auf der Stelle getötet, also mich bestimmt. Jack war zu wichtig.

Außerdem kreisten meine Gedanken ständig um Sam. Was er gerade machte? Wie ging es ihm? Ich musste ihn morgen unbedingt anrufen. Er fehlte mir.

Jack schaute von oben auf mich herunter. »Kommst du?« Er klang etwas unsicher, fast schon zögerlich, wie er dort oben am Rand der Schlafkoje hockte. Er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen.

»Gleich«, antwortete ich ihm. »Ich muss vorher nur mal du-weißt-schonwohin.« Und da die Spülung der Toilette defekt war, musste ich dazu rausgehen.

»Fang!«, rief er, als auch schon seine Taschenlampe auf mich zugeflogen kam.

Da der Mond irgendwo hinter den Bergen steckte, war es vor der Hütte dunkler als in Sams Keller. Dafür war der Anblick des Himmels gigantisch. Er war so tiefschwarz, dass die Sterne darin funkelten, als hätte jemand unzählige Diamanten auf schwarzem Samt ausgeschüttet. Was für ein atemberaubender Anblick! Noch nie hatte ich die Milchstraße so gut erkennen können. Wie ein schimmerndes Lichtband zog sie ihre breite Spur über den Himmel.

Da! Dieses große W, war das nicht Kassiopeia? Dort – die sieben Sterne des großen Wagens … und hier drüben, das markante Sternenkreuz des Schwans.

Ich kannte die Sternbilder alle aus meinen Büchern, doch das war das erste Mal, dass ich sie am Himmel erblickte. In Greytown war die Lichtverschmutzung zu groß, außerdem verpestete der Vulkan auf dem Meer, der regelmäßig rauchte, die Luftschichten.

Hätte mich meine Blase nicht so gedrückt, wäre ich wohl ewig auf der Veranda stehen geblieben. Ich schloss die Augen, nahm einen tiefen Zug der frischen Nachtluft und lauschte dem Zirpen der Insekten und dem »Schuhuu« irgendeines Nachtvogels. Wie friedlich hier alles war und diese Natur um mich herum … herrlich. Erdbeben sollten hier laut Ron auch unwahr-scheinlicher sein, fernab von jeglichen Bruchlinien. Von den unheimlichen Erschütterungen hatte ich genug.

Ich machte mich auf den Weg. Gruselig war es schon, hier draußen in der Wildnis. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde mir richtig bewusst, dass wir auf uns gestellt waren. Keine Menschen- oder Mutantenseele im Umkreis von hundertfünfzig Meilen. Zum Glück hatten wir über unser MP Kontakt zur Zivilisation.

Plötzlich kam ich mir klein und allein auf dieser Welt vor.

Den hellen Lichtschein der Lampe hielt ich ein Stück vor meine Füße gerichtet, damit ich nicht über eine der unzähligen Wurzeln stolperte, die aus dem Waldboden ragten wie halb verrottete Arme toter Menschen. Mir kam es fast so vor, als wollten sie nach mir greifen.

Ein Schauer überlief mich. Sonst war ich nicht so leicht zu erschrecken, aber dieser unheimliche Ort brachte meine Fantasie zum Erblühen. Zu tief sollte ich mich auch nicht zwischen die Bäume wagen, weil ich ja zurückfinden wollte.

Ich blickte mich um. Da in der Hütte kein Licht brannte, hatte ich keine Ahnung, wie weit ich schon von ihr entfernt war. Also zog ich gleich hinter dem nächsten Baum meine Hose runter und erleichterte mich.

Plötzlich hörte ich ein merkwürdiges Kratzen über mir. Mein Herz pochte wild, als ich einen Blick nach oben wagte. Natürlich war es viel zu dunkel, um irgendetwas zu sehen, aber ich spürte Tannennadeln auf mich herabrieseln.

Da! Da war es schon wieder gewesen. Dieses unheimliche Kratzen! Ich hielt die Luft an, damit ich besser in die Dunkelheit lauschen konnte. Auf einmal schien der Wald um mich herum zu leben. Überall raschelte es, ich hörte ein Scharren, Vögel, die ihr dumpfes Rufen in die Nacht schallten, und das Knarren der Baumstämme.

Mein Herz ratterte; panisch schwenkte ich das Licht der kleinen Lampe zwischen den Stämmen hindurch, wobei ich versuchte, mir mit der anderen Hand die Hose hochzuziehen. Bestimmt würde ich gleich in die funkelnden Augen eines wilden Tieres blicken. Gab es hier noch Wölfe? Waren die nicht schon lange ausgestorben? Plötzlich hoffte ich das mehr als alles andere.

Wieder ein Rascheln – diesmal hinter mir! Ich wirbelte herum und blickte geradewegs in das kleine pelzige Gesicht von … »Chipsy!« Erleichtert stieß ich die Luft aus. »Hast du mich erschreckt! Tu das nie wieder, du unanständiges Nagetier. Hörst du?«

Chipsy nahm meinen Tadel gleichmütig entgegen, starrte mich eine Weile genauso erschrocken an wie ich mich fühlte, und trollte sich davon in die Dunkelheit. Ich sah zu, dass ich zurück zur Hütte kam.

Als ich kurze Zeit später nur mit Slip und T-Shirt bekleidet neben Jack in meinen Schlafsack kroch, konnte ich trotz der Anstrengungen des Tages nicht einschlafen. Jack schien es nicht anders zu gehen. Arm in Arm lagen wir beisammen und starrten durch die geöffnete Dachluke hinauf zum Nachthimmel.

»Da, eine Sternschnuppe! Hast du sie gesehen?«, fragte ich Jack begeistert.

»Ja … jetzt dürfen wir uns was wünschen. Aber du musst es für dich behalten, sonst geht es nicht in Erfüllung.«

Ich schmunzelte. »Das weiß ich doch.«

»Und ich will meinen Wunsch auch für mich behalten.« Jack versuchte ernst zu bleiben.

»Ich schummle nicht. Versprochen.«

»Na dann ist ja alles geklärt«, sagte er. »Wehe du schnüffelst in meinem Kopf rum, während ich meinen Wunsch …«

»Schon gut! Ich hab dich ja verstanden. Ich respektiere deine Privatsphäre. Aber wenn es dir lieber ist: kein Körperkontakt. Dann kann nichts passieren.« Grinsend rutschte ich ein Stück von ihm weg. Sein Wunsch hatte vielleicht etwas mit mir zu tun, und es wäre ihm bestimmt peinlich, wenn ich ihn erfuhr.

Was ich mir wünschte, war ja wohl klar: Eine gemeinsame Zukunft mit Jack. Eine glückliche Zukunft. Und natürlich Kinder. Vielleicht würde Jack seine Einstellung eines Tages ändern.

»Fertig!«, rief er und ehe ich mich versah, lag er schon auf mir.

»Jack!« Lachend trommelte ich mit den Fäusten auf seinen Rücken, aber dann legte ich meine Arme um ihn, damit ich seinen warmen Körper auf mir intensiver genießen konnte.

»Mach dich nicht so schwer«, wisperte ich in sein Ohr.

Jack stützte sich auf die Ellbogen.

Meine Hände wanderten hinunter zu seinem festen Hintern. Jack war … nackt! »Du hast dir doch nicht etwa gewünscht …«

»Natürlich. Was dachtest du denn?« Noch bevor ich etwas erwidern konnte, verschloss er meinen Mund mit leidenschaftlichen Küssen. Seine Hand drang unter mein Shirt und umfasste eine Brust. Zärtlich knetete er sie, bis die Spitze hart abstand. Jacks Handflächen waren leicht rau, aber das erregte mich ungemein. Es gefiel mir, dass Jack so viel stärker war als ich. Er strahlte eine gewisse Dominanz aus, die mich schwach machte. Schwach vor Lust.

Als er mir plötzlich den Slip von den Hüften zerrte, keuchte ich in seinen Mund. Sein Finger drang in mich ein, verteilte die Feuchtigkeit – und ich drückte mich Jack entgegen.

»Du kannst es ja kaum erwarten«, sagte er mit dunkler Stimme. »Du hattest bestimmt denselben Wunsch, gib’s zu.«

»Nein«, hauchte ich, worauf er einen zweiten Finger hinzunahm. »Ich werde dir auch nicht sagen, was ich mir gewünscht habe.«

Sofort zog er seine Hand zurück.

»Jack!« Protestierend wand ich mich unter ihm. Meine Hand glitt zwischen unsere Körper, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Ich massierte Jacks Härte und kreiste mit dem Daumen so lange über die glatte Spitze, bis ein Tropfen hervorquoll. Jack zitterte und stöhnte über mir – da zog ich den Arm zurück.

»Was du kannst, kann ich auch.« Grinsend küsste ich ihn auf die Nase.

»Du bist ein richtiges Biest. Na warte«, wisperte er in meinen Mund. Schon spürte ich seine Erektion zwischen meinen Schenkeln. Mit dem Knie drückte er meine Beine auseinander und drang in mich ein. Unerbittlich schob er sich in mich, immer tiefer. Mein Unterleib pochte um ihn herum und Jack pochte in mir. Ich fühlte mich ihm ausgeliefert, genoss seine sanften Stöße, die umso stärker wurden, je heftiger wir stöhnten, und zerschmolz vor Leidenschaft. Mein Herz wummerte, ein köstliches Ziehen schoss von meinem Unterleib direkt in meine Nippel, und als Jack an ihnen saugte, krampfte sich mein Inneres um seinen Schaft.

»Kate, du bist so … eng!« Jack stieß einen kehligen Laut aus. Während ich meinen Höhepunkt erlebte, spürte ich, wie er mich mit seiner Lust füllte.

»Oh Kate …« Sein Körper bebte, meiner zitterte, und Jack hielt mich fest, als wollte er mich nie wieder loslassen.

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Am nächsten Morgen stand ich vor Jack auf. Er hatte erneut schlecht geträumt und war jetzt wie erschlagen. Ich konnte nicht mehr schlafen, weil ich unbedingt im Tagebuch meines Vaters lesen wollte. Vielleicht enthielt es wertvolle Informationen für MALVE. Außerdem war ich selbst sehr neugierig.

Also setzte ich mich auf die Verandastufen und ließ mich von den ersten Sonnenstrahlen kitzeln. Frühmorgens war die Strahlung nicht so intensiv und man konnte trotz Ozonloch – das mittlerweile schon eine Ozonfläche war – gefahrlos einige Minuten ungeschützt im Freien verbringen.

Hastig überblätterte ich die ersten Seiten in dem winzigen Buch, das ich mir knapp vor meine Nase hielt, weil das Papier immer dichter beschrieben war.

Der Untergrund hat uns ein Kindermädchen empfohlen. Sie hat eine Tochter, etwa in Kates Alter: Veronica. Ihre Akten sind sauber, welch ein Glück!

Rose und ich überlegen trotzdem, auszusteigen. Wir wissen nur nicht, wie wir das anstellen sollen. Ich bin hin und her gerissen. MALVE braucht uns hier. Wir sind im Moment die Einzigen, die Lago-Pharm auffliegen lassen könnten.

Neugierig blätterte ich weiter.

Wir werden Kate nach Greytown bringen, zu meinem Bruder Sam. Hier hat sie schon zu viel Aufsehen erregt.

Bei diesen Zeilen zog sich mein Magen zusammen. Meine Eltern hatten es mit mir, oder besser: mit meinen Fähigkeiten, anscheinend nicht leicht gehabt.

Nach Millies Tod lebt Sam sehr zurückgezogen und lässt niemanden an sich heran. Vielleicht tut Kates Anwesenheit ihm ganz gut. Furchtbar, dass Milli kurz vor Kates Geburt umgebracht wurde. Überfallen, ausgeraubt und übel zugerichtet wurde sie in einem Hinterhof gefunden. Augenzeugen hatten die Männer identifiziert: blaue Augen, ausdruckslose Gesichter, sehr groß … Kate könnte jetzt einen Cousin in ihrem Alter haben.

Mein Herz verkrampfte sich. Wie schrecklich musste das alles für Sam gewesen sein. Kein Wunder, dass er ein kranker Mann war.

Wenn LP etwas mitbekommt, fliegen wir alle auf. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es Katie beibringen soll. Sie und Veronica sind mittlerweile wie Schwestern füreinander.

Veronica … Ja, ich erinnerte mich gut. Laut Datum des Eintrages war ich sechs Jahre alt, als ich unter der Woche zu Sam kam. Ob in dem Buch vielleicht stand, was aus Veronica geworden war?

Ich überflog Seite für Seite, begierig, mehr über meine Eltern, deren Arbeit, ihr Leben, ihre Ängste und mich zu erfahren. Ich erinnerte mich kaum daran, wie ich in jungen Jahren gewesen war. Ich hatte so viel vergessen und verdrängt.

Wir haben heute in Greytown eine Wohnung gekauft, wo wir mit unserer Tochter an den Wochenenden wohnen wollen. Ihr Zimmer bei Sam ist so klein. Sie muss auf so vieles verzichten. Dennoch bin ich froh, dass mein Bruder für sie da ist. Rose und ich sind zwar nicht begeistert von dieser Stadt, aber hier wird Kate am wenigsten auffallen. Es ist schlimm für sie, dass sie nicht mit den anderen Kindern in die Schule gehen darf, sondern Privatunterricht bekommt. Dafür geht sie mit ihrem Digi-Book schon um wie ein Profi. Sie sagt, sie möchte mal Ärztin werden.

Und was war aus mir geworden? Ich führte eine heruntergekommene Pension. Ich hatte es wirklich zu was gebracht.

Da die Tür der Hütte offen war, hörte ich Geschirr klappern. Jack war aufgestanden.

Erneut überflog ich die Monate.

Kate ist sehr gewissenhaft und lernt viel. Sie scheint sich bei Sam wohlzufühlen. Wir hoffen, dass MALVE bald das Schulprojekt organisieren kann und unsere »besonderen« Kinder alle zusammen lernen können. Es ist allerdings mit immens viel Aufwand und großer Gefahr verbunden. Sollte das Projekt auffliegen, hätte MUTAHELP sofort die Namen vieler Kinder.

Nein – besser, wie lassen Kate privat unterrichten. Das ist sicherer.

Rose und ich vermissen sie sehr. Wir freuen uns schon auf unseren Urlaub in den Bergen, wo wir für zwei Wochen zusammen sein werden.

Norris macht jedoch Druck. Die Klone wachsen ihm zu langsam. Momentan gibt es keine Mutanten in unserer Datenbank, die uns bei der Lösung des Problems behilflich sein können.

Ich schluckte. Mein Dad hörte sich schon fast an wie dieser Dr. Harcourt.

Bei der monatlichen »Inspektion«, die diesmal in Winola stattfand, erstaunte mich ein zwölfjähriger Junge. In seinem Blut konnte ich ein besonderes Eiweiß nachweisen. Sein Körper besitzt die Fähigkeit, sich in Windeseile zu regenerieren.

Winola! Mein Herz begann zu rasen. Jack kam aus Winola!

Ich habe seine Blutprobe sofort vernichtet, nachdem ich einige Test damit durchgeführt hatte. LP darf niemals an die Ergebnisse kommen. MALVE habe ich natürlich Bescheid gegeben. Dieses Kind sollten wir im Auge behalten. Es muss beschützt werden.

»Guten Morgen«, hörte ich Jacks Stimme hinter mir. »Magst du Kaffee?«

Ich blickte mich um. Da stand Jack, eine dampfende Tasse in der Hand und nur mit Shorts bekleidet. Sein Haar war wie immer durcheinander. Verschlafen und mit einem Dreitagesbart sah er noch viel süßer aus. Richtig verwegen, wie ein Pirat.

Dankend nahm ich ihm die Tasse ab und bezahlte Jack mit einem Kuss.

»Hmm«, brummte ich. »Dein Bart kratzt.«

Lächelnd setzte sich Jack neben mich. »Ich hab meinen Rasierer vergessen.«

»Lügner«, sagte ich grinsend. »Außerdem kannst du dir gerne meinen ausleihen.« Es war schön, mit Jack über alltägliche Dinge zu plaudern.

»Ich glaube, du bist meinem Vater schon mal begegnet.« Ich hielt Jack das Buch vors Gesicht.

Er nickte. »Ich erinnere mich noch an den Test. Meine Mutter hatte damals furchtbare Angst um mich. Wenn ich mir wehgetan hatte, gingen wir nie zu einem Arzt oder ins Krankenhaus – was ich zum Glück nie nötig hatte. Mum hatte Panik, dass sie mich ihr wegnehmen, um mit mir Experimente zu machen. Ich hab mal ein Gespräch zwischen ihr und Pa belauscht.«

»Ich kann es ihr nachfühlen«, sagte ich. »Mal sehen, ob noch etwas über dich hier drin steht.«

An meinem Kaffee schlürfend, las ich weiter und hielt Jack das Buch so hin, dass er auch hineinsehen konnte.

Ich hoffe, aus unserer kleinen Kate wird mal ein anständiger Mensch. Aber was bietet ihr Greytown für Perspektiven? Ich möchte nicht, dass sie für MALVE arbeitet. Ich sehe an Rose und mir, wie stressig und gefährlich das ist.

»Also ich würde mich freuen, für MALVE zu arbeiten«, murmelte ich. »Ich hab noch nie einen richtigen Job gehabt.«

An die Universität können wir sie auch nie schicken, denn dort wiederholen sie meistens die Bluttests. Sie darf LP niemals in die Hände fallen. Zum Glück hat sie nur gering ausgeprägte psychische Kräfte, aber sie wäre für unsere Projekte nicht uninteressant. Wenn die Klonkrieger zusätzlich die Fähigkeiten hätten, zu wissen, was ihre Feinde denken … nicht auszumalen!

Jetzt war ich ein bisschen stolz, eine Fähigkeit zu haben, die für andere durchaus interessant war. Ich seufzte leise. Immerhin etwas.

Auf den nächsten Seiten wurde ich hellhörig.

Das Warrior-Projekt besteht nun schon seit fünf Jahren, aber die Klone wachsen Norris zu langsam. Sie werden mindestens noch einmal fünf Jahre brauchen, bis sie voll einsatzfähig sind. Sie werden dann immer noch aussehen wie halbe Kinder, aber die effizientesten Tötungsmaschinen sein, die die Welt je gesehen hat.

Ich muss ständig an den Jungen aus Winola denken. Hoffentlich findet Norris ihn nie. Das Protein in seinem Blut, das die Wundheilung beschleunigt, könnte modifiziert vielleicht auch die Wachstumsphasen der Klone verkürzen.

Beinahe verschüttete ich meinen Kaffee, als ich Jack die Stelle zeigte. »Dein Blut ist für Lago-Pharm noch so viel wertvoller«, erklärte ich. »Die haben in ihren Laboren Superkrieger geklont. Stell dir vor, mit deinem Blut könnten sie innerhalb kurzer Zeit eine Armee züchten!«

»Vielleicht sollte ich mich gleich erschießen, wenn ich für die Welt so eine große Gefahr darstelle«, sagte er trocken.

Seine Worte schockierten mich. Ich stellte die Tasse neben meinen Füßen auf die Stufe und legte Jack einen Arm um den Rücken. »Bitte sag so was nicht.«

Jack seufzte und lehnte seine Stirn gegen meine. »Ich weiß im Moment nicht, wie es weitergehen soll. Ich kann mich doch nicht für den Rest meines Lebens verstecken.« Tief sah er mir in die Augen. »Wovon soll ich leben? Außerdem möchte ich dir so eine Existenz nicht zumuten.«

»Wir werden eine Lösung finden«, flüsterte ich und fuhr mit den Fingern in sein Haar. »Vielleicht liegt sie ja in diesem Buch.« Ich gab ihm einen tiefen Kuss, in den ich all meine Gefühle für Jack legte. Wie sehr ich ihn liebte. Für diesen Mann würde ich alles tun, nur um ihn wieder glücklich zu sehen.

Ich genoss einen Moment seine Nähe und seine Körperwärme. Am liebsten wollte ich mich mit ihm in unsere Schlafsäcke kuscheln, aber wir mussten bald los, uns an den Abstieg machen. Xara wartete auf uns mit einer neuen Lieferung. Am meisten freute ich mich auf eine ordentliche Matratze. Mir tat von der Nacht jeder Knochen weh, aber Jack strahlte reine Vitalität aus. Mit seinen übermenschlichen Kräften würde es für ihn ein Kinderspiel sein, die Matratze den langen, mühevollen Aufstieg zu tragen.

Ich kuschelte mich an Jack, und gemeinsam schauten wir in das Buch. Was ich jetzt las, ließ mir allerdings das Blut in den Adern gefrieren:

Norris hat heute einen fünfzehnjährigen Jungen aus dem Waisenhaus geholt. Er hat die Gabe, ganze Körperteile nachwachsen zu lassen.

Dr. Harcourt, dieser Bastard, schnitt dem Jungen bei vollem Bewusstsein einen Finger ab. Den ganzen Tag saß er am Bett des weinenden Kindes und verfolgte fasziniert, wie der Finger nachwuchs. Der Junge hatte dabei unvorstellbar große Schmerzen. Entgegen Harcourts Anweisungen, spritzte ich dem Kind ein Sedativum.

Einen Eintrag später schrieb mein Vater:

Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich nichts für die Kinder tun kann, die wie Sträflinge in winzigen Zellen hausen und die einzige Abwechslung, die sie haben, Tests sind, die an ihnen gemacht werden?

Heute ist wieder ein Mädchen gestorben, das Harcourts Experimente nicht überlebt hat. Es ist so schrecklich!

Ich meine – ich habe es versucht, habe Norris regelrecht angefleht, den Kindern wenigstens ein schöneres Zimmer zu geben, sie miteinander reden und spielen zu lassen, aber Norris bleibt hart. Er befürchtet, dass sie ihre Kräfte vereinen könnten, um zu entkommen.

Rose würde mich verachten, wenn sie wüsste, was in meiner geschlossenen Abteilung alles passiert. Zum Glück arbeitet sie auf einer anderen Station. Nur wenige wissen von den eingesperrten Mutanten.

Und Kate – wie kann ich sie jemals wieder ansehen?

»Oh Gott«, flüsterte ich. Die Umgebung verschwamm vor meinen Augen, mir wurde schlecht.

Jack wollte mir das Buch wegnehmen, aber ich hielt es eisern fest. Jeder Eintrag konnte von Bedeutung sein. »Lass nur«, wisperte ich. »Ich muss es lesen.«

Ich darf vor Norris nicht so viel Mitgefühl zeigen, sonst werde ich nie sein volles Vertrauen erlangen. Immerhin habe ich schon Zugang zum Zentralrechner, auf dem alle Gräueltaten verzeichnet sind. Mir fehlt nur noch der Code, um die Daten herunterladen zu können …

Was für eine mächtige Armee Norris mit Dr. Harcourts Hilfe bereits geklont hat. Es wird zum Glück noch Jahre dauern, um diese »Menschen« wie am Fließband zu produzieren. Ich muss immer an den Jungen aus Winola denken. Mit seiner Hilfe hätte Norris längst den Durchbruch errungen. Doch jetzt hat er den Schlüssel, die Krieger mit unglaublichen Selbstheilungskräften auszustatten. Wenn ihnen im Gefecht der Arm abgerissen wird, dann wird er wieder nachwachsen …

»Oh Gott, Jack, wir müssen doch etwas dagegen unternehmen können. Das Quälen und Töten muss endlich ein Ende haben!«, rief ich. Mein Herz pulsierte heftig. Was mein Vater alles erlebt hatte … Machtlos hatte er den Grausamkeiten gegenübergestanden.

»Was willst du denn machen? Die Regierung steht hinter MUTAHELP und der Scheinfirma, die stecken doch alle unter einer Decke. Unser Staat hat ein geheimes Projekt laufen, das sie mit allen Mitteln verteidigen werden. Und wir Mutanten haben ohnehin nichts zu melden. Du weißt doch, wie viele von uns bereits verhaftet wurden. Wahrscheinlich wussten sie zu viel.«

Ich hörte Jack kaum zu. »Sam hat etwas von einem Passwort erzählt.« Hastig blätterte ich das Büchlein durch und traute meinen Augen kaum, als mir auf der letzten Seite das Masterpasswort für den Lago-Pharm-Zentralrechner förmlich entgegensprang.

Mein Vater hatte es am Tag seines Todes herausgefunden:

OPERATION ORPHANAGE

Ich schnappte nach Luft und mir wurde es abwechselnd heiß und kalt. Warum war ich nicht schon eher auf die Idee gekommen, das Buch danach zu durchsuchen? »Das Passwort! Da steht es!« Vor Aufregung ließ ich beinahe das Büchlein fallen.

Jack sah weniger begeistert aus. »Es ist bestimmt längst veraltet.«

»Ich muss es trotzdem sofort Ron sagen. Wo ist das MP?«

»Auf dem Tisch.« Jack deutete hinter sich auf die Tür. »Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen.«

Während ich in die Hütte eilte, las ich den letzten Eintrag meines Vaters, den er einen Tag vor dem Unfall verfasst hatte:

Seit Norris auf mysteriöse Weise ums Leben kam und Dr. Harcourt seine Nachfolge angetreten hat, habe ich das Gefühl, er lässt Rose und mich überwachen. Hat er herausgefunden, dass wir Spione sind? Gott stehe uns bei, Harcourt ist um ein Vielfaches gewissenloser, als Norris es war …

Mir wurde schwindlig. Alles sah danach aus, dass meine Eltern aufgeflogen waren. Verdammt, warum hatte das nicht einen Tag später passieren können? Vielleicht wären sie noch am Leben.

Als sich Ron auf dem MP meldete, erzählte ich ihm alles, was im Tagebuch stand.

»Das ist mal ein Durchbruch, Torri!« Es war ungewohnt, dass Ron mich bereits mit meinem neuen Namen ansprach, während Jack das nicht ansatzweise in Erwägung zog. Zumindest hatten wir uns darauf geeinigt, dass, wenn wir unter uns waren, ich für Jack immer Kate bleiben würde, jedoch niemals vor anderen.

Ron seufzte. »Leider sieht es im Moment verdammt schlecht aus, jemanden bei Lago-Pharm einzuschleusen. Die AMH ist aktiver denn je.«

Irgendeinen Weg musste es geben. »Könnt ihr denn nicht von außen an die Daten gelangen? Es muss doch möglich sein, sich in den Zentralrechner zu hacken.«

»Leider nicht«, sagte Ron. »Der Computer ist nicht mit dem öffentlichen Netz verbunden. Die Regierung hat an alles gedacht. Wir brauchen jemanden vor Ort, um die Daten herunterzuladen.«

»Mist!« Nervös ging ich in der Hütte auf und ab.

Jack stand im Türrahmen. »Außerdem ist das Passwort uralt.«

Ron stimmte ihm zu.

»Dann sind wir jetzt also keinen Schritt weiter?« Ich fasste es nicht. »Das muss endlich ein Ende haben! Immer wieder verschwinden Mutanten oder sie werden eingesperrt. Ich wette, die landen alle bei Lago-Pharm.«

»Die Wette gewinnst du.« Rons Gesicht leuchtete mich traurig an.

Was? Ich hatte mit meiner Vermutung recht? Oh Himmel, das durfte nicht wahr sein! »Sie halten uns wie Vieh, nur um mit ihren geklonten Superkriegern Menschen töten zu können.« Das war so furchtbar.

»Kann MALVE das Gebäude nicht einfach stürmen?« Das musste doch möglich sein. Ich hatte bereits gesehen, wie gut der Untergrund organisiert war und über welche Mittel er verfügte.

Ron kratzte sich am Kopf. »Natürlich haben wir daran gedacht, aber so weit sind wir noch nicht. Wir bauen seit zwei Jahren so etwas wie ein Militär auf. Es hat lange gedauert, genug von uns zusammenzutrommeln, aber jetzt werden es fast täglich mehr. Wir schulen unsere Kräfte, sind aber noch nicht stark genug, um einen Angriff auf eine so große Einrichtung zu wagen. Wir haben keine genauen Zahlen über die Menge der Superkrieger, die sie dort drinnen versteckt halten. Immer wieder gab es herbe Rückschläge, denn die AMF hat ebenso ihre Spitzel bei uns eingeschleust. Wir wollen nichts mehr riskieren.«

Ich dachte sofort an George. Er war auch ein Mitglied der Anti-Mutanten-Front gewesen, obwohl er einer von uns gewesen war. Was hatte die AMF ihm versprochen, dass er für sie gearbeitet hatte? Oder wurde er erpresst?

Das würden wir vielleicht nie erfahren.

»Jetzt, wo wir endlich unsere Satelliten im All haben, bringt uns das enorm voran«, sagte Ron. »Wir überlegen gerade, unsere Truppen zusammenzuziehen, aber einige scheuen sich noch, bei einem Putsch mitzumachen. Wir könnten auf einen Schlag alles verlieren. Die Gegenseite ist einfach zu stark und mächtig.«

»Wie lange wird das noch dauern, bis wir gegen MUTAHELP in den Krieg ziehen können?«, fragte ich.

Ron grinste. »Du bist wie deine Eltern.«

»Und das hat sie das Leben gekostet«, warf Jack ein.

Es müssen immer Opfer gebracht werden, um Siege zu erringen, dachte ich betrübt.

»Ich bin der Einzige, den sie freiwillig in das Institut lassen würden«, flüsterte Jack.

Ich wirbelte auf dem Absatz herum. »Bist du wahnsinnig? Du würdest nicht mal in die Nähe des Computers kommen, weil sie dich …« Weiter kam ich nicht. Allein der Gedanke schnürte mir den Hals zu.

»Wir würden niemals Jacks Leben für diese Sache aufs Spiel setzen«, sagte Ron. »Lago-Pharm darf ihn ohnehin nicht erwischen, wer weiß, was die mit seinem Blut noch alles vorhaben. Wir müssen einen anderen Weg finden. Dasselbe gilt auch für unsere Leute. Viele von ihnen haben außergewöhnliche Fähigkeiten. MUTHELP würde sich die Finger lecken.« Ron seufzte. »Falls du noch etwas herausfindest, melde dich sofort bei mir, Torri.«

»Mach ich«, erwiderte ich und legte auf. Doch Hoffnung, jemals einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, hatte ich im Moment nicht.

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Ein paar Wochen später hatten wir es uns in der Hütte schon richtig gemütlich gemacht. Wir verfügten über Matratzen, Zudecken und allen möglichen Komfort. Außerdem war die Verpflegung spitzenmäßig. MALVE scheute keine Kosten. So luxuriös hatte ich noch nie gegessen. Das Obst war frisch, das Fleisch echt – kein Synthetikfras.

In der Abgeschiedenheit der Berge kamen Jack und ich uns näher. Nicht nur körperlich – vor allem seelisch. Jacks psychische Narben saßen tief. In manchen Nächten klammerte er sich wie ein Ertrinkender an mich, wenn Dr. Harcourt ihn in seinen Träumen heimsuchte. Mittlerweile hatte ich meine Fähigkeiten besser im Griff und versuchte alles in meiner Macht stehende, um Jack zu helfen. Während er schlief, drang ich in sein Bewusstsein ein und half ihm, den Traum zu steuern und den grausamen Arzt zu überwältigen. Wenn Jack dann in meinen Armen erwachte, liebte er mich, als würde es kein Morgen mehr geben.

Tagsüber trainierte ich meine Fähigkeiten. Wenn ich zu Jack Körperkontakt herstellte, schaffte ich es, ihn an einer richtig großen Illusion teilhaben zu lassen. Ich musste mich sehr stark konzentrieren, um ein Trugbild zu erschaffen, aber es klappte tatsächlich! Ich konnte ihm zeigen, was ich wollte. Einmal ließ ich eine Rakete aus dem See aufsteigen.

Viel schwerer war es, jemandem etwas vorzugaukeln, wenn ich ihn nicht berührte. Daher probierte ich es erst mit etwas Kleinem und einem Versuchsobjekt, das über weniger Intelligenz verfügte als ein Mensch: Chipsy. Jack und ich amüsierten uns köstlich, als ich ein Abbild von dem süßen Nagetier heraufbeschwor und das echte Eichhörnchen mit dem virtuellen Wesen schimpfte, weil es Angst hatte, es würde ihm seine Kekse wegnaschen.

Jack hatte währenddessen MALVE alles weitergegeben, was er über das Institut wusste: wie es innen aussah, wie viele Menschen dort arbeiteten, welche Sicherheitsvorkehrungen es gab. Jack wusste nicht viel, da er die meiste Zeit an ein Bett gefesselt gewesen war oder im Wachkoma gelegen hatte, aber jede Information war besser als keine.

Auch wenn wir beide nicht genug voneinander haben konnten, schlich sich doch eine gewisse Langeweile ein. Die Hütte war hergerichtet, die Batterie ausgetauscht, die Toilettenspülung repariert. Es gab nicht wirklich etwas zu tun.

Außerdem überschatteten die grausamen Entdeckungen in dem Tagebuch unsere Stimmung. Unentwegt grübelte ich, wie man Lago-Pharm das Handwerk legen könnte. An die Öffentlichkeit zu gehen würde nicht viel nützen, wenn die Regierung selbst hinter alldem steckte. Es würde wie immer alles vertuscht werden.

Bald – ja bald wären die Techniker so weit, über die Satelliten alle Haushalte zu erreichen. Wir könnten dem Volk so viel erzählen!

Aber wollte ich so lange warten? Was konnten wir jetzt schon tun? Man müsste das Übel an der Wurzel packen. Aber wie bis zum Kern vordringen?

»Wenn man nur an die Daten käme«, murmelte ich. Auf dem Zentralrechner gab es Akten und Videos über die »Forschungen«. Wenn man diese Aufzeichnungen der Bevölkerung zuspielte, befürchtete Ron jedoch, die Gesellschaft könne sich weiter spalten. Es gab bereits genug Hetze gegen unsereins.

»MUTAHELP würde ein hohes Kopfgeld auf jeden Mutanten aussetzen, so viel wäre sicher«, sagte Ron am MP zu mir. »Stell dir nur mal vor, wohin das führen würde.«

»Aber die Menschen würden endlich aufwachen!«

»Ja, du hast recht. Wir dürfen uns nicht länger einschüchtern lassen und uns verkriechen.« Ron seufzte. »Es dauert nicht mehr lang.«

Nur MALVE konnte die Scheinfirma zerschlagen. Wir mussten weiterhin verdeckt arbeiten, wenn wir Schlimmeres verhindern wollten, bis wir endlich bereit waren.

Wir – das hörte sich an, als wäre ich schon lange Teil der Untergrundbewegung. Ich wünschte, ich hätte schon früher mit ihnen zusammenarbeiten können.

Jack und ich beschlossen, eine Bergtour zu machen, um unsere Köpfe freizubekommen. Daher sprühte ich mich mit reichlich Lichtschutz ein, setzte meinen Sonnenhut auf und packte auch Dads Tagebuch in den Rucksack. Ich wollte es immer bei mir haben.

Sehr bergtauglich schaute mein Outfit allerdings nicht aus – ich trug einen ziemlich kurzen Rock, da der heutige Tag unwahrscheinlich heiß war. Das Wichtigste war jedoch das Schuhwerk. Gut, dass mich außer Jack niemand sehen konnte.

Als wir am Vormittag aus der Hütte traten, hockte Chipsy wie immer auf dem Geländer der Veranda, als ob das Eichhörnchen uns schon erwartet hätte. Es war in den letzten Tagen zutraulicher geworden und ließ sich bereits füttern. Ich hielt ihm einen Keks hin, den Chipsy mir sofort aus den Fingern riss und damit unter die Veranda hüpfte. Dabei schaute es sich ständig um, wohl aus Furcht, sein »Rivale« könnte in der Nähe lauern.

»Dein Crispy ist ganz schön gierig, Kate«, sagte Jack, die Hände in den Taschen seiner Jeans, und spähte durch die Stufen unter die Hütte, wo ich das Eichhörnchen knabbern hörte.

Ich lächelte. »Er heißt Chipsy und ich Torri, Vergissmeinnicht.«

Jack verdrehte grinsend die Augen. »Lass uns gehen, solange das Wetter hält.«

Ich schaute in den wolkenlosen Himmel. Um das Wetter machte ich mir die wenigsten Sorgen. Seit unserer Ankunft hatte es erst einmal geregnet. Wir marschierten also los und Chipsy hüpfte eine Weile hinter uns her, bis er anscheinend etwas entdeckte, das ihn mehr interessierte. Irgendwann waren Jack und ich allein unterwegs und genossen das Rascheln der Blätter im Wind und die frische Luft.

Nach einer Stunde Aufstieg beschlossen wir eine Pause zu machen und unser zweites Frühstück einzunehmen. Jack breitete eine Decke aus, während ich das Essen aus dem Rucksack holte. Wir hatten es uns unter einem schattigen Felsvorsprung gemütlich gemacht und befanden uns in der Zone, wo der Baumwuchs allmählich abnahm. Auf dem kargen Boden in dieser Höhe wuchsen fast nur Büsche und verkrüppelte Kiefern.

Hier oben war es weniger warm als in dem kleinen Tal, wo die Hütte recht geschützt zwischen den Berghängen stand. Eine kühle Brise wehte mir das Haar aus dem Gesicht und ich legte den Sonnenhut zur Seite. Ich war leicht verschwitzt. Am liebsten hätte ich jetzt mit Jack nackt im See gebadet, wie wir es jeden Tag bisher gemacht hatten.

Bei dieser Erinnerung huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Gestern hatte mich Jack am Ufer des Sees unter einem schattenspendenden Baum geliebt. Niemals hatte ich mich freier gefühlt.

Der Wind strich um meine nackten Beine und fuhr unter meinen kurzen Rock. Ob ich es wagen sollte, mein Höschen auszuziehen?

»Woran denkst du?«, fragte Jack.

Wie lange starrte er mich schon grinsend an? Nur gut, dass er meine Gedanken nur hörte, wenn ich es bewusst zuließ.

Mein Gesicht erhitzte sich noch mehr. »Äh … Ein erfrischendes Bad wäre jetzt wunderbar.«

Die Arme verschränkt, lehnte er sich an den Felsen zurück. »Du hast an gestern gedacht, nicht wahr?« Sein Grinsen wurde breiter.

Verdammt, diese Grübchen! Jack war der heißeste Mann auf dem Planeten und er gehörte mir, mir allein! Mein Herz machte einen Freudensprung.

Ich hatte das dringende Bedürfnis, an meinen Haaren zu drehen, doch leider waren sie jetzt fast zu kurz dazu. »Ich …« Warum lügen? In Jacks Gegenwart brauchte ich nicht mehr verklemmt zu sein. »Ja«, gestand ich also.

Jack legte einen Arm um mich und zog mich an sich. »Ich mache ein richtig verruchtes Mädchen aus dir.«

»Quatsch«, hauchte ich.

»Ich mag es, wenn du verrucht bist.« Jack küsste mich. Seine Lippen saugten gierig an meinem Mund, als hätte er ihn schon ewig nicht mehr geschmeckt. Seine rauen Wangen kitzelten mich.

»Du hast dich schon wieder nicht rasiert, du fauler Kerl«, nuschelte ich.

»Du klaust mir ja auch immer meinen Shaver.« Seine Hand fuhr unter meinen Rock und glitt an meinen Schenkeln höher bis zu meinem Slip. Als er ihn zur Seite schob und mich dort berührte, begann meine Körpermitte zu pulsieren.

»Dafür bist du ganz glatt«, raunte er. »Du fühlst dich an wie Samt.« Jack schickte mir Bilder: wie er mich gestern gesehen hatte. Nackt und ausgestreckt hatte ich mich am Ufer geräkelt. Jack zeigte mir durch seine Augen und seine Gefühle, wie er mich wahrgenommen hatte, wie er meine Brüste sowie meinen Bauch gestreichelt und geküsst, und mich schließlich zwischen den Beinen geleckt hatte. Meine lasziven Bewegungen, meine Hingabe und mein Stöhnen hatten ihn sehr erregt. Ich fühlte selbst das Ziehen in meinem Unterleib, das Pochen meiner Mitte, als ich noch einmal durch seine Gedanken erlebte, wie er in mich eindrang.

Mir entfuhr ein Keuchen, während Jack seine Zunge in meinen Mund schob und weiterhin seine unanständigen Gedanken übermittelte. Ich fühlte, was er gefühlt hatte. Hitze schoss zwischen meine Schenkel.

»Ich will dich, hier und jetzt«, sagte Jack an meine Lippen. »Ich will es schnell und verrucht.«

»Ja«, brachte ich nur hervor.

Schon nestelte Jack an seiner Hose. Er war bereits hart und ich griff nach dem glatten Schaft. Ich liebte es, ihn in der Hand zu fühlen, so fest und doch so verletzlich. Sanft drückte ich zu.

Jack knurrte lustvoll. »Hör auf, oder ich komme.«

Er hob mich auf seinen Schoß, zog meinen Slip zur Seite und drang in mich ein. Sofort glitt er tief in mich, füllte mich aus. Wie sehr ich dieses Gefühl mochte. Jack und ich, eins miteinander.

»Jack …«, wisperte ich, überwältigt von meiner Lust. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und genoss das Pochen zwischen meinen Schenkeln. Ich spürte Jacks Lust und die meine. Gemeinsam ergaben sie einen hochexplosiven Cocktail.

»Ich will dich ansehen«, sagte er, wobei er mich an den Schultern zurückdrückte. Dann hob er meinen Rock an.

Ich schloss die Lider und sah durch seine Augen, wie er auf die Stelle starrte, an der wir miteinander verbunden waren. Jack nahm seinen Daumen dazu, um mich zu stimulieren. Er ließ ihn auf meinem empfindlichsten Punkt kreisen, drückte mal fester, mal zärtlicher und massierte mich, bis wir beide fast zeitgleich kamen. Er biss sich auf die Unterlippe und beherrschte sich, bis mein Höhepunkt vorüber war. Dann packte er mich an den Hüften und hob mich hoch, bis er halb aus mir glitt. Einmal, zweimal, dreimal stieß er in mich hinein … Er öffnete den Mund zu einem Schrei, der vom Berg hallte und einen Vogel in der Nähe aufschreckte.

Jack legte den Kopf zurück gegen den rauen Stein und kam tief in mir. Ich fühlte ihn in mir zucken und erlebte seinen Orgasmus in meinem Kopf, worauf ich ein zweites Mal kam.

»Wow …« Erschöpft sackte ich auf ihn.

Er streckte sich auf dem Rücken aus und zog mich auf sich. »Wir werden immer besser, was?«

»Das war gigantisch«, flüsterte ich atemlos. Es war einfach zu perfekt mit Jack, fast schon zu gut, um wahr zu sein. Das Einzige, was mich ein wenig betrübte, war, dass er mir nie seine Liebe gestanden hatte. Nach wie vor wollte ich ihn zu nichts drängen. Er hatte in seinem Leben bereits genug Menschen verloren, die er geliebt hatte. Ich konnte ihm die Furcht nachfühlen, sich erneut auf einen Menschen einzulassen und abermals großes Leid zu erfahren.

Ich hatte jetzt schon unglaublich große Angst, ihn zu verlieren.

Ich räusperte mich. »Sag mal«, fragte ich vorsichtig, »wie viele Beziehungen hattest du eigentlich schon?«

»Ein paar«, antwortete er.

Ein paar … Ich schluckte. Das hörte wohl keine Frau gerne.

Jack lächelte. »Es war nie was Ernstes. Meistens hielt es nicht lang.«

Das war auch nicht gerade aufbauend.

Ich hätte ihn nach dem Warum fragen können, doch die Antwort kannte ich längst. Es war, wie ich mir gedacht hatte: Er hatte Angst vor Verlust, Angst, verletzt zu werden.

Wie lange würde unsere Beziehung dauern? Wir waren beide auf der Flucht und immer zusammen. Was, wenn sich dieser Zustand eines Tages änderte?

Auch wenn ich es schrecklich fand, auf der Flucht zu sein, wollte ich nicht daran denken, was sein würde, wenn wir in Sicherheit wären.

Nachdem wir uns kurz ausgeruht hatten, machten wir uns weiter an den Aufstieg. Eigentlich hätte mich die herrliche Natur ablenken müssen, aber mich beschäftigte zu viel. Meine Gedanken kreisten nicht nur um Jack, sondern auch um die Aufzeichnungen meines Vaters und vor allem um mich. Etwas stimmte mit meinem Körper nicht. Ich hatte meine Periode nicht bekommen – was anhand der Stresssituation nichts Ungewöhnliches war –, doch ich hatte ständig leichte Unterleibskrämpfe.

Ich warf einen Blick auf Jack, der vor mir marschierte und sich immer wieder umdrehte, ob ich mit ihm schritthalten konnte.

Ich hatte da ein Gefühl, nein – eigentlich schon eine Gewissheit: Ich war schwanger.

Aber das konnte unmöglich sein! Ich hatte ein Implantat in meiner Gebärmutter, das eine Schwangerschaft zu hundert Prozent verhinderte.

Als ich meinen ersten Freund hatte, vertraute ich mich Sam an. Er hatte mir einen Arzt empfohlen, dem es egal war, ob er Mutanten oder Menschen behandelte. Wahrscheinlich gehörte er zu MALVE. Dieser Doktor hatte mir damals das Implantat eingesetzt und ich war seitdem regelmäßig zu den Untersuchungen erschienen. Ich war soweit eine ganz normale Frau. Na ja, fast normal. Doch Jack … wenn ich ihn mir so ansah, spürte ich allein schon die Kraft, die seine Gene aussandten. Ob es möglich war, dass ich ein Kind bekam?

Ich könnte Ron anrufen und ihn bitten, einen Schwangerschaftstest einzupacken, wenn er das nächste Mal Xara mit einer Lieferung schickte. Wenn Jack das mitbekam, wäre sicher die Hölle los. Ich kannte ja seine Einstellung zu Kindern. Wenn ich ihn jetzt noch damit belastete … Nein, er durfte es nicht erfahren. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, dass wir beide mit dem Taifun in die nächste Stadt fahren konnten. Wir konnten doch nicht für den Rest unseres Lebens auf dem Berg bleiben, auch wenn das noch so verlockend war. Ein wenig Zivilisation ging mir ab.

Als ich plötzlich in Jack hineinlief, fing er mich lächelnd auf. »Hey, was ist denn los mit dir?«, fragte er. »Du bist schon die ganze Zeit mit den Gedanken woanders, anstatt diese gigantische Aussicht zu genießen.«

Ich drehte den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass der Weg schon eine Weile dicht an einem Abgrund entlangführte. Erschrocken machte ich einen Schritt zurück und hielt mich an Jacks Hand fest.

Ja, der Ausblick war wirklich gigantisch. Die Luft war so klar, dass wir viele Meilen weit sahen. Den Berg umgab nichts als Wald, eine scheinbar endlos grüne Fläche. Doch der Anblick täuschte. Wir befanden uns in einem Nationalpark, in einem der letzten großen Wälder des Staates. Am Horizont war deutlich einer jener grauen Schleier zu erkennen, der über den Städten hing. Nicht, weil es keine umweltfreundlichen Möglichkeiten gab, Strom zu erzeugen, sondern weil es Menschen gab, die sich Elektrizität nicht leisten konnten. Sie hausten in Hütten, halbverfallenen Gebäuden oder Kellern und verbrannten Müll, um sich warmzuhalten, ihr gestohlenes Essen zuzubereiten oder streunende Tiere abzuschrecken.

Erneut wurde mir bewusst, wie anders Greytown war. Die Armut war zwar dort nur minimal geringer, denn wer konnte, arbeitete am Hafen. Doch es gab eine karitative Einrichtung, die den Obdachlosen Unterschlupf bot. Das war in kaum einer Stadt selbstverständlich, denn meistens waren es Mutanten, die keine Arbeit bekamen und in den sozialen Abgrund rutschten. Ob diese Einrichtung auch MALVEs Verdienst war?

Jack zog mich zu sich. Im Gegensatz zu mir schwitzte er kaum. »Du träumst schon seit Tagen vor dich hin, Kate«, sagte er. »Beschäftigt dich etwas Spezielles?«

Wenn ich jetzt Nein sagen würde, hätte Jack bemerkt, dass ich ihn anlüge. Ich wollte ihn nicht belügen, nie mehr, aber ich wollte ihn auch nicht beunruhigen.

»Mir geht so vieles im Kopf herum«, antwortete ich, wobei ich mich an seine Brust schmiegte.

Jack schob es auf die Flucht und die Gefahr, in der wir uns befanden. Zudem hatte ich einen Beinahe-Mord zu verdauen. Außerdem musste ich oft an Hill denken und dass sie George ermordet hatte. In den letzten Wochen hatte ich tatsächlich so viele schlimme Dinge mitgemacht, dass es für mehrere Leben reichte.

Jack zog mich fester an sich. »Wir werden eine Lösung finden. Ich spreche noch mal mit Ron. Sie haben Schutzprogramme für Mutanten. Wir könnten in ein anderes Land gehen, von vorn anfangen.«

Ich nickte. Es würde schwer sein, das Land zu verlassen, denn die Regierung überwachte die Grenzen und den Luftraum. Am ehesten konnte man über das Meer fliehen. Bei diesem Gedanken drehte sich mir schon wieder der Magen um. Oder war mir wegen der Schwangerschaft übel? Wie lange würde ich meinen Zustand vor Jack verheimlichen können, wenn ich wirklich ein Kind bekam? Wenn wir ein Baby bekamen?

»Weglaufen ist keine Lösung«, sagte ich. »Gerne würde ich das beenden, was meine Eltern begonnen haben. Sie haben ihr Leben deshalb verloren. Ihre Arbeit soll nicht umsonst gewesen sein.«

»Du willst also dein Leben auch aufs Spiel setzen?«, flüsterte Jack mir ins Ohr.

»Ich will endlich frei sein. Ich möchte einen Alltag ohne Angst führen. Ich muss MUTAHELP zur Strecke bringen.«

Amüsiert stieß Jack die Luft aus. »Du bist ja eine richtige Rebellin.«

»Dein Einfluss«, sagte ich grinsend.

Plötzlich piepste unser Telefon. Jack ließ mich los und hob die Brauen, dann zog er das MP aus der Hosentasche. »Es ist Ron.«

Jack nahm das Gespräch an und Rons aufgeregte Stimme kam uns ohne ein Hallo entgegen: »Eine Drohne nimmt Kurs auf die Berge! Unser Satellit hat sie aufgespürt.«

»Was?« Eine Überwachungsdrohne in dieser Gegend? »Kann sie nach uns suchen? Kommt sie her?«

»MUTAHELP hat sicher die Datenbank durchforstet. Die Hütte war früher auf John eingetragen«, sagte Ron. »Wir haben die Daten überschrieben, aber es gibt bestimmt Backups.«

»Mist!«

»Wie weit ist sie noch weg?«, fragte Jack. Er ließ seinen Blick schweifen, ich ebenso, aber nichts als der endlose Himmel war zu erkennen.

»Etwa fünfzig Meilen«, antwortete Ron, »doch bei ihrer Geschwindigkeit könnte sie in einer halben Stunde bei euch sein.«

Eine halbe Stunde! Jack und ich saßen auf dem Berg fest wie auf einem Präsentierteller.

»Danke, Ron, wir werden uns in Sicherheit bringen«, sagte Jack hastig und legte auf. Danach schaute er mich mit aufgerissenen Augen an. »Wir müssen vom Berg runter.«

»Ich weiß!«, rief ich und rannte schon los, Jack folgte mir auf den Fersen.

Ich lief so schnell ich konnte, aber das Gelände war unwegsam. Es gab nur einen schmalen, teils überwucherten Pfad, was das Vorankommen erschwerte.

»Schneller, Kate!«, schrie er. »Gib mir deine Hand!« Er lief an mir vorbei und ich ergriff seine Finger. Jack riss mich regelrecht mit sich. Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten. Immer wieder schaute er auf das MP, das er in der anderen Hand hielt, um zu sehen, wie weit die Drohne noch entfernt war.

Meine Lungen brannten, mein Hals war wie zugeschnürt und ich hatte furchtbares Seitenstechen. »Kann nicht mehr«, keuchte ich. Meine Oberschenkel zitterten und meine Knie schmerzten durch die extreme Belastung des Bergablaufens.

Plötzlich blieb ich an einer Wurzel hängen. Ich stürzte, doch Jack reagierte blitzschnell und riss meinen Arm nach oben, sodass ich mir lediglich ein Knie aufschürfte.

»Kate!« Er hockte sich neben mich. »Alles okay?« Er schwitzte kaum, während ich bereits klitschnass war.

»Kann nicht mehr.« Keuchend rieb ich meine schmerzende Schulter, der Jacks Kraft nicht bekommen war. Ich war am Ende. Tränen trübten meine Sicht. Wir würden es nicht rechtzeitig vom Berg schaffen.

Hastig besah sich Jack mein Knie. Erde und Steinchen klebten auf meiner abgeschürften Haut, die höllisch brannte.

»Darum müssen wir uns später kümmern«, sagte Jack. Er war weiß im Gesicht und ich spürte seine Angst.

»Ich werde dich tragen.« Er half mir auf. »Halte dich gut an mir fest.«

Wie ein Äffchen am Bauch seiner Mutter hing ich an ihm, die Arme um seinen Hals und die Beine um seine Taille geschlungen. Jacks übermenschliche Kraft, seine Beweglichkeit und Ausdauer kamen uns jetzt zugute. Er rannte mit mir den Weg zurück, als ob ich nichts wiegen würde. Jack war so schnell! Unangenehm wurde ich durchgeschüttelt, sodass ich beinahe meinen Sonnenhut verlor. Ich stopfte ihn durch den Kragen unter mein Oberteil. Wir durften keine Spuren hinterlassen.

Jack rannte am steilen Abhang entlang, sodass ich mich vor Angst in sein Shirt sowie den Rucksack krallte und die Augen schloss.

Drohnen waren keine Seltenheit. Sie überflogen ständig die Städte, um nach gesuchten Mutanten oder entflohenen Sträflingen Ausschau zu halten oder andere Vorfälle zu melden. Sie sahen aus, wie man sich UFOs vorstellt: im Durchschnitt etwas über ein Meter große, fliegende Untertassen, die in der Mitte ein Loch hatten. Ein dicker Ring, mit Kameras und Scannern an der Unterseite.

»Meinst du, dass MUTAHELP wirklich herausgefunden hat, wem die Hütte gehörte?«, fragte ich.

»Muss nicht sein. Sie überwachen einfach jeden Fleck Land«, antwortete Jack leicht außer Atem.

Mittlerweile hatten wir wieder die Baumzone erreicht und ich fühlte mich sicherer. Aber eine Drohne würde uns auch im Wald mit Leichtigkeit aufspüren. Sie besaßen empfindlichste Sensoren, die jede Bewegung registrierten und Körperwärme erkannten.

»Vielleicht ist die Drohne auch meinetwegen hier.« Elegant sprang Jack über einen größeren Stein. »Ron hat mir schon bei unserer Ankunft erzählt, dass unzählige Fluggeräte wie ein Schwarm Stechmücken über die Gegend schwirren, seit wir aus Otumi geflohen sind.«

Das musste Ron ihm mitgeteilt haben, als ich mich erleichtert hatte.

Ja, Jack und ich wurden gesucht. Plötzlich wurde ich mir der Gefahr richtig bewusst. Bisher war das Leben in den Bergen idyllisch und relativ unbeschwert gewesen. Aber wenn »sie« dich suchten, fanden sie dich auch – was sie längst hätten, wenn Ron uns keine neuen ID-Chips implantiert hätte.

»Schaffen wir es rechtzeitig zum Auto?«, fragte ich.

Jack sah auf das MP. »Nein.«

Nein … Wir waren verloren.

Als nach einer Ewigkeit, wie es mir vorgekommen war, unsere Hütte in Sicht kam, setzte Jack mich ab. »Kannst du gehen?«

Ich nickte mechanisch.

»Lauf ins Wasser!«, befahl er mir und verschwand im Haus.

Ich tat, was er sagte, ohne über das Warum nachzudenken. Das kühle Nass versetzte mir einen leichten Schock, doch ich war zu aufgeregt und zu erhitzt, um zu frieren.

Als ich bis zum Bauch im See stand, kam Jack aus der Hütte. Den Rucksack hatte er nicht dabei, dafür hielt er etwas in der Hand, was ich erst erkannte, als er neben mir im Wasser stand: Es waren zwei Senso-Pens, nein, eigentlich nur die Hüllen davon. Zwei kurze Röhrchen – und ich verstand.

»Wir müssen ins Schilf«, sagte Jack.

Hastig wateten wir das Ufer entlang, bis die Gräser anfingen. Die Drohne würde unsere Körperwärme auch in der geschlossenen Hütte registrieren können, jedoch nicht durch das Wasser hindurch.

Der See war zu klar; wenn wir uns einfach hineinlegten, würden die optischen Geräte die Konturen unserer Gestalten erfassen. Das Schilf verbarg uns.

Wir setzten uns auf den Grund des Gewässers, sodass nur unsere Köpfe herausschauten. Ich ekelte mich vor dem schlammigen Boden, den wir zwischen den Halmen aufwühlten. Ich wollte gar nicht wissen, worauf ich genau hockte und ob es lediglich Stängel waren, die meine nackten Beine pieksten.

Jack hielt immer noch das MP in der Hand. »Die Drohne ist nah, ich muss das Gerät jetzt ausschalten.« Die Strahlung könnte ebenfalls gemessen werden.

Er steckte das Telefon, das zum Glück wasserfest war, in seine Hosentasche und gab mir ein Röhrchen. »Versuch langsam und tief zu atmen. Es geht nicht viel Luft hindurch.«

Das waren ja beruhigende Aussichten.

Dann reichte er mir außerdem etwas anderes. Es war … »Eine Wäscheklammer?« So ein altmodisches Ding besaß ich nicht einmal, aber in den Hütte gab es keinen Cleaner, der die Kleidung trocken und faltenfrei wieder ausspuckte.

»Kommt auf die Nase.« Jack setzte seine auf. Es sah lustig aus, doch ich bewunderte nur Jacks sachlichen Verstand. Er hatte an alles gedacht.

Er war mein Held.

Plötzlich vernahm ich ein leise surrendes Geräusch. Durch die Blätter und Stängel erspähte ich die Drohne. Das Fluggerät kam vom anderen Ufer des Sees auf die Hütte zu und befand sich etwa zwei Meter über dem Wasserspiegel.

»Jack, dort drüben ist sie«, wisperte ich und zwickte mir die Klemme auf die Nase.

»Untertauchen!« Er legte sich ins Wasser, bis nur das Röhrchen des Stiftes herausschaute. Ich tat es ihm nach.

Das Wort »untertauchen« passte jetzt in mehrfacher Hinsicht.

Ein leichter Druck legte sich auf meine Ohren und das kühle Nass schluckte alle Geräusche. Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt. Unsere Schuhe und Kleidung saugten sich mit Wasser voll und hielten uns unter der Oberfläche. Zusätzlich klammerte ich mich mit einer Hand an ein dickes Schilfrohr, das sich glitschig anfühlte. Ich achtete akribisch darauf, dass das Röhrchen aus dem Wasser ragte. Dazu musste ich meine Augen offenhalten, was mir wirklich schwerfiel. Daher schloss ich sie, als ich meine Position gefunden hatte. Ich hörte nur das rasende Hämmern meines Herzens und das Geräusch, das mein Atem verursachte, wenn er leise durch den Stift pfiff. Der kühle Druck von allen Seiten gab mir das Gefühl, in einem Grab zu liegen, was meine Panik verstärkte. Ich atmete hektischer und glaubte, kaum Luft zu bekommen, obwohl meine Nase nur Millimeter von der Oberfläche entfernt war.

Da spürte ich plötzlich etwas an meinem Arm. Beinahe wäre ich vor Schreck aufgetaucht, doch es waren Jacks Finger, die sich um mein Handgelenk legten. Sofort wurde ich ruhiger. Jack war bei mir.

Ich sah wieder durch seine Augen. Er hatte sie geöffnet und starrte auf die Wasseroberfläche. Dort erkannte ich nur ein blau-weißes Schimmern. Es war der Himmel.

Plötzlich glitt ein Schatten in Jacks Gesichtsfeld. Halte wenn möglich die Luft an, sendete er mir, als die ringförmige Drohne über uns schwebte. Auf ihrer Unterseite blinkten Lichter auf und ich hörte das Surren. Der Antrieb des Fluggeräts wirbelte die Wasseroberfläche auf.

Bitte schwebe weiter, wünschte ich mir. Mein Puls raste. Ich konnte meine Luft nicht länger anhalten und inhalierte hektisch durch das enge Röhrchen.

Die Drohne war immer noch da.

Jack, ich ersticke! Ich müsste nur den Kopf heben, die Oberfläche war so nah. Mein Schädel pochte.

Bleib ruhig, Kate! Ich spürte seine Angst zusätzlich zu meiner, und als er mich plötzlich tiefer drückte, riss ich die Augen auf. Jack legte sich auf mich und zog das Röhrchen aus meinem Mund. Er presste seine Lippen auf meine. Ich wusste sofort, was er vorhatte. Seine Luft strömte in meine Lungen. Mein Körper glaubte nach wie vor, zu wenig Sauerstoff zu bekommen. Sein Kuss war wie ein Anker. Er gab mir Sicherheit, bot mir Schutz.

Jack hielt mich fest, doch schlagartig war da wieder die Panik, zu ersticken. Jack lag auf mir und hinderte mich am Auftauchen. Ich begann zu strampeln und gegen ihn zu kämpfen. Luft!, schrie jede meiner Zellen. Geh von mir runter!

Halte noch ein wenig durch, Kate!

Auf einmal spürte ich die Kälte des Wassers nicht mehr, meine Muskeln brannten wie Feuer. Jack hingegen war wie ein Felsen.

Bitte, Kate, ein paar Sekunden!

Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen. War die Drohne noch über uns? Ich nahm nichts mehr wahr außer meiner und Jacks rasenden Angst.

Jack! Bitte! Kann nicht mehr!

Und auf einmal ließ er mich los. Ich tauchte auf und atmete gierig ein, schnappte so heftig nach Luft, dass mir schwindlig wurde. Dabei strampelte ich mit Händen und Füßen. Jack hielt mich, während er sich hektisch umblickte.

»Nicht so laut«, ermahnte er mich flüsternd. »Sie ist noch immer da.«

Als ich das Wasser aus meinen Augen gezwinkert hatte, bemerkte ich die Drohne. Sie war nicht mehr in unmittelbarer Nähe, sondern schwebte über unserer Hütte, wo sie einen Augenblick verweilte, bevor sie höher in den Himmel stieg und über den Baumkronen verschwand. Sofort schaltete Jack das MP wieder an. »Sie entfernt sich.«

»Ob sie uns bemerkt hat?« Mein Atem hatte sich immer noch nicht beruhigt, aber ich war froh, nicht mehr auf dem Grund des Sees zu liegen.

»Ich weiß es nicht, doch es ist wohl besser, wenn wir von hier verschwinden.« Jack wählte Ron an, der sich kurz darauf erleichtert meldete und derselben Meinung war.

»Xara wartet auf euch. Sie wird euch wegbringen. Wohin, weiß ich noch nicht, aber bis ihr beim Auto seid, habe ich das geklärt«, schloss Ron das Gespräch.

Jack und ich wateten zurück zur Hütte, wobei er nie das Handy aus den Augen ließ.

Die letzten Meter trug er mich. Erst auf der Veranda, auf der sich gleich eine Pfütze ausbreitete, setzte er mich ab.

Plötzlich war mir unglaublich kalt. Meine Knie zitterten und meine Zähne klapperten. »Ich brauche eine warme Dusche.«

Jack nickte. Er umarmte mich und eine Welle der Erleichterung schwappte zu mir. Er musste nichts sagen. Ich verstand ihn ohne Worte, wusste, wie leid es ihm tat, mich unter Wasser gehalten zu haben.

Er brauchte sich nicht zu entschuldigen. Er hatte das einzig Richtige getan. Wäre ich eher aufgetaucht, hätte die Drohne uns bemerkt. Diese Flugobjekte waren darauf programmiert, Elektroschocks abzuschießen, um die Opfer so lange zu lähmen, bis MUTAHELP eintraf. Hätte uns ein Stromschlag im Wasser getroffen, wären wir ertrunken.

Ich schüttelte mich und Jack ließ mich los.

»Ich zieh mich um und packe unsere Sachen«, sagte er.

Als ich die Tür zu unserem winzigen Badezimmer geschlossen und trockene Kleidung auf einen Hocker gelegt hatte, rief Jack durch das Holz: »Dein Knie! Wie geht’s dem?«

Das hatte ich ja total vergessen!

Ich besah mir die Stelle, an der vor Kurzem die Haut abgeschürft gewesen war, doch … »Das gibt’s nicht!« Die Wunde war fast vollständig verheilt! Auch meine Schulter tat nicht mehr weh.

»Kate? Was ist?« Jack stand dicht hinter der Tür.

Ich biss mir auf die Lippe. Was sollte ich ihm sagen? »Ist nicht schlimm, nur ein paar Kratzer!«

Das schien ihn zu besänftigen, denn ich hörte ihn unsere Sachen zusammenzupacken.

Nach dem Duschen sprühte ich einen Verband auf, der meine Haut unter einem blickdichten Pflasterfilm verbarg. Jack sollte mein Knie auf keinen Fall zu sehen bekommen.

Was ging nur mit mir vor? Ich fühlte deutlich, dass sich mein Körper veränderte. Ob es an dem Baby lag?

»Okay, versuch dich zu erinnern«, sagte ich leise zu mir, während ich mich anzog. War es möglich, dass ich schwanger war? – Laut Implantat: Nein. Aber mein Körper sendete ein klares Ja.

Ich schaute auf meinen Unterleib, der sich bereits minimal hervorwölbte. Unmöglich, denn das würde bedeuten, dass ich schon mehrere Schwangerschaftswochen hinter mir hätte!

Schlagartig erinnerte ich mich an Dads Tagebuchaufzeichnung. Wuchs das Baby dank Jacks Genen schneller? Viel schneller?

Verlieh mir unser Kind weitere besondere Fähigkeiten? Jacks Fähigkeiten? Ich fühlte mich nicht stärker und besaß weder Jacks Ausdauer noch seine Behändigkeit, definitiv jedoch eine beschleunigte Wundheilung. Das müsste heißen, dass das besondere Protein von meinem Kind in meinen Körper gelangt sein musste. Normalerweise ist der Blutkreislauf der Mutter vom Kreislauf des Kindes getrennt. Aber durch die Plazenta werden Nährstoffe ausgetauscht …

»Kate, bis du fertig?« Jack klopfte an die Tür und riss mich aus meinen Gedanken.

»Ich komme!« Wehmütig dachte ich daran, dieses traumhafte Fleckchen Natur jetzt verlassen zu müssen. Wohin würden wir diesmal fahren?

Ich beschloss, Chipsy einen Stapel Kekse auf der Veranda zurückzulassen und öffnete entschlossen die Tür. Jack hatte bereits unsere persönlichen Sachen zusammengepackt; dann schaltete er den Stromgenerator ab und schloss die Fensterläden. Ich würde diesen Ort wirklich vermissen.

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Eine Stunde später saßen wir im Taifun, den Jack diesmal von Xara steuern ließ. Wir beide lagen uns auf dem Rücksitz in den Armen, eng aneindergekuschelt, und versuchten zu schlafen, während wir Kurs auf eine Stadt hundert Meilen südlich nahmen. Es war mir allerdings unmöglich, zur Ruhe zu kommen, denn Jack versprühte Hass in seiner pursten Form.

»Wir werden niemals ein normales Leben haben«, murmelte er und schaute aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich zugezogen; es regnete jedoch nicht.

Nachdem wir den Nationalpark hinter uns gelassen hatten, waren nichts als gelb-leuchtende Rapsfelder zu sehen. Der Boden war hier viel fruchtbarer als in Greytown.

Mein Magen zog sich zusammen. Ich musste wieder an Sam denken. Jeden Tag in den letzten Jahren war ich mit ihm zusammen gewesen. Er fehlte mir so sehr! Hoffentlich ging es ihm nicht allzu schlecht.

Jack legte den Kopf zurück auf die Lehne und seufzte. »Ich habe beschlossen, MUTAHELP eine Falle zu stellen.«

Hastig setzte ich mich auf. »Falle?« Ich hatte mich wohl verhört.

»Ich hab da eine grobe Idee, muss aber erst mit Ron drüber sprechen.«

Ich glaube, deine Idee gefällt mir nicht, schickte ich ihm, doch er beachtete mich nicht, tat so, als habe er mich nicht gehört.

»Ich lasse mich von MALVE bewachen und tauche irgendwo auf. Sobald mich eine Kamera erfasst, weiß MUTAHELP wo ich bin und wird gewiss nicht lange zögern, mich zu verhaften.«

Kerzengerade setzte ich mich hin. »Das hatten wir doch schon, Jack. Du bist wohl verrückt! Du setzt dein Leben aufs Spiel. Außerdem darf Lago-Pharm niemals an dein Blut kommen, denk an die Superkrieger!« Mein Herz raste vor Angst um Jack. Der war im Moment so erzürnt, dass ich ihm glatt zutraute, sich zu opfern.

»Da kommt ja eben der Untergrund ins Spiel. Sie observieren mich und sehen, wohin ich gebracht werde, mit welchen Leuten ich in Kontakt komme. Oder sie nehmen ein Mitglied der AMF als Geisel. Vielleicht ist einer dabei, den MALVE verhören kann.«

»Jack, sie werden dich ohne Umweg ins Institut bringen!« War er plötzlich lebensmüde? »Du wirst da drin keinen Tag überleben. Und MALVE kommt da nicht rein, das Gebäude ist besser gesichert als der Regierungssitz!«

Jack schnaubte und kreuzte die Arme vor der Brust. »Vielleicht kann ich eine Bombe reinschmuggeln.«

»Du willst den Märtyrer spielen?« Am liebsten hätte ich ihn jetzt eigenhändig erwürgt. Ich erkannte, dass ich Jack kaum von seinem Plan abbringen könnte, aber sein Kind würde das vielleicht schaffen.

Ich legte die Hände auf meinen Bauch. Ich brauchte unbedingt einen Test. Wenn Jack mit eigenen Augen sah, dass er Vater wurde, würde er seinen tollkühnen Plan vielleicht verwerfen. Mein Mini-Bäuchlein würde er sicher auf das reichliche Essen zurückführen. Vielleicht kam es tatsächlich vom Essen?

Ich war noch mehr verunsichert. Plötzlich wollte ich dringend Gewissheit haben, ob ich schwanger war. Ich musste es sehen. Ich brauchte einen Beweis. Für mich, für Jack.

Zum ersten Mal machte ich mir dieselben Gedanken wie er. Bisher war mir der Ernst der Lage nie so bewusst gewesen, weil ich ja wusste, dass mich mein Implantat schützte. Aber jetzt … Wir waren auf der Flucht und bekamen höchstwahrscheinlich ein Kind. Keine gute Kombination. Das machte mir Angst. Wie sollte unser Kind aufwachsen?

Ich konnte Jack verstehen, seine Wut, seine Ängste und den Wunsch, ein normales Leben zu führen. Ich würde jedoch gewiss nicht zusehen, wie er seines wegschmiss. Dafür liebte ich ihn zu sehr.

»Können wir mal an einer Drogerie halten?«, fragte ich möglichst beiläufig. Es sah allerdings nicht aus, als befänden wir uns in der Nähe einer Stadt. Ich wusste nicht einmal, wo wir genau waren.

»Wieso?« Jack starrte auf meine Hände, die immer noch auf meinem Unterleib lagen. Hastig zog ich sie weg.

Er kratzte sich daraufhin an einer Braue. »Ach so, allmonatlicher Besuch?«

Schief lächelnd nickte ich. Sollte er denken, dass ich meine Menstruation bekam. Hauptsache, ich kam in einen Laden. Obwohl ich wusste, dass es verdammt riskant war. Aber ich musste Jack von seinem völlig hirnrissigen Plan abbringen! Niemals würde ich zulassen, dass er sich erneut in die Höhle des Löwen begab.

»Außerdem ist mir schlecht«, fügte ich hinzu – was nicht einmal gelogen war. Nur wusste ich nicht, ob ich mir die Symptome einbildete. »Ich brauche dringend was für den Magen.«

Jack zog das MP heraus und nahm Kontakt mit Ron auf.

»Hier in der Nähe gibt es einen winzigen Ort, der scheint mir relativ sicher zu sein, da kann Xara euch kurz rauslassen«, sagte Ron. »Aber macht schnell, der ganze Staat ist hinter euch her.«

Wenige Minuten später, nachdem wir die Straße verlassen und in einen holprigen Weg eingebogen waren, passierten wir ein Schild, auf dem der Name der »Stadt« stand. Sie hatte den netten französischen Namen: Petite Ville. Und klein war sie wirklich. Inmitten der Rapsfelder, umgeben von Raffinerien, befand sich eine winzige Ortschaft, die wie eine Geisterstadt aussah. Die Arbeiter, die dort lebten, schufteten jetzt bestimmt in der Fabrik, um das wertvolle Rapsöl herzustellen. Ansonsten glaubte ich mich in einem Film aus dem letzten Jahrhundert. Tatsächlich gab es hier noch Autos, die mit Öl fuhren, sowie eine alte Tankstelle. Viele Häuser, die mit Holz gebaut worden waren, sahen halb verfallen aus.

Wut stieg in mir auf. Da rackerten sich diese Bürger für die Ölgesellschaft ab und hatten nicht einmal anständige Unterkünfte.

»Ziel in fünfzig Metern erreicht«, sagte Xara, deren Hologramm auf dem Fahrersitz »saß« und eine junge Frau mit blonden Haaren zeigte. Die Projektion flackerte einmal, als der Wagen langsamer wurde.

Neben einer Kirche, einem winzigen Friedhof, einem Gebäude, das vielleicht ein Rathaus oder eine Schule war, hatten sie hier tatsächlich einen Laden. Davor blieb Xara stehen.

»Was brauchst du alles?«, fragte Jack.

Mir blieb kurz der Mund offen stehen. »Ich geh schon.«

»Dann komm ich mit.«

Auf keinen Fall! »Jack, ich geh allein rein. Sie suchen nach einem Paar.« Er brauchte nicht zu wissen, was ich kaufen wollte. »Und außerdem bist du wohl gerade der meistgesuchteste Mann im ganzen Land.«

Endlose Sekunden schaute er mich an. Ich sah förmlich, wie es in seinem Gehirn ratterte, schließlich wusste er, dass ich recht hatte. »Wenn du in fünf Minuten nicht wieder im Wagen bist, hol ich dich da raus.« Jack kroch zwischen den Sitzen nach vorn und öffnete das Handschuhfach. Darin lag …

»Eine Pistole!« Mein Herz raste. »Jack, du hast mal gesagt, du würdest nie wieder eine Waffe anfassen.«

»Ist ein Revolver und keine Pistole«, murmelte er.

»Jack!«

Er drehte sich zu mir um, die Brauen tief nach unten gezogen. »Hab meine Meinung eben geändert.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um danach mit doppelter Wucht weiterzuschlagen. Selbst in seinem Zorn sah dieser Mann unglaublich attraktiv aus. Ich wollte nicht, dass er zu einem verbitterten Menschen wurde.

Ich legte meine Hände an seine Wangen, zog ihn an mich heran und gab ihm einen tiefen Kuss. »Bin gleich wieder da. Versprochen.«

Ich wollte gerade die Tür öffnen, als Jack mich zurückhielt. »Warte.« Dann wandte er sich an das Auto. »Xara, kannst du mir einen Überblick vom Ladeninneren geben?«

Auf dem Monitor in der Mittelkonsole leuchtete ein Bild auf. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Xara hatte die Überwachungskamera des Ladens angezapft! Ich sah die Regale und die Gänge.

»Ich glaube, den solltest du mitnehmen«, sagte Jack, griff nach hinten auf die Ablage und setzte mir meinen Sonnenhut auf. Er war immer noch feucht vom See. Aber so würde die Kamera nur die Hälfte meines Gesichts zu sehen bekommen.

Es war keiner dieser Mega-Stores, sondern das Geschäft war von der Fläche kaum größer als meine Wohnung. Das machte es leicht, sich zurechtzufinden. Hastig ging ich zwischen den Regalreihen hindurch und strich mir über die Arme, während ich vor mir schon die Hygieneartikel erkannte. Es war viel zu kühl in dem Gebäude. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren und sogar hier drin roch es nach dem süßlichen Raps, der auf den Feldern wuchs. Raffiniert war das Öl nahezu geruchsfrei.

Na toll, im Regal standen nur schweineteure Tampons aus Baumwolle. Es war eine Marke, die es in Greytown schon seit Jahren nicht mehr gab. Konnte ja niemand bezahlen. Hatten die hier keine aus synthetischen Fasern oder Mens-Cups aus Silikon? Ich hatte zwar noch einen dieser glockenförmigen Becher, den man alle paar Stunden ausspülen musste, aber ich musste vor Jack ja mit »Beweismaterial« auftauchen. Jetzt verfluchte ich meine Einstellung zum weiblichen Körper. Viele Frauen nahmen Hormone, die den Eisprung komplett unterdrückten. Daher bekamen sie keine Monatsblutung. Ich empfand das als widernatürlich. Also schnappte ich mir eine Schachtel Tampons aus dem Regal und rümpfte bei dem Preis noch einmal die Nase.

In unmittelbarer Nähe befanden sich auch die Schwangerschaftstest. Ich nahm den günstigsten, weil ich mein weniges Bargeld sparen und auf keinen Fall mit Daumenscan bezahlen wollte, griff noch nach einer Schachtel Magentabletten und ging zur Kasse. Dahinter saß ein grauhaariger Mann mit Holzfällerhemd, der eine dicke altmodische Brille trug und eine elektronische Zeitung las. Oder er tat so.

Als ich hinter der Kasse an der Wand ein Fahndungsplakat sah, senkte ich meinen Kopf. Die Überwachungskamera im Laden war bestimmt mit automatischer Gesichtserkennung ausgestattet. Sie übermittelte biometrische Daten. Auf diese Weise würde die Regierung sofort erfahren, wenn sich irgendwo ein Flüchtling aufhielt.

»Die drei Sachen, bitte«, sagte ich mit verstellter Stimme und legte einen zerknitterten Schein auf den Tresen. Meine Finger zitterten. Schnell zog ich die Arme zurück. Dabei schielte ich zum Plakat. Es bestand aus elektronischem Papier und die Regierung konnte über Satellit bestimmen, was darauf zu sehen war. Im Moment zeigte es fünf Portraits von gesuchten Mutanten. Ganz oben prangte Jacks Gesicht in doppelter Größe, darunter stand, was er angeblich verbrochen hatte – Mord, was sonst – und die Summe, die seine Verhaftung einbrachte.

Wow, da kam ich ja fast selbst in Versuchung.

Ich schluckte. Mein Foto war auch darauf zu erkennen, allerdings hatte ich noch meine alte Frisur.

Der Kassierer bemerkte wohl meinen starrenden Blick, denn er drehte sich um und schaute ebenfalls auf das Plakat. »Dreckspack«, murmelte er, bevor er murrend mein Geld nahm. Bezahlung per Scan wäre offensichtlich weniger Arbeit für ihn gewesen.

»Kann nicht rausgeben«, sagte er. »Kein Bargeld da.«

Na toll. »Macht nichts, behalten Sie den Rest.«

Gnädig steckte er meinen Einkauf in eine Tüte. Ich nahm sie und verließ zügig den Shop.

Draußen drehte ich mich kurz um, weil ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Tatsächlich stand der alte Mann am Fenster.

Ich eilte zu Jack, der mit über der Brust verschränkten Armen und düster dreinblickend neben der geöffneten Wagentür lehnte. Auf dem Beifahrersitz lag der Revolver.

»Los, lass uns schnell weiterfahren.« Ich stieg ein, wobei ich die Waffe an den Rand des Sitzes schob. Jack nahm auf dem Fahrersitz Platz und steckte den Revolver in den Bund seiner Jeans.

»Xara, ursprüngliche Route wieder aufnehmen«, sagte er.

Der Wagen startete automatisch. »Route wird wieder aufgenommen«, wiederholte Xara und wir fuhren los.

Ich atmete erst auf, als sich erneut die endlosen Rapsfelder neben der Straße erstreckten.

»Meinst du, der Alte hat dich erkannt?«, fragte Jack.

Ich zuckte mit den Schultern. »Er hatte ein Fahndungsplakat im Laden. Unsere Gesichter waren drauf.«

»Shit«, fluchte Jack. »Nicht mal in so einem Kaff ist man sicher.«

Wir waren nirgendwo mehr sicher. »Ich bin gespannt, wo Xara uns hinführt. Warum übermittelt Ron immer nur Teilstrecken an sie?«

»Die Strecke wird im Navi gespeichert. Sollte Xara in die Hände der anderen fallen, würden sie unser Ziel kennen. Ich vermute deshalb, wir fahren in eines der geheimen Hauptquartiere von MALVE.«

Das bedeutete endlich wieder so etwas wie Zivilisation, andere Menschen, Leben. Ich freute mich darauf. Vielleicht konnten Jack und ich dort helfen.

»Drohne drei Meilen voraus«, meldete Xara plötzlich.

Ich hielt den Atem an und starrte aus dem Fenster. Die Straße ging beinahe immer geradeaus und ich bildete mir ein, das Flugobjekt bereits zu sehen. Aber da es bewölkt war, glitzerte es nicht in der Sonne.

»Was machen wir jetzt?« Meine Finger krallten sich in den Sitz.

»Am besten weiterfahren. Wenn ich jetzt irgendwo abbiege – nicht, dass das gerade möglich wäre –, oder den Wagen in den Raps lenke, fallen wir erst recht auf.«

Dem musste ich zustimmen. Wir behielten unseren Kurs bei; allerdings schaltete Jack den Autopiloten aus und übernahm das Lenkrad.

Meine Finger krallten sich tiefer ins Polster.

Xara zählte ununterbrochen die Entfernung zur Drohne auf, was mich noch nervöser machte. Es dauerte nicht lang, da sah ich sie wirklich. Der fliegende Metallring kam direkt auf uns zu. Näher, immer näher … Ich erkannte bereits die blinkenden Lichter auf der Unterseite.

Mein Herz ratterte wie ein Presslufthammer und es fiel mir schwer, zu atmen.

Als wir unter der Drohne hindurchfuhren, hielt ich die Luft an und drehte mich um. Doch … »Wo ist sie?«, flüsterte ich.

»Drohne direkt über uns«, meldete Xara.

»Shit«, fluchte Jack leise. »Die fragt kurz das Fahrzeug ab und fliegt dann bestimmt weiter. Keine Sorge, das Auto ist clean.«

»Routinekontrolle. Bitte fahren Sie rechts ran«, drang auf einmal eine andere, mechanische Stimme aus Xaras Lautsprechern.

»Wir sollen aussteigen!« Mir wurde schwarz vor Augen.

Jack umklammerte das Steuer so fest, dass seine Fingerknöchel hell hervortraten. Seine Kiefer hatte er fest zusammengepresst.

Erneut sendete die Drohne ihre Order an die Lautsprecher unseres Fahrzeugs: »Ich wiederhole, bleiben Sie stehen. Das ist ein Befehl! Sollten Sie sich widersetzen, sind strafrechtliche Konsequenzen die Folge.«

Jack gab Gas und ich wurde in den Sitz gepresst. Der Taifun beschleunigte auf zweihundert Meilen und weiter!

Jack warf einen Blick in den Rückspiegel. »Verdammt, sie ist einfach zu schnell!«

»Wie schnell können die denn fliegen?« Der Puls klopfte mir hart in den Schläfen und ich machte mir vor Angst fast in die Hose.

»So wie es aussieht, ist das verfluchte Ding schneller als wir!«, rief Jack, als ich den blinkenden Ring über unserer Motorhaube sah. Ein greller Lichtblitz schoss auf uns zu und traf das Auto, das daraufhin kräftig durchgeschüttelt wurde. Jack riss das Steuer herum, bevor wir ins Schleudern gerieten. Die Anzeigen der Konsole spielten kurz verrückt – dann erloschen alle Lichter und wir wurden langsamer. Nur mühsam hielt Jack das Fahrzeug in der Spur, denn die Lenkung schien plötzlich schwerfälliger zu gehen.

»Was ist passiert?« Meine Stimme überschlug sich beinahe. Wie paralysiert starrte ich auf das riesige Loch in der Motorhaube, aus der Qualm drang.

»Shit, die Drohne hat tatsächlich Xaras Elektronik zerstört!«

Was? Ich konnte es kaum glauben. Der Taifun hatte uns doch schon einmal gerettet!

»I-ich dachte, die Drohnen können nur Betäubungsschüsse abgeben!« Da sah man mal wieder, für wie dumm uns die Regierung verkaufte.

Während der Wagen ausrollte, versuchte Jack ihn permanent zu starten, indem er ununterbrochen auf den Anlasser drückte – aber nichts rührte sich. »Scheiße!«

Schließlich kamen wir zum Stehen. Bedrohlich schwebte der blinkende Metallring über uns. »Letzte Warnung«, erklang es diesmal von außen. »Verlassen Sie das Fahrzeug!«

Jack versuchte, mit dem Griff des Revolvers die Seitenscheibe einzuschlagen, doch das Glas bekam nicht einen Kratzer. »Panzerglas«, murmelte er. »Im Wagen sind wir erst mal sicher.« Er entfernte eine Abdeckung an der Tür und zog einen Hebel. Die Tür öffnete sich. Zum Glück gab es diese Notentriegelung.

Als Jack ausstieg, schnappte ich nach Luft. »Was hast du vor?«

»Ich schieße der Mistbiene die Augen aus!« Er stellte sich hinter die geöffnete Tür und stützte die Ellbogen am Rahmen ab. Dann feuerte er auf das Fluggerät, das knapp vor unserem Auto in etwa zwei Meter Höhe schwebte.

Auf der Unterseite der Drohne explodierte eine Linse. Ob das eine Kamera gewesen war oder ein Wärmesensor?

Bevor Jack einen weiteren Schuss abfeuern konnte, zog sich das Flugobjekt mehrere Meter zurück.

»Das gefällt dir nicht, was!«, schrie Jack und entfernte sich vom Auto.

»Jack!« War er wahnsinnig? »Komm zurück!« Ich rutschte zur geöffneten Fahrertür und stellte die Beine auf die Straße. »Jack!«

Er lief zur Drohne und feuerte zwei weitere Schüsse ab. Funken sprühten und zwei Lichter gingen aus. Aber plötzlich schoss der Ring auf den Taifun zu.

»Raus!«, brüllte Jack und ich reagierte einfach, obwohl ich gelähmt vor Angst war. Es kam mir wie in Zeitlupe vor, als ich aufstand und zu Jack rannte. Dabei blickte ich zurück, um zu sehen, ob wir verfolgt wurden. Die Drohne befand sich allerdings genau über dem Taifun. Da öffnete sich auf der Unterseite des Ringes eine Klappe.

»Ins Feld, Kate!« Jack packte mich am Arm und riss mich mit sich.

Ich drehte mich erneut zu Xara um. Aus der Drohne fiel ein ballgroßer Gegenstand auf das Auto. Keine Sekunde später explodierte der Taifun mit einem Höllenlärm. Metallteile und Scherben flogen über unsere Köpfe. Jack warf sich auf mich und wir fielen in den Raps. Jack begrub mich unter seinem Körper.

In meinen Ohren klingelte es, mein Schädel dröhnte und mein Herz sprang fast aus meiner Brust. Als die Druckwelle über uns gerollt war, glitt Jack von mir und zog mich in seine Arme. »Alles okay mit dir?«

Ich nickte und starrte auf die Stelle, wo Xara explodiert war. Nichts außer Rauch, Fetzen und einer verbogenen Felge war auf der Straße zu sehen.

Die Drohne schwebte unbeweglich auf der anderen Seite über dem Feld. Anscheinend konnte sie uns nicht mehr aufspüren und hatte sich die Position des Autos lediglich gemerkt gehabt. Das Flugobjekt war jetzt nutzlos und somit für uns ungefährlich.

Wir waren vorerst in Sicherheit, aber steckten mitten im Nirgendwo fest.

»Keine Sorge«, sagte Jack leise und legte einen Arm um mich. »MALVE weiß, wo wir sind.« Ja, unsere ID-Chips zeigten dem Untergrund unseren Aufenthaltsort an.

Ich atmete auf, doch sofort durchzuckte ein Stich meine Brust. »Das Tagebuch!« Es war in meinem Rucksack gewesen.

Hand in Hand näherten wir uns langsam Xaras rauchenden Überresten. Von unserem Gepäck war nichts mehr übrig. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hatte zwar alle Aufzeichnungen mehrmals gelesen und kannte sie auswendig, dennoch tat es ungemein weh, das kleine Buch verloren zu haben.

Aber ich war ja selbst daran schuld. »Warum musste ich auch in diesen blöden Laden! Der Typ an der Kasse hat uns bestimmt verpfiffen.« Als ich laut aufschluchzte, zog Jack mich in seine Umarmung. Wie ein kleines Mädchen weinte ich an seiner Brust und wollte nicht mehr aufhören. Jack sagte nichts, sondern streichelte durch mein Haar und über meinen Rücken. Auch wenn Xara nur ein Gegenstand gewesen war, ein Computer, schmerzte der Verlust. Wie lange würde es dauern, bis einer von uns starb? Erneut waren wir nur knapp entkommen.

Plötzlich reckte Jack den Hals. »Hörst du das?«

Meine Ohren waren immer noch leicht taub, nur ein Pfeifen nahm ich wahr. Aber sehen konnte ich. Ein Hubschrauber kam in unsere Richtung geflogen.

»Wow, das ging ja schnell.« Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und klopfte den gelben Blütenstaub von der Kleidung. Gleich würden wir gerettet werden.

»Ein bisschen zu schnell«, sagte Jack und zog mich wieder ins Feld. »Das ist ein Militärhubschrauber!«

Erschrocken schaute ich nach oben.

Nein … bitte nicht!

Abermals riss Jack mich mit sich, doch ich wusste: Es gab kein Entkommen.

»Aber Ron hat doch auch davon gesprochen, dass sie ein Militär aufbauen.« Ich klammerte mich an diesen letzten Rest Hoffnung, während wir geduckt durch die gelben Pflanzen liefen.

»Ich hab das Symbol von MUTAHELP erkannt«, sagte Jack. In der einen Hand hielt er mich, in der anderen den Revolver. Nur noch zwei Kugeln … Patronenschachtel war im Auto … hörte ich seine Gedanken.

Der Hubschrauber kam rasch näher, dahinter erblickte ich einen zweiten. Tatsächlich, jetzt sah ich am Heck ebenfalls das rote Erkennungszeichen von MH. Während MALVE einen blauen Mond als Symbol besaß, war es bei MUTAHELP ein roter Stern. Der Stern stand für Schutz. Aber er war auch ein Symbol der göttlichen Ordnung, der alle Mächte der Unordnung weichen müssen … wie die Mutanten.

Wie verschreckte Hasen hockten wir im Feld und starrten auf die Männer in den schwarzen Overalls, die sich aus dem schwebenden Helikopter abseilten. Sie trugen Waffen bei sich. Die Wärmebildkameras der Hubschrauber hatten uns natürlich sofort entdeckt.

Fest drückte ich Jacks Hand und schaute ihm in die Augen. »Es tut mir so leid.« Erneut liefen Tränen über meine Wangen.

Das war das Ende.

»Solange ich atme, werde ich dich beschützen, Kate. Das schwöre ich dir.« Jack versuchte mich immer wieder hinter sich zu bringen, aber sie waren überall.

Um uns herum eröffneten sie das Feuer. Grelle Blitze schossen auf uns zu. Jack feuerte die letzten zwei Patronen ab, traf jedoch keinen der zahlreichen Angreifer tödlich. Ihre Anzüge waren kugelsicher.

Wir würden sterben, da war ich mir sicher. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Wirbelsäule, der bis in mein Gehirn drang, und mir wurde schlagartig schwarz vor Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich Jacks Schrei – dann nichts mehr.

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Als die Betäubung langsam nachließ und ich zu mir kam, wurde mir schlagartig klar, dass ich nur bewusstlos gewesen war. Der Schuss hatte mich lediglich betäubt. Ich wollte sprechen, nach Jack rufen, aber meine Zunge war noch immer wie gelähmt. Oh Gott, wo war er?

Jack!, dachte ich.

Mit verbundenen Augen und auf dem Rücken gefesselten Händen saß ich, nach den schlagenden Geräuschen über mir zu urteilen, wahrscheinlich in einem der Helikopter. Mein flauer Magen stimmte mir da jedenfalls zu. Der Schmerz an meinem Handrücken war eindeutig darauf zu führen, dass sie mir den ID-Chip gewaltsam rausgeschnitten hatten. Doch wegen der Wunde machte ich mir nicht allzu große Sorgen. Mein Baby würde das schon richten. Ob es durch den Betäubungsschuss zu Schaden gekommen war?

Nein, ich fühlte, dass alles in Ordnung war. Vielmehr erschreckte mich die Tatsache, dass MALVE jetzt nicht wusste, wo wir hingebracht wurden.

»Torri?«, hörte ich Jack von rechts.

»Ich bin hier«, sagte ich mit krächzender Stimme, während ich mit meinem Knie das seine berührte. Haben sie deinen Chip auch entfernt?

Ja, übermittelte er mir. Geht es dir gut?

Ich habe Angst. Was hab ich mir nur dabei gedacht, in diesen blöden Laden zu wollen? So dringend wäre es doch nicht gewesen. Eine Träne versickerte in meiner Augenbinde. Ich war wütend auf mich selbst. Ich wollte Jack von MUTAHELP fernhalten und hatte ihn geradewegs in ihre Arme getrieben.

Egal, was passiert, Kate, ich lass nicht zu, dass sie dir was tun!

Um mich machte ich mir weniger Sorgen.

Nachdem wir endlich gelandet waren – die Zeit war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen –, zog mich jemand unsanft aus dem Helikopter, sodass ich beinahe gefallen wäre. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, wie spät es war und was sie mit uns vorhatten. Keiner hatte während des Fluges auch nur ein Wort mit uns gesprochen. Blind stolperte ich vor mich hin, wurde immer wieder in eine andere Richtung gezogen oder geschubst.

Kurze Zeit und mehrere Stockwerke später, drang eine gespielt freundliche Stimme an mein Ohr, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Ah, Mr. Hayes, wie schön, dass wir uns wiedersehen!«

Als mir jemand das Tuch von den Augen riss, glaubte ich mich in einen von Jacks Albträumen. Oh Gott, bitte lass mich nur träumen!, wünschte ich mir, doch ich träumte nicht. Vor uns stand in einem weißen Kittel und bestialisch grinsend: Dr. Harcourt! Genauso wie ich ihn aus Jacks Erinnerungen kannte. Und wir waren uns so sicher gewesen, dass er tot war!

»Was sagen Sie zu meinem neuen Daumen, Mr. Hayes? Was die moderne Medizin doch alles vermag, dank der Unterstützung Ihrer Artgenossen.« Harcourt sagte es, als wären Mutanten eine Tierrasse, wobei er Jack diabolisch anlächelte und mit seinem Finger fröhlich vor unseren Augen wackelte.

Dann richtete er den Blick auf mich. »Verzeihen Sie meine Manieren, aber Mr. Hayes und ich sind gute alte Freunde. Und Sie sind …« Er winkte einen der umstehenden drei MH-Männer zu sich, der ein Plastikbeutelchen in seiner Hand hielt. Darin lag, von blutigem Gewebe umgeben, unverkennbar ein ID-Chip. Mein Chip!

Ich hielt den Atem an. MALVE würde uns finden!

Lächelnd legte Harcourt das Tütchen unter ein Gerät, das wie eine Lupe aussah. »Mrs. Anderson!« Er schüttelte mir euphorisch die Hand. Angewidert ließ ich es zu, denn das gab mir die Gelegenheit, in diesem kurzen Augenblick seine Gedanken zu lesen. Sofort wusste ich, was er vorhatte: Er wollte sich an Jack rächen, ihn so lange quälen, bis das letzte Fünkchen Leben in ihm erloschen war – und dabei natürlich an das wertvolle Protein kommen. Mit perverser Ungeduld sehnte er sich diesem Augenblick entgegen. Er wirkte auf mich wie ein kleiner Junge, der es kaum erwarten konnte im Vergnügungspark eine Runde mit dem Battle-Ship zu fahren, um die anderen Raumschiffe abzuschießen. Nur dass dies hier kein Spiel war. Was war dieser Dr. Harcourt nur für ein abartiger, kranker Mann!

Erneut wurde mir schwarz vor Augen. Was konnte ich tun, um das zu verhindern? Ich musste Harcourt so lange hinhalten, bis Rettung kam.

Falls sie kam.

»Was für ein reizender Zufall, auch die Frau an Mr. Hayes Seite kennenzulernen. Da haben Sie aber einen besonders hübschen Fang gemacht«, sagte er zu Jack.

»Wenn Sie sie auch nur anrühren!« Jack ballte die Hände zu Fäusten. Er war erfüllt von unsäglicher Angst und noch größerer Wut. Seine Aura war so dunkel, wie ich es nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Interessant war Harcourts Aura: Sie schien kaum vorhanden zu sein. Ein grauer Schleier, mehr nicht.

Er tat so, als hätte er die Bemerkung nicht gehört, und fuhr grinsend fort: »Ihre Freunde werden denken, Sie stecken in der Nähe von Petite Ville fest. Dort laufen zwei unserer Leute mit Sendern durch die Gegend, in denen wir zuvor die Daten Ihrer ID-Chips transferiert haben. Zu dumm, nicht wahr? Nur falls Sie hoffen, Ihre Freunde könnten Ihre wahre Lage über Ihre Sender orten …« Er gab das Tütchen an den Mann zurück. »Ich denke, unsere Seite besitzt die höher entwickelte Technologie. Deswegen werden wir euch armseligen Mutanten immer überlegen sein.«

All meine Hoffnungen zerplatzten soeben wie eine Seifenblase und ich fühlte mich einer Ohnmacht nah.

Es war aus, vorbei.

Deutlich spürte ich Jacks Wut und Hass auf diesen Mann. In diesem Moment, als er seinem Peiniger erneut begegnete, musste Jack sich vorkommen wie in einem seiner schlimmsten Albträume. Und auch mir erging es nicht besser.

Harcourts Brauen zogen sich zusammen. »Sie wollten wohl unser kleines Geheimnis nicht für sich behalten, Mr. Hayes? Was sind Sie für ein dreckiger Verräter! Aber unsere Leute sind überall. Ihnen entgeht nichts.«

Wieder blickte der Doktor mich an. »Es tut mir sehr leid, wenn ich Ihren Freund jetzt entführe, aber wir müssen noch eine gemeinsame Sache zu Ende bringen. Danach habe ich Zeit für Sie, meine Liebe.«

»Nein!«, schrie Jack, die Augen in Panik weit geöffnet, und riss sich von dem Mann los, der ihn immer noch am Arm hielt, doch vergeblich. Einer dieser MUTAHELP-Klone, der sehr große Ähnlichkeit mit Nummer eins, zwei und drei aufwies und ebenfalls diese dunkelblaue Uniform trug, verpasste Jack mit einem kleinen Stab einen elektrischen Schock seitlich in die Rippen. Sofort stürzte Jack zu Boden. Da seine Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren, schlug er hart mit dem Gesicht auf.

»Jack!« Oh Gott, bitte! Ich fühlte nackte Panik, besonders jetzt, da Jack sich nicht mehr regte. Mein Held, mein Fels in der Brandung – zerstört.

Blut lief aus seiner Nase. Nummer vier und fünf packten ihn unter den Armen und zerrten ihn auf die Beine. Mein Herz verkrampfte sich bei diesem Anblick. Flatternd öffneten sich seine Lider. Die Klone hatten ihn nur gelähmt.

Es tut mir so leid!, sendete ich ihm verzweifelt. Das wollte ich nicht! Ich liebe dich! Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Jack versuchte mir etwas zu schicken: Kate, was auch immer… Mehr empfing ich nicht; sein Kopf sackte nach unten.

Sie zogen ihn weg von mir, den Gang entlang, wo sie hinter einer Tür verschwanden. Es war schwer zu beschreiben, was ich in diesem Augenblick fühlte. Mein Herz raste, das Blut rauschte in meinen Adern und ich überlegte fieberhaft, wie wir jetzt noch aus dieser scheinbar aussichtslosen Situation entkommen konnten. Ich betete inständig, dass MALVE etwas von der Täuschung mitbekommen hatte und schon nach uns suchte. Eine andere Hoffnung hatte ich nicht. Wo waren wir? Im Lago-Pharm-Institut?

»Sie entschuldigen mich, Mrs. Anderson, aber es wartet eine Menge Arbeit auf mich. Wie gesagt, wir sehen uns später«, trällerte mir der Arzt fröhlich ins Gesicht. Dann verschwand er ebenfalls hinter der Tür.

Ein weiterer MH-Klon zerrte mich in den fast leeren Raum daneben. Dort gab es nur einen Tisch, um den zwei Stühle standen. An der Wand, die unsere beiden Zimmer trennte, war eine große Scheibe eingebaut, durch die ich Jack in dem anderen Raum sah. Nachdem der Klon meine Fesseln gelöst hatte, verschwand er.

Ich war gefangen. Die Türen ließen sich, wie sollte es auch anders sein, nur mit Daumenscan öffnen. Und ich stand leider nicht auf der Liste der Auserwählten.

Plötzlich drangen Jacks panische Schreie an mein Ohr, was mir einen schmerzhaften Stich in den Magen versetzte und eine seltsame Übelkeit in mir aufsteigen ließ. Die Klone hatten ihn auf eine breite Behandlungsliege gelegt und gefesselt, bevor sie wieder das Zimmer verließen.

Dr. Harcourt grinste maliziös durch das Glas zu mir herüber. »Ein Platz in der ersten Reihe! Meine liebe Mrs. Anderson, ich hoffe, Sie wissen meine Großzügigkeit zu schätzen! Aber es tut mir außerordentlich leid, dass ich Ihnen dadurch die Vorfreude nehme. Wenn ich mit Ihrem Freund fertig bin, sind Sie sofort die Nächste. Versprochen.«

»Nein! Sie widerliches Schwein! Sie werden Ihre dreckigen Hände …« Jack schrie auf. Der Arzt hatte ihm mit einem Skalpell sein Shirt vom Halsausschnitt bis zur Taille durchgeschnitten, so als wollte ein Pathologe eine Leiche öffnen. Die scharfe Klinge hinterließ eine blutrote Spur auf dem hellen Stoff. Oh Gott, wie tief war der Schnitt gegangen?

»Jack!«, rief ich unter Tränen. Ich wollte meine neu erworbenen Fähig keiten gegen den Arzt einsetzen, eine Illusion heraufbeschwören, die ihn zum Aufgeben bewegt hätte, aber dazu war ich viel zu durcheinander und unkonzentriert.

Kate, reiß dich zusammen, ermahnte ich mich. Tu es für Jack, verdammt!

Ich versuchte mich zu sammeln, doch es klappte nicht. Irgendwie drangen meine Kräfte nicht richtig durch die Scheibe. Ob sie irgendwie gegen Telepathie gesichert war?

Die Augen weit aufgerissenen, schnappte Jack nach Luft, während ihm der Doktor das Hemd vom Körper zerrte. Ich spürte Jacks unvorstellbar große Schmerzen. Blut quoll aus der Rille zwischen Brust und Bauch. Dieser grauenvolle Anblick zerriss mir fast das Herz. Wie paralysiert starrte ich durch die Scheibe und sah, wie der Arzt ihm mit einer Spritze etwas Blut abnahm.

»Stellen Sie sich vor, Mr. Hayes, uns ist es doch tatsächlich gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, das es uns ermöglicht, Ihre mutierten Proteine zu vervielfachen. Ein einziger Tropfen Ihres Blutes reicht uns vollkommen aus.«

Gott sei Dank, dachte ich immer und immer wieder. Es ist vorbei! Gott sei Dank! Erleichtert stieß ich den Atem aus.

Dr. Harcourt rief einen Klon in den Raum: »Bringen Sie das hier sofort ins Labor.«

»Ja, Sir.« Nummer irgendwas gehorchte und verschwand mit der Blutprobe.

Zu Jack gerichtet sagte Harcourt: »Aber wo bleibt denn dann der Spaß, werden Sie denken? Sie brauchen nicht traurig sein, den werden wir trotzdem haben.« Ehe ich mich versah, ritzte er Jack mit dem Skalpell das Wort VERRÄTER quer über den Oberkörper.

Jack schrie mehrere Male qualvoll auf und sein Atem ging rasend schnell. Dicke Schweißtropfen liefen ihm von der Stirn und vermischten sich mit seinen Tränen.

»NEIN!«, schrie ich. »JACK!« Ich fühlte sein Leid fast so als ob es mein eigenes wäre. Ich wollte mir nicht ausmalen, was er in diesem Moment für unvorstellbare Schmerzen litt. Ich begriff nicht, wie jemand so grausam sein konnte.

»Sie wissen doch sicher, was man mit Verrätern macht, oder, Mrs. Anderson?« Dr. Harcourt grinste mich an, einen irren Glanz in den Augen.

Durch diese grauenvolle Szene war ich unfähig, ihm zu antworten. Ich war wie gelähmt. Diesmal sah ich nicht einfach eine von Jacks Erinnerungen, sondern war ein Teil davon. Es übertraf alles Grauen, das ich bis jetzt erlebt hatte.

»Nein«, hauchte ich ununterbrochen gegen das Glas, das deshalb leicht beschlagen war. »Aufhören … bitte hören Sie auf!« Ich konnte meinen Blick nicht von Jack abwenden und diese grauenvolle Szene brannte sich tief in mein Gehirn ein.

Jack drehte den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Mit den Lippen formte er die Wörter »Ich liebe dich«. Ich hörte seine Stimme. Direkt im meinem Kopf. Wir konnten uns telepathisch verständigen, warum schaffte ich es dann nicht, dem Doktor etwas zu schicken?

Ich versuchte es erneut – ohne Erfolg.

Jack weinte, genau wie ich. Es war so furchtbar! Ihn derart hilflos unter unvorstellbaren Qualen in seinem Blut liegen zu sehen, zerriss mein Innerstes. Und dort war so viel Blut: Aus jedem der feinen Schnitte lief eine rote Spur an seinem Körper hinab oder bildete kleine Pfützen auf seinem Bauch.

Bitte verzeih mir Jack, ich bin Schuld, dass es so gekommen ist. Es tut mir so leid!

Da gibt es nichts zu verzeihen. Du sollst nur wissen, dass du das Beste bist, was mir je in meinem Leben passiert ist, Kate McAdams. Ich liebe dich mehr als du dir vorstellen kannst, aber noch einmal stehe ich das alles nicht durch! Ich … kann nicht mehr. Lebe … wohl … Jack schloss die Augen.

Was hatte er da eben gesagt? Lebe wohl?

»NEIN!«, schrie ich und schlug gegen die Scheibe. »Ich schaff das nicht ohne dich, Jack! Du musst bei mir bleiben! ICH LIEBE DICH!«

Harcourt zeigte kaum eine Gefühlsregung. »Mrs. Anderson, Sie lenken mich zu sehr ab. Deswegen muss ich leider Ihre Privatvorstellung beenden.« Er drückte auf einen Knopf an der Wand. Sofort wurde das Glas milchig und ich erkannte nichts mehr. Ich hörte nur noch Jacks Schreie und das sadistische Lachen des Arztes. Dann wurde der Lautsprecher ausgeschaltet.

Weinend sackte ich auf den Boden und presste mir die Hände auf die Ohren. Ich hörte Jacks Schreie immer noch – tief in meinem Kopf. Seine Qualen spürte ich selbst durch diese dicken Wände. Wie hungrige Finger zerrten sie an meinem Körper, als wollten sie sagen: »Sieh nur, was du angerichtet hast!«

Über mir brach alles zusammen. Meine Seele wurde aus den Angeln gerissen und unter meinen Füßen tat sich ein bodenloser Abgrund auf, der mich in die Tiefe zog. Von ganz fern hörte ich meine Schreie, denn ich schrie aus Leibeskräften und donnerte mit den Fäusten gegen die raue Wand, bis sich der Putz blutrot färbte.

Das alles merkte ich kaum. Ich war nicht mehr in meinem Körper. Meine Hülle rebellierte, doch mein Geist wurde in einen unendlich schwarzen Strudel gerissen, immer tiefer und tiefer.

Plötzlich verkrampfte sich mein Unterleib. Oh Gott, mein Baby! Ich würde es verlieren. Ein solcher Schock könnte eine Fehlgeburt auslösen! Und Jack – er wusste nicht einmal, dass er Vater wurde. Nur jetzt war es zu spät. Er hörte mich nicht mehr und solange wir keinen Sichtkontakt hatten, konnte ich ihm auch keine Botschaft schicken. Alles war aus, vorbei. Wir hatten verloren.

In diesem Moment, als alles für uns zu Ende schien, öffnete sich die Tür meines kleinen Gefängnisses und ich erkannte sofort die grauhaarige Frau, die hereintrat: Es war Schwester May. Einen Moment lang starrte sie mich an, als hätte sie einen Geist gesehen: »Rose? … Rose McAdams?«, fragte sie mich.

Das war der Name meiner Mutter. Hatten sie sich gekannt?

Eine Hand immer noch auf meinen Bauch gepresst, erhob ich mich langsam, bereit, um mein Leben zu kämpfen. Doch Schwester May machte keine Anstalten, als wollte sie mir etwas antun.

»Rose?«, fragte sie mich erneut und trat einen Schritt auf mich zu.

»Mein Name ist Torri Anderson«, antwortete ich kühl, wobei ich meine Stimme kaum erkannte.

»Machen Sie mir nichts vor. Sie sind Rose wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur nicht Ihre Augen. Die haben Sie von Ihrem Vater, nicht wahr?« Schwester May starrte mich eindringlich an. Irgendwie wirkte sie traurig.

»Ich weiß, dass Rose eine Tochter hatte, doch es hieß, sie sei tot«, sprach sie mehr zu sich, als zu mir.

»Ich bin sehr lebendig, wie Sie sehen«, erwiderte ich trotzig. Aber nicht mehr lange.

Was brachte es jetzt noch, sich selbst zu belügen. Ich war sowieso schon so gut wie tot. Meine Seele würde mit Jack sterben und schon bald würde mein Körper folgen.

Ein weiterer Krampfanfall durchzuckte meinen Unterleib. Oh Gott, waren das Schmerzen! Aber das geschah mir recht. Ich hatte es nicht anders verdient. Und was jammerte ich überhaupt? Jacks Schmerzen waren in diesem Moment unendlich Mal größer.

»Was ist mit Ihnen?«

Ich brachte nur ein halb gekeuchtes »Baby« heraus.

»Sie sind also schwanger«, stellte sie nüchtern fest.

»Wahrscheinlich nicht mehr lange«, murmelte ich und ging in die Knie. Ich verlor nicht nur den Mann, den ich über alles liebte, sondern auch unser gemeinsames Kind.

Oh, Baby, tu mir das nicht an!, schickte ich meine Gedanken in meinen Unterleib. Wie dumm von mir, aber was tat man nicht alles, wenn einen die Verzweiflung in den Wahnsinn trieb. Seltsamerweise schien es zu helfen.

»Legen Sie sich auf den Boden!«, ermahnte mich die Schwester. »Ich bringe Ihnen etwas, dann werden Sie sich gleich besser fühlen.«

Was sollte das jetzt? Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum war Schwester May auf einmal so besorgt?

Kurze Zeit später tauchte sie mit einem Glas Wasser und einer weißen Tablette auf, die ich schlucken sollte. Jetzt verstand ich. Ihre nette Art war nur vorgetäuscht, damit ich ohne großen Aufstand in den Tod ging. Doch ich fühlte deutlich, dass sie mir nichts vorspielte. Ich war verwirrt. »Warum tun Sie das?«, fragte ich sie.

»Deine Mutter war meine beste Freundin.« Sie reichte mir das Medikament.

»Und warum haben Sie es zugelassen, dass Sie getötet wurde?«, fuhr ich sie an und schluckte die Tablette.

»Ich hätte es nie zugelassen. Ich wusste nicht, dass Rose und John Spione waren. Jahrelang glaubte ich, es sei wirklich ein Unfall gewesen, bis Dr. Harcourt mich vor ein paar Jahren in alles einweihte. Er brauchte einfach jemandem, mit dem er sein grausames Geheimnis teilen konnte. An dem Tag brach meine heile Welt zusammen.« Sie blickte auf den Boden.

Wie verzweifelt musste Schwester May sein, mir so etwas anzuvertrauen? Oder erzählte sie mir alles, weil sie wusste, dass ich nicht mehr lange zu leben hatte?

»Und da können Sie nachts noch schlafen?«, erwiderte ich angewidert.

Sie starrte auf den Boden. »Was hatte ich für eine Wahl?«

»Sie hatten eine Affäre mit ihm, nicht wahr?« Ich wusste es seit dem Moment, als sie mir das Glas Wasser in die Hand gedrückt hatte.

Sie nickte. »Der größte Fehler meines Lebens. Ein einmaliger Ausrutscher.« Gedankenverloren fasste sie sich an die Brust. Dr. Harcourt hatte seine perversen Spielchen nicht nur mit seinen Patienten gespielt. »Ich hänge viel zu tief mit drin, um auszusteigen.« Sie klang wirklich verzweifelt. Ich spürte, wie sie sich danach sehnte, dies hier alles hinter sich zu lassen.

»Es gibt immer einen Ausweg. Helfen Sie mir und ich verspreche Ihnen, genauer gesagt unsere Organisation, Anonymität und Personenschutz bis an Ihr Lebensende.« Neue Hoffnung keimte in mir auf.

»Keiner kann mich vor diesem Mann beschützen. Dafür kenne ich ihn zu gut. Er ist ein Monster!«

»Bitte, Schwester May, dort stirbt gerade ein Mensch!« Ich deutete mit zitternder Hand auf die milchige Scheibe und stand wieder auf. Meine Krämpfe hatten aufgehört. »Sie können das verhindern! Dem Grauen jetzt und für alle Zeiten ein Ende setzen!« Schwester May war im Moment meine einzige Rettung.

»Woher kennen Sie … wissen Sie überhaupt, dass Dr. Harcourt und ich … Sie sind ein Mutant!« Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.

So, dachte ich, jetzt sind wir also wieder per Sie.

»Es war meine Mutter, Ihre beste Freundin, die mir diesen Gendefekt vererbte!«, schrie ich sie an. »Bitte helfen Sie mir – helfen Sie uns allen! Ich spüre es, Sie sind ein guter Mensch. Ich brauche die geheimen Aufzeichnungen aus dem Zentralcomputer. Das Codewort ist OPERATION ORPHANAGE. Mehr brauchen Sie nicht zu tun, als mir diese Daten zu beschaffen. Er wird es niemals erfahren.« Ich deutete auf die große Scheibe, hinter der Dr. Harcourt gerade Jack folterte. Ich betete, dass er am Leben war!

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Es tut mir leid.« Sie wollte gerade den Raum verlassen, als plötzlich die Scheibe klar wurde. Ich stürzte darauf zu und sah Jack bewegungslos in seinem Blut liegen.

Unwillkürlich verkrampfte sich mein Unterleib aufs Neue. Sein Gesicht, die Arme und sein Oberkörper waren mit Schnitten übersät. Seine Augen waren geschlossen, als ob er schlafen würde. Beim Anblick meines misshandelten Liebsten glaubte ich, mich gleich übergeben zu müssen und hatte das Gefühl, jemand würde an meinen Beinen zerren.

Oh Gott! Der Arzt hatte ihn auf das Übelste zugerichtet. Jack bewegte sich nicht mehr. Ich erkannte nicht einmal, ob sich sein Brustkorb noch hob und er atmete. Bitte nicht, bitte! »Jack«, hauchte ich und alles verschwamm vor meinen Augen.

»Schwester May, kommen Sie sofort. Ich brauche Sie hier!«, rief Dr. Harcourt durch die Sprechanlage und die Frau gehorchte ihm aufs Wort.

War Jack tot?

Nein, ich nahm seine Aura schwach wahr. Viel zu schwach. Zitternd atmete ich ein. Der Schmerz hinter meinem Brustbein brachte mich fast um.

»Geben Sie ihm die Gnadenspritze, nur um sicherzugehen, dass er diesmal nicht wieder von den Toten aufersteht«, sagte Harcourt zu Schwester May, als sie den Raum betrat. »Wie geht es seiner reizenden Freundin, unserer lieben Mrs. Anderson?«

»Sie ist …« Schwester May wollte dem Arzt gerade meine wahre Identität verraten und dass ich ein Mutant war. Ich spürte, dass sie in seiner Gegenwart ein ganz anderer Mensch war. Sie stand unter seinem Einfluss, ließ sich von ihm kontrollieren.

Sie war ihm hörig!

Bitte verraten Sie ihm nicht, wer ich bin!, schickte ich es ihr flehend durch das Glas. Ob sie mich hörte? Sie zeigte keine Regung.

»Ja, Schwester May? Was ist sie?«, fragte Harcourt ungeduldig.

Die Schwester blickte mich kurz an, ohne ihm zu antworten.

»Dolores! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

BITTE! NICHT! Meine Mutter würde Ihnen das niemals verzeihen!, flehte ich sie noch einmal an.

»Sie ist schwanger«, stieß sie hervor. Damit manövrierte sie sich aus ihrer misslichen Lage … und katapultierte mich in die Miesere. Aber ich machte ihr keinen Vorwurf. Ihr war auf die Schnelle wohl nichts anderes eingefallen. Vielleicht hoffte sie, dass Dr. Harcourt eine schwangere Frau verschonen würde?

Unter hochgezogenen Augenbrauen blickte der Arzt zu mir herüber. »So, so. Da wächst also ein Bastard in Ihrem Bauch. Schämen Sie sich, Mrs. Anderson. Aber keine Sorge, ich werde mich persönlich um Ihren kleinen Ausrutscher kümmern.« Zur Schwester gewandt sagte er: »Bereiten Sie schon einmal alles für eine OP vor. Ich gehe erst mal was essen, bevor ich Ihr die Missgeburt rausschneide. Vielleicht sind seine Gene noch zu etwas nütze.« Dann verließ er den Raum und ließ Jack nach seinen perversen Spielchen einfach zum Sterben zurück.

Schwester May blickte mich mit aufgerissenen Augen an. Sie wollte nicht, dass mir etwas zustieß. Das spürte ich. Der Mann, mit dem sie einmal im Bett gelandet war, ekelte sie an. Sie hasste ihn, hatte Angst vor ihm, war ihm aber auf irgendeine Art, die ich nicht verstand, hörig.

»Schwester May, bitte helfen Sie mir!«, rief ich durch die Scheibe. Tränen strömten über mein Gesicht, ich zitterte, mit war kalt und schlecht. Unendlich große Angst stieg in mir auf. Schluchzend legte ich wieder die Hände auf meinen Bauch. Ich würde alles verlieren. Jack, unser Baby, mein Leben. Einfach alles!

»Schwester, bitte tun Sie was!« Es kam mir wie Ewigkeiten vor, dass ich ihr zurief und dabei verzweifelt gegen die Scheibe klopfte.

Irgendwann verließ sie ohne ein weiteres Wort den Raum. Sie hatte Jack keine Spritze gegeben.

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Ich wusste nicht, wie lange ich schon gegen die Scheibe schlug und immer wieder Jacks Namen brüllte. Ich hatte versucht, mit dem Stuhl das Glas einzuschlagen – vergeblich. Meine Hände schmerzten, aber ich merkte es kaum. Seine Aura wurde von Minute zu Minute schwächer. Er hatte sehr viel Blut verloren, zu große Qualen erlitten. Körperliche wie seelische. Davon erholte sich niemand.

Plötzlich hörte ich, wie sich neben mir die Tür öffnete, doch ich starrte weiterhin durch das Glas. Das Letzte, was ich in meinem Leben sehen wollte, bevor Dr. Harcourt mich umbrachte, war Jack, der Mann, mit dem ich gerne alt geworden wäre.

Mein Tiger …

Vorhin, da hatte er mir gesagt, dass er mich liebte.

Neue Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hatte ja gewusst, dass er mich liebte, auch wenn er das nie laut ausgesprochen oder mir durch Gedanken mitgeteilt hatte.

Ich liebe dich so sehr, Jack, schickte ich, in der Hoffnung, die Worte würden seinen Geist erreichen.

Als mich jemand an der Schulter berührte, drehte ich den Kopf und atmete auf. Es war nicht der Arzt. Es war Schwester May, die mir einen Speicherstick in die Hand drückte. »Hier, nehmen Sie das. Alle Informationen, die Sie wollten, sind darauf gespeichert. Das Passwort war schon veraltet, aber ich kam über den ehemaligen Zugang Ihres Vaters an die Daten.«

Ich begriff nicht, was geschehen war. Schwester May hatte es sich anders überlegt? Würde wenigstens ein Teil unseres Planes funktionieren?

Doch ich wollte keinesfalls denselben Fehler begehen wie meine Eltern und mit den Daten das Institut verlassen. Wie weit würde ich kommen? Vermutlich nicht einmal aus diesem Gebäude.

»Ich muss die Informationen sofort an MALVE übermitteln«, erklärte ich ihr. »Haben Sie ein MP?«

Sie zögerte kurz, dann zog sie das Gerät aus ihrer Tasche und gab es mir. Nachdem ich den kleinen Stick in die dafür vorgesehene Öffnung gesteckt hatte, wählte ich die Nummer, die Jack und ich uns gut eingeprägt hatten: MALVEOPERATIONGIERIGERGEIER, 625836737284664437443743437. Auf dem Display leuchtete BITTE GEBEN SIE DAS PASSWORT EIN auf. Mit zitternden Händen tippte ich CHAMÄLEON ein. Sofort begann die Übertragung und Entschlüsselung der Daten.

»Ich bin schon so gut wie tot«, drang Schwester Mays Stimme neben mir an mein Ohr.

Nachdem der Transfer abgeschlossen war, gab ich ihr das MP zurück. »Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

Hatte es wirklich geklappt? Waren auf dem Stick alle Daten gewesen, die MALVE brauchte?

Ich konnte kaum fassen, dass es so einfach gewesen war.

Einfach? Nein – Jack hatte einen hohen Preis dafür gezahlt.

»Sie hatten keine andere Wahl«, sagte ich zu ihr. »Ich habe Sie mit meinen Kräften dazu gezwungen oder ich hätte Sie umgebracht.«

»Er wird mich töten«, wisperte sie.

Kopfschüttelnd erwiderte ich: »Sie werden bei MALVE Asyl finden.«

Schwester May packte meinen Arm. »Kommen Sie, ich bringe Sie hier raus. Wir haben noch genug Zeit. Dr. Harcourt kommt nie vor einer Stunde aus der Kantine.«

Gemeinsam verließen wir den Raum, doch ich würde nicht ohne meinen Tiger gehen.

»Jack … Ich muss zu ihm!«

Schwester May öffnete mir die Tür zu seinem Zimmer. »Ich halte auf dem Gang Wache, damit Sie sich von ihm verabschieden können«, sagte sie leise. »Er wird wohl nicht mehr aus dem Koma erwachen. Seine Lebenszeichen sind sehr schwach.«

Bei diesen Worten schluckte ich den dicken Kloß in meinem Hals hinunter.

»Ich hole Sie raus, falls jemand kommt.«

Schon während ich den Raum betrat wusste ich, dass die Schwester recht hatte. Jack war kaum mehr am Leben. Sein halbnackter, geschundener Körper lag leblos auf den blutrot gefärbten Laken, seine Brust hob sich kaum merklich, die sonst so starke und strahlende Aura um seinen Körper war verblasst und selbst für mich kaum wahrnehmbar.

Das also war der Preis, den wir bezahlen mussten; den Jack bezahlt hatte? MALVE hatte nun alle Informationen, aber ich konnte ihren Sieg nicht feiern. Hier, vor mir, lag der Mann, den ich über alles liebte, im Sterben. Er hatte nicht einmal erfahren, dass er Vater wurde.

Weinend küsste ich seine leblosen, blutigen Lippen und hoffte auf dieses wunderbare Strahlen in meinem Kopf, das seine Küsse immer bei mir auslösten – doch da war nichts.

Das unsagbare Trauergefühl brachte mich selbst beinahe um. Ich legte mich neben Jack auf die blutige Liege, meinen Kopf auf seine zerschnittene Brust, und hörte sein Herz kaum schlagen.

Ich schloss die Augen. Wie gelähmt und zu keinen anderen Gedanken fähig, wünschte ich mir sehnlichst mit ihm gemeinsam zu sterben, denn was hatte das Leben jetzt noch für einen Sinn? Ich wollte nicht mehr gegen die AMF kämpfen, dachte nur für den Bruchteil einer Sekunde an Onkel Sam. Nichts, was mir einmal wichtig gewesen war, berührte mich mehr. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum gefangen, aus dem es kein Erwachen gab. Alles schien so unrealistisch, bis auf den unvorstellbar großen Schmerz in meinem Herzen. Ich würde alles tun, wenn Jack nur wieder die Augen aufschlug.

Jack, bitte wach auf!, versuchte ich ihm immer wieder zu senden, doch es war zwecklos – er konnte mich nicht mehr hören.

Suche ihn!, vernahm ich plötzlich ein Flüstern tief in meinem Kopf und riss die Augen auf.

»Jack? Warst du das?«, fragte ich voller Hoffnung.

Nein! – wieder diese Stimme in meinem Kopf, diesmal etwas lauter. Sie kam mir nicht bekannt vor.

Ich bin dein Sohn.

»Was?«, wisperte ich. Mein Sohn? Aber wie konnte das sein? Wie sollte denn ein Fötus mit mir sprechen können?

Ich kann es. Und ich werde dir helfen.

Wie?

Lass uns gemeinsam nach meinem Vater suchen …

Wurde ich jetzt wahnsinnig? Bildete ich mir die Stimme nur ein? Aber was schadete es schon, auf sie zu hören?

Mein Sohn gab mir die Anweisung, Jacks Kopf in meine Hände zu nehmen und mit meiner Stirn die seine zu berühren. Ich gehorchte, denn was hatte ich jetzt noch zu verlieren? In dieser Haltung verharrte ich neben Jack und wartete, was passieren würde.

Plötzlich befand ich mich wieder in dem seltsamen, kahlen Krankenhausflur aus Jacks Albträumen, nur dass diesmal von dem unendlich langen Gang links und rechts in kurzen Abständen unzählige Türen abgingen. Soweit ich sehen konnte, war auf jede dieser weißen Türen ein blutrotes Symbol gemalt.

Ich öffnete gleich die erste Tür vor der ich stand, auf der eine Münze abgebildet war. Dahinter lag ein kleiner, fensterloser Raum, getüncht mit weißer Farbe. Der Boden war mit weißen Fließen ausgelegt. In dem leeren Zimmer hing eine kleine Lampe, die bedrohlich flackerte. Plötzlich zog hinter mir etwas an meiner Jeans und ich blickte mich erschrocken um: Vor mir stand ein etwa dreijähriger Junge. Er sah blass aus und hatte kurzes rotbraunes Haar. Bekleidet war er nur mit einer Latzhose. Seine Augen waren so leuchtend grau wie die eines Wolfes und um seine Stupsnase verteilten sich Sommersprossen.

»Wer bist du? Und was machst du hier in Jacks Unterbewusstsein?«, fragte ich das Kind.

»Erkennst du deinen Sohn nicht, Mutter? Ich bin hier, um dir bei der Suche nach meinem Vater zu helfen.«

Meinen Sohn? Also hatte ich mir die Stimme in meinem Kopf doch nicht eingebildet?

»Wirst du einmal so aussehen wie jetzt?«, fragte ich ihn erstaunt.

»Du siehst mich so, wie du dich mir vorstellen könntest. Ich weiß nicht, wie ich wirklich aussehe. In deinem Bauch ist es so dunkel.« Er grinste mich frech an. Er besaß unverkennbar Jacks Gesichtszüge. Und seinen Humor.

Nein, da sprach nicht wirklich mein Kind zu mir, sondern ich. Der Kleine hätte ja sonst eine gottgleiche Überintelligenz haben müssen und das war selbst für einen Mutanten zu viel verlangt. Das Baby sendete höchstens Impulse aus, weil es auf meinen Stress reagierte, und ich schützte mich und mein Kind, indem ich mir einfach Hilfe erschuf, in Form einer Illusion. Der Kleine war lediglich ein Begleiter, der mir in dieser schweren Lage beistand.

»Meinst du, er ist hinter einer dieser Türen?«, wollte ich von mir / meinem Kind wissen.

»Ja, das ist er. Und wir müssen uns beeilen ihn zu finden!« Gerade als er das sagte, erlosch ein Flurlicht über uns und machte diesen Abschnitt düsterer.

Mit meinem imaginären Sohn an der Hand lief ich den endlos langen Korridor entlang und seine nackten Füßchen patschten dabei auf den kalten Boden. Beim Vorbeilaufen blickte ich auf die Symbole an den Türen. Eine Hütte … ein Buch … eine Netzfarm … Hinter welcher Tür würde Jack stecken? Es waren so viele!

Erneut fiel ein Licht aus.

Ein Fisch (Das würde er mir nie antun und sich hinter dieser Tür verstecken, oder?). Ich machte auf dem Absatz kehrt und zog meinen Sohn zurück. Lieber einmal zu viel nachsehen. Doch das Zimmer war wieder leer.

Ein Multi-Phone … ein Senso-Pen … ein Geldtransporter … ein Auto. Es war ein Taifun. Jack war verrückt nach diesem Wagen! Schnell öffnete ich die Tür, doch erneut war der Raum dahinter leer.

»Jack, wo bist du?«, rief ich verzweifelt. »Bitte hilf uns!«

Ich erhielt keine Antwort.

Ein Mond … Sterne … eine Spinne (Niemals steckte er hinter dieser Tür!) … Berge …

»Bevor das letzte Licht erlöscht, müssen wir aus seinem Kopf verschwunden sein, sonst sind wir hier drin gefangen und werden mit ihm sterben«, ermahnte mich mein Sohn. Ich wusste, dass mein Bewusstsein mit dem von Jack gekoppelt war. Mein Kind könnte recht haben.

Wahllos öffnete ich Türen – ohne Erfolg. Und der Gang vor uns war noch endlos lang. Wie sollten wir ihn jemals rechtzeitig finden?

»Bitte, Jack, gib mir doch ein Zeichen!«, rief ich durch den unendlichen Korridor.

Abermals fielen Lichter aus. Auf der Tür vor uns war ein Tigerkopf gemalt. Ich hätte schwören können, dass gerade noch ein anderes Symbol darauf gewesen war, aber wahrscheinlich litt ich schon unter Halluzinationen. Wer sich selbst eine Illusion von seinem Kind erschuf, war ohnehin nicht mehr ganz bei Verstand.

»Reiner Selbstschutz«, murmelte ich und schaute nach oben. Die Lampe über uns flackerte und erlosch schließlich. Wir standen im Dunkeln. Weit vorn im Flur brannten noch einige Lichter, doch bald würden auch sie ausgehen.

»Probier diese Tür. Schnell!«, rief mein Kind, aber sie bewegte sich nicht. Da erkannte ich an der Wand einen Scanner, dessen Umriss in der Dunkelheit schwach leuchtete, und legte meinen Finger darauf. Die Tür blieb weiterhin zu. Wer oder was immer in diesem Raum war, wollte nicht gefunden werden.

»Was sollen wir jetzt machen?« Mein Herz krampfte sich vor Verzweiflung zusammen. Die Zeit lief uns davon!

»Heb mich hoch!« Mein Sohn zog ungeduldig an meiner Hose. Ich nahm ihn auf die Arme und er drückte seinen winzigen Daumen auf die Glasplatte. Die Tür glitt zur Seite.

Ja natürlich, schließlich hatte er auch Jacks Gene! Auf diesem Weg hatte ich die Gedankenblockade aufgebrochen. »Wir sind ein Superteam«, sagte ich zu dem Kleinen und setzte ihn ab. Danach betraten wir den Raum. Er unterschied sich nicht von den anderen, bloß dass die Lampe darin nur schwach leuchtete. In einer der düsteren Ecken des Zimmers saß mein Tiger, nackt und zusammengekauert wie ein Häuflein Elend auf dem Boden. Sein Kopf ruhte auf den Knien und die Arme hatte er um seine Beine geschlungen. Erleichtert, dass wir ihn endlich gefunden hatten, rannte ich zu ihm hin. »Jack! Was tust du hier?«

Er rührte sich nicht. Als würde er mich gar nicht wahrnehmen.

Ich zog an seinem Arm. Er war ganz kalt. »Jack, bitte komm mit mir. Wir müssen uns beeilen!«

Keine Regung. Als wäre er aus Stein.

»Ich liebe dich!«, rief ich, wobei mein Puls wild flatterte. »Ich kann ohne dich nicht leben!«

Ohne aufzublicken, sagte er mit schwacher Stimme: »Ich liebe dich auch, Kate, mehr als du denkst. Doch ich kann nicht mehr. Ich sterbe.«

»Noch bist du nicht tot!« Weinend zerrte ich an seinem Arm, aber er bewegte sich nicht einen Millimeter. »Wir haben es geschafft, MALVE hat die Informationen. Wir müssen gehen.«

Jack schüttelte den Kopf.

»Bitte steh auf!«, flehte ich ihn an.

Er blieb, wo er war.

Schluchzend kniete ich mich neben ihn auf den Boden und legte meine Arme um Jack. Sollte doch das letzte Licht erlöschen. Wenn er nicht mit mir käme, würden wir zusammen sterben.

»Ich bin schwanger, Jack. Wir bekommen ein Baby.« Ich weinte in sein Ohr.

Da hob Jack den Kopf und blickte mich an. In seinen wundervollen grauen Augen sah ich den Tod. Sie waren blutunterlaufen.

Die Lampe über uns flackerte bedrohlich.

»Ein Baby?«, flüsterte er.

»Ja, einen Sohn. Sieh nur, er ist auch hier.« Beide blickten wir zu unserem Kind, das noch immer in der offenen Tür stand.

»Bitte, Vater, du musst mit uns kommen! Mutter wird sonst hier bleiben und mit dir sterben und ich werde nie das Licht der Welt erblicken.« Jetzt weinte unser Sohn ebenfalls. Dicke Tränen kullerten über seine Pausbacken und eine tiefe Traurigkeit überkam mich. Zum Glück musste unser Kind das nicht wirklich miterleben.

»Stimmt das?«, fragte mich Jack. »Ich werde Vater?«

Ich nickte und sagte entschlossen: »Entweder, wir gehen alle, oder wir sterben gemeinsam.« Dabei blickte ich ihm tief in die Augen.

Jack sah mich an und schenkte mir ein erschöpftes Lächeln. »Das ist meine Kate. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, zieht sie es auch durch.«

»Du kennst mich doch.« Sanft fuhr ich ihm durch sein zerzaustes Haar. Alles fühlte sich sehr echt an, obwohl ich lediglich in seinem Kopf war.

»Ja, ich kenne dich«, erwiderte er und wandte sich an unser Kind. »Deine Illusion ist dir wirklich gut gelungen.«

»Ja, das ist eine Illusion, aber er ist tatsächlich da. Hier drin.« Kurz legte ich eine Hand auf meinen Bauch.

Jack lächelte erschöpft. »Und ich werde nicht zulassen, dass unser Kind nie in den Armen seiner schönen Mutter liegen wird.«

Grenzenlose Erleichterung durchströmte mich. Ich hätte lachen und weinen und tanzen wollen, aber wir mussten los. Mühsam half ich ihm auf die Beine und gemeinsam traten wir in den Korridor. Die meisten Lichter brannten wieder, doch ein paar flackerten noch. Dann begann der Korridor zu verschwimmen …

»Stimmt es wirklich? Wir bekommen ein Baby?«, fragte mich Jack mit rauer Stimme, als er schwerfällig seine Lider öffnete.

»Ja, Jack, wir bekommen ein Baby.« Ein Männlein machte in meinem Bauch Purzelbäume und scheuchte die Schmetterlinge darin auf, die wie verrückt gegen meine Magenwand flatterten. Ich war überglücklich, dass Jack sich für das Leben entschieden hatte. Und für eine Familie.

Ich küsste ihn auf die zerbissenen Lippen und das rosa Leuchten in mir war wieder da. Lange nicht so strahlend wie früher, denn Jack war sehr geschwächt, aber mein Herz machte dennoch einen Freudensprung. Ich hatte meinen Tiger zurück!

Da kam mir eine Idee. »Nicht einschlafen, hörst du? Warte hier, ich bin gleich wieder da!«

»Ich laufe bestimmt nicht weg«, hauchte er und schloss müde die Augen.

Wie eine Wahnsinnige lief ich durch den Flur, um Schwester May zu suchen. Ich durfte keine Zeit verlieren. Ich fand sie im Treppenhaus.

»Ich bringe Sie jetzt raus«, sagte sie.

»Ich brauche erst Ihre Hilfe.«

Sie nickte resigniert und gemeinsam gingen wir zurück in Jacks Zimmer.

Als er sie sah, spürte ich seine Furcht.

»Sie steht auf unserer Seite«, erklärte ich hastig. »Sie wird uns helfen.« Hoffnungsvoll fragte ich die Schwester: »Können Sie ihm etwas geben, das ihn stabilisiert? Damit er es schafft, mit uns zu kommen?«

»Aber … wie ist das möglich?« Ihre Augen waren weit geöffnet. »Er war so gut wie tot.«

Meine Ungeduld und die innere Anspannung zerrissen mich beinahe. Ich wollte nur noch mit Jack hier raus. »Haben Sie …«

»Ja, ich hole etwas, aber er wird nicht in der Lage sein zu laufen.« Sie beschrieb sie mir, wo ich einen Rollstuhl fände, während sie ihm Proteine und ein Aufbaupräparat gab.

Als ich mit dem Rollstuhl zurückkehrte, zog sie Jack eine Spritze aus dem Arm. Gemeinsam hievten wir Jack auf den Sitz und ich schob ihn aus dem Zimmer.

Ohne die Hilfe der Schwester wären wir nicht weit gekommen. Immer wieder musste sie eine Tür mit ihrem Fingerabdruck öffnen. Selbst der Fahrstuhl funktionierte nur mit einem Scan. Ich schob Jack hinein, der mit hängendem Kopf im Rollstuhl saß, und wir fuhren nach unten. Glücklich spürte ich, wie sein verletzter Körper immer mehr ins Leben zurückkehrte. Seine Selbstheilung funktionierte nur langsam, weil er stark geschwächt war.

»Am einfachsten können Sie durch die Labore entkommen«, meinte Schwester May. »Da gibt es einen separaten Ausgang, der kaum bewacht wird.«

Die Fahrstuhlglocke klingelte. »Erdgeschoss: Laboratorien und wissenschaftliche Abteilung«, erklärte uns eine freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher.

Als sich die Tür öffnete, blickten wir direkt in den Lauf einer Pistole, mit der Dr. Harcourt auf uns zielte.

Schwester May stieß einen Schrei aus und wich in die Kabine zurück. Ich klammerte mich in rasender Angst an Jacks Rollstuhl fest.

»Dolores, ich hätte nicht von Ihnen erwartet, dass Sie mir in den Rücken fallen. Nach all den Jahren, die Sie an meiner Seite gearbeitet haben!«, rief Harcourt, das sonst so reglose Gesicht hochrot. Eine tiefe Falte hatte sich zwischen seinen Brauen gebildet.

Schwester May stand hinter mir, den Körper an die Wand gepresst. Ihre panische Angst nahm ich überdeutlich wahr. Sie kannte diesen Mann lange genug, um zu wissen, dass er sich für diesen Verrat rächen würde. Ihr stockte der Atem.

»Komm her!«, befahl er ihr, worauf sie einen Schritt zur Seite wich. Wild gestikulierte sie mit den Armen. »Aber Patrick, ich …«

Harcourt feuerte die Waffe ab. Sie gab nur ein leises »Plopp« von sich und ich sah einen Funken aus der Mündung züngeln. Dann brach Schwester May neben mir zusammen.

Oh Gott, er hatte sie erschossen! Sie war tot!

Ihr weißer Kittel verfärbte sich an der Brust blutrot. Dr. Harcourt musste ihr Herz getroffen haben. Ihre hellgrüne Aura löste sich augenblicklich in Nichts auf.

Eine Eiseskälte überlief mich. Ich hatte mich bereits in Sicherheit geglaubt und nun stand unser Leben wieder auf der Kippe. Ich konnte nicht mehr, schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen.

»Und Sie, Mr. Hayes«, sagte Harcourt und schwenke die Waffe auf Jack, »sind einfach nicht totzukriegen, was? Wie schaffen Sie es nur immer wieder, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen? Doch gegen eine schöne, altmodische Kugel mitten in Ihren Schädel, kann auch Ihr Super-Protein nichts ausrichten.« Er senkte den Arm und drückte Jack den Lauf der Waffe an die Stirn.

Ich stand immer noch wie erstarrt hinter dem Rollstuhl. Nein! Das konnte ich nicht zulassen, nach allem, was wir durchgestanden hatten. So würde es nicht enden! Ich sammelte noch einmal all meine Kräfte und schickte dem alten Mann eine Warnung direkt in seinen Kopf: Was sind Sie doch für ein erbärmlicher Feigling, wehrlose Menschen zu erschießen! Fliehen Sie, solange Sie können. Ich warne Sie, unterschätzen Sie nicht meine Fähigkeiten!

Harcourts Augen wurden groß. Hoffentlich bemerke er meinen Bluff nicht, denn gegen eine geladene Waffe konnte ich mit meiner Gabe nichts ausrichten. Vielleicht konnte ich jedoch einen Schritt weitergehen. Ich hatte unser Kind in Jacks Kopf gezaubert, womöglich war ich noch zu größeren Dingen fähig.

Scharf konzentrierte ich mich. Stimmen zu übermitteln, war das eine, aber eine Illusion außerhalb des Körpers zu erzeugen, etwas anderes. Ich hatte es zuvor bei Harcourt nicht geschafft, aber jetzt gab es eine Verbindung zu ihm; zwar nicht über direkten Körperkontakt, aber über den Boden. Der Arzt stand mit einem Bein im Aufzug. Es könnte klappen.

Er richtete den Lauf auf mich. »So, so, Ihre nette Freundin ist also auch ein Mutant. Da hab ich meine Kollegin vielleicht voreilig getötet.« Harcourt lächelte überheblich. »Da wird es mir eine noch größere Freude sein, Mrs. Anderson vor Ihren Augen zu töten, Mr. Hayes, und euer widerliches Mutanten-Baby gleich mit ihr. Wehrlose Menschen sollt Ihr sein? Gefährliche, unberechenbare Bastarde trifft es wohl eher.«

»Patrick, nein!«, rief Schwester May. Aus ihrem Mund quoll Blut. »Du wirst niemanden mehr töten.«

Harcourt riss die Augen auf und ließ die Waffe sinken. »Dolores? Aber … wie …«

Himmel, es klappte! Harcourt sah meine Illusion!

Seine Brauen zogen sich zusammen. »Sie sind wirklich stark, Mrs. Anderson! Normalerweise habe ich eine natürliche Immunität gegen Einflüsse eurer Art. Deshalb wurde ich auch ausgewählt, in dieser Einrichtung zu arbeiten. Sie können mich nicht manipulieren!«

Jetzt verstand ich. Darum waren zuvor meine Bemühungen gescheitert!

Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Erneut schaute er auf Schwester May, die Harcourt nun wie eine Irre anlächelte, wobei ein Schwall Blut über ihre Lippen schwappte. So ganz sicher war Harcourt sich also nicht.

In diesem Augenblick schloss sich die Tür des Fahrstuhls und der Arzt wurde eingeklemmt. Diese Ablenkung nutzte Jack aus und ließ sich nach vorne fallen, genau in dem Moment, als die Sicherung aktiviert wurde und die Tür wieder aufglitt. Jack kippte aus dem Rollstuhl, durch den Spalt der sich öffnenden Tür, Dr. Harcourt direkt vor die Beine, und riss ihm die Füße weg.

Der alte Mann verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts zu Boden. Jack zog sich mit letzter Kraft auf ihn und entriss ihm die Waffe. Doch der Doktor stieß ihn von sich runter und kam sofort auf die Beine. Jetzt, da er unbewaffnet war, wollte er vor uns fliehen.

Jack drückte ab und der Arzt fiel ein paar Meter weiter fluchend auf den Boden. Das Geschoss hatte sein linkes Knie zerschmettert. Anstatt ein Gefühl des Schmerzes von ihm zu empfangen, spürte ich nur Zorn.

»Wohin denn so eilig, Dr. Harcourt?«, rief Jack, der bäuchlings auf dem Boden lag und Mühe hatte, die Waffe nach oben zu halten. Er schnaufte heftig, Schweiß lief über sein Gesicht. »Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen!«

»Jack, bitte tu das nicht«, flehte ich ihn an und trat ebenfalls aus dem Fahrstuhl. »Du bist kein Mörder!«

»Torri, halte dich da raus. Das ist eine Sache zwischen mir und ihm!« Jack keuchte, seinen Blick auf den Arzt konzentriert.

Mit einem wutentbrannten Ausdruck im Gesicht stand der Doktor auf und humpelte auf die nächste Tür zu. Durch die gepanzerte Scheibe an der Wand erkannte ich viele kleine Käfige in dem Raum. Jack drückte wieder ab. Diesmal zerfetzte das Geschoss das rechte Ohr des Mannes.

»Na, wie fühlt sich das an, Doktor?«, rief Jack, auf seine Ellenbogen gestützt.

»Ihr verdammten Drecks-Mutanten habt alles zunichte gemacht, wofür ich jahrzehntelang geschuftet habe!« Fluchend hielt sich der Arzt sein blutendes Ohr. Wieder schien es ihm nicht wehzutun. Ich empfing nur ein paar Gedankenfetzen von ihm: … nichts, was ich nicht wieder hinbekomme … ein neues Ohr … ein neues Knie … Peanuts für so einen brillanten Arzt, wie ich einer bin!

Jack drückte ein weiteres Mal ab und die Kugel riss Harcourt diesmal das linke Ohr ab. »Und das ist dafür, dass Sie Frank ermorden ließen!«

Wenn Vater ihn umbringt, will ich nichts mehr von ihm wissen!, meldete sich plötzlich mein Kind.

Nein – nicht mein Kind: ich. In meiner Panik hörte ich wieder seine Stimme.

»Jack, bitte hör auf! Deinem Sohn zuliebe! Er braucht einen Vater, keinen Mörder!«

»Sagst du das nur, damit ich aufhöre?«, fragte er, ohne Harcourt aus dem Visier zu nehmen.

»Bitte, Jack«, sagte ich traurig, obwohl ich ein wenig stolz auf ihn war. Er war ein hervorragender Schütze. Ein Mann mit deiner Berufsausbildung und deinen Fähigkeiten würde bei MALVE einen Klassejob bekommen, wir könnten noch einmal von vorn anfangen!, schickte ich ihm. Als fast normale Familie. In Sicherheit!

Jack zielte weiterhin auf seinen Peiniger, blind vor Hass und Zorn, als hätte er mich nicht gehört.

Ich wusste, der Arzt wollte in den Raum mit den Versuchstieren, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Schon legte er den Daumen auf den Scanner und die Tür öffnete sich.

»Bleiben Sie stehen oder ich treffe das nächste Mal eine Stelle, wo es Ihnen wirklich wehtut!«, rief Jack, der sich offensichtlich ebenfalls schon wunderte, warum dem Doktor die Verletzungen nichts ausmachten.

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Mr. Hayes, ich besitze von Natur aus ein sehr geringes Schmerzempfinden. Man könnte fast sagen, dass ich auch ein Mutant bin, aber im Gegensatz zu Ihnen ein reinrassiger

Das gedämpfte Empfinden war vielleicht der Grund, warum er gegen meine telepathischen Einflüsse beinahe resistent war. Der Arzt zuckte kurz und Jack schoss. Diesmal traf er das andere Knie. Dr. Harcourt brach in der Tür zusammen.

»Wie Sie wollen! Schmerzempfinden hin oder her, nun werden Sie mir nicht mehr entkommen.« Die Waffe zitterte in Jacks Hand. Er hatte kaum noch Kraft. »Meiner Frau und meinem Sohn haben Sie es zu verdanken, dass ich nicht Ihr Herz getroffen habe, falls Sie überhaupt eines besitzen!«

Er hatte mich seine Frau genannt!

Oh Jack, bitte hör jetzt damit auf! Verdirb nicht alles! Während ich die Szenerie beobachtete, hielt ich den Atem an. Jeder meiner Muskeln war angespannt, mein Puls hämmerte.

Das war dafür, dass sie deine Eltern auf dem Gewissen haben!, schickte er mir zurück.

»Jack, jetzt reicht es, du hattest deine Rache.« Ich ging zu ihm und kniete mich auf den Boden. »Gib mir die Waffe!«

»Ich bin noch nicht fertig mit ihm.« Jack sah zu mir auf. Seine Augen funkelten wild. Dann versuchte er, auf den Arzt zuzukriechen.

Lass mich das erledigen, Mutter. Mein Sohn wieder.

Bitte nenn mich nicht immer Mutter. Was hältst du von Mama?

Ich hörte das Lachen eines Kindes. Lass mich das erledigen, Mama!

Oh mein Gott, ich wurde langsam verrückt. Ich sprach mit mir selbst!

»Was tust du?«, rief Jack mir zu, die Augen groß vor Entsetzen, als ich mich auf den Doktor zubewegte. »Halte dich von ihm fern!«

»Ich bin das nicht, das ist … dein Sohn«, sagte ich.

»Was?« Jack schaute mich an, als wären mir alle Sicherungen durchgebrannt.

»Erkläre ich dir später.« Wenn es ein Später gab.

Nimm seinen Kopf in deine Hände, so wie bei Jack zuvor.

Als ich die Fingerspitzen an die Schläfen des Doktors legte und seinen Kopf zu mir zog, war das Letzte, was ich wahrnahm, seine panisch aufgerissenen Augen.

Ohne Vorwarnung drang das Bewusstsein des Arztes in meinen Kopf und mir zerriss es fast den Schädel. Der Druck in meinem Gehirn war unerträglich. Plötzlich bestand ich aus zwei Personen. Drei, wenn ich mein imaginäres Kind dazuzählte. Harcourt schrie und tobte in mir wie ein Psychopath, und ich sah mit einem Mal, was für Grausamkeiten er in seinem bisherigen Leben verbrochen hatte. Da er von Geburt an fast nicht in der Lage war Hitze, Kälte, Schmerz oder auch Streicheleinheiten zu fühlen, war sein emotionales Empfinden abgestumpft, was ihn im Laufe seines Lebens zu einem Untier werden ließ. All die langen Jahre suchte er nach einer Lösung, wie er seinen Gendefekt hätte beheben können. Er empfand nur Lust und Freude, wenn er anderen Menschen Leid und Schmerz zufügen konnte und verfolgte dabei ihre emotionale Reaktion mit abartiger Faszination und Befriedigung. Doch diese Laune der Natur rechtfertigte keinesfalls, wie viele Menschen, wie viele unschuldige Kinder, durch seine Hand ein qualvolles Lebensende erlitten hatten.

Für diesen Mann wäre der Tod keine gerechte Strafe. Er verdiente Schlimmeres!

Schnell, Mama, geh in das Labor und hol ein Tier aus dem Käfig!

»Torri, was tust du?«, hörte ich Jack in weiter Ferne.

Alle sprachen durcheinander: Mein Sohn (Beeil dich, Mama!), der Arzt (Was haben Sie mit mir angestellt, Sie dreckige Mutantenfotze!), Jack (Kate, was ist mit dir?) und ich (Wo soll ich hin? In mir dreht sich alles). Wenn ich den Doktor nicht bald aus dem Kopf bekam, würde ich wohl genauso wahnsinnig werden wie er.

Irgendwie schaffte ich es zum nächstbesten Käfig zu taumeln und öffnete ihn. Drei fette braune Laborratten starrten mich an. Ich ekelte mich ein wenig vor den Tieren, denn sie waren so riesig! Aber die Stimmen in meinem Kopf waren dermaßen quälend, dass ich nicht lange fackelte und eine Ratte herausnahm.

… so wie bei Papa und dem Arzt!

Das meinte ich doch nicht im Ernst? Doch was blieb mir anderes übrig? Dr. Harcourt musste aus meinem Kopf verschwinden, bevor ich völlig den Verstand verlor.

Also drückte ich meine Stirn gegen den pelzigen Schädel und mit einem Schlag fuhr das Bewusstsein des Arztes in das Tier hinein. Sofort fühlte ich mich frei und wieder ich selbst. Es war, als hätte sich in meinem Kopf ein Überdruckventil geöffnet. Erleichtert atmete ich auf.

Die Ratte dagegen quiekte und strampelte in meiner Hand. Sie war schwer und hatte Kraft. Ich wusste, wie sie sich jetzt fühlte. Und ich wollte mir nicht ausmalen, wie es Dr. Harcourt nun erging, nachdem ihm klar wurde, dass er sein restliches Leben als Versuchstier verbringen würde. Eine gerechtere Strafe hätte es für dieses Monster nicht geben können! Ich legte ihn zu seinen Artgenossen in den Käfig und verschloss ihn sorgfältig.

Als würden die anderen Ratten spüren, dass mit ihrem Kumpanen plötzlich etwas nicht mehr stimmte, begannen sie ihn zu beißen. Die Harcourt-Ratte schrie auf. Jetzt wusste er, wie sich Schmerzen anfühlten.

Beim Verlassen des Raumes stieg ich über seinen seelenlosen Körper, der zusammengekrümmt wie ein Embryo auf dem Boden lag und an seinem Daumen nuckelte.

»Es ist vorbei«, sagte ich zu Jack, der immer noch vor dem Fahrstuhl hockte und mich fragend anstarrte. »Er hat bekommen, was er verdient.«

Ich horchte tief in mich hinein. Mein Sohn – mein Alter Ego – war verstummt. Ich kniete mich neben Jack auf den Boden und umarmte ihn. Vor Erleichterung weinten wir beide. Ich überhäufte Jacks Gesicht mit Küssen und war einfach nur glücklich, dass er lebte.

»Ich will hier raus, Kate«, sagte er.

Ich half ihm in den Rollstuhl. »Schwester May erklärte mir, dass wir durch die Labore müssen. Dort wäre ein Ausgang.«

Hastig schob ich Jack vorbei an den Käfigen. Ich erkannte in dem Raum nur einen Notausgang. Tatsächlich ließ er sich ohne Scan öffnen. Allerdings ging ein Alarm los.

»Oh nein!« Mein Herz pochte wie wild, als ich mich hektisch umblickte. Ich blinzelte gegen die Sonne an und sah einen hohen Zaun, der die gesamte Anlage umgab. Es war derselbe Zaun, über den Jack schon einmal entkommen war. Doch jetzt war er zu schwach!

Ich hörte Rufe und Schritte aus dem Gang hinter uns. Offensichtlich hatte jemand Harcourts Körper gefunden. Wo sollte ich mit Jack hin? Es gab einen Anbau, der zwischen Institut und Zaun stand. Ich schob Jack um das Gebäude herum, damit man uns nicht sofort entdeckte.

»Hubschrauber«, sagte Jack und deutete zum Himmel.

Tatsächlich! »Oh nein, sie kommen bestimmt wieder wegen uns!«

Plötzlich fühlte ich etwas in mir, das mich wie ein Schlag traf und meine Angst überdeckte. Unzählige Emotionen stürzten auf mich ein; ich spürte Leid, Panik, Trauer, Langweile, Resignation.

Ich wirbelte herum. In dem Anbau waren zahlreiche winzige Fenster. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und schaute ins Haus. Ein Mädchen lag auf einer Pritsche und starrte die Wand an. Sie trug einen grünen Overall.

»Oh Gott, Jack«, wisperte ich und schaute durchs nächste Fenster. Dort saß ein Mann, den Kopf auf seine Hände gestützt. Er hatte dieselbe Kleidung an.

Himmel, hier hatten sie die Mutanten eingesperrt! Kinder und Erwachsene hausten wie Gefangene in winzigen Zellen, in denen kaum mehr als ein Bett stand.

»Wir müssen sie befreien!«

»Das wird MALVE übernehmen.« Ein Lächeln huschte über Jacks Gesicht. »Sieh nur.« Er nickte zum Zaun. Zahlreiche Armeefahrzeuge wirbelten den Staub auf, als sie rasch näherkamen. Die Helikopter waren mittlerweile auch so nah, dass ich das blaue Mondsymbol erkannte und wir die Durchsage verstanden.

»Hier spricht MALVE. Das Gebäude ist umstellt. Leisten Sie keinen Widerstand, dann wird Ihnen nichts geschehen!«

»Woher kommen die alle auf einmal?« Mein Herz raste vor Freude und ich weinte vor Erleichterung, war überglücklich. Sie kamen, um uns zu retten!

Ich ging weiter und erschrak, als ein Junge sein Gesicht gegen das Glas drückte. Immer wieder klopfte er gegen die winzige Scheibe und rief offensichtlich etwas – das ich nicht verstand. Das dicke Fenster musste gepanzert und schalldicht sein.

Hilfe ist unterwegs, schickte ich hinein, obwohl ich nicht wusste, ob er mich hören konnte.

Aber das hatte er. Ich erkannte es an seinem Gesicht. Er nickte und Tränen liefen über seine Wangen. Lügen Sie auch nicht, Ma’am?

Ich schüttelte den Kopf. Er war ein Telepath, wie ich! Kannst du die Hubschrauber und die Fahrzeuge sehen? Ich rückte vom Fenster weg, damit er freie Sicht hatte. Die gehören zu uns.

Plötzlich liefen bewaffnete Männer in Tarnanzügen aus dem Institut. Sie kamen von überall her. Auch auf uns rannte eine Gruppe zu, umzingelte uns. Es waren drei Klone, vielleicht nur zwei Meter entfernt. Der Lauf ihrer Waffen zielte auf unsere Köpfe.

»Oh nein«, wisperte ich. Ich wusste genau, wer diese Männer waren. »Die Superkrieger.« Ihre Gesichtszüge waren hart, verrieten keine Emotionen. Manche waren noch jung, schienen erst sechzehn zu sein, andere waren bestimmt schön über zwanzig Jahre alt. Aber eines hatten sie alle gemein: Sie sahen sich ähnlich wie Brüder. Alle besaßen sie dasselbe, kurz geschorene braune Haar, dunkelgrüne Augen und ein markantes Kinn. Ohne zu zögern eröffneten die Krieger, die aus dem Institut stürmten, das Feuer auf die MALVE-Hubschrauber und die Fahrzeuge, die bereits den Zaun erreicht hatten.

»Kate!« Jack riss mich auf seinen Schoß und drehte den Rollstuhl so, dass ich mich zwischen seinem Rücken und der Wand befand.

Zitternd spähte ich über seine Schulter und traute meinen Augen kaum. Ron stand auf einer der Kufen des Helikopters und hielt sich mit einer Hand am Rahmen der offenen Tür fest. Er trug wie die anderen MALVE-Krieger einen schwarzen Overall. Mit dem freien Arm deutete er auf die Klone, die uns umstellt hatten. Sofort wurden ihnen die Waffen aus der Hand gerissen und flogen auf Ron zu, als hielte der einen ultrastarken Magneten in seiner Hand.

Ich blinzelte. Was hatte Ron für Kräfte? Konnte er Metall beeinflussen oder mithilfe von Telepathie Dinge bewegen?

Funken stoben am Heck des Helis auf. Die Krieger zielten auf den Hubschrauber! Ein Schuss ließ die Frontscheibe des Helikopters zerspringen. Sofort drehte der Pilot ab.

Am Zaun hatte sich währenddessen eine Armee aufgestellt. Auf der einen Seite Rons Männer in den schwarzen Overalls, auf der anderen die Klonkrieger in den Tarnanzügen. Während die Klone ihre Gewehre abfeuerten, wehrten sich die Mutanten mit anderen Mitteln. Nicht alle hatten Schusswaffen bei sich, manche schleuderten bläuliche Energiekugeln oder Feuerbälle aus ihren Handflächen.

Ich zwinkerte und wollte meinen Augen nicht trauen.

Konnte das wahr sein? Schlagartig erkannte ich, dass es noch viel mächtigere Mutanten gab, als ich bisher vermutet hatte.

Plötzlich sah ich wieder Ron, der auf den Zaun zulief und ihn mit einer Armbewegung aufriss, ohne ihn zu berühren.

Ein Schuss traf ihn und er taumelte zurück. Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Ron!« Er rappelte sich auf und ging in Deckung. Gott sei Dank, er trug kugelsichere Kleidung!

Die Superkrieger strömten aus der Öffnung im Zaun. Das Drahtgeflecht bewegte sich auf einmal und wickelte sich um die Klone. Ich sah Ron und eine Frau, die ihre Hände erhoben hatten. Die anderen feuerten auf die gefangenen Krieger. Bläuliche Flammen züngelten aus ihren Waffen und die Klone brachen zusammen. MALVE hatte sie nur betäubt.

Nach und nach schafften sie es, alle Klone in ihre Gewalt zu bringen. Ron kam auf uns zu und schloss mich in seine Arme.

Endlich. Endlich waren wir wirklich in Sicherheit.