Blutflucht

Es war Freitagabend. Wie so oft half ich meinem Onkel Sam an der Bar aus. Seine urige Kneipe lag im Herzen von Greytown und langsam füllte sich der kleine Raum mit Gästen, während die alte Jukebox schon ein zweites Mal dieselben Lieder rauf und runter dudelte. Viele Männer, die meisten von ihnen Fischer und Hafenarbeiter, suchten nach einem langen und harten Arbeitstag Ablenkung, was den Alkoholverbrauch enorm in die Höhe trieb. Jeweils in Gruppen zu vier bis sechs Leuten drängten sie sich um die Tische, spielten Karten oder klagten sich gegenseitig ihr Leid über die Missstände, die der Machtwechsel mit sich gebracht hatte. Ein fischiger Geruch klebte an ihren Stiefeln und Seetang an den Wachshosen. Ich konnte Fisch nicht ausstehen! Warum musste ich gerade in dieser heruntergekommenen Stadt leben?

Meine eigentliche Verdienstquelle bestand darin, ein paar Zimmer zwei Stockwerke über dieser Kneipe zu vermieten. Ein Schild an der Tür meiner Pension verriet den Leuten, dass sie mich, Kate McAdams, hier, mitten im Haufen grölender Männer, finden konnten – falls sie eine bescheidene, aber saubere Übernachtungsmöglichkeit suchten.

Das Geschäft lief so einigermaßen. Viele, die neu in diese Stadt kamen, um Arbeit zu suchen, brauchten erst einmal einen Platz zum Schlafen. Es war schwer in diesen Zeiten Arbeit zu finden, was nicht allein am Regierungswechsel lag. Das war es schon gewesen, als ich vor über zwei Jahrzehnten das Licht der Welt erblickte. Das war zu der Zeit, in der sich die Menschheit spaltete, denn die Welt hatte sich verändert und mit ihr ihre Bewohner.

Es gab die »Normalos« auf der einen Seite und eine ausgestoßene Minderheit auf der anderen: die Mutanten. Das waren Menschen, deren Eltern oder Großeltern sich genetischen Experimenten unterzogen hatten. Das illegale Geschäft mit der Gentechnik boomte damals. Die Ärzte versprachen mittels speziellen Therapien jede Krankheit heilen zu können.

Die Probanden, die sich den ersten Experimenten zur Verfügung gestellt hatten, waren gut bezahlt worden, daher hatten sich viele Freiwillige gemeldet. Doch der Eingriff in das menschliche Erbgut blieb nicht ohne Folgen. Die veränderten Gene mutierten bei einigen Menschen und wurden oft weitervererbt. Grässliche Missbildungen an Neugeborenen waren keine Seltenheit. Einige von denen, die nicht tot oder entstellt geboren wurden, entwickelten im Laufe des Lebens außergewöhnliche Fähigkeiten.

Manchen sah man nicht an, dass sie anders waren, so wie mir, weshalb ich dieses Geheimnis wie einen Schatz hütete. Außer mit meinen Eltern, Gott habe sie selig, und meinem lieben Onkel Sam, teilte ich dieses Geheimnis mit niemandem. Ich wollte einfach ein normales Leben führen – dazugehören. Insofern war es dann doch nicht so übel, in Greytown zu leben. Hier gab es viele Menschen wie mich, das spürte ich instinktiv.

Erneut öffnete sich die Tür und die zwei Jugendlichen, die hereinkamen – Pickelgesicht und Blondie, wie ich sie immer nannte –, rissen mich aus meinen Gedanken. Sie gingen auf die Bar zu, wo ich die meiste Zeit des Abends verbrachte. Ich hatte sie hier schon oft gesehen und konnte sie nicht ausstehen. Ständig machten sie mir gegenüber anzügliche Bemerkungen. Eben zwei Halbstarke, die gerade der Pubertät entwachsen waren und nicht wussten, wie sie mit ihren überkochenden Hormonen umzugehen hatten. Sie glaubten wohl, sie könnten damit einer jungen Frau imponieren.

Ich verstand sie irgendwie. Es war für junge Menschen schwer, Arbeit zu finden. Die meisten hingen nur herum, stahlen oder betranken sich. Sie hatten nichts, womit sie sich beweisen konnten. Keine Perspektive, keine Zukunft.

Ich blieb wie immer freundlich und mixte ihnen ihre Drinks. Alles war an diesem Abend genauso wie an jedem anderen Freitagabend: die ewig gleiche, dröhnende Musik, von Zigaretten verqualmte Luft, dieselben Gesichter.

Meinem Onkel Sam half ich so gut es ging, denn schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Einen weiteren Angestellten konnte er sich auf Dauer nicht leisten. Für meine Hilfe stellte er mir die fünf Zimmer über der Kneipe zur Verfügung. Die Mieteinnahmen durfte ich komplett behalten. Zum Glück hatte ich von meinen Eltern eine kleine Wohnung in der Nähe geerbt, weshalb mein knappes Einkommen gerade zum Leben reichte.

Es hätte mich auch schlimmer treffen können.

Ja, eigentlich ging es mir verdammt gut.

Soeben träumte ich, wann ich endlich genug Geld auf der Seite hätte, um dieser trostlosen Stadt für einige Tage den Rücken kehren zu können, als sich wieder die Tür öffnete und ein weiterer Gast die Kneipe betrat. Bei seinem Anblick hielt ich den Atem an und mein Magen wollte bis zu den Knien rutschen. Für einen Moment nahm ich fast nichts mehr um mich herum wahr. Vor Anspannung ballte ich die Hände zu Fäusten, wobei sich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrten. Doch auch das registrierte ich kaum.

Ich hatte diesen Mann seit Wochen nicht mehr gesehen und die Hoffnung bereits aufgegeben, dass er sich hier noch einmal blicken lassen würde. In meinem Bauch breitete sich ein angenehmes Kribbeln aus. Schnell versuchte ich mich auf das Einschenken der Getränke zu konzentrieren, damit er mein rotes Gesicht nicht bemerkte. Zugleich verfluchte ich meine Schüchternheit. Er war mir schon einmal durch die Lappen gegangen. Ein zweites Mal wollte ich eine Chance nicht verspielen, falls sich überhaupt eine auftun würde.

Prüfend ließ er den Blick durch den dunstigen Raum gleiten. Dieses wunderbare Beispiel männlicher Schönheit war um einiges größer als ich und bestimmt ein paar Jahre älter. Sein dunkelbraunes Haar war zerzaust und hätte dringend einen Schnitt nötig gehabt. Seinen Bart hatte er auch schon mehrere Wochen nicht mehr rasiert und unter seinen Augen befanden sich dunkle Schatten. Überhaupt wirkte er ziemlich erschöpft und ausgebrannt. Der wilde Anblick schockierte mich, unterschied er sich erheblich von seinem letzten Besuch. Seine Aura schien ebenfalls nicht mehr so hell zu strahlen wie bei unserer letzten Begegnung. Trotzdem machte er auf mich einen starken, fast schon animalischen Eindruck. Was wahrscheinlich an seinem gut gebauten Körper und den dunkelgrauen Augen lag, die etwas von einem lauernden Tier hatten. Nicht, dass ich jemals ein lebendes Raubtier gesehen hatte, außer kranke, streunende Hunde, die es irgendwie schafften in dieser ausgemergelten Stadt zu überleben.

Als Kind hatte ich mit meinen Eltern ein Zoo-Museum besucht und dieser mysteriöse Mann erinnerte mich plötzlich an diesen fantastischen, exotischen Ausflug. Ein Beamer hatte einen scheinbar lebendigen, dreidimensionalen Tiger, der immer um die Besucher herumschlich, in den Ausstellungsraum projiziert. Ich war so fasziniert von der Schönheit und Geschmeidigkeit dieses Tieres gewesen, dass ich heute noch von diesem Tag träume. Genauso war es mir mit diesem Fremden ergangen.

Als er vor mehreren Wochen zum ersten Mal den Laden meines Onkels betreten hatte, war es sofort um mich geschehen gewesen. Doch die wenigen Male, die er bei mir an der Bar gesessen hatte, war er so still und verschlossen gewesen, dass wir kaum ein paar Worte gewechselt hatten.

Hoffentlich war er mittlerweile aufgetaut.

Heute trug er ein ärmelloses graues Shirt und an seinen braungebrannten Armen erkannte ich deutlich feine weiße Linien, die wie Narben aussahen. Ich erinnerte mich nicht, dass sie mir das letzte Mal schon aufgefallen wären. Seine Jeans hatten auch schon bessere Tage gesehen, trotzdem sah dieser Kerl in meinen Augen umwerfend gut aus, vor allem, wie sich der Stoff um seine Muskeln spannte. Keine Ahnung, warum gerade ich so auf ihn reagierte, denn von den wenigen Gästen, die sein Erscheinen überhaupt registriert hatten, erntete er nur abfällige Blicke.

Erneut bewunderte ich seinen gebräunten Teint, fand es aber ziemlich riskant, sich dermaßen ungeschützt den krebserregenden Strahlen der Sonne auszusetzen. Die Ozonschicht war schon ewig zerstört und von einem längerer Aufenthalt unter freiem Himmel war dringend abzuraten.

Als sein Blick auf mich fiel, glaubte ich ein Lächeln auf seinen Lippen zu erblicken, worauf sofort meine Wangen in Flammen standen. Verflixte Schüchternheit!

Der Typ hatte aber auch einen sinnlichen Mund, Teufel noch mal!

Er schlenderte Richtung Bar, was meinen Puls zum Rasen brachte. Ich wollte ihm sofort seinen Lieblingsdrink mixen, zum einen, um mich von meiner Nervosität abzulenken, zum andern, da er nie etwas anderes getrunken hatte als einen Blue Moon. Mit zitternden Händen gab ich die Eiswürfel in den Shaker, mischte Gin, Blue Curacao und Ananassaft dazu – der leider kein natürlicher Fruchtsaft war, sondern aromatisiertes Wasser – und füllte alles mit Limonade auf.

Als mein Schwarm am Ende der Theke Platz nahm, reichte ich ihm das Longdrinkglas mit dem blauen Getränk, das ich fest umklammerte. Es grenzte an ein Wunder, dass es unter dem Druck meiner Finger ganz blieb. Langsam ließ ich das Glas los.

Nachdem er mir ein kurzes Lächeln geschenkt hatte, das mein Herz erneut zum Hüpfen brachte, schlürfte er gedankenversunken seinen Cocktail. Schnell machte ich ihm einen Burger mit extra viel Fleisch drauf und schob ihm den Teller unter die Nase. Mein Schwarm sah so aus, als könnte er ihn dringend vertragen.

»Geht aufs Haus«, sagte ich und: »Schön, dass du wieder da bist.«

Was war nur in mich gefahren? Wieso war mir das rausgerutscht? Mein Gesicht glühte abermals und mein Atem stockte. Ich verklemmtes, graues Mäuschen!

Dankend nahm er die Mahlzeit mit den Worten »Ja, das finde ich auch« entgegen, was ihn, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ebenfalls ein wenig verblüffte. Seine Blicke brannten auf meiner Haut wie Feuer. Hastig schaute ich weg.

Er hatte mit mir gesprochen! Und seine Stimme klang noch genauso erotisch wie bei unserer letzten Begegnung, beinahe wie ein Schnurren. Am liebsten wäre ich vor Freude in die Luft gesprungen! Jeder Nerv in mir pulsierte und kribbelte.

Kate, reiß dich zusammen, befahl ich mir in Gedanken. Dieser Mann würde sich niemals für so eine unscheinbare Frau, wie ich eine war, interessieren, schon gar nicht, wenn er wüsste, dass ich seine Gedanken lesen konnte – wenn ich wollte. Tief in meinem Inneren war ich ihm längst hoffnungslos verfallen.

Ein wenig träumen war ja wohl erlaubt.

Die zwei Halbstarken machten sich über ihn lustig.

»Hui, sieh an, die Bestie ist wieder da.« Blondie lachte.

»Rrr, er ist ein richtig wildes Tier«, sagte Pickelgesicht. »Heute noch nicht das Fell geleckt, was?«

Mein Traumtyp schenkte ihnen jedoch keine Beachtung. Stattdessen bestellte er einen weiteren Blue Moon und einen Burger. Heute lief alles friedlich ab, worüber ich froh war. Außerdem war ich überglücklich, weil mein »Tiger«, wie ich ihn in meinen Tagträumen nannte, da war und einige Worte mit mir gewechselt hatte. Und etwas Wildes und Animalisches hatte er definitiv an sich. Da musste ich Pickelgesicht und Blondie ausnahmsweise zustimmen. Nur dass mich diese Attribute eher anzogen als abschreckten.

Jeder, der anders war, wurde oft angepöbelt oder abschätzig angeschaut. Derjenige hätte ja ein Mutant sein können. Wenigstens war ich äußerlich normal. Mein Exfreund hatte mich sogar attraktiv gefunden, obwohl ich mich für zu dünn hielt. Ich liebte an mir bloß meine langen rotbraunen Haare.

Es gab mit Sicherheit viele Mutanten wie mich, die unerkannt bleiben wollten. Deswegen kannte die Regierung auch nicht ihre genaue Zahl. Bei einigen hatten sich bestimmte Bereiche des Gehirns so weiterentwickelt, dass sie nur mit Gedankenkraft Dinge bewegen oder zukünftige Ereignisse vorhersehen konnten. Im Grunde genommen konnte so ein Mutant alle möglichen Fähigkeiten entwickeln. Das führte zu einem immer größer werdenden Misstrauen in der Bevölkerung. Man wusste ja nie, wen man vor sich hatte – Mensch oder Mutant – und ob derjenige nicht gerade die eigenen Gedanken manipulierte.

Diese Ängste wurden geschürt, indem die Polizei in regelmäßigen Abständen angeblich gefährliche Mutanten verhaftete. Die Regierung unterteilte uns in drei Gruppen: Mutanten der Klasse EINS, die nur rein psychische Kräfte besaßen – zu denen durfte ich mich zählen –, Mutanten der Klasse ZWEI, die bloß physische Kräfte besaßen, und Mutanten der Klasse DREI, die sowohl körperliche als auch mentale Kräfte entwickelt hatten. Diese wurden am meisten gefürchtet, weshalb sie verpflichtet waren, sich bei einer eigens für sie ins Leben gerufenen Einrichtung – der MUTAHELP – zu melden, um sich registrieren zu lassen. Was natürlich die Wenigsten taten.

Die Regierung ließ längst alle Neugeborenen auf eventuelle genetische Abweichungen testen. Bekäme ich jemals ein Kind – wozu es natürlich erst eines Mannes bedurfte, eines Mannes wie ihn –, würde ich es wohl in einer Höhle zur Welt bringen müssen …

»Süße, kannst du Bier aus dem Keller holen?«, fragte mich Sam einige Zeit später. Das Geschäft lief heute gut, weshalb der Vorrat an Flaschen, die unter der Bar standen, knapp wurde. Natürlich würde ich in den Keller gehen, darum brauchte mich Sam nicht zu bitten. Er hatte eine seltene Knochenkrankheit und daher eine steife Hüfte, was ihm das Treppensteigen sehr erschwerte. Ein kurzer Blick in sein stoppelbärtiges Gesicht, um dessen blassblaue Augen sich unzählige Fältchen zeigten, sagte mir, dass ihn sein Bein heute besonders schmerzte. Sam hatte die Kiefer aufeinandergepresst und die Brauen nach unten gezogen.

»Klar«, antwortete ich.

Dankbar lächelnd drehte er sich um und wandte mir seinen kahlen Hinterkopf zu, auf dem nur noch geschätzte zwanzig graue Härchen wuchsen.

Mein Herz verkrampfte sich, als ich ihn mir genauer anschaute, denn ich kann die Aura sehen, die jeden Menschen wie ein Leuchten umgibt. Sams Leuchten wurde von Jahr zu Jahr schwächer. Das war kein gutes Zeichen. Nichtsdestotrotz tat ich ihm immer gerne einen Gefallen, denn schließlich hatte ich es ihm zu verdanken, dass ich mein Geld nicht mit Betteln oder Schlimmerem verdienen musste. Dabei dachte ich an die armen Mädchen, die bei Einbruch der Dunkelheit an den Straßenlaternen standen, in der Hoffnung, irgendein reicher Kerl käme vorbei und würde eines Tages vielleicht mehr von ihnen wollen als nur ihren Körper.

Also ging ich an meinem »Tiger« vorbei, mit der Absicht, ihm einen unauffälligen Blick zuwerfen zu können. Ich konnte mich an ihm nicht sattsehen, auch wenn er gerade keinen ganz so appetitlichen Eindruck machte und der Bart störte. Ich mochte keine kratzigen Bärte, aber ich wusste ja, wie er darunter aussah. Nur deshalb war er für mich das Paradebeispiel eines Verführers: geheimnisvoll, gefährlich und atemberaubend männlich. Mein Puls raste, als ich neben ihm über die abgenutzte Holztreppe in den Keller verschwand.

Dort unten war es angenehm kühl, daher liebte ich diesen Ort. Die drückende Hitze der Kneipe und die schlechte Luft machten mir zu schaffen. Ich setzte mich auf die unterste Stufe, schloss die Augen und sog den Geruch von trockenem Holz, süßlichen Rattenködern und Alkohol in mich auf. Das erinnerte mich daran, Sam noch beim Reparieren des Kellerregals zu helfen. Das kleine Erdbeben letzte Woche hatte es umgeworfen. Es waren jedoch nur einige Flaschen zu Bruch gegangen. Immer häufiger bebte es und das machte mir Angst. Es war, als würde Mutter Erde ihre alte Haut mitsamt ihren »Parasiten« abstreifen wollen.

Plötzlich fiel oben die Tür zu, die ich immer offen ließ, wenn ich in den Keller ging, und das Stimmengewirr der Männer verstummte abrupt.

»Na, Zuckerpuppe, brauchst du Hilfe?«

Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um danach mit doppelter Wucht weiterzuhämmern. Ich sprang auf und wirbelte herum. Im gelben Licht der Glühbirne erkannte ich die zwei Halbstarken.

»Verzieht euch nach oben, ihr habt hier nichts verloren!«, entgegnete ich mit lauter Stimme. Mir wurde mulmig in der Magengegend. Diese zwei aufdringlichen Typen machten mich langsam wütend.

Ich versuchte mich zwischen den beiden durchzudrängen, um nach oben zu kommen, allerdings hatten sie sich nebeneinander auf eine der schmalen Stufen gestellt und ließen mich nicht vorbei.

»Doch, wir haben dich hier verloren, Sweety.« Der Braunhaarige mit dem leicht pickligen Gesicht grinste anzüglich und stieß mich gegen das Holzgeländer, das mir unangenehm in den Rücken drückte. Sein Atem stank nach Bier und Zigaretten, weshalb sich mein Magen noch mehr verkrampfte.

Da wurde oben die Tür aufgerissen. Hoffentlich würde Sam nichts passieren, dachte ich, denn gegen diese Jungs hätte er nicht viele Chancen. Dazu war er schon zu alt und krank. Es war jedoch nicht Sam – es war mein Tiger.

Vor Überraschung erstarrte ich.

»Ab nach Hause mit euch, Zeit ins Bett zu gehen«, sagte er ruhig, aber bestimmt, mit seiner sinnlichen Stimme, die Hände lässig in die Hüften gestemmt.

Mein Herz raste. Nicht nur, weil mir die Teens unheimliche Angst einjagten, sondern vor allem, weil mein Tiger einfach umwerfend aussah, wie er da oben auf den Stufen stand. Schmale Hüften, breite Schultern, durchtrainierte Arme – er vereinte alle Eigenschaften eines Traummannes. Zudem wirkte er auf seine Weise stark und irgendwie unverwundbar. Das lag wohl daran, dass ich ihn so unwiderstehlich fand.

Allerdings war er nur rein äußerlich ruhig. In seinem Inneren tobte ein Orkan und dessen Ausläufer wirbelten bis in meinen Kopf. Tiger war geladen wie ein Starkstromgenerator.

Die Jungs drehten sich zu ihm um und ich stieg die letzten zwei Stufen hinab, um mich aus der Schusslinie zu bringen. Ärger lag in der Luft.

»Was hast du gesagt, Biest?«, keifte ihn Blondie an. Sein mit Wasserstoff gebleichtes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Es hatte etwas Feminines an sich und wäre beinahe schön gewesen, würde sich der junge Mann besser pflegen.

»Von einem Muti wie dir lassen wir uns nicht rumkommandieren!« Pickelgesicht fletschte die Zähne.

Mein Tiger blieb weiterhin gelassen. Für diese Selbstbeherrschung bewunderte ich ihn.

»Macht keinen Ärger, Jungs, verschwindet einfach und lasst die Lady in Frieden.«

Wow, er hatte mich Lady genannt! Er sah nicht nur gut aus, sondern schien zugleich ein wahrer Gentleman zu sein. Wahrscheinlich der letzte seiner aussterbenden Rasse. Wieso setzte er sich für mich ein? In dieser Stadt – nein, auf der ganzen Welt – war es mittlerweile üblich, dass sich jeder nur um sich selbst kümmerte.

»Sieh mal an, das Biest hat ein Auge auf unsere Kate geworfen.« Blondie grinste böse. »Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass sie sich von einem Mutanten-Schwanz vögeln …« Weiter kam er nicht. Es war unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit Tigers Arme nach vorne schossen. Gleichzeitig legten sich seine Hände um je einen Hals der Teens und drückten zu. Zwar sah ich ihre Gesichter nicht, da sie mir den Rücken zudrehten, doch ihre Wut, ihre Überraschung und ihre Angst schwappten in dunklen Wellen vor mein geistiges Auge. Sie sprachen kein Wort mehr, wenn man das gurgelnde Würgen nicht dazuzählte.

In diesem Moment blickte ich in Tigers funkelnde Augen. Seine Lider waren leicht zusammengekniffen. Auch er sah zu mir herunter. Daraufhin lockerte sich sein Griff, sodass die Jungs mehr Luft bekamen.

Immer noch die Hände an ihren Kehlen, drehte Tiger sich mit den jungen Männern herum und drückte sie die Treppe nach oben in die lärmende Stube. Meine Knie zitterten und mein Herz raste, als ich ihnen folgte. Daher bekam ich mit, wie mein Tiger sie aus der Kneipe warf und etwas zu ihnen sagte, was ich nicht verstand. Energisch schlug er die Tür zu und ging zurück zur Bar. Ich hoffte, diese irren Typen so schnell nicht wieder zu sehen.

Einige Gäste hatten das Schauspiel beobachtet, dem Geschehen aber keine große Beachtung geschenkt. Selbst Sam hatte von alldem nichts mitbekommen, da er eine Diskussion mit zwei Männern an Tisch drei führte. Sam drehte sich um und rief über ihre Köpfe hinweg: »Kate, wo bleibt das Bier?«

Das hatte ich in all der Aufregung total vergessen!

»Kommt sofort!« Abrupt machte ich auf dem Absatz kehrt, lief zurück zur Kellertür und nahm gleich mehrere Stufen auf einmal. Mit so vielen Flaschen wie ich tragen konnte, eilte ich nach oben, wo ich sie auf den Tisch der Männer stellte.

»Wurde ja auch Zeit«, murmelte Sam, aber nicht unfreundlich. Er konnte mir nie böse sein. Unter gerunzelter Stirn sah er mich an. »Schätzchen, du bist ja weiß wie die Wand. Geht es dir nicht gut?«

»Erzähl ich dir später«, sagte ich außer Atem. Sam konnte man nichts vormachen. Dafür kannte er mich zu gut.

Ich verschwand noch einmal im Keller, um diesmal eine ganze Kiste Bier raufzuschleppen, die ich unter die Bar stellen wollte. Wegen meiner zierlichen Statur erwies sich das als wahrer Kraftakt.

»Warte, ich helfe dir«, drang auf einmal Tigers Stimme von hinten an mein Ohr. Ich erschrak furchtbar und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Dass er mir in den Keller gefolgt war, hatte ich überhaupt nicht bemerkt. Wo war ich heute nur mit meinen Gedanken?

– Bei ihm natürlich, wo sonst.

»D-danke«, stammelte ich, als ich mich umdrehte und meine Wangen regelrecht glühten, »wegen vorhin.«

Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen. Warum musste ich mich immer wie eine Idiotin benehmen, wenn ich mich zu jemandem hingezogen fühlte? Die roten Flecken in meinem Gesicht waren wahrscheinlich nicht zu übersehen. Wie peinlich! Ich führte mich wie ein verliebtes Schulmädchen auf. Doch er stand so nah bei mir, dass meine Fantasie Überstunden machte. Sollte ich es wagen, ihn zu küssen? Nein, natürlich nicht! Das hätte ich mich niemals getraut, feige, wie ich war!

Auch er wirkte verlegen, denn er wippte leicht mit den Füßen auf und ab. Immer wieder streiften mich dabei seine intensiven Blicke.

Endlich brach er das peinliche Schweigen. »Ich habe gehört, du vermietest Zimmer. Ist noch eins für mich frei?«

»Ähm … ja.« Hastig schaute ich in eine andere Richtung. Es stand mir förmlich auf der Stirn geschrieben, wie unwiderstehlich anziehend ich ihn fand. Mein Herz machte erneut einen dieser Freudensprünge. Denn wenn er ein Zimmer brauchte, wollte er bestimmt länger in der Stadt bleiben! Sicherheitshalber trat ich einen Schritt zurück, um seiner verwirrenden Nähe zu entkommen. Allein seine bloße Anwesenheit ließ mich keinen klaren Gedanken fassen.

Eine Weile standen wir nur da, er mit einer Kiste Bier in der Hand, so als ob sie nichts wiegen würde, und ich, mit meinem Zeigefinger in meinen Haaren drehend. Diese Angewohnheit hatte ich bereits als Kind gehabt. Als ich bemerkte, was ich tat, schnappte ich mir zwei Flaschen, damit ich nicht erneut in Versuchung kam. Mein Retter griff sich daraufhin eine zweite Kiste Bier und ging die Treppe hoch. Er hielt mich jetzt bestimmt für ein naives Ding oder so was in der Art. Wie konnte man auch nur dermaßen peinlich sein? Die sterbend kleine Chance, dass er mich in irgendeiner Weise anziehend finden könnte, hatte ich wahrscheinlich soeben verspielt. Mist!

Nach einer kurzen Pause voller Selbstzweifel folgte ich ihm nach oben. Der Lärm und der Mief der Kneipe brachten mich in die Realität zurück. Apropos Realität: War mein Tiger wirklich echt? Oder existierte dieser Mr. Perfect nur in meiner Fantasie – die oftmals lebendiger war, als ich es mir wünschte?

Nachdem er die Kisten unter den Tresen gestellt hatte, kam er zu mir. Siedend heiß fiel mir wieder ein, dass er ja ein Zimmer wollte.

»Ich bin gleich zurück!«, rief ich Sam zu und verließ die Kneipe, meinen Helden an der Seite.

»Hier um die Ecke ist der Eingang«, erklärte ich ihm, als wir aus der Tür traten und die kühle Nachtluft mir eine Gänsehaut einbrachte. Wir sprachen ansonsten kein Wort und bogen in eine dunkle Seitengasse. Vor einem schlecht beleuchteten Hauseingang sperrte ich auf. Leider gab es keine direkte Verbindung von der Kneipe ins Treppenhaus.

Im zweiten Stock hatte ich ein »Büro«. Es war nur ein winziger Raum ohne Fenster und früher eine Abstellkammer gewesen, aber mehr Platz brauchte ich nicht, um die wenigen Zimmer zu vermieten, in denen kaum mehr als ein Bett stand.

Aus einer Schublade des Schreibtisches holte ich einen altmodischen Schlüssel – keine dieser zeitgemäßen Chipkarten – mit einem silbernen Anhänger, der die Zahl drei darstellte.

»Wie viele Nächte?«, fragte ich ihn.

»Keine Ahnung.« Er sprach ruhig, dennoch spürte ich seine Verlegenheit. Hier waren wir allein und das machte anscheinend nicht nur mich nervös, was ich gar nicht nachvollziehen konnte. Der Mann war der Frauenmagnet schlechthin. Er musste doch wissen, dass er unsereins extrem beeindruckte.

Nachdem ich ihm ein E-Pad sowie einen Senso-Pen gereicht hatte und hoffte, dass er meine zitternden Hände nicht bemerkte, zeigte ich ihm die Stelle, wo er unterschreiben sollte.

»Ich zahle eine Woche im Voraus, ist das okay?« Eindringlich blickte er mich an. Wow, seine Augen waren so grau!

Kein Wort wollte aus meinem Mund kommen, also nickte ich nur. Natürlich, im Voraus bezahlen war mehr als okay. Manchen Leuten musste ich wochenlang nachlaufen, um an mein Geld zu kommen.

Er legte ein paar zerknitterte Scheine auf den Tisch. Ohne nachzuzählen steckte ich sie ein und erinnerte mich daran, dass auch in diesem Staat die Ära des Bargelds bald endgültig vorbei war. Der Abschluss aller Geschäfte war in Zukunft ausschließlich mit Daumenscan zu tätigen, was es der Regierung ermöglichte, alle Aktivitäten jeder einzelnen Person zu überwachen. So weit war es in unserem Land schon gekommen. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis.

Ich warf einen kurzen Blick auf die Schreibtafel, bevor ich sie in der Schublade verschwinden ließ. Er hatte seinen Namen darauf geschrieben. Instinktiv wusste ich, dass es nicht sein richtiger war: Jack Sheridan.

Irgendetwas hatte er zu verbergen. Aber hatten wir das nicht alle? Selbst Sam verheimlichte mir was, das spürte ich deutlich. Bei meinem Onkel wollte ich allerdings nicht nachbohren und schon gar nicht meine Fähigkeit benutzen. Sam würde schon seine Gründe haben.

Plötzlich fühlte ich mich in Jacks Gegenwart leicht unwohl. Vielleicht lag es an den negativen Schwingungen, die er aussandte. Die Adjektive »geheimnisvoll« und »gefährlich«, die ich zuvor zur Beschreibung seines attraktiven Äußeren gebraucht hatte, bekamen jetzt einen düsteren Sinn.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, brachte ich ihn zum Zimmer. »Die Dusche ist dort hinten.« Ich deutete ans andere Ende der Etage. Dann gab ich ihm den Schlüssel, wobei sich unsere Hände für einen kurzen Augenblick berührten.

Helles Licht blendet mich, neben mir stehen ein Mann und eine Frau in weißen Kitteln. Vergeblich zerre ich an den Fesseln, mein Herz klopft panisch und die Schmerzen in meiner Brust bringen mich fast um.

Kate – ihr Gesicht schwebt immer vor meinen Augen, sie gibt mir Kraft, das zu überstehen …

So plötzlich wie diese Vision gekommen war, war sie auch vorbei. Ich ließ mir nichts anmerken, wie ich es immer tat, wenn ich Erinnerungsfetzen von anderen Personen aufschnappte – was wirklich völlig unbeabsichtigt geschah, falls mein Gegenüber es nicht beherrschte, seine Gedanken abzublocken.

Meine Gabe war nicht immer ein Segen.

»Frühstück bekommst du bei Sam in der Kneipe. Er hat morgens von halb sieben bis neun offen.« Wow, ich hatte mich weder versprochen noch gestottert! Und das, obwohl mich das gerade Gesehene mächtig aufwühlte, besonders, dass ich in Jacks Vision vorkam. Warum ausgerechnet ich? Und diese Schmerzen – ich hatte sie beinahe wirklich spüren können, als hätte mir jemand mit glühenden Klingen die Brust aufgeschlitzt!

Jack nickte, fuhr sich über das Gesicht und sperrte die Zimmertür auf.

»Gute Nacht, Jack. Und danke noch mal.« Hastig drehte ich mich um und ging. Plötzlich wollte ich weg von ihm. Ich musste erst verarbeiten, was ich gefühlt hatte. Oh Gott, seine Erinnerungen waren grauenhaft!

»Dir auch eine gute Nacht, Kate«, rief er mir nach und verschwand in seinem Zimmer.

Wer war der Mann? Warum kam ich in seiner unheimlichen Erinnerung vor?

Kurz vor der Haustür hörte ich wieder seine Stimme. Wie schaffte er es nur, sich so geräuschlos anzuschleichen? Mein Herz klopfte heftig, als ich zu ihm herumwirbelte, was ihn zum Schmunzeln brachte.

Oh Mann, diese Grübchen! Wenn der Kerl lachte, war er unwiderstehlich.

Sein Grinsen wurde noch breiter. »Keine Panik! Ich wollte dich nur fragen, ob du jemanden kennst, der Arbeit für mich hat? Ich würde gerne länger in der Stadt bleiben.«

Tief blickte er mir in die Augen. Sein Lächeln erzeugte ein angenehmes Gefühl in meiner Magengegend, weshalb mir leicht schwindlig wurde. Alles um mich herum schien auf einmal so unwirklich. Wie erstarrt schaute ich in sein wildes, wunderschönes Gesicht.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor.

Tief in seinem Inneren war er – trotz seiner äußerlichen Gelassenheit – wütend und verstört. Ich ignorierte diese Eingebung gleich wieder, denn so ein seltener Augenblick musste voll ausgekostet werden. Was hatte dieser Mann doch für sinnliche Lippen … und erst diese Augen … so grau wie ein wolkenverhangener Sturmhimmel. Sein Gesicht war ebenmäßig, das Kinn markant. Nur seine Nase war einen Tick zu lang, was seiner Schönheit keinen Abbruch tat – im Gegenteil. Sie machte sein Gesicht vollkommen. Mich befiel der Drang, diese Nase zu küssen, ebenso den herrlichen Mund, und meine Finger in seine Haare zu schieben. Wie würden sie sich anfühlen? Seidenweich oder eher störrisch?

Meine Angst vor Jack kam mir mit einem Mal lächerlich vor und mein Herz raste jetzt aus anderen Gründen. Vielleicht hatten sich zwei Erinnerungen überschnitten und er dachte gerade an mich, weil er mich attraktiv fand? Oder ich hatte einen Traum gesehen?

Fantasiere weiter, Kate …

Ob Jack ein Mutant war, der Frauen allein durch seinen Willen hörig machen konnte? Beinahe kam es mir so vor und ich hätte absolut nichts dagegen gehabt. Mein Körper stand in Flammen, alles kribbelte, jeder Nerv schwang wild hin und her. Was war nur los mit mir?

»Kate?«, fragte er nach einer Weile grinsend, was mich aus meiner Träumerei riss.

Ich Idiotin! Warum hatte ich mich nicht besser unter Kontrolle? Er hielt mich jetzt sicher für eine Frau mit dem Hirn einer Stechmücke. »Oh … ja … ich werde Sam fragen. Der kennt eine Menge Leute hier in der Stadt.«

»Danke«, antwortete er. »Noch mal gute Nacht.« Er zwinkerte mir zu und drehte sich um.

Da verschwand er – im Halbdunkel des Hausflures.

Regungslos blieb ich in der offenen Tür stehen und blickte ihm wie hypnotisiert nach, bis seine Silhouette mit der Dunkelheit verschmolz. Ich glaube, ich habe mich schwer verliebt, dachte ich, als ich auf einer rosa Wolke zurück in Sams Kneipe flog. Sollte Jack doch von mir denken, was er wollte. In meinem Herzen würde er immer mein Traummann bleiben. Nur diese schreckliche Vision störte die Vollkommenheit ein bisschen – ein ganz kleines bisschen.

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Am nächsten Morgen stand ich früher auf als gewöhnlich, obwohl ich nachts nicht gut geschlafen hatte. Immerzu hatte ich an Jack denken müssen und an das, was ich gesehen hatte, als sich unsere Hände kurz berührten. Er musste etwas sehr Schreckliches erlebt haben. Hatten seine vielen Narben etwas mit dieser Vision zu tun? Ich hoffte inständig, dass Jack sich bei Sam ein Frühstück gönnen würde, da ich ihn so schnell wie möglich wiedersehen wollte. Hastig schlüpfte ich in meine besten Jeans und in eine weiße Bluse. Sogar Lippenstift legte ich auf.

Auch heute Morgen schickte die Sonne ihre erbarmungslosen Strahlen auf die Erde, die Greytown bis zum Mittag in einen Glutofen verwandeln würden, wäre da nicht die sanfte Brise, die stets vom Meer herauf wehte und die Stadt mit ihrem salzigen Hauch erfrischte. Leider brachte sie immer noch Vulkanasche mit sich. Vor Kurzem hatte es weit draußen auf dem Meer einen Vulkanausbruch gegeben, gefolgt von einem Seebeben, das auch Greytown leicht durchgerüttelt hatte. Tagelang hatte der Berg Asche gespuckt, daher war es in der Stadt jetzt so staubig und viele Häuser nicht mehr bewohnbar. Gott sei Dank hatte der Tsunami uns verschont. Die Fischer, die ihr Zuhause auf dem Festland verloren hatten, lebten seitdem in den schwimmenden Fischaufzuchtstationen. Das Meer war ihre neue Heimat geworden.

Zum Glück war Sams Kneipe nur zwei Blocks von meiner Wohnung entfernt. Die wenigen Meter nahm ich im Laufschritt, weshalb ich schon kurze Zeit später atemlos in den Laden stürzte, in dem bereits vier Männer an ihrem Kaffee schlürften. Mein Onkel blickte mich irritiert an, die Brauen nach oben gezogen, und wollte sofort wissen, was ich um sieben Uhr morgens in seiner Kneipe zu suchen hatte.

»Ich konnte nicht mehr schlafen und da dachte ich, ich helfe dir ein bisschen mit dem Frühstück.« Das war immerhin nicht ganz geflunkert, hatte ich mich doch die halbe Nacht unruhig hin und her gewälzt.

Sam antwortete mir mit einem Ich-weiß-schon-was-mit-dir-los-ist-Lächeln, denn schließlich kannte er mich lange genug. Natürlich freute es ihn trotzdem, dass ich hier war.

Schnell belegte ich Sandwiches und machte neuen Kaffee. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, schlug mein Herz schneller. Aber Jack kam nicht.

Als zwei Stunden später die letzten Gäste gegangen waren, half ich Sam beim Aufräumen. Da sagte er zu mir: »Du hast mich doch gestern gefragt, ob ich für deinen neuen Gast, diesen Jake …«

»Jack!«, unterbrach ich ihn, wobei mir fast ein Glas aus der Hand gefallen wäre.

»Ja, Jack, ob ich jemanden wüsste, der für ihn Arbeit hätte.«

»Jaa …?«, fragte ich bemüht beiläufig, während ich mit zitternden Händen die Spülmaschine einräumte.

»Ja, also, nachdem du mir gestern erzählt hast, wie er dir diese zwei aufdringlichen Teens vom Hals geschafft hat … also meiner Kate zu Hilfe geeilt ist … da hab ich gleich an Ron denken müssen.« Sam kratzte sich an seinem fast haarlosen Hinterkopf.

»Ron Williams?« Ich kannte Ron beinahe so lange wie ich bei meinem Onkel lebte. Sie waren gute Freunde, auch wenn sie sich nur selten sahen. Ron war am Hafen für das Verladen der Fracht zuständig.

»Ja, der kann nämlich immer starke Arme gebrauchen und außerdem schuldet er mir noch einen Gefallen. Ich habe Jack gleich heute Morgen zu ihm geschickt.«

»Er war schon hier?« Fast hätte ich Sam angesprungen! Warum hatte er mir das nicht früher erzählt? »Wann denn?« Hoffentlich bemerkte Sam meine Enttäuschung nicht.

»Er hat bereits vor meiner Tür gestanden, bevor ich die Kneipe geöffnet hatte. Scheint ein netter Kerl zu sein.« Er zwinkerte mir zu. Dieser alte Gauner wusste genau, was mit mir los war. Also hatte es mich wohl schwerer erwischt, als ich mir eingestehen wollte.

Sam kramte gähnend seinen Schlüssel aus der Hosentasche. »Jetzt werde ich mich aufs Ohr hauen. Heute Abend wird es wie immer spät.«

Gemeinsam verließen wir die Kneipe und ich begleitete ihn bis zu seiner Wohnung, die gleich im Stockwerk darüber lag.

»Schlaf gut, Onkelchen, bis heute Abend«, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Diesen alten Mann liebte ich über alles. Er war der beste Freund, den ich mir auf dieser Welt wünschen konnte.

Ich war erst zehn Jahre alt gewesen, als meine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Sam hatte mich bei sich aufgenommen – ich hatte zuvor schon unter der Woche bei ihm gewohnt, weil meine Eltern bis tief in die Nacht arbeiten mussten –, wobei er mir im Laufe der Jahre mehr als ein Ersatzvater geworden war. Vor allem war er ein besonders guter Zuhörer und wusste fast alles über mich. Doch jetzt war er alt und krank. Die viele Arbeit tat ihr Weiteres. Ich wollte mir nicht ausmalen, was werden sollte, wenn er nicht mehr da war.

Sam seufzte. »Was würde ich nur ohne dich machen?« Schlurfend verschwand er in seiner Wohnung.

Eine Etage höher schloss ich kurz darauf mein Büro auf. Jack war im Moment mein einziger Gast, weshalb ich nicht viel zu tun hatte. Mit einem frischen Handtuch und einer Flasche Wasser in Händen marschierte ich zu Zimmer drei.

In dem kleinen Raum war es dunkel und stickig. Das einzige Fenster fand ich blind und zog das Rollo hoch, um staubige, aber angenehm kühle Morgenluft einzulassen. Die Bettlaken waren zerknittert; ansonsten war nicht zu erkennen, dass hier jemand wohnte. Ich erinnerte mich: Jack hatte keine Tasche bei sich gehabt. Merkwürdig. Wer kam ohne Gepäck in eine neue Stadt? Dieser Mann schien voller Rätsel zu sein.

Ich legte das saubere Handtuch auf den Nachttisch und stellte die Flasche daneben, denn eine andere Abstellfläche gab es in diesem Zimmer nicht. Als ich die zerwühlte Bettdecke ausschüttelte, flog ein Handtuch auf den Boden. Es war leicht feucht. Während ich es aufhob, stellte ich mir vor, wie Jack nach dem Duschen nackt in seinem Bett eingeschlafen war.

»Böses Mädchen.« Vor mich hingrinsend, hielt ich kurz die Bettdecke an meine Nase. Jacks männlicher Geruch hing überall in den Laken und drang in meine Lungen wie süßer Honig. So ein Mann wie Jack wäre genau das, was ich jetzt bräuchte, läge da nicht dieser dunkle und geheimnisvolle Schatten über ihm.

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Als ich am Abend in Sams Kneipe kam, herrschte schon reges Treiben. Die Samstagabende waren die anstrengendsten Tage des Monats. Die Leute ließen den letzten Arbeitstag der Woche immer mit viel Alkohol ausklingen. So mixte ich einen Drink nach dem anderen, sprang ständig in den Keller, um Nachschub zu holen, machte Burger und Sandwiches und bediente zwischendurch an den Tischen. Nach zwei Stunden war ich außer Atem und die Kleidung klebte mir am Körper.

»Einen Blue Moon und ein Sandwich, bitte«, vernahm ich plötzlich Jacks angenehme Stimme durch das Sprachgewirr der Gäste. Überrascht sah ich zu ihm auf.

Er hatte sich leicht über die Theke gelehnt, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Befreit vom dichten Bartwuchs, offenbarte es sich bestürzend schön. Mein Herz machte einen Sprung, nur um noch schneller zu schlagen, als es das in der Hektik des Abends sowieso schon tat. Ich dachte nur, wie furchtbar ich aussehen musste.

Jack machte auch keinen fitten Eindruck, schließlich hatte er den ganzen Tag mit Verladen von Fracht verbracht. In meinen Augen sah er jedoch wie immer umwerfend aus. Verdammt umwerfend sogar und obwohl er verschwitzt war, roch er unglaublich anziehend.

Pheromone …

Seine dunkelbraunen Haare waren genauso durcheinander wie gestern, aber es hatte noch immer den Anschein, als wäre sein attraktives Gesicht in den letzten Wochen um Jahre gealtert. Wie konnte das sein? Was war ihm zugestoßen? Seine Aura strahlte jedoch ein wenig heller als am Tag zuvor. Das war ein gutes Zeichen!

Ich mixte ihm schnell seinen Drink und machte ihm ein Sandwich. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, weshalb ich während meiner Arbeit ständig zu ihm sah. Ob er wirklich ein Mutant war, so wie es die Jungs gemeint hatten? Darüber hatte ich noch gar nicht richtig nachgedacht, weil es keine Auswirkungen auf meine Gefühle für ihn hätte. Schließlich gehörte ich selbst zu dieser »Gattung«. Seine unnatürlich schnellen Reflexe sprachen dafür, auch die Tatsache, dass er sich so lautlos und geschmeidig bewegen konnte. Und wenn ich in seine Augen sah, war ich mir diesbezüglich ziemlich sicher: Sie strahlten etwas Wildes und Aufregendes aus. Einen derart durchdringenden Blick hatte ich bei einem normalen Menschen noch nie gesehen.

Was mir mehr Sorgen bereitete, war das furchtbare Geheimnis, das er zu verbergen schien. Immer, wenn ich besonders nah bei ihm stand, spürte ich die Aura aus Schmerz, Angst und Wut. Diese Gefühle lagen wie ein unsichtbarer Mantel über seinen Schultern. Außerdem wirkte er traurig und müde. Aber unter all dem Schmerz verbarg er auch angenehme Gefühle, die sich verstärkten, wenn er mich ansah. Was mir wieder Hoffnung machte, dass es mit uns vielleicht doch noch klappen könnte.

Ob er eine Freundin hatte? Bis jetzt war er immer allein in der Kneipe erschienen, was nicht zwangsläufig bedeutete, dass er Single war, denn der Frauenanteil in Sams Laden war seit jeher gering. Das weibliche Geschlecht – mich eingeschlossen – zog es eher in Sallys Tea-House. Aber da er neu in der Stadt war, sich ein Zimmer gemietet und einen Aushilfsjob angenommen hatte, schloss ich daraus, dass er ungebunden war.

Wir sprachen den Abend über kaum miteinander, dafür war ich viel zu beschäftigt. Unsere Blicke begegneten sich dagegen ständig. Vielleicht war es nur Zufall, doch mein Gefühl sagte mir etwas anderes. Selbst Sam schien es zu bemerken, denn er blinzelte mir überirdisch oft zu, wobei er sein verschmitztestes Lächeln auflegte.

Dieser alte Gauner! Er wusste immer, was mit mir los war. Auch ich fühlte mich heute beschwingter als sonst. Umso trauriger war ich, als Jack knapp eine Stunde später die Kneipe verließ. Ich hatte so sehr gehofft, er würde bleiben bis der größte Trubel vorbei war und ich mehr Zeit hätte, mich mit ihm zu unterhalten. Doch er hatte einen anstrengenden und kräftezehrenden Tag gehabt. Er sah müde aus und wollte bestimmt nur noch schlafen. Wer konnte es ihm verdenken, fühlte ich mich auch gänzlich ausgelaugt.

Jack musste mein enttäuschtes Gesicht bemerkt haben, denn kurz bevor er die Tür öffnete, kam er zu mir zurück. Mein Herz sprang fast aus der Brust, als er sich lässig über die Theke lehnte. Ohne Jack aus den Augen zu lassen, schenkte ich schnell einem alten Mann seinen Drink ein und ging dann zu Jack rüber. Mein Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, damit wir uns in dem Stimmengewirr besser verstanden. Diese Nähe machte meine Knie butterweich. Hätte ich nicht zur Hälfte auf der Theke gelegen, wäre ich wahrscheinlich auf meinem Hinterteil gelandet.

Als ich ihn schüchtern fragte: »Na, möchtest du vielleicht doch noch etwas trinken?«, sog ich den erregenden Duft seines verschwitzten Körpers in mich auf. Was stellte er nur für eine unwiderstehliche Verlockung dar!

»Danke, nein. Aber ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, mir morgen die Stadt zu zeigen? Du hast doch morgen frei, oder?« Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht und seine Augen funkelten.

Ja, er mochte mich. Jetzt spürte ich es überdeutlich! Es war unmissverständlich klar, dass er ebenfalls an mir interessiert war, und mein Blut geriet in Wallung. Vor Aufregung brachte ich kein Wort über die Lippen und mir wurde abwechselnd heiß und kalt.

Plötzlich berührte er meine Hand. »Kate? Ich würde mich wirklich sehr freuen.«

Ein Blitzlichtgewitter greller Farben explodierte in meinem Inneren, mein Herz pochte wild und ich stotterte: »J-ja … klar. Gerne!«

»Ich würde dich abholen, wenn du mir sagst, wo du wohnst.«

Er fesselte mich mit seinem Blick, wie es noch keinem Mann zuvor gelungen war. Trotzdem verriet man einem Fremden nicht so schnell seine Adresse. Aber Jack sollte mich nicht falsch verstehen oder beleidigt sein, weil ich sie ihm nicht gab. Also zog ich mich geschickt aus der Affäre. »Weißt du, ich muss morgen sowieso in die Pension schauen, da kann ich dich gleich abholen. Ist Mittag okay? Denn es wird wohl recht spät werden heute. Eine Frau braucht schließlich ihren Schönheitsschlaf.« Meine Güte, was schwafelte ich für einen Mist!

»Mittag ist perfekt.« Jack grinste mich wieder so unwiderstehlich an, dass die Butter in meinen Knien nun vollständig schmolz. »Aber einen Schönheitsschlaf halte ich bei dir für überflüssig.«

Charmeur. Flirtete er mit mir? Er berührte immer noch meine Hand. Seine Finger fühlten sich leicht rau an, waren aber lang und schlank – wirklich, er hatte sehr schöne Männerhände.

Sollte ich es wagen und noch einmal in seinen Erinnerungen wühlen? Meine Neugier war zu groß. Ich tat das sonst nie, aber ich musste einfach wissen, worauf ich mich bei ihm einließ. Also beschloss ich, es kurz zu versuchen und konzentrierte mich.

Feuer, überall Feuer, beißender Qualm kratzt in meinen Lungen. Ein schwarzhaariger Mann in einem weißen Kittel liegt mit dem Gesicht zum Boden vor meinen Füßen, Jacks Füßen. Daneben eine Waffe. Um ihn herum ist überall Blut. Der Mann bewegt sich nicht. War er tot?

Das alles sah und fühlte ich für den Bruchteil einer Sekunde. Länger wollte ich es nicht riskieren, denn Jack sollte nicht merken, dass ich in seinen Gedanken schnüffelte. Ich unterdrückte ein Husten, weil ich glaubte, immer noch den Rauch in meiner Lunge zu spüren.

»Okay, dann bis morgen. Schlaf gut.« Strahlend ließ er meine Hand los und ging.

»Du auch«, rief ich ihm nach, aber über meine Hochstimmung hatte sich ein Schatten gelegt.

Von nun an erlebte ich alles wie in Trance; meine Gedanken drehten sich im Kreis. Jack schien so nett, doch dieser Mann zu seinen Füßen, das Feuer und das viele Blut … Was war nur passiert? War Jack dafür verantwortlich? Was war, wenn er diesen Mann umgebracht hatte und ich dabei war, mich mit einem Mörder zu verabreden? Eigentlich kannte ich ihn gar nicht, doch es zog mich so unwahrscheinlich stark zu ihm hin wie Eisenspäne zu einem Magneten. Und wenn wir uns berührten, überkam mich ein noch nie da gewesenes Gefühl. Es war, als hätte er einen Zauberbann über mich gelegt. Ich war total verwirrt.

Erst als Sam mir ins Ohr brüllte: »Die Männer von Tisch fünf wollen endlich ihre Drinks!«, kam ich wieder zu mir und versuchte, meine negativen Gedanken zu verdrängen, damit ich mich auf meine Arbeit konzentrieren konnte.

Als der letzte Gast gegangen war und Sam die Kneipe schließen wollte, war es schon vier Uhr morgens.

»Geh ins Bett, Onkelchen, ich kann den Rest hier allein erledigen.«

Sam hob die Brauen. »Aber …«

»Keine Widerrede, ich schaffe das!« Jacks Erinnerungen wühlten mich so auf, dass mir kein bisschen nach Schlafen zumute war, obwohl mein Körper nichts gegen eine weiche Matratze einzuwenden gehabt hätte.

»Wenn ich dich nicht hätte.« Sam seufzte müde, drückte mir einen Kuss auf die Wange und humpelte zur Tür. Lange würde er diese anstrengenden Nächte nicht mehr mitmachen können.

Eine halbe Stunde später schloss ich die Tür hinter mir und inhalierte kühle Morgenluft, genoss die frische Brise auf meiner feuchten Haut. Nun zählten nur zwei Dinge: eine Dusche und mein Bett. Jetzt erst bemerkte ich, wie erschöpft ich eigentlich war. Über Jack konnte ich mir morgen noch den Kopf zerbrechen.

Gerade wollte ich mich auf den Heimweg machen, als aus der dunklen Seitengasse zwei Schatten traten. »Na, Sweety, so spät noch unterwegs?«

Diese Stimme kam mir verdammt bekannt vor, weshalb sich mein Magen unwillkürlich verkrampfte. Nun erkannte ich sie im schwachen Licht der Morgendämmerung: Es waren die zwei Halbstarken.

Sofort schoss mir die Szene im Keller durch den Kopf. Mir wurde klar, dass ich hier allein war und mir diesmal keiner zu Hilfe eilen konnte. Die aufsteigende Panik und das bleischwere Gefühl in meinen Beinen hinderte mich am Loslaufen. Mein Herz klopfte plötzlich wie ein Presslufthammer.

»Sollen wir dich nach Hause bringen? Eine Lady sollte zu dieser Zeit nicht allein unterwegs sein.« Pickelgesicht grinste mich teuflisch an.

»Nein Danke, Jungs«, antwortete ich und versuchte, normal zu klingen, obwohl ich schon meinen Pulsschlag an meinem Hals spürte und meine Hände zitterten. Mühsam setzten sich meine Beine in Bewegung, doch Blondie packte mich am Handgelenk.

Ich erstarrte.

Als er sprach, roch ich den Alkohol aus seinem Mund. »Nicht so schnell, Zuckerpuppe, vielleicht kannst du uns ja noch ein paar Drinks ausschenken?«

»Die Kneipe ist längst geschlossen. Kommt Montag wieder«, brachte ich mit leiser Stimme hervor. Tränen schossen mir in die Augen. Ich hatte Angst. Unheimlich große Angst!

»Dein Mutanten-Freund hat uns verboten, die Kneipe jemals wieder zu betreten«, sprach der andere in leicht lallendem Tonfall. »Doch da er ja jetzt nicht da ist, könntest du vielleicht so freundlich sein? Wir haben auch Hype dabei, das würde dich bestimmt auflockern, nicht wahr, Sweety?«

Hype war eine synthetisch hergestellte Droge, die viele konsumierten. Ich hatte bisher tunlichst meine Finger davon gelassen. »Haut ab und lasst mich in Ruhe!«, schrie ich, in der Hoffnung, sie würden endlich verschwinden, doch der Griff um mein Handgelenk wurde fester.

»Heute gehörst du uns ganz allein, Süße, darauf haben wir uns schon lange gefreut«, flüsterte Blondie mir ins Ohr, als er mich gegen die Hauswand drückte. Meine Panik wurde größer, mein Herz raste wie wild. Ich spürte die Hitze seiner schlacksigen Gestalt und seinen heißen Atem an meinem Hals und glaubte, ich müsse mich gleich übergeben. Diesen ekelhaften Typen würde ich meinen Körper nicht so ohne weiteres überlassen. Ich würde mich wehren bis zum bitteren Ende!

»He, Bruce, ich bin zuerst dran, ich bin so geil, dass mir gleich die Eier platzen! Du stehst solange Schmiere«, rief er seinem Freund zu, der maulend ins Dunkel der Gasse verschwand.

Ohne viel darüber nachzudenken, ließ ich mein Knie nach oben schnellen und traf genau die gewisse Stelle zwischen seinen Beinen – doch anstatt mich loszulassen, warf er mich auf den Boden und setzte sich auf meinen Brustkorb, das Gesicht vor Schmerz verzerrt.

»Miststück, dir werd ich’s zeigen«, zischte er und versprühte seine Spucke auf meinem Gesicht.

Ich konnte mich kaum bewegen, da meine Arme unter seinen Beinen eingeklemmt waren. Sein Körper presste mir die Luft aus den Lungen. Das Blut in meinen Adern pochte heftig. Mit letzter Kraft wollte ich nach Hilfe schreien, doch er drückte mir die Hand auf den Mund und erstickte mein Wimmern.

Ich hatte sowieso kaum Hoffnung, dass mir jemand helfen würde. Diesem Widerling würde ich es allerdings nicht leicht machen, also biss ich ihm in seine Finger.

Er schrie auf, doch anstatt von mir abzulassen, zückte er ein Messer, das er von irgendwo hervorgezogen hatte, und hielt es mir an den Hals. »Du stehst wohl auf die harte Tour, du kleine Drecksau. Noch so eine Aktion und ich schlitz dich auf!«

Als ich den Stahl der Klinge an meiner Haut spürte, erstarrte ich auf der Stelle und wusste, dass ich verloren hatte.

Ohne das Messer von meiner Kehle zu nehmen, rutschte er an mir herunter, um den Gürtel meiner Jeans zu öffnen.

Wieder schossen mir Tränen in die Augen. Ich wimmerte. »Du kannst die Einnahmen von heute haben, ich zeige dir, wo das Geld versteckt ist.«

»Das ist nett von dir, Sweety, aber erst möchte ich ein bisschen Spaß haben!«

Seine verschwitzte Hand, die mit meiner Hose beschäftigt gewesen war, glitt unter mein Shirt. Als er meine Brust berührte, musste ich mich wieder beinahe übergeben. »Bitte, nimm doch das Geld«, flehte ich.

Ich spürte sein Messer am Hals, dessen scharfe Spitze sich bei jeder seiner Bewegungen leicht in meine Haut bohrte, und hätte ich mich weiterhin gewehrt … dieser Typ war eiskalt, außerdem stand er unter Einfluss von Alkohol und wie ich stark annahm, hatte er auch Drogen genommen. Vielleicht sollte ich es einfach über mich ergehen lassen? Vielleicht wäre ich danach noch am Leben.

Oh Gott, bitte, lass das nur einen Traum sein, ich will noch nicht sterben!

Mein Blick wanderte die Hauswand hoch. Dort oben war Sams Wohnung. Meine letzte Hoffnung war, dass er vielleicht etwas bemerkt hatte, obwohl alle Fenster geschlossen waren. Womöglich eilte er mir gerade zu Hilfe oder hatte die Cops gerufen? Doch niemand würde kommen. Da brauchte ich mir nichts vorzumachen.

Sam, bitte hilf mir!, sendete ich meine Gedanken nach oben. Sollte Sam allerdings tief und fest schlafen, würde er mein Flehen nicht hören. Wahrscheinlich erreichte ihn mein Hilferuf ohnehin nicht – ich hatte meine Gabe zu lange nicht mehr benutzt und wusste nicht, ob es klappte.

Inzwischen drückte der widerliche Typ meine Brust so fest, dass ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte. Das schien ihn nur mehr zu erregen. »Ja, heul nur, du kleine Schlampe, aber heb ein paar Tränchen für später auf, denn das hier ist erst der Anfang!« Er leckte mir mit seiner widerlichen Zunge übers Gesicht. »Ich mag es, wenn du heulst, das macht mich noch geiler.«

Apathisch starrte ich die Hauswand an, während der Junge grob meine Brust knetete. Ich empfing wirre Gedankenfetzen von ihm, erblickte Männer in blauen Anzügen, die alle gleich aussahen: groß, mit kurzen schwarzen Haaren, dunkelblauen Uniformen und beinahe genauso blauen Augen. Sie hatten etwas Unnatürliches an sich.

Verschwommen nahm ich plötzlich dort oben am Haus die Silhouette einer Person wahr, die aus einem Fenster im zweiten Stock kletterte.

Oh mein Gott, wie konnte ich es nur vergessen? Da war das Zimmer, das ich Jack vermietet hatte – das einzige meiner Zimmer, das in den Innenhof zeigte!

Jack sah zu mir herunter und legte einen Finger an die Lippen. Ich blinzelte. Halluzinierte ich?

Was, wenn Jack wirklich da war? Der Teen durfte ihn auf keinen Fall bemerken, doch der war so beschäftigt, mir umständlich mit einer Hand die Hose herunterzuziehen, dass er nicht mitbekam, wie Jack über ihm lautlos und geschmeidig an der Regenrinne herunterkletterte. Innerhalb weniger Sekunden war er am Boden angelangt und riss den Halbstarken von mir herunter. Tief holte ich Luft, wobei meine gequetschten Rippen fürchterlich schmerzten.

»Lauf, Kate!«, rief Jack mir zu, doch ich konnte nicht, da ich immer noch nach Atem rang und nicht so recht kapierte, was gerade geschehen war. Ich war wie in Schockstarre.

Jack hielt den jungen Mann im Schwitzkasten, schnappte sich mit einer Hand dessen Messer und warf es zur Seite.

Langsam sammelte ich mich, zog meine Hose hoch, keuchte und brachte mühsam heraus: »Was hast du mit ihm vor?« Mir schoss das Bild des Mannes in den Kopf, der in seinem Blut gelegen hatte.

Jack sagte nur: »Geh, Kate, bitte!«, wobei er mich flehend anblickte.

Mühsam stand ich auf und schlurfte rückwärts auf die Gasse zu, die der einzige Ausgang aus dem Innenhof war, und hatte den anderen, der dort Schmiere stand, vergessen. Ich taumelte direkt in seine Arme. Schon wieder legte sich ein Messer an meine Kehle und eine maliziöse Stimme flüsterte mir ins Ohr: »Schrei, und du bist tot.«

In diesem Moment fühlte ich mich wirklich, als müsse ich sterben. Niemals zuvor hatte ich mehr Angst gehabt. Im Schatten der Häuser sah ich hilflos zu, wie Jack den Teen am Kragen seines Shirts hochhob. Wie stark Jack war, unglaublich! Blondies Beine baumelten in der Luft. Er versuchte sich zu wehren, schlug mit den Fäusten nach Jack und trat mit den Füßen nach ihm – der blieb davon unbeeindruckt. Blondie hatte keine Chance. Als wäre er eine Puppe, schleuderte Jack ihn gegen die Hauswand. Der Junge prallte dagegen und fiel auf den Boden, wo er regungslos liegen blieb.

Da drückte mich Pickelgesicht nach vorn, sodass Jack uns sehen konnte, und knurrte: »Du feige Mutanten-Sau! Wenn du deine Kleine in einem Stück wiederhaben willst, verpisst du dich lieber auf der Stelle!« Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, presste er das Messer fester an meinen Hals. Ich spürte etwas Warmes daran herunterfließen und war wie gelähmt. Der Verrückte meinte es ernst!

Jack starrte mich einen Moment regungslos an, die Augen weit aufgerissen. Dann ballte er die Hände zu Fäusten. »Du nimmst sofort deine dreckigen Finger von ihr oder ich bringe dich um!«

»Ja, keine Frage, das würdest du tun.« Pickelgesicht grinste überheblich und fuhr mit dem Messer meine Kehle rauf und runter. »Ich glaube, du befindest dich in einer ziemlich ungünstigen Position, um mit mir zu verhandeln. Da sieht man es mal wieder, ihr Mutanten seid doch zu allem fähig, deswegen werden die Cops es auch dir anhängen, wenn sie deine süße Kate in mehreren Teilen aufsammeln.«

Seine linke Hand schloss sich von hinten um meinen Hals und drückte zu. Ein stechender Schmerz breitete sich in meiner Kehle aus. Ich konnte nicht atmen, mein Schädel pochte. Er wollte mich umbringen! Panik loderte in mir auf. Ich wollte noch nicht sterben!

Jack trat einen Schritt auf uns zu, die Fäuste immer noch geballt und einen wutentbrannten Ausdruck im Gesicht. Als der Irre mit der scharfen Klinge wild vor meiner Nase hin und her fuchtelte, ließ der Druck seiner Hand an meinem Hals nach und ich japste nach Luft.

»Welches Auge soll ich ihr zuerst rausschneiden, Muti-Wixer?«

Bitte nicht! So grausam hatte ich mir meinen Tod nicht vorgestellt. Hätte mich der junge Mann nicht so fest an sich gedrückt, wäre ich auf der Stelle auf den Boden gesunken, da jegliche Kraft aus mir gewichen war.

»Lass sie sofort los oder ich töte dich«, zischte Jack ein weiteres Mal, bewegte sich aber diesmal nicht. Ich spürte seinen Zorn, der in dunklen, pulsierenden Wellen von ihm ausging, und seine Angst, dass mir etwas zustoßen würde.

In der Zwischenzeit hatte ich aus den Augenwinkeln mitbekommen, wie sich Blondie aufraffte, um auf allen vieren nach seinem Messer zu suchen, das Jack ihm entrissen und weggeworfen hatte. Mein Hals brannte wie Feuer; ich konnte Jack nicht warnen. Ich versuchte wie besessen, nach Luft zu schnappen, aber das Atmen fiel mir sehr schwer.

Mir wurde immer schwarz vor Augen, wenn Pickelgesicht zu fest auf meine Halsschlagader drückte. Ich sah jedoch, wie Blondie hinter Jack aufstand und mit erhobener Hand einen Schritt auf ihn zumachte. Mit allerletzter Kraft kämpfte ich gegen eine Ohnmacht an und dachte verzweifelt, weil ich außer einem Krächzen keinen Laut hervorbrachte: HINTER DIR! ER HAT EIN MESSER!

Jack zögerte eine Sekunde zu lange. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er mich an.

Himmel, hatte ich ihm die Botschaft mittels Gedankenkraft direkt ins Gehirn geschickt? Es hatte funktioniert?

Während er erkannte, was ich wirklich war, war es schon zu spät: Als Jack sich umdrehte, rammte ihm der Halbstarke mit voller Wucht das Messer in den Bauch, wobei er es mit besessener Gier mehrmals hin und her drehte.

Einen Moment schien alles um uns herum stillzustehen. Das ist das Ende, dachte ich. Alles spielte sich wie in Zeitlupe ab, als der junge Mann die Klinge aus Jacks Bauch zog. Sie war voller Blut. Jack sackte zusammen, die Hände auf den Unterleib gepresst, das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzogen.

Nein …

»Verrecke, du abartiger Freak«, zischte Blondie, einen irren Glanz in den Augen, und spukte auf Jack.

Als ich glaubte, ich würde gleich ersticken, ließ Pickelgesicht Bruce endlich von mir ab und lief auf seinen Kumpel zu. »Komm, Steve, lass uns hier verschwinden!«

Sie rannten an mir vorbei, ohne sich einmal umzusehen.

Verzweifelt japste ich nach Luft und konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Wie ein Tier versuchte ich mich auf allen vieren Jack zu nähern. Mein gequetschter Hals pochte und schmerzte furchtbar, das Schlucken fiel mir schwer. Als ich wieder genug Luft bekam und die schwarzen Flecken vor meinen Augen verschwanden, blickte ich ängstlich zu Jack, der bewegungslos auf dem Boden lag. Langsam kam ich auf meine zitternden Beine und stolperte auf ihn zu. Oh mein Gott, was war, wenn er tot war? Es war alles meine Schuld, er wollte mir ja nur helfen! Nein, bitte! Er durfte nicht sterben, was für ein Albtraum!

Ich kniete mich neben ihn auf den Boden und berührte seine Schulter. »Jack«, krächzte ich. Meine Augen brannten.

Er stöhnte. Er lebte! Erleichterung durchflutete mich. Vorsichtig versuchte ich ihn auf den Rücken zu drehen, doch meine Kraft reichte nicht aus. Ein rotes Rinnsal floss unter ihm hervor und bahnte sich einen Weg durch den staubigen Boden. Als ich Jack schließlich mit seiner Hilfe umdrehte, war sein graues Shirt mit Blut durchtränkt. Der Anblick war schrecklich. Hoffentlich überlebte er das!

»Geht es dir gut?«, drang es kaum hörbar aus seinem Mund.

Jack lag in einer riesigen Blutlache und fragte, ob es mir gutging? Dieser Mann durfte nicht sterben. Das würde ich nicht zulassen! »Du musst sofort in ein Krankenhaus.«

»Nein, kein Krankenhaus«, flüsterte er, die Augen geschlossen. »Ist nicht so schlimm.«

Ich war froh, seine schwache Stimme zu hören, machte mir jedoch ernsthaft Sorgen, dass er gleich sterben würde. Als ich sein blutgetränktes Hemd nach oben schob, offenbarte sich mir das Übel: Etwas links von seinem Bauchnabel klaffte eine Wunde auf. Merkwürdigerweise trat kaum Blut aus, obwohl sie so groß war, dass ich locker drei Finger hätte hineinstecken können. Ob Jack auch innere Verletzungen hatte? Bestimmt waren Organe beschädigt worden, denn das Messer war lang gewesen. Eine schlimme Bauchverletzung führte sehr schnell zum Tod!

»Ich muss mich nur ein wenig ausruhen«, sagte Jack, diesmal etwas lauter. Er versuchte aufzustehen, wobei er schnell und ungleichmäßig atmete. Es war nicht zu übersehen, dass er große Schmerzen litt, trotzdem versuchte er es zu verbergen. Warum mussten Männer immer so verdammt cool sein? Wahrscheinlich stand er unter Schock, das würde erklären, warum er kaum blutete. Er musste in ein Krankenhaus! Verdammt, warum hatte ich bloß schon wieder mein Multi-Phone zuhause vergessen?!

Ich presste die Hände auf seinen Bauch und wollte nach Hilfe schreien, aber es kam nur ein Krächzen über meine Lippen.

Nein, es würde uns ja doch keiner helfen.

»Lass gut sein, Kate, ist nicht so schlimm«, flüsterte er und zog meine Hände weg.

Nicht so schlimm? Ich lachte hysterisch auf. Ruhig bleiben, Kate, jetzt nicht die Nerven verlieren!

Ich stand auf und taumelte orientierungslos von links nach rechts. Was sollte ich bloß tun?

Wie paralysiert starrte ich auf das Blut an meinen Händen und wischte es an der Hose ab. »Bleib ruhig«, stammelte ich, »ich hole Sam und rufe einen Krankenwagen.«

Ich war verwirrt und wusste kaum, was ich zuerst machen sollte. »Kann ich dich kurz allein lassen? Ich lauf schnell rauf in die Pension und …«

»Nein, Kate, kein Krankenhaus!« Flehend schaute er zu mir auf. Ein Muskel an seiner Wange zuckte.

»Aber …«

»NEIN!«, schrie er mich fast an. In seinem Blick lag Furcht. Abermals presste er eine Hand auf die Wunde.

Ich verstand das nicht.

In normalem Ton fuhr er fort: »Tut mir leid, ich erklär dir das später. Hilf mir nur rauf ins Zimmer.«

Er wollte in sein Zimmer? War er verrückt?

Seine Worte wirkten auf mich wie eine Ohrfeige und rissen mich aus meinem Schockzustand. Schlagartig wurde ich innerlich ruhiger, weil seine Reaktion widersinnig war.

Tief atmete ich ein. »Meinst du, du schaffst es etwas weiter? Ich bring dich lieber zu mir nach Hause, da kann ich deine Wunde besser versorgen.«

»Da hab ich nichts dagegen. Darf ich?«, fragte er und legte einen Arm um meine Taille. Mechanisch tat ich dasselbe bei ihm, doch er brauchte meine Hilfe kaum. Er schien ein zäher Kerl zu sein. Zäh und unglaublich stark. Er war tatsächlich ein Mutant.

Krankenwagen …, schoss es mir erneut in den Kopf. »Jack, in meiner Wohnung stirbst du garantiert nicht!« Ich würde einen Krankenwagen rufen – sobald wir bei mir wären.

Als wir aus der dunklen Seitengasse auf die menschenleere Straße traten, hörten wir in der Ferne das Heulen von Sirenen. Hatte doch jemand die Cops gerufen?

Jack, der langsam und gebeugt gegangen war, legte auf einmal an Tempo zu. »Ist es noch weit?«

»Ein paar Meter. Schaffst du es?«

»Ja, kein Problem«, erwiderte er und keuchte. Ständig blickte er sich um.

Das Geheul wurde lauter und ich war ziemlich sicher, dass es in unsere Richtung kam. Jack schaute ununterbrochen die schlecht beleuchtete Straße rauf und runter. Offensichtlich hatte er etwas zu verbergen und wollte nicht entdeckt werden.

Schließlich sahen wir drei Blocks entfernt blaue Lichter aufblitzen.

»Hier hinein«, sagte Jack schwer atmend, während er mich schon in die dunkle Nische eines Hauseinganges drückte.

»Was machst du?« Er verhielt sich sehr seltsam.

Erneut sah er mich flehend an. »Ich weiß, das kommt dir alles merkwürdig vor, aber du musst mir einfach vertrauen, bitte!«

Das war leichter gesagt als getan. Ich kannte ihn ja kaum, dennoch blieb ich mit ihm in der Dunkelheit stehen, die uns unter ihrem schwarzen Mantel versteckte.

Urplötzlich packte mich eine Alles-Egal-Müdigkeit. Das war normal nach einem Schock, wusste ich, und ich hieß dieses Gefühl willkommen. Erschöpft ließ ich mich mit dem Rücken gegen die kühle Mauer sinken.

Das Geheul der Sirene zog an uns vorbei. Ich sah das Auto nicht, denn Jack stand so nah an mich gedrückt, dass sein Körper meine Sicht verdeckte. Mein Kopf lag auf seiner Brust, wo sein rasendes Herz an mein Ohr klopfte. Während ich seinen erregenden Duft von Mann, frischem Schweiß und Seife – unverkennbar die aus der Pension – einatmete, fühlte ich mich in diesem Augenblick, in dem wir so eng umschlungen in unserem Versteck standen, wohl und geborgen. Unter anderen Umständen hätte ich ihn jetzt geküsst. Vielleicht.

Ein schwacher, metallischer Geruch holte mich in die Realität zurück: Blut. Plötzlich schoss mir wieder das Bild des Mannes im weißen Kittel in den Kopf, was das Gefühl der Vertrautheit mit einem Schlag zerstörte. War diese Erinnerung der Grund dafür, warum Jack nicht in ein Krankenhaus wollte? Mir war mittlerweile klar, dass er sich vor dem Gesetz versteckte, nur warum? Weil er ein Mutant war? Mutanten, denen man es ansah, dass sie welche waren, mussten ja nur jemanden zu lange anblicken, schon wollte man ihnen etwas anhängen oder sie für etwas bestrafen, das sie nicht getan hatten. Es war nicht leicht auf dieser Welt, wenn man »anders« war.

Meine Gabe – warum hatte ich sie nicht bei den Jungs eingesetzt? Ich hätte ihnen in ihrem drogenvernebelten Verstand die schlimmsten Dinge zeigen können und sie hätten vielleicht nicht einmal bemerkt, was ich war … aber wahrscheinlich hätte es nicht geklappt. Ich hatte meine Fähigkeiten schon ewig nicht mehr benutzt. Nun verdammte ich mich dafür.

Gerade wurde mir klar, dass Jack jetzt, außer Sam, auch über meine telepathischen Kräfte Bescheid wusste. Allerdings hatte ich mein Geheimnis nicht leichtfertig preisgegeben. Es war nicht meine Absicht gewesen, ihn mittels Gedankenkraft zu warnen. Es war völlig unbewusst passiert. Ich hatte es zuvor noch niemandem verraten, nicht einmal meinem letzten Freund, mit dem ich immerhin fast ein Jahr zusammen gewesen war.

Aber Jack verbarg wirklich schlimme Dinge, was an den dunklen Flecken in seiner hellblauen Aura zu erkennen war. Ich musste wissen, ob er ein Verbrecher war, bevor meine Gefühle für ihn noch stärker wurden und es dann vielleicht kein Zurück mehr für mich gab. Nur wenn ich die Wahrheit wusste, konnte ich ihm vertrauen.

Jack und ich blieben noch eine Weile dort, wo wir waren. Wahrscheinlich wollte er sichergehen, dass kein Wagen mehr vorbeikam. Oder er war einfach nur erschöpft. Hoffentlich würde er in seiner Aufregung nicht bemerken, wie ich meine Hand langsam an seiner Hüfte hinauf unter sein Shirt schob. Als ich seine warme, feuchte Haut berührte, schloss ich die Lider, konzentrierte mich und versuchte in dem Wirrwarr seiner Erinnerungen eine herauszupicken. Ich sah wieder durch Jacks Augen an seinem/meinem Körper hinunter. Ich habe nur schwarze Shorts an und liege auf einem Bett, kann bloß den Kopf bewegen. Meine Hände und Füße sind mit Gurten an das Bettgestell gefesselt. Obwohl es kühl ist, schwitze ich. Mein Herz rast, vor Angst bekomme ich kaum Luft.

Lag Jack in einem Krankenzimmer?

Mein linker Arm fühlt sich kalt und taub an, weil dort ein Infusionsschlauch hineinführt, in dem eine bläuliche Flüssigkeit schimmert. In meinem rechten Arm steckt ebenfalls ein Schlauch, nur dass dort mein Blut in einen Beutel hineinläuft.

An der Seite des Bettes steht ein Mann mit kurzen, unnatürlich schwarzen Haaren. Neben ihm befindet sich eine grauhaarige Frau. Beide tragen weiße Kittel.

Waren das Ärzte?

Der Mann hält ein Skalpell in der Hand. Es ist Blut darauf.

Seine Stimme hallte durch meinen Kopf und jagte mir kalte Schauer über den Rücken.

»Wo soll ich ihn diesmal schneiden, Schwester May?«, fragte er und sein sadistisches Grinsen brannte sich tief in mein Gehirn.

Himmel, was hatte er Jack angetan?

»Mach ich dir Angst, Kate? Du zitterst ja.« Jacks wohlklingende Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück. Schnell zog ich meine Hand unter seinem Shirt hervor.

»Nein, mir ist nur kalt«, schwindelte ich.

»Ich weiß, was du bist, Kate. Du brauchst es vor mir nicht zu verbergen.« Er hielt mich immer noch fest in seinen starken Armen, das Gesicht in meinen Haaren verborgen.

Ich übertrug ihm meine Gedanken, so wie ich es schon kurz zuvor getan hatte, denn er würde sie nur »hören«, wenn ich sie ihm schickte. Und wer bist du? Was hast du getan? Vor wem versteckst du dich?

Jack streichelte über meinen Rücken. »So viele Fragen … Lass uns erst zu dir gehen, ich muss mich ausruhen.«

Ich hatte ja fast vergessen, dass er verletzt war! Seine Atmung hatte sich weitgehend normalisiert, doch sein Körper strahlte weiterhin in unsichtbaren Wellen Schmerz und Furcht aus, auch wenn Jack versuchte, seine Emotionen vor mir zu verbergen. Er trat einen Schritt zurück, um sich umzusehen, und nahm meine Hand. »Ich werde dir alles erzählen, wenn du möchtest.«

Natürlich wollte ich das! Also führte ich ihn die letzten Meter bis zu einem fünfstöckigen Gebäude. Mir gehörte das Apartment ganz oben, in dem ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr zusammen mit meinen Eltern gewohnt hatte. Das Haus war alt, im Vergleich zu den umliegenden Gebäuden dennoch gut in Schuss. Erdbebensicher gebaut war es auch. Ein wenig abgeblätterte Farbe, Graffiti auf der Wand … das Übliche.

Der Aufzug brachte uns rauf.

Nachdem ich mit Daumen-Scan die Wohnungstür geöffnet hatte, führte ich Jack in das zweite Zimmer von links. Mein Schlafzimmer. Es war in einem warmen Gelbton gestrichen. In der Mitte stand ein großes Bett, bezogen mit bordeauxfarbener Wäsche. Rechts davon gab ein großes Fenster die Sicht über die Dächer von Greytown bis aufs Meer frei, denn es gab nicht viele Häuser, die höher waren als dieses. Eigentlich recht ungewöhnlich, auch für eine Kleinstadt, doch die Zukunft hatte Greytown vergessen. Im näheren Umland gab es kaum etwas, das die Stadt wirtschaftlich interessant gemacht hätte, wie zum Beispiel Felder voller Raps und Mais oder Sonnenkollektoren. Auf den vertrockneten Flächen befanden sich lediglich die Überreste einer Erdölraffinerie.

Einzig der Warenumschlagplatz am Hafen und die riesigen Becken sowie die Netzkäfige zur Fischzucht bewahrten Greytown vor dem Aus. Die Weltmeere waren längst leer gefischt und die Nachfrage nach natürlichen Lebensmitteln war groß, auch wenn sich nur die Oberschicht diesen Luxus regelmäßig leisten konnte.

Wäre Onkel Sam nicht hier, hätte ich diese öde Stadt schon vor Jahren verlassen. Ich verstand nicht, was meinen Onkel in dieser trostlosen Gegend hielt. Andererseits hätte ich Jack dann niemals kennengelernt.

»Hier kannst du dich hinlegen, ich hole schnell Verbandszeug.« Ich lief zurück in den Flur, streifte unterwegs meine Sneaker von den Füßen und bog nach rechts ins Badezimmer ab. Nachdem ich meine blutverschmierten Hände gewaschen hatte, kramte ich Desinfektions-Spray, sterile Kompressen und zwei Verbände aus einer Schublade hervor. Mit all den Sachen eilte ich zurück ins Schlafzimmer.

Es sah so aus, als hätte Jack sich rücklings ins Bett fallen lassen. Er schien zu schlafen. Das hoffte ich zumindest, denn sollte er das Bewusstsein verloren haben … Nein, hatte er nicht, das erkannte ich an seiner Aura. Jack war anders, sein Körper war anders. Es ging ihm offensichtlich gut.

Aufatmend deponierte ich die Sachen neben ihm auf dem Bett und schob vorsichtig sein Hemd nach oben. Das Blut darauf war bereits geronnen. Die ausgefranste Stichwunde an seinem Bauch hatte sich schon fast geschlossen, was unmöglich sein konnte. Ich war zwar kein Arzt, doch ich kannte mich in medizinischen Belangen gut aus. Jack hätte operiert werden müssen. Doch nun würde ich den Krankenwagen nicht mehr rufen müssen. Er war wirklich ein außerordentlicher Mut … Mann.

Ich nahm trotzdem das Desinfektionsmittel, um es auf die dünne Kruste zu sprühen. Jack hatte immer noch die Augen geschlossen. So würde er wenigstens nicht bemerken, wie intensiv ich seinen Körper anstarrte.

Wie flach sein Bauch war. Ich erkannte beinahe jeden Muskel. Unterhalb seines Nabels führte eine Linie aus schwarzen Härchen unter den Bund seiner Hose. Ich wollte nicht dran denken, wie er unter der Jeans aussah, denn mein Herz klopfte bereits wild genug.

»Schläfst du?«, flüsterte ich.

»Noch nicht, aber gleich.« Lächelnd öffnete er seine schönen grauen Augen. Dieser Blick ließ mein Herz schon wieder schmelzen, doch diesmal würde ich mich nicht so daneben benehmen wie in Sams Keller. Für meine Schüchternheit hatte ich ohnehin keine Energie mehr.

»Kannst du dich noch einmal aufsetzen?«, fragte ich ihn. »Wegen des Verbandes.«

»Ich glaube, der ist überflüssig.«

Er schien recht zu haben. Bei Jack wunderte mich fast nichts mehr.

»Lass mich wenigstens dein Hemd ausziehen. Es ist voller Blut.« In dem Punkt widersprach er mir nicht. Er setzte sich auf und ich half ihm beim Ausziehen – unnötigerweise, denn er schaffte es prima allein. Dabei fiel mir eine große Narbe unter seinem Rippenbogen auf sowie unzählige kleinere. Mein Gott, war er in ein Schaufenster gefallen?

»Die Hose sieht auch nicht besser aus«, fügte ich hinzu und diesmal musste ich grinsen. Diese groteske Situation hatte meine Schüchternheit tatsächlich dezimiert.

»Du willst wohl gleich zur Sache gehen?« Jack zwinkerte, worauf ich dann doch rot anlief. So ganz abstellen ließ sie sich also nicht, diese verflixte Schüchternheit.

Als er seinen Gürtel öffnete, schnappte ich mir das Verbandszeug, sagte: »Bin gleich wieder da«, und brachte die Sachen ins Badezimmer zurück. Mir war diese Situation irgendwie peinlich.

Wow, jetzt hatte ich einen halbnackten Mann in meinem Bett liegen. Fast so, wie ich es mir wochenlang erträumt hatte.

Beim Blick in den Spiegel erschrak ich furchtbar: Mein Hals war an den Stellen voller Blutergüsse und Kratzer, wo mich die irren Teens gewürgt und geschnitten hatten. Jetzt erst bemerkte ich erneut, wie weh meine Kehle tat. Bei jedem Schluck brannte sie. Mit Schrecken dachte ich an die Szene im Innenhof. Ohne Jack wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Schnell schüttelte ich diesen furchtbaren Gedanken ab und war froh, dass die Sache für mich nun eher distanziert wirkte, als wäre sie nie wirklich geschehen.

Als ich zurückging, lagen Jacks Turnschuhe, seine Jeans und das blutige Shirt auf dem Boden und er selbst im Bett, nur mit einer eng anliegenden schwarzen Shorts bekleidet. Einige Sekunden starrte ich auf seinen umwerfend gut gebauten, aber von Narben übersäten Körper. Wie sehr sehnte ich mich danach, einem Mann mal wieder ganz nah zu sein! Wäre er nicht verletzt gewesen, wäre ich vielleicht über ihn hergefallen, um ihn nach Strich und Faden zu vernaschen. Aber »so eine« war ich nicht. Dafür war ich viel zu schüchtern, was sicher daran lag, dass ich mein Leben lang nicht auffallen wollte, nie die Kate rausgelassen habe, die ich tief in meinem Herzen war. Sich immer bedeckt halten, nichts riskieren – das war meine Devise.

Plötzlich befiel auch mich die Müdigkeit. Kein Wunder, denn draußen begann langsam ein neuer Tag. Dort, wo am Horizont die Sonne aus dem Meer stieg, ließ sie das Wasser gelborange funkeln – was ich heute jedoch kaum wahrnahm. Fischer schipperten mit ihren kleinen Booten zu den schwimmenden Netzkäfigen, um die Nachtschicht abzulösen, und die ersten Möwen machten sich auf die Suche nach einem Frühstück.

Jack schien zu schlafen, weshalb ich mir einige Blicke auf seinen athletischen Körper gönnte. Sekunden später beschloss ich, sein blutverschmiertes Hemd wegzuwerfen. Es war sowieso nicht mehr zu retten. In der Küche flog es in den Müllschacht, wo es sofort atomisiert wurde. Seine Hose wollte ich gleich reinigen, bevor das Blut festgetrocknet war. Also zog ich den Gürtel raus, holte drei zerknitterte Geldscheine und ein paar Münzen aus den Taschen, und warf die Jeans in den Clean-O-Matic. Das Gerät hatte ich mir vor Kurzem geleistet, da es für die uralte Waschmaschine meiner Eltern keine Ersatzteile mehr gegeben hatte. Außerdem brauchte ein Cleaner kein Wasser. Er funktionierte wie eine Art Schleuder, die alle unerwünschten Partikel wie Schmutz und Schweiß einfach von der Wäsche trennte.

Auch an meinen Sachen klebte Jacks Blut. Das erinnerte mich daran, wie wir uns eng umschlungen in der dunklen Nische des Hauseinganges versteckt hatten. Sofort schlug mein Herz wieder schneller. Dort war ich ihm so nah gewesen wie nie zuvor. Noch jetzt spürte ich die Wärme seines Körpers auf meiner Haut.

Erst beim Ausziehen fiel mir mein offener Gürtel auf und schon schoss mir erneut die Begegnung mit den Halbstarken durch den Kopf. Was, wenn Jack nicht aufgetaucht wäre?

Ein plötzlicher Schwindel befiel mich. Das wollte ich mir gar nicht ausmalen, doch diese Frage würde wohl noch länger in den Windungen meines Gehirns rumoren. Außerdem nagten Gewissensbisse an mir, schließlich war ich ja irgendwie Schuld an seinem jetzigen Zustand.

Während der Cleaner fast geräuschlos seine Arbeit tat, tapste ich auf nackten Sohlen ins Bad, um mich so lange zu duschen, bis der Mief der Kneipe nicht mehr an mir klebte. Mein Gesicht und meine Brüste seifte ich besonders intensiv ein und schrubbte sie, bis ich vor Erschöpfung keine Kraft mehr hatte, doch ich wollte die Erinnerung an die ekligen Berührungen für immer loswerden. Meine Kleidung warf ich im Badezimmer in den Müllschacht. Sie würde mich nur an das heutige Grauen erinnern.

Als ich in ein frisches Hemd schlüpfte, klopfte Jack an die offene Badezimmertür. Ich erschrak, denn ich hatte ja gedacht, er würde schlafen. Warum musste er sich immer so anschleichen? Wie lange stand er schon da? Ob er mich beobachtet hatte?

Der Anblick seines blutverschmierten Bauches erinnerte mich an einen billigen Horrorfilm, den ich vor Kurzem im Kino gesehen hatte. Ein psychopathischer Killer hatte seine Familie abgeschlachtet. Aber der sanfte Blick aus Jacks magischen Augen beruhigte mein rasendes Herz. Nein, dieser Mann konnte nur zu den Guten gehören.

»Ich muss mal«, sagte er und grinste schief. Lässig lehnte er mit einer Schulter am Türrahmen und versuchte diskret an mir vorbeizusehen. Ich kam mir ganz nackt vor, nur in meiner Unterwäsche. Er musste sich jedoch genauso unwohl fühlen, schließlich trug er noch weniger am Leib.

Intensiv starrte ich auf seinen Bauch, was er sofort bemerkte. »Ich weiß, ich sehe nicht sehr appetitlich aus. Darf ich auch mal die Dusche benutzen?«

»Äh, klar. Fühl dich wie zu Hause«, stotterte ich und schaute auf meine Füße.

»Ich habe kein Zuhause mehr«, antwortete er leise und schlug die Augen nieder. »Ich bin seit Monaten auf der Flucht.«

Flucht … Dieses Wort hallte durch meinen Kopf. Worauf ließ ich mich hier ein?

Eine Minute lang standen wir nur so da und blickten verlegen auf den Boden, bis Jack die Stille unterbrach. »Dein Hals sieht echt übel aus.«

»Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich jetzt vielleicht keinen Hals mehr.« Ich grinste ihn kurz an und endlich löste sich meine Erstarrung. Sofort wurde ich ernst, nahm ein frisches Handtuch vom Regal und drückte es ihm beim Verlassen des Badezimmers in die Hand. »Wenn ich dir vertrauen soll, musst du mir alles erzählen, Jack!«

Er nickte. »Chris. Mein richtiger Name ist Christopher Hayes.«

Dann schloss er die Tür.

Wie ein eingesperrtes Tier lief ich die nächsten Minuten in der Wohnung auf und ab, wobei ich nicht wusste, was ich von diesem Mann halten sollte. So viele Gedanken bombardierten mich. Ich musste wirklich verrückt sein, einen fast Fremden zu mir nach Hause zu nehmen, mit dem offensichtlich irgendwas nicht stimmte. Ich versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, indem ich mir vor Augen führte, was ich über ihn wusste: Er war ein Mutant mit außergewöhnlichen Reflexen und übernatürlicher Stärke. Er hatte Schreckliches erlebt oder vielleicht schlimme Dinge getan und war definitiv auf der Flucht. In seiner Nähe fühlte ich Schmerz, Angst und Wut. All diese Eigenschaften machten ihn eher unheimlich als sympathisch

Auf der anderen Seite hatte er mich zweimal vor den Jugendlichen gerettet. Wäre er nicht genau zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht, wäre ich wohl schon tot. Meinetwegen war er verletzt, wobei ich durch den Vorfall auch noch die Cops auf ihn aufmerksam gemacht hatte.

Außerdem war er gut aussehend, humorvoll, hilfsbereit und, wenn er nicht gerade in einen Konflikt verwickelt war, äußerst charismatisch.

Wie ich schon vermutet hatte, war sein Name nicht Jack. Ich fühlte deutlich, dass er mir nichts Böses antun wollte, da konnte ich mich voll und ganz auf mein Gespür verlassen.

Hoffentlich.

Was war, wenn Jack meine Gedanken manipulierte?

Himmel, hatte ich jetzt etwa schon Vorbehalte gegenüber Mutanten?

Wie ich so gedankenverloren durch die Wohnung wanderte, lief ich ihm im Flur direkt in die Arme. Erschrocken blickte ich zu ihm auf, geradewegs in seine magischen Augen. Wieder einmal setzte mein Herz einen Schlag aus. Mein armes Herz – wie lange würde es diese Torturen noch mitmachen?

»Hi«, flüsterte er.

»Hi«, hauchte ich.

Seine Haut roch nach meinem Duschgel. Sie war warm und leicht feucht. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, um dem Bann seiner Ausstrahlung zu entkommen, was leider nur dazu führte, dass ich diesmal seinen attraktiven Körper ganz vor Augen hatte. Um seine Hüften hatte er ein Handtuch gewickelt. Seine Wunde am Bauch war verkrustet.

Jack kam auf mich zu, hielt mich an den Schultern fest und sah mich intensiv an. »Eine Frau mit deinen Fähigkeiten hat es nicht nötig, nervös zu sein.«

»Wie meinst du das?« Mein Puls flatterte und ich versteifte mich.

»Als du mich vorhin, während wir uns im Hauseingang versteckt hielten, berührt hast … Also deiner Reaktion nach zu urteilen vermute ich, dass du außer Gedankenübertragung noch andere Fähigkeiten hast.«

Er hatte es also bemerkt. Ich schluckte. »Entschuldigung, ich wollte nicht schnüffeln, aber ich musste erfahren, woran ich bei dir bin und warum du dich vor den Cops versteckst.« Mein Herz raste.

»Du hast Erinnerungen gesehen, stimmt’s?«

Ich nickte.

»Und … was hast du gesehen?« Jack schien die Ruhe selbst zu sein, doch in seinem Inneren focht er wie stets einen Kampf. Er hielt mich immer noch fest. Seine Berührung gab mir seltsamerweise Sicherheit, vielleicht weil ich wusste, er würde mir nie schaden. Er war mein Retter.

Ich fasste kurz für ihn zusammen, was ich über ihn zu wissen glaubte. Aber die Sache mit dem Mörder sparte ich aus.

»Dann hast du nicht gezittert, weil dir kalt war, oder?«

Plötzlich fühlte ich seine tiefe Traurigkeit. Was war diesem Mann nur Furchtbares zugestoßen? »Nein, deine Erinnerungen haben mir Angst gemacht. Ich konnte sehen und fühlen, was du erlebt hast. Und ich muss gestehen, dass du mir jetzt auch ein wenig Furcht einjagst.«

»Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, Kate. Ich könnte dir nie ein Leid zufügen.«

»Ich weiß.« Ich fühlte die Wahrheit, tief in meinem Innern. »Was ist mit dir passiert?« Ich wollte es unbedingt erfahren. Vielleicht konnte er mit meiner Hilfe diesen unsagbar großen Schmerz überwinden.

Seine Hände rutschten an meinen nackten Armen nach unten, worauf ein wohliger Schauer über meinen Körper lief. Er nahm mich an der Hand und führte mich ins Schlafzimmer, das im orangeroten Licht der aufgehenden Sonne erstrahlte.

Was hatte er vor? Mein Herz hämmerte wild gegen meine Brust. Sicher wäre ich unter anderen Umständen jetzt in Panik ausgebrochen, schließlich war hier ein fast fremder Mann in meiner Wohnung, der mir körperlich überlegen war und unheimlich noch dazu. Immerhin war ich beinahe vergewaltigt und getötet worden!

Aber mit Jack fühlte ich mich so eng verbunden, dass ich ihm blind vertraute. Es war, als wären wir seelenverwandt.

Ich ließ mich von ihm zum Bett ziehen und schloss im Vorbeigehen am Fenster den Vorhang bis zur Hälfte. Nun lag der Raum in einem schummrigen Zwielicht.

Jacks Stimme klang müde, als er sich auf die Bettkante setzte. »Ich werde dir alles zeigen, doch ich muss mich ausruhen, damit meine inneren Verletzungen schneller heilen können.«

Er konnte sich also heilen! Das erklärte einiges.

Jack legte sich auf den Rücken. Dabei zog er meine Hand, die er immer noch festhielt, auf seine Brust, genau auf die Stelle, wo er diese merkwürdige lange Narbe hatte. Ich kuschelte mich an seine Seite, meinen Kopf auf seinen Arm, so als hätte ich das schon tausend Mal zuvor getan, und schloss die Augen. Ich spürte seine Erschöpfung und seine Schmerzen – die körperlichen und die seelischen. Er empfand etwas für mich. Da war ein starkes Gefühl in ihm, das ich in meinem Kopf als strahlendes Rosa wahrnahm, umgeben von einer leuchtend gelben Korona. Das zauberte ein Lächeln auf meine Lippen.

»Ich nehme an, du hast deine Kräfte lange nicht benutzt?«, flüsterte er mir mit leicht rauer Stimme ins Ohr. Sein warmer Atem jagte mir wohlige Schauer über den Körper.

»Ich habe sie nie richtig angewendet. Du bist der Erste, bei dem ich sie bewusst eingesetzt habe.«

Jack seufzte. »Ist es nicht traurig, dass wir uns verstellen müssen?«

Ja, das war es.

»Dann bist du also aus der Übung?«, fragte er.

Ich wusste, ohne die Augen zu öffnen, dass er lächelte.

»Bevor ich dir jetzt alles zeigen werde, musst du eines wissen, Kate: Ich bin sehr glücklich, dich gefunden zu haben. Was immer du gleich siehst und du dann von mir denkst … du … ich … habe mich von dem Tag an zu dir hingezogen gefühlt, als ich dich das erste Mal in der Kneipe gesehen habe. Du bist der Grund, warum ich noch am Leben bin.«

Was sagte er da?

Ich riss die Lider auf. Die Welt drehte sich vor meinen Augen. Hatte ich mich vielleicht verhört? Er fühlte sich zu mir hingezogen?

Ich wollte ihn gerade fragen, ob er die letzten Sätze wiederholen könnte, als er sich plötzlich über mich beugte. Seine warmen, weichen Lippen streichelten meinen Mund. Ich ließ es zu und erwiderte den schüchternen Kuss. Nie hatte mich jemand zärtlicher und liebevoller geküsst. In meinem Kopf strahlte das rosa Licht mit dem gelben Kranz unendliche Male heller, während kleine weiße Flammen darin einen wilden Tanz vollführten und in meinem Bewusstsein hin und her wirbelten. Auf meinem Körper breitete sich eine Gänsehaut aus, meine Brustwarzen zogen sich zusammen und ein sanftes Pochen machte sich zwischen meinen Beinen breit. Was für ein wunderbares Gefühl! Jack … Chris … und ich hatten eine besondere Verbindung, die Farben in meinem Kopf waren bei keinem anderen Mann so strahlend gewesen. Jeder Zweifel war wie weggeblasen.

Ich drängte mich Jack entgegen, um ihn leidenschaftlicher zu küssen. Leise stöhnte er in meinen Mund. Mein Blut rauschte wie ein Schnellzug durch meine Adern, während ich seinen nackten Arm streichelte. Meine Hand wanderte höher, in sein leicht feuchtes Haar. Es war dick und dennoch weich wie Seide.

Hmm, Jack roch so gut! Nach Mann und seinem Duft, der mir die Sinne vernebelte.

Als sich unsere Lippen lösten, musste ich unweigerlich seufzen.

»Wow«, sagten wir beide wie aus der Pistole geschossen und lachten. Es war wie eine Befreiung.

Ich brauchte einen Moment, bevor ich klar denken konnte. »Mir ging es bei dir genauso. Wochenlang habe ich gehofft, dass du eines Tages wieder durch Sams Kneipentür kommen würdest – und voilà, plötzlich warst du da.«

»Dann werde ich dir nun zeigen, was in diesen acht Wochen, in denen ich nicht in der Stadt war, geschehen ist. Du bist der erste Mensch, dem ich etwas davon erzähle. Das Komische ist, obwohl ich dich kaum kenne, würde ich dir sofort mein ganzes Leben anvertrauen. Das ist mir bis jetzt noch bei keinem passiert.«

»Nun ja, ich bin ja auch kein richtiger Mensch, das verbindet uns.« Meine Worte waren als Scherz gedacht, aber Jack schaute mich ernst an.

»Doch das bist du, Kate. Du bist menschlicher als die Leute, die mein Leben in einen Albtraum verwandelt haben.«

Wollte ich wirklich wissen, was ihm passiert war? Ich schluckte. Leider war ich von Natur aus neugierig.

»Ich bin schon seit Monaten auf der Flucht vor einem Pharmakonzern. Als sie erfahren hatten, welche außergewöhnlichen Selbstheilungskräfte ich besaß, wollten sie mich für Tests bezahlen, um ein neues Medikament zu entwickeln, das die Genesungsdauer aller Krankheiten und Verletzungen um ein Vielfaches beschleunigen kann. Ich willigte ein und unterschrieb ihren Vertrag, denn warum sollten nicht auch andere Menschen von meinen Fähigkeiten profitieren, dachte ich mir damals. Doch später erfuhr ich von einem Freund, der ein hervorragender Gedankenleser war und mich einmal in das Institut begleitete, was diese Leute wirklich von mir wollten: nämlich ein biologisches Massenvernichtungsmittel entwickeln. Dabei sollte das mutierte Protein, das nur ich besitze, so speziell verändert und in ein Virus geschleust werden, dass es die Menschen in kürzester Zeit altern lässt und sie daran sterben.«

»Das ist ja furchtbar!« Ich glaubte kaum, was ich hörte.

»Ich wollte aus dem Vertrag unter einem Vorwand aussteigen. Natürlich ließen sie mich nicht. Ich versuchte, etwas über das Unternehmen herauszufinden, doch nirgends fand ich Informationen über Loyal-Pharmaceutical, wie sie sich nannten. Da wurde mir bewusst, dass hier etwas faul war. So beschloss ich unterzutauchen, denn ich wollte nicht für den Tod tausender unschuldiger Menschen verantwortlich sein. Mit so einer Last auf meinen Schultern hätte ich nicht weiterleben können.«

Das verstand ich. An seiner Stelle hätte ich genauso gehandelt.

»Fast ein Jahr lang suchte ich nach einem Ort, an dem sie mich niemals vermuten und finden würden. Greytown schien mir dazu die perfekte Stadt: absolut unscheinbar und jeder kümmert sich nur um seine Angelegenheiten. Hier würde ich nicht auffallen, unter all den Verrückten und Einzelgängern, dachte ich. Und als ich dich das erste Mal in der Kneipe sah, war ich mir sicher, hier mein neues Leben als Jack Sheridan zu beginnen.«

Aufmerksam spitzte ich die Ohren.

»Leider machte ich einen großen Fehler. Ich ging noch einmal zurück nach Winola, meiner Heimatstadt.«

»Warum?« Winola … Ich erinnerte mich vage, dass es eine Stadt am anderen Ende des Staates war. Jack war wirklich weit gereist.

»Ich musste meinem besten Freund sagen, dass ich für immer verschwinden würde. Er war nach meinen Eltern die wichtigste Person in meinem Leben, schon seit Kindertagen mein allerbester Kumpel. Ich wollte nicht einfach gehen und ihn im Unklaren lassen. Aber die Leute vom Pharma-Konzern hatten schon auf mich gewartet. Kurz nachdem ich ein letztes Mal meine alte Wohnung betreten hatte, zündete eine Betäubungsgranate. Als ich aufwachte, dachte ich, ich wäre in der Hölle gelandet …«

Jack machte eine kurze Pause und atmete tief durch. »Nun musst du deine Fähigkeiten einsetzen, Kate, denn ich bin nicht in der Lage über das, was mir dort widerfahren ist, zu sprechen. Zumindest jetzt nicht. Deswegen werde ich es dir zeigen, indem ich meine Gedanken ordne und du sehen kannst, was ich erlebt habe. Denn ich muss es jemandem zeigen. Falls sie mich eines Tages finden, werden sie mich töten. Aber die Welt muss erfahren, was sich hinter geschlossenen Türen abspielt. Wir dürfen uns so etwas nicht bieten lassen, dazu hat keiner das Recht.«

»Wir?« Ich verstand ihn nicht ganz, wahrscheinlich weil ich viel zu aufgeregt war.

»Wir Mutanten. Wir, die anders sind als der Rest der Menschheit. Anders und ausgestoßen, nur wegen minimaler Abweichungen in unserer DNS.«

»Niemand wird dich töten«, flüsterte ich. Diesen wunderbaren Mann durfte ich niemals verlieren.

Jack seufzte, ohne darauf einzugehen. »Falls es zu schlimm für dich wird, versprich mir, abzubrechen.«

Ich war neugierig, hatte aber auch große Angst vor dem, was ich gleich sehen könnte, so als würde ich es fast selbst erleben. »Ich verspreche es dir.«

Zärtlich drückte er meine Hand, die er immer noch an seine Brust hielt. Ich versuchte mich zu entspannen, damit ich mich auf seine Gedanken konzentrieren konnte.

Ich bin froh, dich gefunden zu haben, dachte er.

Ich auch, Chris, schickte ich meine Gedanken an ihn zurück.

»Jack«, wisperte er. »Von nun an bin ich Jack Sheridan. Christopher Hayes gibt es nicht mehr …«

Ich sah wieder durch Jacks Augen und lag in demselben Zimmer, das ich zuvor schon gesehen hatte. Ich konnte mich nicht bewegen, da ich ans Bett gefesselt war. Mir war unsagbar kalt. Auf meiner Brust klebten Elektroden und hinter mir piepste ein Überwachungsgerät. Ein unangenehmer Geruch nach Desinfektionsmittel hing im Raum. Derselbe schwarzhaarige Mann im weißen Kittel, den ich, Kate, schon zuvor in einer Vision gesehen hatte, beugte sich über mein Gesicht und lächelte mich mit perfekten Zähnen falsch an. An seiner linken Brusttasche war ein Namensschild befestigt, auf dem in schwarzen Buchstaben DR. PATRICK HARCOURT geschrieben stand. Darunter befand sich in verschnörkelten Lettern, die wohl ein L und ein P darstellen sollten, ein Symbol.

Mir kam es irgendwie bekannt vor.

Als er sprach, drang eine widerliche Mischung aus Kaffee und Nikotin in meine Nase und ich erkannte jede der unzähligen Falten in seinem Gesicht. »Schön, dass Sie uns endlich wieder beehren, Mr. Hayes. Ihre lange Abwesenheit hat unsere Forschungen um Monate zurückgeworfen. Also wollen wir keine Zeit mit sinnlosem Geschwätz vergeuden. Fangen wir gleich an!«

Er drehte sich von mir weg, um den Knopf einer Sprechanlage zu drücken, die an der Wand neben der einzigen Tür in diesem kahlen Raum befestigt war. »Schwester May, Sie können jetzt kommen. Unser Patient ist aufgewacht.«

Zu mir gewandt fügte er boshaft lächelnd hinzu: »Oder sollte ich besser Forschungsobjekt sagen?«

Der Dämmerzustand, in dem ich mich / Jack sich befand, ließ langsam nach, weshalb ich mich daran erinnerte, was in meiner Wohnung geschehen war. »Wo bin ich?«, fragte ich. »Was haben Sie mit mir vor?«

»Das wissen Sie doch genau, Mr. Hayes, deswegen sind Sie ja vor uns weggelaufen!«

Der Doktor ging zur rechten Seite meines Bettes, wo ein kleiner Wagen stand. Als er das Tuch entfernte, das darübergelegt worden war, erkannte ich Skalpelle und andere chirurgische Instrumente.

Mein Herz raste, Schweiß trat aus jeder meiner Poren. Solche Situationen sah man sonst nur im Fernsehen, aber ich erkannte sehr schnell: Dies hier war die grausame Realität!

»Ach übrigens, Ihr Freund, der Gedankenleser, hat leider einen tödlichen Unfall erlitten, falls Sie das interessiert. Er wollte mit unserem kleinen Geheimnis an die Presse gehen und das konnten wir doch nicht zulassen, nicht wahr, Mr. Hayes?« Er grinste mir wieder einmal sadistisch ins Gesicht, wobei er sich langsam und mit sichtbarem Genuss Latex-Handschuhe überzog.

»Frank ist tot?« Mehr brachte ich nicht hervor. Hoffentlich war das alles nur ein böser Traum aus dem ich bald erwachen würde.

In diesem Moment öffnete sich die Zimmertür und ich erkannte die alte Frau mit den schulterlangen ergrauten Haaren, die ich schon zuvor in einer von Jacks Erinnerungen gesehen hatte.

»Ah, Schwester May! Sie können schon mal die Infusion legen.«

Langsam begriff ich, dass dies hier wirklich kein Traum war. Unsägliche Panik breitete sich in mir aus.

Ich spürte Jacks Körper zucken, seinen raschen Atem, als er dieses Grauen noch einmal durchlebte – und ich mit ihm.

Die Schwester, ebenfalls im weißen Kittel, holte einen Infusionsständer aus einer Ecke und einen Infusionsbeutel aus dem Wagen, auf dem auch die Instrumente lagen. In dem Beutel glitzerte eine leicht bläuliche Flüssigkeit. Nachdem sie ihn an dem Ständer befestigt hatte, zog sie sich auch Handschuhe über. Anschließend holte sie eine lange Nadel samt Schlauch unterhalb des Wagens hervor und kam zusammen mit dem Ständer an meine linke Seite.

»Schön ruhig halten, Mr. Hayes«, sagte sie, als sie die Nadel in meinen linken Arm stechen wollte.

Ich versuchte mich mit aller Kraft von den Gurten, mit denen ich ans Bett gefesselt war, loszureißen, doch sie gaben kein bisschen nach. Stattdessen schnürten sie sich enger um meine Handgelenke und Fußknöchel.

Das konnte nicht wahr sein! Ich müsste stark genug sein, mich von diesen Fesseln loszureißen! Meine Panik war nun schon so groß, dass ich vor Angst kaum Luft bekam. Das geschah doch nicht wirklich? Das musste ein Traum sein! Musste! Musste!

»Es macht keinen Sinn sich zu wehren, Mr. Hayes, schonen Sie lieber Ihre Kräfte, Sie werden sie noch brauchen. Jeder dieser Gurte hält einer Zuglast von mindestens zwei Tonnen stand und das übersteigt selbst Ihre außerordentlichen Fähigkeiten, nehme ich an.« Ihre Kiefer mahlten, als sie die Nadel in meinen Arm stach und sie anschließend mit zwei Streifen eines weißen Klebebandes fixierte. Dieselbe Prozedur wiederholte sie an meinem anderen Arm, aber mit einem leeren Beutel.

Dann sprach der Arzt wieder: »Wir werden nun verschiedene … Tests … an Ihnen durchführen, um genügend dieser speziellen Proteine zu erhalten, die nur Ihr Körper bilden kann. Leider ist es uns noch nicht gelungen, dieses Protein auf synthetischem Wege herzustellen, was zur Folge hat, dass wir mehrere Liter Ihres Blutes benötigen. Deswegen wird Schwester May für ständigen Flüssigkeitsnachschub sorgen. So haben Sie in Ihrem Körper genügend Eiweiß zur Verfügung, um unser wertvolles Protein in ausreichend großer Menge bilden zu können, bis wir es aus Ihrem Blut gefiltert haben, ähnlich einer Dialyse. Dann können wir es Ihnen wieder zuführen. Wir wollen schließlich nur den besten Stoff.« Der Doktor grinste. »Bei Bedarf wird Schwester May Ihnen auch etwas zur Beruhigung geben, denn ich will Ihnen nichts vormachen, Mr. Hayes: Um die Proteinbiosynthese so richtig anzukurbeln, müssen wir Ihnen ständig Verletzungen zufügen, während Sie bei vollem Bewusstsein sind; was wir natürlich zutiefst bedauern. Aber eine andere Möglichkeit gibt es momentan nicht. Forschung duldet keinen Aufschub!« Erneut grinste er mir teuflisch ins Gesicht.

Starker Zorn verdrängte meine Angst. Meine Schläfen pochten. Wenn ich hier nur irgendwie loskäme, würde ich diesem »Arzt« sofort die Kehle herausreißen.

»Das können Sie nicht machen!«, rief ich. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen. »Sie meinen wohl, nur weil ich ein Mutant bin, können Sie mit mir anstellen, was Sie wollen? Ich werde Sie verklagen!«

Dr. Harcourts lachte laut auf. »Äußerst unklug, das zu erwähnen, Mr. Hayes, aber ich bin mir sicher, dass es nicht so weit kommen wird. Sie werden dieses Gebäude nicht mehr verlassen.« Zu seiner Assistentin gewandt sagte er: »Jetzt müssen wir aber endlich beginnen.«

Jacks Atem ging immer heftiger. Kalte Schweißtropfen bildeten sich auf seinem Körper, als er mir diese furchtbaren Erinnerungen schickte.

»Wie stark bist du eigentlich?«, fragte ich leise.

»Vermutlich dreimal so stark wie ein gewöhnlicher Mensch.«

»Wow«, hauchte ich.

In schnellen, abgehakten Bildern zeigte er mir, wie der Doktor ihn mit verschiedenen Instrumenten quälte, die er immer wieder in seinen Körper bohrte, ihn mit elektrischen Schocks traktierte und etwas, das aussah, wie ein Lötkolben. Ich konnte nicht glauben, zu welchen Grausamkeiten dieser Arzt fähig war. Er war ein kaltblütiger, gewissenloser Sadist!

Jack stöhnte und zuckte neben mir, als ob er das alles erneut durchlebte. Es war furchtbar! Die vielen Narben auf seinem Körper … was hatte er nur für unvorstellbare Qualen aushalten müssen! Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Ich wollte sterben …, teilte er mir gedanklich mit.

»Jack, hör auf, bitte, es quält dich zu sehr.« Hoffentlich ließ er die Lider geschlossen, damit er meine Tränen nicht sah. Das würde es für ihn vielleicht nur schlimmer machen.

»Schaffst du eine weitere Erinnerung?«, fragte er stattdessen.

»Schaffst du es denn?« Ich hatte wirklich genug gesehen. Diese grausamen Bilder würden mich für den Rest meines Lebens verfolgen.

»Glaub mir, es macht nicht viel Unterschied, ob ich es dir zeige oder nicht, denn ich sehe diese Bilder, sobald ich die Augen schließe. Jede Nacht durchlebe ich in meinen Träumen das Grauen von Neuem. Vielleicht kann ich besser damit umgehen, wenn ich meinen Schmerz mit dir teile. Du hast mir schon einmal die Kraft gegeben, das alles zu überstehen.« Und nachdem ich seine Hand drückte, schickte er mir wieder seine Erinnerungen:

»So, Mr. Hayes, das können wir aber besser? Schließlich sind Sie ein Mutant mit außergewöhnlichen Fähigkeiten!« Dr. Harcourt zog einen merkwürdigen Stab unter dem Wagen hervor.

»Was haben Sie mit dem Laser vor, Doktor?«, fragte die Schwester. In ihrem Gesicht las ich zum ersten Mal so etwas wie Besorgnis.

»Ich werde ihm erst einen dünnen Strahl in jede seiner Nieren bohren. Das wird bei ihm wohl keinen allzu großen Schaden anrichten, aber es wird die Proteinbiosynthese so enorm ankurbeln, dass wir innerhalb kürzester Zeit genug Material haben, um damit ein ganzes Land auszulöschen!« Zufrieden blickte er auf mehrere Infusionsbeutel, die alle mit meinem Blut gefüllt waren.

»Seine Schmerzen werden natürlich enorm groß sein. Schwester, geben Sie ihm Epinephrin, falls er droht, ohnmächtig zu werden. Oder besser diese neue psychogene Droge, die wir entwickelt haben, dann können wir die gleich an ihm testen.«

Ich schrie und versuchte auszuweichen, als der Arzt den Laser an meine Seite presste. Aber ich hatte keine Chance. Die Fesseln gaben keinen Millimeter nach. Ein Hitzestrahl schoss in meine Eingeweide und es fühlte sich an, als würden sie explodieren. Der Schmerz war so unvorstellbar heftig, dass mir die Luft wegblieb. Schwarze Schleier vernebelten meine Sicht, ich schmeckte Blut, weil ich mir in die Zunge gebissen hatte.

Harcourt setzte erneut an, trieb die brennenden Strahlen in mich, lachte dabei und ergötzte sich an meinem Leid.

Die Welt verschwamm vor meinen Augen, ich wollte nur noch sterben. Mein Körper zuckte, jeder Muskel verkrampfte sich. Ich hörte meine Schreie wie aus weiter Ferne.

Schwester May jagte mir plötzlich eine Spritze in den Arm. Der Raum begann sich zu drehen und ich bekam eine Gänsehaut. Gerade hatte ich mich gefragt, wie lange ich diese furchtbaren Qualen noch aushalten könnte, doch nach dieser Injektion fühlte ich mich wunderbar – meine Schmerzen nahm ich nur noch am Rande wahr.

Währenddessen sprach der Arzt zu sich selbst. »Eine kurze Pause wird wohl nicht schaden, dann arbeite ich mich weiter vor zur Milz, der Lunge und schließlich zu seinem Herz.«

»Das bringt ihn um!«, rief Schwester May. Sie klang entsetzt.

»Halten Sie nur den Monitor im Auge, um den Rest kümmere ich mich.«

Zum Glück ersparte mir Jack diesmal die Details. Eine Weile lagen wir nur schweigend da. Wir weinten beide – ich spürte seine Tränen an meiner Stirn, als sie seine Wangen herunterliefen.

Plötzlich schickte er mir wieder etwas:

Erst war es völlig dunkel. Ich hörte nur einen durchgehenden Ton und Stimmen. Es waren der Arzt und die Schwester. Sie stritten sich, doch ich verstand nicht, worum es ging. Auf einmal sah ich von oben auf mich herab, wie ich dort gefesselt auf dem Bett lag. Aus mehreren Wunden an meinem Körper lief Blut. Aber es war mir egal. Ich empfand keinen Schmerz. Ich fühlte mich frei und schwerelos – einfach wunderbar! Der Arzt und die Schwester versuchten mich wiederzubeleben. Mein Körper zuckte ein paar Mal und als das Überwachungsgerät wieder das monotone PIEP PIEP ertönen ließ, wurde ich in meinen geschundenen Körper zurückgerissen.

»Ich war tot, Kate«, flüsterte Jack mir ins Ohr, »doch das rettete mir das Leben.«

Ich schluckte, wobei ich mich fester an seinen Körper kuschelte. Es war alles so furchtbar! Hätte ich nicht diese Fähigkeit besessen, um es selbst zu sehen, hätte ich es vielleicht nicht geglaubt. Jack war wirklich ein außergewöhnlicher Mann. Niemand anders hätte diese Tortur überlebt!

»Ich lag in einer Art Wachkoma. Ich bekam alles um mich herum mit, auch, dass sie meine Hirnströme überwachten. Es war grauenvoll. Obwohl ich selbstständig atmete und vieles bewusst miterlebte, war ich gefangen in mir selbst, nicht fähig, Kontrolle über meinen Körper zu nehmen. Ohne Protest musste ich zulassen, wie andere mich kontrollierten, meinen Körper von links nach rechts drehten, mich wuschen und mir einen Urinkatheter in die Harnröhre schoben.« Jack schüttelte sich. »Dann wieder stundenlanges, unbewegliches Stillliegen, bis alle Gelenke und Muskeln schmerzten. Das war die Hölle pur … Aber ich wusste – mein Unterbewusstsein hatte mich auf diese Weise ausgeknipst, damit ich mich erholen konnte.

Meine Fesseln hatten sie gelöst und so überlegte ich mir einen Fluchtplan, für den Fall, dass ich aus dieser Starre erwachte. Eine lange Zeit, die mir wie Monate vorkam, harrte ich aus, immer nur in Gedanken bei dir, stets dein wunderschönes Lächeln vor Augen. Ich hatte nur diese eine Chance, die ich nicht verschenken durfte!

Jeden Tag kehrte das Leben mehr in mich zurück und meine Wunden heilten. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, als ich endlich glaubte, mein Körper wäre stark genug, um eine Flucht zu riskieren. Da passierte es: Plötzlich konnte ich einen Finger bewegen. Ich wackelte mit den Zehen, spannte meine Muskeln an. Jetzt musste ich schnell machen, denn das EKG würde verraten, dass ich nicht mehr im Koma lag.«

Dann fing Jack wieder an, mir seine Erinnerungen zu zeigen. Das Sprechen strengte ihn zu sehr an:

In meinem Zimmer brannte kein Licht, doch durch das Fenster an der Tür drang genug Helligkeit vom Flur herein, um alles wahrzunehmen. Es musste Nacht sein, das Gebäude wirkte verlassen, alles war so still. Meine Augen brannten, weshalb ich große Mühe hatte, sie aufzuhalten. Jeder Winkel des Raumes wurde von mir inspiziert, ohne meinen Kopf zu bewegen. Jede Anstrengung würde meinen angeschlagenen Kreislauf puschen und damit den Puls rasend erhöhen, den Blutdruck genauso rasch abfallen lassen – das gäbe Alarm.

Mein Nacken schmerzte furchtbar – alle meine Glieder waren stocksteif. Ich musste mich erst mehrmals strecken, bevor ich es schaffte, mich aufzurichten. Schnell zog ich den Stecker des EKGs, damit kein Alarm losging. Wahrscheinlich war der Überwachungsmonitor im Schwesternzimmer jetzt blank. Sollte den jemand im Auge haben, hätte ich nicht mehr viel Zeit. Also riss ich mir die Elektroden von der Brust und entfernte den Katheter. Zu meinem Entsetzen war ich völlig nackt. Ich fühlte mich hilflos, ausgeliefert.

Mein Atem stockte, als ich Jacks Körper durch seine Augen sah. Sein flacher Bauch bewegte sich heftig und ich erkannte die zahlreichen Narben. Aber der Anblick seines Geschlechts trieb mir die Schamesröte ins Gesicht.

Jack neben mir räusperte sich, machte jedoch unbeirrt mit seiner »Übertragung« weiter.

Meine Arme und Beine kribbelten höllisch, während sich das Blut den Weg durch meine eingeschlafenen Glieder bahnte. Als die Schmerzen langsam nachließen, zog ich die Infusionsnadel aus dem Arm.

Erst als ich jeden Zentimeter meines Körpers wieder spürte, ging ich über die kalten Fliesen zur Tür und erkannte schnell, dass sie sich nur mit einem autorisierten Daumenscan öffnen ließ. Ich war also gefangen. Gefangen – aber am Leben. Was sollte ich tun?

Durch die Scheibe erkannte ich lediglich einen kleinen Teil des schwach beleuchteten Flures. Alles schien wie ausgestorben. Die Scheibe war sehr dick – Panzerglas wahrscheinlich. Es hätte in diesem Raum sowieso nichts gegeben, womit ich sie hätte einschlagen können. Hier stand nur das Bett …

Jacks Gedanken rissen immer wieder ab. Er war unendlich müde, doch er kämpfte dagegen an, weil er mir unbedingt alles erzählen wollte.

Jack, du kannst nicht mehr, ich merke doch, dass du total erschöpft bist.

Dir kann man nichts vormachen, dachte er. Aber ich muss dir jetzt alles zeigen, denn ab morgen möchte ich endgültig ein neues Leben beginnen und nie wieder davon sprechen, was mir diese Leute angetan haben. Ich will das alles schnell verdrängen, falls das überhaupt möglich ist.

»Das verstehe ich … Also, wie konntest du entkommen?«

Ich sah wieder durch seine Augen den Raum mit dem Fenster zum Flur und sein/mein Blick wanderte nach oben zur Decke. Ein Lüftungsschacht! Ich schob das Bett unter die Öffnung und entfernte so mühelos das Gitter. Das Loch war groß genug, um sich hindurchzuzwängen. Ich robbte blind durch die Dunkelheit. Schon kurze Zeit später hörte ich, wie Leute ins Zimmer stürmten. Immer schneller kroch ich durch die Finsternis, wobei sich die Haut an meinen nackten Ellenbogen und Knien abschürfte. Aber das war mir egal – ich wollte nur noch raus!

Plötzlich nahm ich einen Luftzug wahr und sah einige Meter vor mir einen schwachen Lichtschein. In der Hoffnung, ins Freie zu gelangen, zog ich mich schneller darauf zu. Der Lüftungsschacht war zu Ende, doch da war ein Gitter.

Ich klappte es auf, drehte mich auf den Rücken und rutschte so weit hinaus, bis ich kopfüber an den Knien in den Raum hing, denn in dem engen Schacht hatte ich mich nicht umdrehen können. Die letzten anderthalb Meter ließ ich mich fallen. Mit den Händen voran kam ich am Boden auf und rollte mich ab. Ein stechender Schmerz in meinem Handgelenk sagte mir, dass ich mir vielleicht eine Kapsel eingerissen hatte – aber das würde heilen. Wieder bemerkte ich, in welch schlechter Verfassung ich war, doch ich rappelte mich sofort auf und schaute mich um.

Der Raum, der nur durch eine Notbeleuchtung erhellt wurde, erinnerte mich an meine Schulzeit und den Chemie-Unterricht: Unzählige Glasgefäße, Mikroskope, Computer, Monitore und Schränke mit den verschiedensten Flüssigkeiten und Stoffen standen darin. Ich betete, dass das hier das Labor war, in dem sie mein Blut aufbewahrten.

Ich begab mich zur Tür – aber sie war verschlossen und ließ sich natürlich nur mit Daumenscan öffnen. Ich konnte nicht entkommen, also wollte ich wenigstens größtmöglichen Schaden anrichten, damit ich sie dadurch vielleicht hinderte, mit meiner Hilfe ein Massenvernichtungsmittel zu entwickeln. Erst die Blutkonserven finden, dachte ich mir. Nach kurzem Suchen fielen mir in einem Klimaschrank mehrere Flaschen mit einer gelbgrünlich-klaren Flüssigkeit ins Auge, mit der Aufschrift: HAYES-PLASMA-PROTEINE. Mit einem Stuhl gelang es mir die Scheibe einzuschlagen. Ich entnahm die Flaschen und warf sie in den Müllschacht; sie verpufften sofort. Danach suchte ich in den Schränken nach brennbaren Flüssigkeiten, die ich über die Tische, Stühle und den Boden des Labors ausgoss. Der ätzende Geruch des chemischen Potpourries stieg mir in die Nase und reizte meine Lungen. Zum Glück wurde auch hier noch mit Bunsenbrennern gearbeitet und es dauerte nicht lange, da hielt ich den entzündeten Brenner in der Hand und überlegte, wie ich weiter vorgehen könnte. Der Gasschlauch war zu kurz. Ich entschloss mich, die Stoffe mit der Flamme zu entzünden und schnellstmöglich durch den Schacht zu verschwinden, doch so weit kam es nicht.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Dr. Harcourt betrat den Raum. Er hatte eine Waffe auf mich gerichtet, wobei er sehr ungehalten klang. »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Mr. Hayes, sonst werde ich Sie erschießen!«

Mein Herz raste, erneut wollte Panik in mir aufkommen, aber ich musste ruhig bleiben und nachdenken, wenn ich irgendeine Chance haben wollte, hier lebend rauszukommen. Ich musste ständig an Kate denken, ich wollte sie unbedingt wiedersehen. Außerdem musste die Öffentlichkeit von diesem Geheimprojekt erfahren.

Entschlossen richtete ich mich zu meiner vollen Größe auf. Sogar meiner Nacktheit schämte ich mich nicht mehr. »Erschießen Sie mich doch, aber dann können Sie Ihre Pläne vergessen, denn ich habe mein Blutplasma atomisiert. Ich denke, lebend nütze ich Ihnen mehr!«

Mit einem kurzen Blick zur Seite vergewisserte er sich, ob ich die Wahrheit sprach, und als er erkannte, dass der Schrank leer war, verengten sich seine Augen. Harcourt kam einen weiteren Schritt auf mich zu, zielte mit der Waffe genau auf meinen Oberkörper.

Zorn klang in seiner Stimme mit. »In Kürze wird das Wachpersonal eintreffen. Sie haben keine Chance zu entkommen! Alle Türen in diesem Gebäude sind mit Scannern ausgestattet. Sie machen es uns wirklich nicht leicht, Mr. Hayes, aber wenn Sie unbedingt wollen, wiederholen wir unsere nette Prozedur noch einmal an Ihnen!«

»Das werden Sie nicht«, sagte ich leise. Lieber wollte ich sterben. Und so ließ ich den Bunsenbrenner einfach auf den Boden fallen. Es war mir egal, sollte ich verbrennen oder Harcourt mich erschießen, dann hatte endlich alles ein Ende.

In kürzester Zeit loderten um uns herum die Flammen auf; Hitze versengte die Härchen auf meiner Haut und ich wich zurück.

Damit hatte der Arzt wohl nicht gerechnet. Seine Verblüffung sorgte dafür, dass er zwei Sekunden zu spät abdrückte. Das gab mir genug Zeit, mich hinter einen der Tische, die noch nicht Feuer gefangen hatten, in Sicherheit zu bringen. Jetzt musste alles sehr schnell gehen, mir lief die Zeit davon. Ohne viel nachzudenken, schoss ich wie der Blitz auf der anderen Seite des langen Tisches hervor und tauchte direkt an der Seite des Arztes auf. Ohne zu zögern stürzte ich mich auf den alten Mann und riss ihn zu Boden. Mit dem Gesicht voran knallte er auf die Fliesen, auf denen er reglos liegen blieb. Blut floss unterhalb seiner Stirn hervor.

Sollte er doch hier verbrennen, ich empfand kein Mitleid mit ihm, nach allem, was er mir angetan hatte.

Plötzlich hörte ich ein Zischen. Stickstoff schoss durch mehrere Düsen aus den Wänden und Tischen, um das Feuer zu löschen. Wenn ich nicht schnell hier raus kam, würde ich ersticken.

Ich lief zur Tür und legte meinen Daumen auf den Scanner. Das Wort DENIED – verwehrt – leuchtete in roten Buchstaben auf.

Verflixt, ich war hier drin gefangen und würde zusammen mit meinem Peiniger ersticken, es sei denn … Ich lief zurück zum Arzt, der immer noch regungslos auf dem Boden lag, löste seinen Griff um die Waffe und schloss meine Faust um seinen Daumen. Mit der anderen Hand umklammerte ich sein Handgelenk und zog so fest ich konnte. Meine übermenschlichen Kräfte kamen mir zugute: Ich vernahm ein merkwürdiges ploppendes Geräusch, als ich seinen Daumen in der Hand hielt.

Sofort verkrampfte sich mein Magen, als mir Jack das Bild des abgerissenen Fingers sendete. Unter der ausgefransten Haut tropfte Blut hervor und ich erkannte deutlich einen weißen Knochen. Doch zum Glück musste ich mich von diesem ekelhaften Bild losreißen, denn Jack ließ seine Erinnerungen unaufhörlich fließen. Er wollte schnell zum Ende kommen, da er kaum genug Kraft hatte, sich zu konzentrieren. Trotzdem wollte ich unbedingt wissen, warum er nicht die Waffe genommen hatte.

»Ich hatte keine Waffe mehr in der Hand, seit mein Vater erschossen und ich deswegen zur Zielscheibe korrupter Ärzte wurde.«

Ich kam nicht dazu, nachzufragen, wie er das meinte, denn Jack hatte es verdammt eilig, seine Geschichte zu beenden:

Ich drückte den abgetrennten Finger auf die Glasplatte des Scanners und die Tür glitt fast geräuschlos zur Seite. Sobald ich durch war, ging sie hinter mir zu. Den Daumen schloss ich in meiner Faust ein, denn ich würde ihn sicher noch brauchen …

Dann lieferte Jack mir schnelle, einzelne Bilder, wie er durch unzählige Korridore lief, die alle gleich aussahen, sich ab und zu vor vorbeilaufendem Personal versteckte, immer wieder den abgetrennten Finger benutzte, um durch eine verschlossene Tür zu gelangen, eine Jeans und Turnschuhe, die ihm halbwegs passten, aus einem Spind entwendete und schließlich durch ein Treppenhaus ins Freie gelangte. Es war Nacht, doch das Mondlicht tauchte die Gebäude in ein mattes Licht. Jack warf den Daumen achtlos in den Staub.

In seinen Erinnerungen erblickte ich endlose Felder und einen Zaun, über den Jack in Windeseile kletterte – dann spürte er einen heftigen Schmerz am Oberarm, als er angeschossen wurde. Die Kugel war hindurchgegangen, aber Jack schenkte dem kaum Beachtung.

Als er zu den Maisfeldern kam, rannte er im Dunkel der Nacht in sie hinein, als wäre der Teufel hinter ihm her …

Tagelang lief er auf einer verlassenen Straße, ohne zu wissen, wo er sich befand, links und rechts umgeben von mannshohem Mais, in dem er sich versteckte, wenn ein Auto vorbeifuhr, eine Drohne oder ein Heli nach ihm suchten. Die unbarmherzige Sonne verbrannte seinen nackten Oberkörper, bis er bei einem Farmhaus ein Shirt von der Wäscheleine stahl. Sich nur von rohem Mais ernährend und Wasser aus den Sprinklern trinkend, schleppte er sich zu einem Rangierbahnhof, von wo aus er schließlich mit einem Güterzug nach Greytown gelangte.

Dann war es vorbei. Der Strom seiner Gedanken riss abrupt ab.

»Schlaf jetzt und werde schnell gesund«, flüsterte ich, bevor ich ihn auf die Stirn küsste, damit er meine feuchten Augen nicht bemerkte.

»Was denkst du jetzt von mir?«, fragte er leise. »Hältst du mich für einen Mörder?«

»Du hast nur getan, was du tun musstest. Du hattest keine andere Wahl … Aber warum bist du nicht zur Polizei gegangen? Sie hätten dich nicht einsperren können. Schließlich wollte der Arzt dich umbringen!«

»Wenn der Pharmakonzern mein Blut braucht, um ein biologisches Massenvernichtungsmittel zu entwickeln, kannst du davon ausgehen, dass sehr mächtige Leute hinter dieser Sache stecken. Einflussreiche Politiker oder vielleicht die Regierung selbst. Wäre ich zu den Cops, hätten die mich wahrscheinlich sofort zurückgebracht.«

Daran hatte ich gar nicht gedacht. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass Jack sich wohl sein restliches Leben auf der Flucht befinden würde. »Ich stehe zu dir, Jack. Egal, was noch kommt.«

Er nahm meinen Kopf in seine starken und doch so zärtlichen Hände und küsste mich wieder so überwältigend wie beim ersten Mal. »Ich darf nicht bei dir bleiben, Kate. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passiert, nur weil wir uns kennen.«

»Ich liebe dich«, war meine einzige Antwort darauf. Ich würde diesen wunderbaren Mann nicht mehr gehen lassen! Das konnte er sich gleich aus dem Kopf schlagen.

Jack erwiderte nichts, sondern lächelte müde.

Eng aneinandergekuschelt schliefen wir fast auf der Stelle ein.

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Als ich meine Augen öffnete, war es später Nachmittag. Jack schlief nah bei mir. Auf dem Bauch liegend bot er mir eine wunderbare Aussicht auf seinen knackigen Hintern, denn die Decke lag irgendwo zu seinen Füßen. Es war auch ziemlich schwül im Zimmer.

Ich atmete auf. In dieser Position konnte er nur schlafen, wenn er keine Schmerzen mehr hatte.

Leise setzte ich mich hin, um einen besseren Blick auf ihn zu bekommen. Jack war wirklich ein schöner Mann. Alles an ihm schien genau aufeinander abgestimmt zu sein. Er hatte nicht zu viel und nicht zu wenig Muskeln. Sein Körper sah durchtrainiert, aber natürlich aus.

Wieder einmal nahm mir sein Aussehen die Luft zum Atmen, was aber auch daran liegen konnte, dass es im Raum so stickig war. Also öffnete ich das Fenster, um die warme, salzige Brise hineinzulassen. Dabei funkelte mir das Meer ins Auge und ich beobachtete eine Weile die winzigen Männer, die auf den schwimmenden Netzkäfigen ihrer täglichen Arbeit nachgingen.

»Gibt es da draußen was Interessantes zu sehen?«, drang plötzlich Jacks Stimme an mein Ohr. Sie klang leicht rau. Vom Schlafen?

»Musst du dich immer so anschleichen?« Lächelnd blickte ich weiterhin auf die See. Langsam schien ich mich an Jacks plötzliches Auftauchen zu gewöhnen. Ich war froh, dass er sich erholt anhörte.

Als er seine starken Arme von hinten um meinen Bauch legte und die Nase in meinen Haaren vergrub, pochte mein Herz schneller. Sein warmer, nackter Körper schmiegte sich an meinen Rücken. Immer näher und fester zog er mich zu sich hin. Was für ein schönes Gefühl! Entspannt lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und genoss diesen wunderbaren Moment.

»Wie geht es dir? Was macht deine Verletzung?«, fragte ich nach einer Weile, ohne mich umzudrehen, da ich spürte, dass er wirklich absolut nichts anhatte.

»Ich bin so gut wie neu. Aber ich habe einen Riesenhunger und deswegen werde ich erst mal etwas Kate frühstücken!« Mit einem Ruck warf er mich zurück aufs Bett und tat so, als wäre ich das Stück Fleisch bei einer Raubtierfütterung. Seine Lippen kitzelten mich bei jeder Berührung und erzeugten eine wohlige Gänsehaut auf meinem Körper.

Plötzlich hörte er auf, sah mir jedoch tief in die Augen. So viele Emotionen lagen in seinem Blick. Liebte er mich ebenfalls? Wollte er mir das sagen?

Seine Lippen teilten sich, als ob er sprechen wollte. In seinen Augen las ich Verlangen und eine Sehnsucht, die gestillt werden wollte. Dennoch ließ er plötzlich von mir ab.

Vor Enttäuschung zog es hinter meinem Brustbein. Wollte er mich nicht? Welcher Mann sagte schon Nein, wenn sich ihm solch eine Gelegenheit bot?

»Jetzt Jack nicht mehr hungrig sein, Kate zeigen ihm Stadt«, imitierte er sehr gekonnt einen gewissen Halbaffen im Lendenschurz.

Ich war immer noch außer Atem und verwirrt von der intimen Nähe, die bis eben zwischen uns geherrscht hatte. Mit kratzender Stimme erwiderte ich: »Ja, du Wilder, aber erst brauchst du was zum Anziehen«, obwohl ich mit unserem Gerangel gerne weitermachen wollte. Grinsend warf ich einen Blick auf die Stelle zwischen seinen Beinen, die mir zeigte, wie sehr er mich begehrte. Zumindest körperlich.

Jetzt wurde mir heißer als heiß und zwischen meinen Schenkeln pochte es erwartungsvoll. Der Mann war einfach überall hervorragend gebaut. Ich hatte seinen Penis ja schon in seiner Erinnerung gesehen, aber jetzt stand er wie eine Eins von seinen Lenden ab. Nie hatte ich mir sehnsüchtiger gewünscht, einen Mann – Jack! – in mir zu spüren. Wieso hielt er sich zurück? Weil er ein Gentleman war?

Sofort bedeckte er sich mit einem Kissen und fuhr sich mit der anderen Hand über seinen verstrubbelten Schopf. Nun leuchteten unserer beider Köpfe tomatenrot.

»Äh, ein Haarschnitt wäre auch vonnöten.« Er lächelte so süß, dass in meinem Magen eine Schar Schmetterlinge nach einem Ausgang suchte. Leider kam Jack nicht mehr auf mich zu, sondern verschwand im Badezimmer.

Kurze Zeit später vernichteten wir alle kulinarischen Köstlichkeiten, die mein Single-Kühlschrank hergab. Anschließend bändigte ich Jacks Mähne, um wieder einen zivilisierten Mann aus ihm zu machen. Es war erstaunlich, wie sich seine Verfassung innerhalb weniger Stunden gebessert hatte. Auf seinem Bauch war zwar noch eine dicke Kruste zu erkennen, wo der Irre ihm das Messer hineingerammt hatte, aber ansonsten schien er schmerzfrei zu sein. Er wirkte jünger und frischer als vor zwei Tagen. Immer wieder warf er mir schelmische Blicke zu. Es tat gut, ihn so fröhlich zu sehen. Dennoch versetzte es mir einen Stich ins Herz, als ich an seine Worte dachte: Ich darf nicht bei dir bleiben, Kate … Hatte er sich deshalb vorhin zurückgehalten? Weil er mich nicht verletzen wollte? Ach Jack …

Da ich sein altes Shirt in die ewigen Jagdgründe geschickt hatte, schlug ich vor, ihm erst einmal ein Hemd meines Vaters zu geben.

»Wenn ich nicht auf der Flucht wäre, würde ich ihn sehr gerne kennenlernen. Wohnt er hier in der Nähe?«, fragte Jack.

»Nein, meine Eltern starben beide vor vielen Jahren bei einem Autounfall, aber ich konnte mich nicht von all ihren Sachen trennen. Auf dem Dachboden finden wir sicher etwas, das dir passt.« Obwohl meine Eltern schon so lange tot waren, schmerzte es immer noch, an sie zu denken.

»Tut mir leid, Kate, ich weiß, wie du dich fühlst. Da haben wir wohl schon wieder was gemeinsam.« Jack zog mich sanft zu sich, um mir einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Es war, als ob er etwas von seiner Stärke auf mich übertrug, denn sofort fühlte ich mich besser. Vielleicht konnte er ja zaubern – mein magischer Mutant!

Waren wir jetzt eigentlich ein Paar?

Das war ein Punkt, den ich auf jeden Fall so schnell wie möglich geklärt haben wollte, aber zuerst brauchte Jack Kleidung. Ich führte ihn in mein Wohnzimmer, dessen rechte Wand fast ausschließlich aus Regalen bestand, die bis unter die Decke mit den verschiedensten Büchern aller Größen gefüllt waren. Ich war verrückt nach »echten« Büchern, und wann immer ich eines dieser seltenen Exemplare aufspürte, musste ich es haben. Natürlich waren E-Books eine tolle Sache, doch konnte kein Gerät der Welt den Geruch von Druckerschwärze, Buchbinderleim und altem Papier ersetzen.

Die restlichen Möbel stammten fast alle von meinen Eltern, nur ihren uralten Plasma-Fernseher hatte ich gegen einen 3D-Beamer getauscht. Ansonsten glich mein restliches Wohnzimmer eher einem Dschungel, denn an jeder freien Stelle wucherten die verschiedensten Blumen und kleine Bäumchen. Sogar an der Decke rankte sich wilder Efeu um eine große blaue Lampe, die eigentlich keine Lampe war. Am Bücherregal zog ich ein besonders dickes Exemplar in einem dunklen Leinenumschlag hervor – »Shakespeares Werke« stand darauf. Ich drückte dahinter auf einen kleinen Knopf in der Wand und schob den Wälzer zurück. Sofort senkte sich die runde Lampe geräuschlos an einer dicken Metallstange auf den Holzfußboden und hinterließ ein metergroßes Loch in der Decke.

Jack staunte nicht schlecht. »Dein Dachboden, ja?« Den Mund leicht geöffnet und die Augen aufgerissen, starrte er in den dunklen Ausschnitt.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht brachte mich zum Lachen. »Na ja, eigentlich wohl eher so was wie ein geheimer Raum, denn er ist weder auf dem Grundriss des Gebäudes verzeichnet noch irgendwie von außen erkennbar. Als Kind musste ich mich ein paar Mal dort verstecken, wenn mein Vater Spezial-Besuch bekam, wie er es immer nannte. Keine Ahnung, was das sollte; ich fand es lustig. Wir haben da ein Spiel draus gemacht. Jetzt ist das Versteck ungemein nützlich für mein ganzes Gerümpel.«

»So, so … ein Geheimversteck, wie praktisch.« Jack brannte mit Sicherheit darauf zu erfahren, was meinen Vater dazu bewogen hatte, mich vor anderen zu verstecken, so fragend, wie er mich ansah.

Ich zuckte nur mit den Schultern, denn ich wusste es nicht genau. Vielleicht hatte er nur Angst gehabt, dass meine Fähigkeiten auffliegen würden. »Spring auf, Tiger, und ich entführe dich in noch unentdeckte Galaxien des Universums! Aber zieh den Kopf ein, wenn du deine neue Frisur nicht gleich ruinieren willst.«

Lachend hielt sich Jack an der Stange fest; ich drückte auch dort einen Knopf und wir fuhren nach oben.

Der Raum war sehr niedrig und etwas kleiner als das darunterliegende Wohnzimmer. Es gab zwar keine Fenster, doch wenigstens helles Licht und eine Unmenge von Kartons, die sich bis unter die Decke stapelten. Hier drin war es heiß und stickig, da die Sonne schon den ganzen Tag auf das darüberliegende Dach brannte. Wir mussten uns beide bücken, ich weniger, aber Jack war über einen Kopf größer als ich. Während ich ihm einiges zum Anziehen raussuchte, interessierte er sich für drei verstaubte Monitore, die in einer Ecke des Zimmers auf einem Tisch standen.

»Schalte sie an«, sagte ich, während ich ein hellblaues T-Shirt aus einer Kiste zog. Als ich es ausschüttelte, musste ich kräftig niesen.

Jack ließ sich kein zweites Mal bitten. Schon flackerten die vergilbten Monitore auf, die jeweils ein anderes Bild zeigten: den Hauseingang, meine Wohnungstür und das Wohnzimmer, zwar etwas zittrig und in schwarz-weiß, aber deutlich erkennbar.

»Du kannst sogar hören, was gesprochen wird, wenn du auf diesen Knopf drückst.« Ich zeigte auf eine rote Taste neben jedem der Monitore. Bei den Bildschirmen stand ein altmodischer schwarzer Kasten, mit einer Menge silberfarbener Knöpfe und Hebel daran, sowie ein Sprechfunkgerät, das mit einem spiralförmigen Kabel mit dem Kasten verbunden war. Keine Ahnung, wofür mein Vater das alles gebraucht hatte.

»Das sieht schon mega-alt aus«, sagte Jack in einem bewundernden Tonfall. »War dein Dad Geheimagent oder so was?«

Ich grinste. »Das hab ich mir als Kind auch immer vorgestellt. Schließlich verbrachte er viel Zeit allein hier oben. Wahrscheinlich war es nur ein Hobby. So wie ich Bücher sammle, hatte er vielleicht eine Leidenschaft für veraltete Technik. Aber das werde ich nun nie mehr erfahren.«

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Nachdem der Cleaner das T-Shirt ausgespuckt hatte, starteten wir endlich unsere »Tour«. Arm in Arm schlenderten wir durch das Einkaufsviertel von Greytown, wo es in jeder Ecke nach Fisch und feuchten Tauen roch.

Im Mega-Store, dem einzig richtigen Geschäft in dieser Stadt, besorgten wir Jack anständige Klamotten. An der Selbstbedienungskasse scannten wir die Artikel ein und ich bezahlte mit meinem Daumenabdruck, wobei ich für einen kurzen Augenblick den abgerissenen Finger des alten Arztes vor Augen sah.

Mit drei Tüten bepackt verließen wir den Laden. Mehrmals erwischte ich Jack dabei, wie er sich umsah, was ich ihm nicht verdenken konnte. Stets war er darauf bedacht, dass die Überwachungskameras in dem Geschäft und auf der Straße nur seinen Rücken zu sehen bekamen. Doch sonntags herrschte hier reges Treiben, da fielen wir unter den unzähligen Fischern und Hafenarbeitern, die mit ihren Familien den freien Tag genossen, sicherlich nicht auf. Wären wir beobachtet worden, hätte ich das gespürt, glaubte ich wenigstens. Trotzdem hatte Jack sich vorsichtshalber eine verspiegelte Sonnenbrille und ein Basketball-Cap der Riverdale Bloodhounds aufgesetzt, die momentan die Liga anführten. Ich fand die Mütze abscheulich, aber Jack hatte sie unbedingt haben müssen. Er schien ein echter Fan der Bloodhounds zu sein.

Ich schlug vor, bei Tony`s eine Kleinigkeit zu essen, und so zog ich Jack ein paar Ecken weiter in ein kleines, gemütliches Cafß, auf dessen Terrasse im ersten Stock wir ungestört reden konnten. Von dort oben hatten wir einen wundervollen Blick auf die wuselnde Menschenmasse, die sich durch die Gasse schob.

So glücklich wie an diesem Tag, hatte ich mich schon lange nicht gefühlt. Ich brannte darauf, mehr aus Jacks Leben zu erfahren. Also lauschte ich gespannt seinen Erzählungen.

»Ich war Wachmann bei einer Werttransportfirma und mein Vater Bankangestellter bei der FIRST BANK OF WINOLA. Des Öfteren haben wir beide deswegen geschäftlich miteinander zu tun gehabt. Eines Tages, als ich mit meinen beiden Kollegen die letzten Geldplomben dort abholte, um sie ins Entwertungsdepot zu bringen, kam es zu einem Überfall, bei dem mein Vater tödlich verletzt wurde und auch meine Kollegen starben.« Mit entrücktem Blick sah Jack in seine Tasse. Ich fühlte, dass er es sich nie verziehen hatte, seinen Vater nicht hatte retten zu können.

Jack räusperte sich. »Obwohl ich mich vor ihn gestellt hatte, jagte das Geschoss durch meinen Arm hindurch direkt in seine Brust. Er war auf der Stelle tot. Es wäre Dads letzter Arbeitstag gewesen, bevor die Bank schloss«, sagte Jack leise. »Seinen wohlverdienten Ruhestand durfte er nicht mehr erleben.«

Jack erschoss die drei maskierten Männer, wie er mir weiterhin erzählte. Einen Monat später quittierte er seinen Job bei der Firma und verdiente sein Geld von nun an damit, indem er Selbstverteidigungs-Kurse gab. »Seitdem habe ich nie wieder eine Schusswaffe in der Hand gehalten«, flüsterte er und vermied es, mich anzusehen. Stattdessen stocherte er mit der Gabel in seinem Kuchen herum. »Wäre vor drei Jahren dieser Überfall nicht passiert, hätten sie nie von meinen Fähigkeiten erfahren. Aber es ist natürlich extrem auffällig, wenn man ins Krankenhaus kommt und die Schusswunde schon fast verheilt ist.«

»Wieso bist du denn ins Krankenhaus gegangen?«

»Ich wollte nicht, wehrte mich mit Händen und Füßen, doch die Sanitäter stellten mich mit einer Spritze ruhig. Sie dachten wohl, ich drehe durch, weil mein Dad gestorben war.«

»Und deine Mutter?« Ich wollte ihn schnell ein wenig ablenken. Am liebsten hätte ich ihn jetzt in meine Arme gezogen. Aber wollte er von mir getröstet werden? Die meisten Männer waren zu stolz, sich Schwächen einzugestehen. Wie war das bei Jack? Schade, dass ich ihn trotz meiner Gabe doch nicht so gut kannte, wie ich gerne gewollt hätte.

»Mum hat den Tod meines Vaters nicht verkraftet. Sie schmiss ihren Job bei Soma-Tec und verkroch sich in ihrer Wohnung. Ein Jahr später war sie an gebrochenem Herzen gestorben, wie man so schön sagt. Sie hatte einen Infarkt. Die beiden hatten sich wirklich sehr geliebt.« Jacks Schultern sackten nach unten. »Irgendwie gebe ich mir die Schuld, dass sie nicht mehr am Leben sind.«

»Das darfst du nicht«, sagte ich leise. »Du hast getan, was du konntest.«

Während Jack mir mehr von seiner Mutter erzählte, strich ich mir mit dem Finger über meinen linken Handrücken. Soma-Tec war die Firma, die unsere ID-Chips herstellte. Jeder trug so ein kleines Implantat unter der Haut, ob Mensch, Mutant oder Haustier. Der winzige, kapselförmige Chip hatte vor langer Zeit den Ausweis, die Krankenkarte und was-weiß-ichnoch-alles ersetzt. Er enthielt viele persönliche und biometrische Daten und bei Mutanten auch die Klassifizierung sowie die Fähigkeiten. Außerdem konnte man mit diesem Chip mittels Satellitenortung an jedem Ort der Welt aufgespürt werden, was bedeutete …

Oh mein Gott, Jack! Dein ID-Chip! Sie werden dich finden!, schickte ich ihm in Gedanken, damit keiner der anderen Gäste meine Panik mitbekam.

Ohne Kommentar reichte er mir seine linke Hand und ich fuhr mit meinen Fingern über die Stelle, wo normalerweise der Chip deutlich spürbar unter der Haut saß. Ich fühlte nichts außer einer feinen Narbe.

»Du hast ihn dir rausgeschnitten?«, flüsterte ich und versuchte nicht weiter auf seine Hand zu starren, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Er beugte sich über den Tisch zu mir. »Ja, gleich nachdem ich ihnen das erste Mal entwischt bin. Deswegen konnten sie mich ja nicht mehr finden«, flüsterte er mir ins Ohr und küsste meinen Hals.

Die Berührung seiner warmen, weichen Lippen erzeugte bei mir eine angenehme Gänsehaut, aber ich war viel zu nervös, um seine Zärtlichkeiten zu genießen. »Wenn die Cops das herausfinden! Auch in dieser Stadt machen sie Routinekontrollen. Sie werden dich einsperren!«

»Dazu müssen sie mich erst mal bekommen.« Zärtlich biss er mir ins Ohrläppchen und ließ sich anschließend in seinen Stuhl zurückfallen.

Dieser Mann lebte wahrlich auf einem brodelndem Vulkan. Ich fand es ziemlich aufregend mit Jack zusammen zu sein. Er war einfach etwas Besonderes und meine Liebe zu ihm wurde mit jedem Atemzug stärker.

Auf dem Nachhauseweg erzählte ich meinem Tiger die wenigen Dinge, die ich von meinen Eltern wusste. »Mein Leben war nicht so spannend wie deines, denn mein Vater wollte mich immer vor allen Gefahren beschützen. Obwohl er mir gegenüber immer Abstand hielt und mich nur selten in den Arm nahm, glaube ich, dass er mich sehr geliebt hat – auf seine Weise. Das spürte ich. Er war Arzt und meine Mutter Laborantin in einer Forschungsabteilung. Gentherapie und Bionik. Sie hatten das Glück, zusammenzuarbeiten.« Bei dem Gedanken lächelte ich. »Auf mich passte dann immer Anette auf, unser Kindermädchen. Sie hatte eine Tochter, Veronica, und wir waren wie Schwestern füreinander.« Jetzt kam der unangenehme Teil der Geschichte und ich senkte meine Stimme. »Eines Tages hatten meine Eltern einen tödlichen Autounfall, als sie von der Arbeit nach Hause fuhren. Da war ich erst zehn. Von da an lebte ich bei Sam. Ich wüsste zu gerne, was aus Anette und Veronica geworden ist, ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört und Sam wusste auch nichts …«

Für einen Moment schweiften meine Gedanken in die Ferne. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, mein Onkel würde mir etwas verschweigen. Ich hatte mich jedoch nie getraut, »nachzubohren«. Manchmal war es vielleicht besser, die Wahrheit nicht zu kennen.

»Sam wusste natürlich alles über meine Fähigkeiten, deswegen durfte ich hier nicht zur Schule gehen, sondern bekam Privatunterricht. Ich lebte wie ein Einsiedler. Meine Eltern und Freunde fehlten mir schrecklich. Also stürzte ich mich auf mein Digi-Book und lernte wie eine Verrückte, nur um mich abzulenken. Am liebsten wäre ich Ärztin geworden, doch der Aufnahmetest an der Uni verlangt eine Blutprobe. Ich musste Sam hoch und heilig versprechen nichts zu unternehmen, was MUTAHELP auf mich aufmerksam gemacht hätte. Daher bemühe ich mich, meine Gabe zu unterdrücken, weshalb ich bis heute in dieser öden Stadt feststecke. Ich kann Sam unmöglich allein lassen, wo er doch meine Hilfe so dringend braucht … Aber irgendwann kommt der Tag, da hau ich ab aus dieser stinkenden, dreckigen Stadt. Ich möchte so gerne die Berge sehen, Wälder und einfach mal frische, klare Luft atmen …«

Den restlichen Tag verbrachten wir zusammengekuschelt auf einer Decke in einer abgelegenen Bucht am Meer, wo wir nur dem Rauschen der Wellen und unseren Worten lauschten. Aber auch hier roch es nicht angenehm, denn Öl, Abfall und Futterreste aus den Fischaufzuchtstationen lagen am Ufer. Dennoch genoss ich die Zeit, vor allem Jacks Nähe.

Als die Dämmerung hereinbrach, beschlossen wir, zurückzukehren. Jack würde die Nacht in der Pension verbringen und ich bei mir daheim. Obwohl unser Zusammenkommen so stürmisch gewesen war, wollten wir unsere Beziehung langsamer angehen. Außerdem spürte ich Jacks Angst davor, mich nicht mehr gehen lassen zu können, falls er fliehen musste – und das hatte er anscheinend vor. Er wollte sich nicht fester binden. Aber da hatte er die Rechnung ohne mich gemacht, was er natürlich noch nicht wusste.

Jack brachte mich bis zu meiner Haustür, wo wir uns für den nächsten Abend in Sams Kneipe verabredeten. Erst nach vielen herrlichen Küssen trennten wir uns schweren Herzens voneinander. Ich traute mich nicht zu fragen, ob wir nun offiziell ein Paar waren, aber ich würde alles dafür tun, dass sich mein Wunsch erfüllte.

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Es war Montagmorgen und wie immer begann ich diesen Tag in der Pension. Da Jack mein einziger Gast war und auch schon zur Arbeit, ging ich bald runter zu Sam in die Kneipe. Ich hatte ihm so viel zu erzählen. Natürlich wollte ich unbedingt seine Meinung hören, was meine neue Eroberung betraf. Ich schilderte ihm haargenau, was passiert war, von da an, wo mich die Jugendlichen fast umgebracht hätten, bis zu dem, was Jack mir alles über sich und seine Eltern erzählt hatte.

Was dieser Arzt Jack angetan hatte, gab ich nur kurz wieder, denn ich wollte nicht mehr daran denken, was er Furchtbares durchgemacht hatte.

Sam hörte sich meine Geschichte an, während er nebenbei die Arbeiter bediente. Ein paar Mal schüttelte er den Kopf, andere Male blickte er mich mit sorgenvoller Miene an. Ich passte höllisch auf, dass niemand der Anwesenden unsere Unterhaltung mitbekam. Aber Sam vertraute ich hundertprozentig. Er kannte jedes – na ja, fast jedes – Detail aus meinem Leben.

Als ich meine Erzählung beendet hatte, zeigte ich ihm unauffällig die blauen Flecken und Kratzer an meinem Hals, die ich lieber unter einem Tuch versteckte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Anschließend zog Sam mich in die Arme und ich spürte seine Erleichterung, weil mir nichts Schlimmeres zugestoßen war. Er fand es unverzeihlich, dass er mich allein gelassen und meine Hilferufe nicht gehört habe. Und noch etwas spürte ich, bevor wir unsere Umarmung lösten: Irgendetwas schien Sam mir zu verschweigen. Seltsamerweise tauchte vor meinem geistigen Auge kurz Rons Gesicht auf.

Nachdem ich nun mehrere Stunden damit zugebracht hatte, meine eingeschlafenen Fähigkeiten zu reaktivieren – Jack sein Dank –, waren meine Sinne schärfer als je zuvor. Aber konnte es wirklich sein, dass Sam Geheimnisse vor mir hatte? Mein Onkel Sam? Und was hatte Ron damit zu tun?

Vielleicht bildete ich mir das bloß ein.

Sam plapperte unaufhörlich weiter, was so gar nicht seine Art war, deswegen beschloss ich, ihm erst einmal zuzuhören und mir später darüber Gedanken zu machen.

»Ich werde Jack heute Abend gleich einen Drink ausgeben und mit ihm anstoßen!« Sam war zwar nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte, der so ein großes Risiko für mich darstellte, doch er wünschte mir trotzdem viel Glück. »Ich habe gleich bemerkt, was für ein feiner Kerl er ist.«

Sam hatte also nicht die Cops gerufen, aber wer dann?

Zurück in meiner Wohnung setzte ich mich gleich ans Digi-Book, um vielleicht im Internet etwas über Loyal-Pharm herauszufinden, doch wie schon bei Jack zuvor, blieben auch meine Nachforschungen erfolglos.

Plötzlich vernahm ich das leise Summen meines Multi-Phones und machte mich auf die Suche nach dem kleinen Gerät, das ich immer wieder verlegte und fast nie bei mir trug. Schließlich zog ich es bei meiner Garderobe aus einer Jackentasche.

Auf dem Display leuchtete mich Sams zerknittertes Gesicht an. Was er zu dieser Zeit wollte? Seine Stimme klang aufgeregt: »Ein paar Männer von MUTAHELP waren gerade bei mir in der Kneipe. Sie suchen nach Jack! Sie wissen, dass ihr gestern zusammen wart …« Er holte kaum Luft beim Sprechen, so schnell sprudelten die Worte aus ihm heraus. »… habe Ron schon informiert, er bringt Jack zu dir. Du musst ihn verstecken, wenn du ihn nicht verlieren willst! Du weißt doch wo, Kate?«

»Ja, aber Sam …« Jetzt war ich wirklich verwirrt. Wieso benachrichtigte er Ron?

»Zöger nicht lange, Schätzchen, tu es einfach! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis MH bei dir auftaucht! Und wenn sie Jack finden, werden sie ihn an den Pharmakonzern ausliefern!«

Woher wusste er so viel? »Sam, erklär mir …«

»Ich melde mich später wieder. Versuche MUTAHELP zu überzeugen, dass du nicht weißt, wo er sich befindet. Aber unternehme nichts, was dich in Schwierigkeiten bringt!«

Und weg war er. Ich blickte ratlos auf den toten Bildschirm meines Telefons. Warum hatte Sam nicht mehr Zeit mit mir zu reden? Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust. Sams Aufregung hatte sich direkt auf mich übertragen. Von wem wusste MUTAHELP, dass Jack sich hier in Greytown aufhielt? Ich hatte bisher wirklich gedacht, diese Einrichtung würde Menschen wie Jack und mir helfen, sich in der »normalen« Gesellschaft zurechtzufinden, anstatt uns zu jagen.

Verwirrt steckte ich das Gerät in meine hintere Hosentasche, als es an der Haustür klopfte. Beim Blick durch den Spion erkannte ich Jacks graue Augen und öffnete ihm sofort. Er war extrem schnell hier gewesen. »Wie bist du ins Haus gekommen?«

Jack erzählte mir, etwas außer Atem: »Ron und ich sind beim Hafen in die Kanalisation abgestiegen. Von dort hat Ron mich auf dem schnellsten Weg durch unterirdische Gänge von einem Haus zum nächsten gebracht, bis in den Keller dieses Gebäudes. Halb Greytown ist unterirdisch miteinander verbunden.«

Vor Staunen stand mir der Mund offen. Ich hatte von alldem keine Ahnung gehabt. »Wow, wie hat Ron gewusst, wo ihr lang musstet? Wo steckt er eigentlich?«, fragte ich über Jacks Schulter blickend.

»Er hatte so eine Art Navigationsgerät bei sich und hatte es verdammt eilig. Wir sind den ganzen Weg gelaufen. Der Kerl ist ziemlich fit für sein Alter. Ron ist doch bestimmt schon fünfzig. Er ist gleich wieder zurück, als er mich hier abgeliefert hat.«

Diese Stadt war doch nicht so langweilig, wie ich bis jetzt angenommen hatte. Irgendetwas Merkwürdiges ging hier vor. Und Sam schien definitiv mehr zu wissen, als er mir weismachen wollte. Doch darüber musste ich mir ein anderes Mal den Kopf zerbrechen.

»Es wäre wohl klüger, wenn ich für eine Weile aus der Stadt verschwinde«, sagte Jack. »Ich will dich nicht auch noch zur Zielscheibe machen.«

»Ich stecke schon mittendrin und komme auf jeden Fall mit dir. Egal was du oder mein Onkel sagen, ich will dich nicht noch mal verlieren! Lass mich nur schnell ein paar Sachen packen.«

Jack hielt das für keine gute Idee. »Hör doch wenigstens auf deinen Onkel!«

»Ich bin alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen«, konterte ich.

So ging das immer weiter. Mit Sicherheit wäre unser Gespräch in eine hitzige Diskussion ausgeartet, hätte das eindringliche Läuten der Türglocke uns nicht unterbrochen.

Nur keine Panik!, dachte ich, als ich wie zur Salzsäule erstarrt im Flur stand, wo ich gerade ein Paar Turnschuhe in einen Rucksack stopfen wollte.

»Kate!« Jack gab sich wirklich Mühe, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Mach auf!«

Wie in Zeitlupe schlurfte ich auf meine Wohnungstür zu. Beim Blick auf den Monitor des Türöffners erkannte ich drei Männer in dunklen Anzügen. Einer schaute direkt in die Kamera. »Öffnen Sie die Tür, Ms. McAdams. Wir kommen im Auftrag von MUTAHELP wegen einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit. Wir wissen, dass Sie da sind!« Klar wussten sie es – mein ID-Chip.

Also drückte ich auf den Türöffner, um kein Aufsehen zu erregen.

»Jack, geh nach oben! Komm erst runter, wenn du siehst, dass sie das Gebäude verlassen haben.« Meine Stimme überschlug sich fast. Leute von MUTAHELP wollten mit mir reden. Hilfe!

Der alte Aufzug ließ mir genug Zeit wie eine Wahnsinnige durch die Wohnung zu laufen, um nach Dingen zu suchen, die Jacks Anwesenheit verraten hätten. Auf dem Weg zur Tür stolperte ich zum Glück über seine Schuhe und warf sie ihm gerade noch durch das Loch in der Decke zu, bevor es sich schloss. Den Rucksack schleuderte ich unter mein Bett.

Drei schrankhohe Männer mit kurzen schwarzen Haaren und dunkelblauen MUTAHELP-Uniformen bauten sich vor meiner Wohnungstür auf. Ihre Gesichter waren faltenfrei und ohne jegliche Mimik. Ihre unnatürlich blauen Augen starrten durch mich hindurch. Alle drei sahen sich so ähnlich – sie hätten Drillinge sein können – und sie kamen mir von irgendwo her bekannt vor.

»Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Wohnung. Wir müssen überprüfen, ob Sie einem kriminellen Mutanten der Klasse zwei oder höher Zuflucht gewähren«, sagte Nummer eins mit monotoner Stimme, wobei er mir ein digitales Schriftstück vor die Nase hielt.

»Warum sollte ich einen Kriminellen in meiner Wohnung verstecken?«, fragte ich und versuchte, nicht nervös zu klingen.

»Zwei junge Männer sind gestern Morgen von einem Mutanten angegriffen worden und einer von ihnen erlitt schwere Verletzungen. Sie haben uns nach dem Vorfall sofort alarmiert und meinten, Sie, Ms. McAdams, würden den Mutanten kennen. Er sei Gast in der Kneipe Ihres Onkels gewesen und die Männer vermuteten, dass er Ihr Freund sei.«

»Sehe ich etwa so aus, als ob ich es nötig habe mich an einen Muti ranzuschmeißen? Und seit wann ist MUTAHELP dafür zuständig, kriminelle Mutanten einzufangen?«, wollte ich wissen, um etwas Zeit zu gewinnen, bis Jack die Monitore angeschaltet hatte, damit er alles Weitere verfolgen konnte, und um die Männer abzulenken.

»Sie würden sich wundern, für was wir alles zuständig sind, Madam.«

Also waren die irren Jungs daran schuld, dass Jack immer noch kein ruhiges Leben genießen durfte. Schlagartig wusste ich auch, warum mir die Klone so bekannt vorkamen: Ich hatte sie in Blondies Erinnerungen gesehen! Und ich konnte MUTAHELP nicht einmal berichten, was wirklich geschehen war. Sie hätten Jack sofort abgeführt. Zum Glück trug ich das Halstuch!

»Lassen Sie uns nun rein oder müssen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen?«, sagte Nummer eins, ohne jegliches Gefühl in seiner immer gleichen, monotonen Stimmlage.

Ich nickte. »Na gut, sehen Sie sich um. Ich habe nichts zu verbergen.« Es war besser, keinen Widerstand zu leisten, damit sie keinen Verdacht schöpften. Also trat ich beiseite. In mir brodelte es. Doch ich durfte mir die Wut über die Jugendlichen nicht anmerken lassen.

Als die drei Männer durch meine Tür traten, mussten sie die Köpfe einziehen, so groß waren sie. Ein muffiger Geruch hing an ihnen – total unnatürlich. Es war mir nicht möglich, ihre Aura zu spüren. Keinerlei Gefühle oder Gedanken gingen von ihnen aus, die ich empfangen konnte. Ich fragte mich, ob das richtige Menschen waren, die mit kleinen Scannern »bewaffnet« meine Wohnung durchleuchteten, oder Außerirdische vom Planeten Dumbo.

»Alles sauber«, sagte Nummer eins, als er aus dem Schlafzimmer in den Flur trat.

Mein Herz raste, meine Hände zitterten.

»Bei mir auch«, meldete Nummer zwei kurz darauf. Er hatte sich das Badezimmer und die Küche vorgenommen.

Ich fror und unterdrückte ein Bibbern.

Nummer drei schlich immer noch durch das Wohnzimmer, wo er den Scanner mit seiner Hand kreuz und quer durch den Raum schweben ließ. Was auch immer diese Geräte aufzeichneten, ich hoffte, sie würden ihnen nicht Jacks Anwesenheit verraten. Meine Hände waren eisig und feucht. Die Anspannung in meinem Inneren wollte gleich aus mir herausplatzen – ich fühlte mich wie ein rohes Ei in der Mikrowelle.

»Sir?«, fragte Nummer zwei. »Haben Sie etwas gefunden?«

»Irgendetwas in diesem Raum stört die Messung. Das muss an dem alten Gebäude liegen. Wahrscheinlich Bleirohre in den Wänden.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Gut möglich, dass die Zimmerdecke mit Blei verkleidet war. Also konnten ihre Sensoren nicht zu Jack durchdringen. Hoffte ich zumindest!

Mein Puls raste und ich vergaß zu atmen. Es erforderte meine volle Konzentration, nicht an die Decke zu starren. Stattdessen fixierte ich eine Palme in einer Ecke des Raumes und wiederholte ununterbrochen einen einzigen Satz in meinen Gedanken: Hier ist nichts!

Endlich trat auch Nummer drei in den Flur zu seinen zwei Ablegern, die dort steif wie Statuen verharrt hatten. »Ich denke, hier ist alles clean.« Zu mir gewandt sagte er: »Wir müssen Sie trotzdem bitten, uns noch ein paar Fragen zu beantworten. Vor dem Haus steht unser Wagen. Dort haben wir die entsprechenden Mittel, um Sie zu verhören.«

»Verhören?« In mir heulte eine Sirene auf. Ich hatte gehofft, sie würden uns wieder in Ruhe lassen.

»Nur die üblichen Fragen. Vielleicht können Sie wichtige Informationen zu dem Vorfall vor der Kneipe beisteuern.«

In meinem Magen wucherte ein Geschwür, das immer größer und schwerer wurde und sich gegen meine Eingeweide presste. Was kam jetzt noch? Ich hatte kein gutes Gefühl.

Als ich absperrte, blickte ich direkt in den Spion an der Tür. In ihm war eine kleine, fast unsichtbare Kamera versteckt, die mit einem Monitor auf dem Dachboden verbunden war. Ich hoffte inständig, dass Jack meine Gedanken empfing, die ich ihm eindringlich zu schicken versuchte: BLEIB WO DU BIST!

Mit dem Furcht einflößenden Trio quetschte ich mich in den engen Aufzug und spürte ihre bedrohlichen Blicke auf meinem Körper. Draußen angekommen, führten sie mich zu einem großen schwarzen Van, dessen getönte Scheiben keinen Blick nach innen erlaubten. Ihr kastenförmiges Verhör-Mobil wirkte genauso bedrohlich und unheimlich wie die Männer selbst.

Am Heck des Wagens schoben sie mich in sein Inneres und verriegelten die Tür hinter uns. Ich fühlte mich eingesperrt wie ein Hund in einem Zwinger. Nummer zwei und drei bugsierten mich auf einen Stuhl in der Mitte des schwach beleuchteten Raumes. Er erinnerte mich an einen Besuch beim Zahnarzt, nur dass um mich herum viele Monitore und fremdartige Apparate befestigt waren.

»Wir werden Ihnen erst Blut abnehmen. Schließlich wollen wir wissen, wen wir vor uns haben«, sagte Nummer eins gekünstelt freundlich, als er den Ärmel meiner Bluse hochschob. Unter seiner Oberfläche war er kalt und leer. Als ob er kein richtiger Mensch war, eher ein Roboter, der seine programmierten Befehle ausführt. Das ungute Gefühl in meiner Magengegend verstärkte sich zunehmend. Kalter Schweiß schien aus jeder einzelnen Pore meines Körpers zu schießen. Jetzt war wohl der Moment gekommen, vor dem Sam mich mein Leben lang gewarnt hatte. Gleich würde die Welt erfahren, dass Kate McAdams kein vollwertiger Mensch war, sondern nur ein Lebewesen zweiter Klasse.

»Die Blutanalyse können wir uns sparen. Ihre Akte ist sauber. Sie wurde von Lago-Pharm höchstpersönlich getestet«, unterbrach Nummer zwei den Vorgang und zeigte seinem Kollegen auf dem Bildschirm die Worte, die gerade mein Leben gerettet hatten: PERFECT HUMAN BEING!

Ich konnte mein Glück noch nicht richtig begreifen, als es aufs Neue herausgefordert wurde: An meine Schläfen klebten sie die Elektroden eines Lügendetektors! Meine Panik loderte in mir wie ein Fegefeuer.

Alles wird gut, Kate!, dachte ich unentwegt.

Nummer drei gab mir die Anweisung, die ersten beiden Fragen jeweils mit Ja zu beantworten, um das Gerät zu eichen. Dabei musste die Antwort auf die erste Frage wahr und die zweite eine Lüge sein. »Ist Ihr Name Kate McAdams?«

»Ja«, kam es leise aus meinem Mund.

»Sind Sie ein Mutant?«

»Ja«, hauchte ich. Verdammt, ich war wirklich einer!

»Ich habe hier keine positiven Impulse«, sagte Nummer zwei.

Natürlich nicht, das war ja auch nicht gelogen … Plötzlich kam es mir so vor, als ob in diesem Fahrzeug nicht mehr genug Sauerstoff vorhanden wäre. Meine Nerven standen kurz vor dem Zerreißen. Ich hoffte, dass Jack gerade dabei war meine Wohnung zu verlassen und aus Greytown zu fliehen. Gleich würde ich ihn an MUTAHELP verraten und ihn für immer verlieren.

Ich machte mir Mut. Kate, reiß dich zusammen! Bist du nun ein Mutant mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, oder nicht? Wäre doch gelacht, wenn du dieses lächerliche Gerät nicht überlisten könntest! Ich wollte es zumindest versuchen. Jack hatte auch nicht aufgegeben!

»Hier stimmt etwas nicht. Ich starte das Programm noch einmal neu«, sagte Nummer zwei, worauf mir Nummer drei dieselben Fragen noch einmal stellte. Diesmal schrie ich in Gedanken: »NEIN, ich bin KEIN verdammter Mutant!«, um den Lügendetektor, der die Impulse meines Gehirns auswertete, zu überlisten.

Diesmal war Nummer zwei zufrieden.

»Okay, der Apparat ist nun auf Ihre biometrischen Daten geeicht und wir können mit der eigentlichen Befragung beginnen«, sagte Nummer eins, als er meinen Stuhl zur Seite drehte. Ich blickte direkt in Jacks graue Augen, die mir von einem großen Bildschirm aus entgegenstrahlten.

»Sie kennen also diesen Mann?« So etwas wie ein Lächeln huschte über Nummer eins’ Gesicht.

Mist, die Elektroden zeichneten wirklich jede kleinste Veränderung meiner Gehirnströme auf. Ich musste besser aufpassen, mich mehr konzentrieren. Und weniger fluchen, verdammt!

»Ja, ich denke, er war einmal im Laden meines Onkels.« Ich erkannte meine Stimme kaum wieder. Sie wirkte extrem ruhig. Doch mein Blut raste wie ein Torpedo durch meine Adern.

»Sie wurden angeblich mit ihm zusammen gesehen. Ist das richtig?«

»Sehr wahrscheinlich, wenn ich ihm einen Drink ausgeschenkt habe«, konterte ich cool. Bis jetzt schien es ganz gut zu laufen.

»Das ist eine sehr ernste Angelegenheit, Madam. Sein Name ist Christopher Hayes (kein Ausschlag, da er für mich nur Jack Sheridan ist) und er ist ein äußerst gefährlicher (liebenswerter) und aggressiver (erotischer) Mutant (Tiger), zudem ausgebildet in diversen Waffen- und Kampftechniken (mein Retter!). Er befindet sich schon seit längerer Zeit auf der Flucht (vor euch) und muss unbedingt aufgehalten (geküsst) werden, bevor noch mehr Menschen (Frauen) zu Schaden kommen (seinem Charme verfallen). Dieser Mann ist in höchstem Maße kriminell (erregend), ein Mörder (Traummann)! Sie sind verpflichtet, uns alles über ihn zu erzählen, was Sie wissen. (Aber ganz bestimmt!) Sonst machen Sie sich mitschuldig! (Tirilie) Anhand unserer Aufzeichnungen wissen wir sehr wohl, dass Sie ihn besser kennen, als Sie uns glauben machen wollen. Da gibt es ein paar seltsame Ausschläge.«

Ich schluckte. Jetzt war ich an der Reihe, ihnen eine glaubwürdige Geschichte zu präsentieren, die sie nicht stutzig machen würde. »Er hat am Abend zwei Jugendliche aus der Kneipe geschmissen, nachdem sie Ärger verursacht hatten. Ich habe ihnen Hausverbot erteilt. Wahrscheinlich wollten sie sich an uns rächen und haben deswegen einen Überfall erfunden. Ihr Mutant leerte seinen Drink und verließ etwa fünfzehn Minuten später ebenfalls die Kneipe. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Ich hoffte nur, MH hatte keine weiteren Zeugen befragt, die mitbekommen hatten, dass ich Jack ein Zimmer vermietet hatte und wir gestern zusammen in der Stadt waren.

»Wo waren Sie gestern Morgen gegen fünf?«, wollte Nummer eins wissen. Anscheinend hatte er meine Story geschluckt.

»In meinem Bett natürlich.« Was ja auch nicht gelogen war.

»Allein?«

NEIN!, schrie ich innerlich aus Leibeskräften und gab ein deutliches Ja von mir.

»Der Überfall hat sich so gegen halb fünf ereignet. Die jungen Männer erzählten, da hätten Sie, Ms. McAdams, die Kneipe gerade verlassen. Zusammen mit Mr. Hayes.«

Diese Lügner! Aber was die konnten, das konnte ich schon lange. Und noch viel besser: »Ich verließ die Kneipe um kurz nach vier und zwar allein. Sie sollten diesen Hosenscheißern ihre Hintern versohlen! Wahrscheinlich hatten diese bekifften Typen zu dieser Zeit ein paar ziemlich heftige Halluzinationen und haben sich selbst verletzt. Und unbescholtene und ehrliche Bürger dürfen sich mit den Auswirkungen ihres Drogenkonsums herumschlagen!« Ich war wirklich sauer. Diese Jungs hatten vielleicht Nerven. Erst wollten sie mich umbringen und dann behaupteten sie frech, Jack hätte sie angegriffen!

»Einer von ihnen hatte tatsächlich eine erhöhte Konzentration Hype im Blut«, gestand Nummer eins. »Wir haben Ihre Aussage aufgenommen und entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, die wir Ihnen bereitet haben. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag, Madam.« Programm Ende.

Das war’s? Unmöglich! Meine Bluse klebte mir wie eine zweite Haut am Körper und ich fror, als mich der Aufzug nach oben brachte. Ich zitterte wie ein Grashalm im Wind und wollte nur noch von Jacks starken Armen gehalten werden.

Im Flur lief er mir aufgelöst entgegen. Sicher war er erleichtert, mich so schnell wiederzusehen. Doch ich spürte, wie ihn ein Mantel aus Zorn und Wut umgab. Was war nur plötzlich in ihn gefahren? Er packte mich an den Schultern und sein sonst so freundliches Gesicht war einer Furcht einflößenden Maske gewichen. Ich schluckte. Noch nie hatte ich einen Mann so wütend erlebt. Völlig außer sich! Die Brauen tief nach unten gezogenen, schrie er mich an: »Was hast du mit Loyal-Pharm zu schaffen? Arbeitest du für sie?« Seine Augen sprühten Blitze, seine Hände zitterten und seine Haltung war unglaublich angespannt. Er drückte meine Schultern stärker zusammen, wobei er mich rückwärts gegen die Wand presste. Er schien gar nicht zu merken, wie hart er mich hielt oder dass er mich überhaupt festhielt.

»Was ist auf einmal los mit dir? Ich verstehe nicht … Du tust mir weh! Jack!« Tränen schossen mir in die Augen. Was hatte ihn so aufgeregt? Ich versuchte, seine Hände wegzudrücken, doch er ließ mich nicht. Wo war nur der Jack geblieben, den ich kannte? Er machte mir richtig Angst!

»Die Kisten auf dem Dachboden! Auf einigen ist das Symbol von Loyal Pharmaceutical! LP!«, rief er mir wütend ins Gesicht, lockerte aber seinen Griff etwas.

Ich war erst verwirrt und verstand nicht, was er meinte, dann schoss es mir wie ein Blitz in den Kopf: »LP, das bedeutet LAGO Pharmaceutical! Nicht LOYAL. Das ist die Firma, für die meine Eltern gearbeitet haben!«

Jack ließ mich los und ging ein paar Schritte zurück. Ich war froh, dass alles ein Irrtum war, doch sein Zorn verwandelte sich in Entsetzen. »Was?« Fassungslos starrte er mich an. Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Deine Eltern arbeiteten für die Leute, die mich gefoltert haben?«

»Was? … Nein, Jack, du irrst dich!«, rief ich und ging auf ihn zu. Er starrte mich weiterhin an, wobei er immer wieder den Kopf schüttelte. Ich ergriff seine Hand und hatte eine Vision: Ich sah durch Jacks Augen das Namensschild des Arztes, der ihn so schwer verletzt hatte. Da wurde mir schlagartig bewusst, warum mir das Symbol auf dem Anstecker so bekannt vorgekommen war. Jack hatte recht, es war dasselbe Zeichen! LP. Es waren dieselben verschnörkelten Buchstaben!

Warum hatte ich es nicht sofort erkannt, als ich es das erste Mal in seiner Erinnerung gesehen hatte? Meine Eltern hatten doch genauso ein Schild getragen! War ich zu abgelenkt gewesen oder wollte ich die Wahrheit nicht akzeptieren? Jetzt war ich es, die ihn fassungslos anblickte. »Das kann nicht sein. Meine Eltern hätten nie … Sie waren gute Menschen! Das musst du mir glauben!«

Meine Eltern waren doch keine Verbrecher! Das wurde alles zu viel für mich. Erst der entsetzliche Überfall, danach das nervenaufreibende Verhör und jetzt stellte sich der Mann, in den ich mich so schwer verliebt hatte, auch gegen mich! Ich sackte vor ihm auf den Boden, wo ich am liebsten meine Verzweiflung aus mir herausgeschrien hätte. Eine ungeheuer große Welle aus Schmerz und Kummer erfasste meinen Körper, die jeden einzelnen meiner Muskeln erzittern ließ. Ich schluchzte in meine Hände und hörte nicht auf, mich zu schütteln. Es war, als wollten mich meine Gefühle von innen zerreißen. Mein ganzes Leben schien plötzlich über mir zu zerbrechen.

»Kate, es tut mir leid! Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, vernahm ich seine Stimme an meinem Ohr. Ich fühlte seinen Schmerz darüber, dass er mich so sehr verletzt und mir nicht vertraut hatte. »Ich hätte niemals an dir zweifeln sollen, Kate. Dich trifft ja keine Schuld für das, was deine Eltern getan haben. Kannst du mir verzeihen? Wie soll ich das je wiedergutmachen?«, fragte er traurig und hockte sich neben mich auf den Boden. Er weinte auch. »Ich habe solche Angst, dass sie mich erwischen. Noch einmal stehe ich das nicht durch«, flüsterte er mit bebender Stimme.

»Halt mich, Jack.« Ich schluchzte laut auf, als ich meine Hände vom Gesicht nahm. »Sag mir, dass alles nur ein böser Traum ist!«

»Du bedeutest alles für mich, Kate. Und das ist kein Traum. Bitte verzeih mir.«

Diesmal umschlossen mich seine starken Arme voller Zärtlichkeit, worauf ich kraftlos gegen seine Brust sank. Ich brauchte einen Moment, um das gerade Geschehene zu verarbeiten.

Er hatte gesagt, ich bedeutete alles für ihn. Hieß das, er liebte mich?

Jacks Körper zitterte ebenfalls. »Die Erinnerungen an dich haben mich im Institut vor diesen Monstern gerettet, so wie man jemanden in letzter Sekunde aus einem brennenden Haus rettet, und ich danke es dir, indem ich dich abgrundtief verletze. Bitte verzeih mir, Kate.«

Ich ließ diese machtvollen Worte in mein Herz sinken, worauf ich zu ihm aufblickte, direkt in seine sturmgrauen Augen. »Deine Reaktion ist absolut verständlich, wenn man bedenkt, was du alles durchgemacht hast. Natürlich verzeihe ich dir.«

Jack bedeckte mein tränenüberströmtes Gesicht mit Küssen, wobei sich mein bebender Körper langsam beruhigte.

Allein der Gedanke, dass meine Eltern für denselben Konzern gearbeitet hatten, der Menschen solche Grausamkeiten antat, brachte mein perfektes Bild über sie zu Fall. Die Arme fest um den Körper des Anderen geschlungen, saßen wir auf meinem Fußboden und wussten beide, dass uns von nun an nichts mehr trennen konnte.

Beim Klingeln meines Multi-Phones kam ich zu mir und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Es war noch einmal Sam. Diesmal klang seine Stimme ruhiger, doch ich hörte genug Aufregung aus ihr heraus. »Wie ist es gelaufen, Schätzchen?«

»Ich denke, sie haben keinen Verdacht geschöpft.« Möglichst unauffällig zog ich meine Nase hoch. Sam sollte sich nicht noch mehr Sorgen machen.

»Da bin ich mir nicht so sicher. Sie beobachten dein Haus. Pass auf, dass Jack sich nicht am Fenster blicken lässt. Ron ist in einer halben Stunde im Keller und bringt Jack an einen sicheren Ort. Seine Sachen aus der Pension gebe ich ihm, wenn er die Stadt verlässt.«

»Ich werde mit ihm gehen, Sam«, sagte ich so ruhig wie möglich.

Mein Onkel klang alles andere als begeistert. »Kate, ist dir überhaupt bewusst, was das für dich bedeutet? Ständig auf der Flucht zu sein, nicht zu wissen, was einem der nächste Tag bringt? Hast du dir das alles gut überlegt?«

»Ja, das habe ich. Ich möchte bei Jack bleiben.« Als ich das sagte, blickte ich tief in Jacks Augen. Da nahm er meine Hand in seine; eine Geste, die mir weitere Zuversicht schenkte. Er wollte mich bei sich haben.

»Dann sehen wir uns am Hafen.« Sams Stimme klang bedrückt, was unheimlich schmerzte. Aber ich hatte mich entschieden.

Er legte auf, bevor ich ihn über meine Eltern ausfragen konnte, über Ron und ihn selbst.

Schnell packte ich ein paar Sachen in den alten Rucksack und zog mir ein frisches Hemd über. Jack verschwand währenddessen im Wohnzimmer. Als er zurückkam, hielt er mir den uralten Mp3-Player meines Vaters vor die Nase. Er war kaum größer als ein Handy und ich wusste, dass er nicht mehr funktionierte. Dennoch hatte ich ihn aufgehoben, da Dad ihn stets bei sich getragen hatte, sogar am Tag seines Unfalls.

»Den habe ich in einer der Kisten gefunden«, sagte Jack. »Ich denke, du solltest ihn mitnehmen.« Er steckte das kleine Gerät zu meinen anderen Sachen in den Rucksack. Ich fragte ihn erst gar nicht nach dem Warum. Wozu sollte das alte Ding uns nutzen?

Im Moment wollte ich auch nicht weiter darüber nachdenken, denn ich war zu sehr mit Packen beschäftigt. Was brauchte man denn alles, wenn man auf der Flucht war? Geld. Und zwar bares! Zum Glück war die Ära der Scheine und Münzen noch nicht ganz vorüber. Wenn MH auch nach mir suchen würde, konnte ich schlecht mit Daumenscan bezahlen. Innerhalb von Sekunden hätten sie uns ausfindig gemacht. Also lief ich in die Küche, wo ich aus einer Keksdose die gesamten Ersparnisse mehrerer Monate auf den Tisch schüttete, die ich mir eigentlich für meinen Urlaub zurückgelegt hatte, und stopfte das Geld in meine Hosentaschen. Das würde vielleicht ein paar Wochen reichen.

Im Keller mussten wir nicht lange auf Ron warten. Ich erkannte ihn gleich, als er uns in dem kahlen Flur entgegen kam. Er war größer als mein Onkel und ein paar Jahre jünger. Zudem hatte Ron noch eine Menge Haare auf dem Kopf, auch wenn sie bereits ergraut waren. Er machte für seine mindestens fünfzig Jahre einen sehr fitten Eindruck. Das war Jack schon aufgefallen. Aber erst, seit er es erwähnt hatte, wurde mir das ebenfalls bewusst. Ich kannte Ron schon lange. Irgendwie hatte er sich in all der Zeit kaum verändert.

»Hi, Kate«, sagte er und umarmte mich kurz. Er kam auf die Minute genau, wobei er etwas in der Hand hielt, das aussah wie eine überdimensionale Spritze.

»Was ist das?«, wollte ich wissen.

Er klang gehetzt. »Gib mir deine Hand.«

Ich reichte sie ihm mit einem mulmigen Gefühl.

»Die andere«, sagte er.

Die andere war die mit dem Chip. Ich schluckte, als ich sie ihm hinhielt, denn plötzlich wusste ich genau, wozu das Gerät diente.

Ron setzte das silberne Röhrchen, das aussah wie eine dicke Kanüle, auf meinen Handrücken und entfernte damit meinen ID-Chip – unblutig, aber durchaus schmerzhaft. Dann warf er den Sender einfach vor sich auf den Boden. So würde MH zumindest eine Zeitlang glauben, dass ich mich in diesem Gebäude befand.

Als wir in die Unterwelt von Greytown abtauchten, hatte ich das Gefühl, dass ich diese Stadt für eine lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde.

Hand in Hand liefen Jack und ich im Dunkeln hinter Ron her, durch die unterirdischen, feuchten Gänge. Der Gestank von Abwasser und Moder beleidigte meine Nase. Ron hatte sich eine Stirnlampe umgeschnallt und folgte konzentriert den Anweisungen seines Navigationsgerätes. Mit seinen fünfzig Jahren rannte er wie ein junger Spund. Es gab nur eine Erklärung, warum Ron für sein Alter dermaßen fit war: Er musste ein Mutant sein! Bevor ich mir weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, blieb Ron abrupt stehen, sodass wir fast in ihn hineingelaufen wären. Unter lautem Gequietsche schob er den halb verrosteten Eisenriegel einer massiven Tür zur Seite. Schon schlich sich ein fischiger Geruch in meine Nase.

Als wir zwei feuchte Treppen nach oben stiegen und die düsteren Katakomben hinter uns ließen, war mir sofort klar, wo wir waren: in einer Lagerhalle am Hafen. Dort wartete Sam auf uns, die große Sporttasche mit Jacks neuen Anziehsachen aus der Pension in der Hand.

»Ihr müsst schnell machen«, sagte er. »MUTAHELP wird sicher bald die ganze Stadt nach euch durchkämmen.«

Ron zückte wieder seine »Spritze« und jagte Jack und mir jeweils ein neues Implantat unter die Haut, das Sam ihm zuvor in einer sterilen Folie überreicht hatte. »Diese ID-Chips enthalten eure neuen Identitäten. Von nun an seid ihr offiziell Torri Anderson und Jack Sheridan. Außerdem können ihre Satelliten sie nicht aufspüren.«

Mir blieb der Mund offenstehen. Woher hatte Sam diese Chips?

Sam überreichte mir ein nagelneues Multi-Phone, kurz MP, das alle Funktionen eines Handys, Navigationsgerätes und Digi-Books miteinander vereinte. Es enthielt eine genaue Beschreibung unserer neuen Identitäten, die wir uns gut einprägen sollten, bevor wir die Daten aus dem Multi-Phone löschten. Mein altes gab ich Sam, da ich es von nun an nicht mehr brauchte.

»Mit diesem Gerät könnt ihr immer mit uns in Kontakt treten, ohne befürchten zu müssen, von MUTAHELP oder der Regierung abgehört oder geortet zu werden. Es läuft über unsere Satelliten«, erklärte mir Ron.

»Eure Satelliten?« Ich verstand nicht.

»Ron und ich sind Mitglieder einer Organisation, die sich MALVE – Mutanten aller Länder, vereinigt – nennt. Das ist eine Untergrundbewegung, der Mutanten auf der ganzen Welt angehören.«

Ron und Sam waren was?!

Es brauchte eine Weile, bis ich die Information verarbeitete. Das erklärte auch die neuen ID-Chips.

»Wir haben Mitglieder vom ärmsten Bauern bis zum ranghohen Politiker, die verdeckt für MALVE arbeiten, um die Stellung der Mutanten in der Gesellschaft zu festigen«, sagte Sam. »Und um uns gegen unseren größten Feind, der AMF, der Anti-Mutanten-Front, zu wehren, zu der auch viele unserer Politiker gehören. Die AMF ist ebenfalls eine geheime Organisation, die es fast schon so lange gibt wie MALVE. Die AMF setzt alles daran, euch die Menschenrechte zu nehmen, da sie die Meinung vertritt, Mutanten seien keine richtigen Menschen. Und da die meisten Leute auf dieser Welt das Unbekannte fürchten, hat ihre Gemeinschaft eine sehr große Anhängerzahl. MUTAHELP und Lago-Pharm, zum Beispiel, stehen auf ihrer Seite. Und die vielen Verhaftungen von angeblich gefährlichen Mutanten, die es momentan gibt, sprechen für sich. Sie hetzen das Volk gegen uns auf, und MALVE versucht alles, um sie daran zu hindern.«

»Also waren meine Eltern keine guten Menschen«, sagte ich bedrückt. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, dass ich mich all die Jahre so in ihnen getäuscht hatte.

»Im Gegenteil, Schätzchen.« Sams Augen strahlten. »Sie kämpften für unsere Seite wie kaum ein anderes Mitglied auf dieser Welt. Sie wurden MALVE-Spione und deine Eltern hätten es auch fast geschafft, die korrupten und illegalen Machenschaften von Lago-Pharm und der Regierung an die Öffentlichkeit zu bringen, aber …« Er zögerte kurz. »Ich erzähle dir das ein anderes Mal. Jetzt ist nicht die Zeit dazu. Ihr müsst so schnell wie möglich aus dieser Stadt verschwinden. Alles, was ihr braucht, findet ihr hier drin.« Sam übergab Jack die große Tasche.

»Nur eins noch, Sam. Bist du auch ein Mutant?« Diese Frage brannte mir schon die ganze Zeit auf der Seele. Ich war verwirrt und hatte noch so viele andere Fragen an ihn.

»Nein, Kate, oder besser gesagt: Torri. Aber du wirst alles früh genug erfahren.«

Torri … Ein schöner Name, aber passte er zu mir?

Jetzt meldete sich Ron wieder zu Wort: »Nun müsst ihr aber wirklich los. Kommt mit!«

Wir folgten ihm alle durch eine Tür an der gegenüberliegenden Seite der Halle in ein düsteres Bootshaus, das mich mehr an eine Wellblechhütte erinnerte. In dem kleinen Anbau lag ein Hover-Boot im Wasser, das ein Fischer startete, als wir eintraten. Es machte beachtlich viel Wind und einen ohrenbetäubenden Lärm, während es sich aus dem Wasser hob.

»Mitch wird euch auf eine der schwimmenden Netz-Farmen bringen, die heute nach Otumi fährt. In etwa zweiundzwanzig Stunden werdet ihr dort ankommen und an Land gebracht werden. Dort wird sich Hill um euch kümmern. Alles Weitere erfahrt ihr von uns oder einem anderen MALVE-Mitglied über euer Telefon«, erklärte uns Ron, wobei er gegen den Lärm des Bootes anschrie.

Mitch war ein alter Seebär mit einem dichten weißen Bart. Er trug eine dunkelblaue Wachsjacke, unter der sein stattlicher Bauch zu wenig Platz hatte.

»Aber wie erkennen wir, ob vor uns ein MALVE-Mitglied steht?«, rief ich zurück.

Ron grinste. »Ihr werdet es merken!«

»Und wenn wir in eine Falle laufen?« Mein Herz überschlug sich vor Aufregung.

Schlagartig wurde Ron ernst. »Dafür gibt es nie eine Garantie, aber wir geben unser Bestes, um euch zu schützen.«

Jack schüttelte Ron und Sam die Hände und dankte ihnen für alles. Danach umarmte ich meinen Onkel und wischte mir hinter seinem Rücken heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel. Du wirst mir sehr fehlen, Onkelchen, schickte ich ihm meine Gedanken, als ich seine stoppelige Backe küsste. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich ihm auf diesem Weg etwas mitteilte. Es wurde langsam Zeit endlich die Kate – jetzt Torri – zu sein, die ich war, zumindest vor den Menschen, die ich liebte.

»Du wirst mir auch sehr fehlen, Schätzchen«, antwortete er mir und zwinkerte sich die Feuchtigkeit aus den Augen. »Aber du kannst über dein MP mit mir in Kontakt treten, wann immer du willst.«

»Das werde ich, Sam. Ich habe nämlich eine Menge Fragen an dich.«

Jack half mir in das Hover-Boot, das sofort mit uns Richtung Ausgang schwebte. Kurz bevor wir das Tor erreichten, winkte ich meinem Onkel noch einmal zu, der sich in ein großes Taschentuch schnäuzte, und schickte ihm: Onkel Sam! Kannst du bitte meine Pflanzen gießen solange ich weg bin? Ich liebe dich!

Dann verschwand ich mit Jack unter Deck. Der kleine Engel auf meiner rechten Schulter warf mir abgrundtiefe Herzlosigkeit vor und wie ich es nur mit meinem Gewissen vereinbaren könne, meinem kranken Onkel solche Sorgen zu bereiten, während das Teufelchen zu meiner Linken mir zu diesem mutigen Entschluss, endlich einmal mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, gratulierte.

Um meinem inneren Zwiespalt ein Ende zu setzen, gesellte ich mich zu Jack ans Fenster, durch das wir etwa anderthalb Meilen vor uns mehrere Netzkäfige sahen, auf die Mitch unser Boot zusteuerte. Um gigantische, bewohnbare Masten, die tief in das Wasser ragten, waren ringförmig riesengroße Netze gespannt, die hunderttausend Fische und mehr beherbergten. Die Fischer hatten ihre Unterkünfte in der Mastspitze der Fischaufzucht-Einheit, die aus dem Wasser sah. Ich würde mich darin fühlen wie eine Sardine in der Dose, und war froh, dass mein Magen leer war.

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Seit mehreren Stunden hielten Jack und ich uns nun schon in der winzigen Kabine im Inneren des Mastes auf, in der gerade für ein schmales Stockbett Platz war. Mein Kopf hing aus einem bullaugenförmigen Fenster, denn mein Magen sträubte sich gegen die ungewohnten Bewegungen des Bodens und wollte mir jede Sekunde Hallo sagen. Nur die frische Brise, die um meine Nase wehte, machte meine Übelkeit erträglicher.

Obwohl wir nur langsam vorankamen, hatten wir Greytown schon seit einiger Zeit aus den Augen verloren. Jack saß auf dem unteren Bett und wühlte in meinem Rucksack. Ihm schien der Seegang nichts auszumachen. Die Pille, die ich vor ein paar Minuten von einem Besatzungsmitglied bekommen hatte, entfaltete bereits ihre Wirkung, also setzte ich mich neben Jack auf die weiche Matratze. »Kaum kennen wir uns ein paar Tage, schnüffelst du schon in meinen Sachen rum.« Frech grinste ich ihn an.

»Was?« Unter gerunzelter Stirn schaute er zu mir auf. »Oh, ich habe mich nur daran erinnert, dass ich etwas auf deinem Dachboden gefunden habe, was ich mir genauer ansehen wollte.«

Ich wusste, was er meinte, worauf ich den Player aus einer der vielen Seitentaschen zog. »Wenn du dir Oldies anhören willst, wirst du Pech haben. Das Ding hat schon lange seinen Geist aufgegeben.«

Jack drehte das kleine Abspielgerät mehrmals in den Händen hin und her, um es akribisch zu inspizieren. Dann drückte er auf eine Taste, während er gleichzeitig die Oberfläche mit den Bedienelementen zur Seite schob. Er wendete das geöffnete Gehäuse und klopfte ein kleines gräuliches Buch auf seine Handfläche. Jetzt war ich echt baff!

»Ich wusste doch, dass das hier ein F-G ist!«, rief Jack sichtlich erfreut aus. »So einen ähnlichen Player hatte ich als Kind auch. Hab darin immer meine Schätze versteckt.«

»Ein F-was?«, fragte ich verdutzt. Hatte ich noch nie gehört.

»Ein Fool-Gimmik. Das ist irgendein Ding, das vortäuscht etwas zu sein, was es gar nicht ist, um etwas anderes zu tarnen«, erklärte mir Jack gedankenverloren, während er das winzige Heft aufschlug. Es war aus richtigem Papier und schien schon sehr alt zu sein. Die kleinen Seiten waren vergilbt und wellig. Als Jack die Ecken über seinen Daumen gleiten ließ, erkannten wir, dass das Büchlein vom Anfang bis zum Ende mit einer gedrängten blauen Handschrift vollgeschrieben war.

»Es scheint eine Art Tagebuch zu sein.« Jack reichte es mir.

Aufgeregt blätterte ich mit meinem Fingernagel die erste Seite auf und erkannte das Datum meiner Geburt. Laut las ich vor:

»Heute wurde unsere Tochter Kate geboren. Ich bin während des Kaiserschnitts nicht von Rosies Seite gewichen, denn ich wollte unser Kind als Erster sehen. Ich bin so erleichtert! Keine sichtbaren Mutationen. Niemand hatte Einwände, dass ich sie teste. Mein Verdacht hat sich bestätigt, wie sollte es auch anders sein. Aber ich habe ihre Ergebnisse gefälscht. Unsere Kate wird ein freier Mensch sein …« Hastig schaute ich zu Jack auf. »Das hat mein Vater geschrieben!«

Mein Herz raste vor Aufregung und ich blätterte ein paar Seiten weiter. »Die Klon-Soldaten sind nicht überlebensfähig (dank mir). Norris hat keinen Verdacht geschöpft, doch ich muss ihm bald Resultate liefern, sonst wird er misstrauisch werden …«

Ich blickte erneut zu Jack, der mich mit weit aufgerissenen Augen ansah. »Da hast du ja nicht so falsch gelegen, als du glaubtest, dein Vater wäre ein Geheimagent!«

»Ja, ich kann es noch gar nicht begreifen. In den letzten Stunden ist alles, woran ich bis jetzt geglaubt habe, wie ein Kartenhaus über mir zusammengefallen.« Ich war ernsthaft verwirrt. Heute Morgen war ich als Kate McAdams erwacht, in dem Glauben, meine Eltern wären in der Forschung tätig gewesen – plötzlich war ich Torri Anderson, hatte einen Onkel, der für den Untergrund arbeitete und …

»Ob Sam von diesem Buch weiß?«, riss mich Jack aus meinen Gedanken.

»Keine Ahnung, aber ich werde ihn gleich mal fragen.« Mit zitternden Händen holte ich das MP aus dem Rucksack.

Die ganze Zeit war das Tagebuch meines Vaters in meinem Besitz gewesen und ich hatte keine Ahnung gehabt! Nervös kaute ich auf meiner Lippe. Am liebsten hätte ich es gleich gelesen, doch das musste warten. Das Wichtigste war jetzt, dass wir uns unsere neuen Identitäten gut einprägten. So lange hatte ich nichts von dem Buch gewusst, da kam es auf ein paar Stunden mehr oder weniger auch nicht an.

Kurze Zeit später strahlte mir wieder Sams vertrautes Gesicht entgegen, während ich ihm aufgeregt erklärte, was wir entdeckt hatten. Sam war erstaunt; er hatte nichts von diesem Buch gewusst. Allerdings war er sich sicher, dass sein Bruder alle wichtigen Ereignisse und Fakten an MALVE weitergegeben hatte.

»Aber es wird dir vielleicht zeigen, was deine Eltern alles für unsere Sache riskiert haben. Rose und John waren die mutigsten Menschen, die ich kannte. Und sie haben dich sehr geliebt, Kate«, schrie Sam in sein MP, um den Lärm der Kneipe zu übertönen. Er hatte sich in sein kleines Hinterzimmer begeben, damit niemand etwas von dem Gespräch mitbekam.

»Wie kamen meine Eltern zu MALVE?«, wollte ich von ihm wissen.

»Deine Mutter litt an Chorea Huntington, einer erblich bedingten Hirnstörung. Sie unterzog sich einer Gentherapie und wurde vor deren Abschluss mit dir schwanger. Ihre Krankheit war geheilt, aber deine Eltern wussten nicht, wie sich die Therapie auf dich ausgewirkt haben könnte. Ich war zu dieser Zeit schon Mitglied bei MALVE und nachdem deine Eltern bei einer Fruchtwasseruntersuchung mutierte Gene feststellten, bot MALVE ihnen Hilfe an. Dein Vater wusste, wie das Institut auf diese Nachricht reagieren würde; er hatte ja schon mehrere Jahre für Lago-Pharm gearbeitet. Er wäre gerne ausgestiegen, doch dazu steckte er schon zu tief mit drin. John war sehr erleichtert, dass er dem Untergrund nützlich sein konnte. Es hatte sein Gewissen etwas entlastet. So sind deine Eltern durch mich da hineingerutscht.«

Bis jetzt hatte ich ein völlig anderes Bild meiner Vergangenheit gehabt. Mein bisher so langweiliges Leben wurde auf einen Schlag faszinierend und aufregend. Etwas zu aufregend für meinen Geschmack. Dennoch war ich so neugierig, dass ich alles wissen wollte. »Wieso bist du ein Mitglied bei einem Verein, dem sonst nur Menschen wie Jack und ich angehören?«

»Meine Frau Millie war ein Mutant Klasse drei. Sie wurde von MUTAHELP umgebracht und mit ihr unser ungeborenes Kind. Seitdem habe ich geschworen, mich an MH zu rächen, indem ich ihre kriminellen Machenschaften aufdecke.«

Ich war sprachlos. Armer Sam. Wie schmerzhaft musste es für ihn gewesen sein, seine Frau und sein Kind zu verlieren. Deswegen wollte ich nicht weiter nachfragen, wie es zu diesem Mord kam. Von all dem hatte ich keine Ahnung gehabt! Natürlich hatte ich gewusst, dass Sam verheiratet gewesen war, aber nicht, was geschehen war. Wäre ich nicht so erpicht darauf gewesen, meine Fähigkeiten ständig zu unterdrücken, hätte ich sicher schon viel früher über alles Bescheid gewusst. Ich hatte doch gespürt, dass er mir was verheimlichte!

Und nun hatte ich ihn auch noch verlassen. (Mein Engelchen machte mir gerade wieder die Hölle heiß.)

Sam bemerkte mein Schweigen und fuhr fort: »Es tut mir leid, dass ich dir nie etwas davon erzählt habe. Ich wollte dich nicht damit belasten. Als deine Eltern starben und ich dich bei mir aufnahm, zog ich mich für lange Zeit aus dem Untergrund zurück. Ich wollte alles vergessen, um noch einmal von vorn zu beginnen. Ron hielt mich während dieser Zeit zwar auf dem Laufenden, aber ich unternahm nichts, was MH auf dich oder mich aufmerksam gemacht hätte. Das war ich deinen Eltern schuldig. Erst als du mir Jacks Geschichte erzähltest, hielt ich es für notwendig, MALVE zu informieren, dass Lago-Pharm für die Regierung eine Super-Waffe entwickeln will. Vielleicht überlegt es sich Jack und möchte auch für MALVE arbeiten? Er könnte uns sicher neue Informationen über Lago-Pharm geben und uns mit seinen Fähigkeiten vielleicht bei der einen oder anderen Sache behilflich sein.«

»Ich würde mich sehr geehrt fühlen«, warf Jack ein, »nach allem, was Lago-Pharm mir angetan hat.«

»Dann werde ich MALVE die nötigen Informationen geben. Ron wird dein Ansprechpartner sein. Er ist sozusagen der Oberboss des Untergrundes von Greytown.«

Nun wurde mir schlagartig klar, warum es in Greytown so viele »andere« Menschen gab. Diese öde Stadt war eines ihrer Operationszentren!

Sam räusperte sich und erzählte weiter. »Und Ka… Torri, du bist jetzt alt genug, um dein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich kann dir nicht mehr sagen, was du tun und lassen sollst. Ich denke, die Zeit ist reif, dass du erfährst, wie deine Eltern wirklich gestorben sind.«

»Ich glaube, ich weiß es schon«, unterbrach ich ihn schweren Herzens. »Sie wurden ebenfalls umgebracht, genau wie deine Frau, nicht wahr?«

Nach einem kurzen Moment des Schweigens bestätigte Sam meinen Verdacht: »Ja, von Lago-Pharm. Wir standen kurz vor dem Durchbruch. Deine Eltern wollten uns an jenem Abend, als sie starben, alle Daten übermitteln, die den Konzern hätten auffliegen lassen. John hatte sich über Monate hinweg das Vertrauen von Norris, seinem Chef, erschlichen, um Zugang zum Generalcomputer der Firma zu erhalten. Er war sogar an das Masterpasswort gekommen, das wir so dringend benötigten. Alle für uns wichtigen Fakten über das Unternehmen und ihre menschenverachtenden Experimente und Forschungen sind auf diesem Rechner gespeichert. Doch irgendetwas lief schief. Wir wissen bis heute nicht, was genau passiert ist, aber kurz vor dem Übergabepunkt kam ihr Auto von der Straße ab und sie stürzten in einen Abgrund. Ihr Wagen überschlug sich unzählige Male …« Sams Stimme zitterte und er musste sich wieder in sein großes Taschentuch schnäuzen. »Wir haben bis heute nichts Konkretes in der Hand. Kein Passwort, keine Aufzeichnungen, null Beweise.«

»Ihr habt mich«, sagte Jack. »Ich war live dabei!«

»Und wer wird dir glauben?« Sam seufzte. »Wir haben auch nur Johns Berichte, keine Videoaufzeichnungen. MUTAHELP ist verdammt raffiniert im Vertuschen.« Aus traurigen Augen schaute Sam mich an. »Ich will dich nicht auch noch verlieren, Katie. Das würde mein altes Herz nicht überstehen.«

Am liebsten wäre ich jetzt bei ihm gewesen, doch das war wohl in nächster Zeit unmöglich. So versprach ich ihm wenigstens, auf mich aufzupassen.

»Ich werde auf sie aufpassen«, warf Jack ein und legte seinen Arm um mich.

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Es musste weit nach Mitternacht sein. Ich lag auf dem oberen Bett und konnte nicht einschlafen. Zu viele Dinge gingen mir durch den Kopf.

Meine Eltern wurden umgebracht … Das musste ich erst einmal verdauen. Außerdem waren sie Spione gewesen. SPIONE! »Ich fasse es nicht«, murmelte ich vor mich hin. Wie anders war doch ihr Leben verlaufen, im Gegensatz zu meinem. Nur nicht auffallen, immer schön bedeckt halten. Langweilig. Total langweilig! Aber hätte ich tauschen wollen? Ständig der Gefahr bewusst, entdeckt zu werden? Ich glaube nicht. Mir war dieses Abenteuer schon zu aufregend.

Jack schlief tief und fest unter mir, was mir seine regelmäßigen Atemzüge verrieten. Jetzt kannte ich ihn erst ein paar Tage und schon hatte dieser Mann mein Leben auf den Kopf gestellt. Wenn ich ihn nicht getroffen hätte, würde ich bis jetzt noch nicht die Wahrheit über das Leben meiner Eltern kennen, geschweige denn wissen, dass es eine Untergrundbewegung der Mutanten gab, die sich MALVE nannte. Und jetzt gehörten wir selbst zu diesem Geheimbund.

Sam hatte eine Schere und eine Färbung in Jacks Tasche gelegt, mit der Anweisung, mein Aussehen entsprechend meiner neuen ID-Daten zu verändern. So hatte Jack mir geholfen, meine geliebten langen Haare auf Schulterlänge abzuschneiden und sie dunkelbraun zu färben. Es sah nicht einmal schlecht aus, dennoch würde ich meine Mähne vermissen. Laut der neuen Daten war ich jetzt eine geschiedene Frau. Also frei für Jack, dachte ich amüsiert.

Mein Magen verlangte wieder nach einer dieser Pillen gegen Seekrankheit. Ich schlich die Leiter hinunter, um im schwachen Lichtschein, der durch das Bullauge fiel, in meinem Rucksack nach einer weiteren Tablette zu suchen. Mein Blick schweifte nach draußen. Am Himmel leuchtete groß und voll der gute alte Mond. Sein bleiches, bläuliches Licht überzog das schwarze Meer mit einem glitzernden Silberteppich. Es war ein Bild wie im Märchen. Magisch, verzaubernd. Die blaue Farbe kam von feinen Aschepartikeln in der Atmosphäre, die der Vulkanausbruch hinterlassen hatte. Doch das würde sich bald legen.

Viele Menschen glaubten, der blaue Mond stünde für einen Wechsel, für einen Neuanfang. War er ein Zeichen? Ich wünschte es mir so sehr. Hatte MALVE deshalb den blauen Mond zu ihrem Symbol auserkoren? Er war ihr Erkennungszeichen. Das stand in den Unterlagen, die Ron uns überlassen hatte.

Erneut schaute ich nach oben. Blue Moon … Ob Jacks Lieblingscocktail nach dem Mond benannt worden war?

Ich lauschte dem Auf und Ab der Wellen, die heftig an den Mast klatschten, der zielstrebig auf Otumi zusteuerte, und inhalierte die kühle Nachtluft, die in die Kabine hineinwehte.

Dieser friedliche Augenblick zog mich eine Weile in seinen Bann und ließ mich meine Magenschmerzen vergessen.

Plötzlich stöhnte Jack hinter mir auf, weshalb ich sofort zu ihm herumwirbelte. Im schwachen Lichtschein erkannte ich auf seiner Stirn unzählige Schweißtropfen. Sein Atem ging schnell. Er träumte sichtlich etwas Furchtbares, also berührte ich vorsichtig seine Schulter, um ihn von diesem Albtraum zu erlösen. Da geschah etwas Merkwürdiges. Ich sah, was Jack gerade träumte!

Er rannte mit mir an der Hand durch unendlich lange, verwinkelte Korridore. Es war unverkennbar das Krankenhaus, in dem Jack gefoltert wurde! Beide trugen wir nur unsere Unterwäsche: Jack seine schwarzen Shorts und ich einen Schlüpfer und das fliederfarbene Hemd, das ich mir angezogen hatte, als er mich damals im Bad überraschte. Immer wieder sah er sich um. Hinter uns lief Dr. Harcourt. Mit seinem blutgetränkten Kittel zog er eine rote Spur hinter sich her, während er uns verfolgte. Sein Gesicht war zu einer grauenvollen Fratze verzerrt. Obwohl wir wie die Wahnsinnigen liefen, kamen Jack und ich kaum vom Fleck. Der Doktor hatte uns schon fast erreicht. Seine Hände sahen aus wie die Klauen eines Aasgeiers und anstatt seiner Fingernägel kamen scharfe Skalpellklingen aus seinen Krallen. Jack wusste, dass der Arzt hinter mir her war und es kein Entkommen gab.

Dr. Harcourt hatte mich fast erreicht, als Jack sich schützend vor mich warf, worauf der Arzt ihm seine rasiermesserscharfen Klauen in die Brust bohrte …

Jack schrie auf.

Ich beugte mich über ihn und rüttelte an seinen Schultern. »Wach auf, Jack, du träumst nur!«

Da riss er endlich die Augen auf. Er wirkte verwirrt. Als er erkannte, wo er war, setzte er sich im Bett auf und zog mich aufatmend in seine Arme. Er hielt mich so fest umschlungen auf seinem Schoß, dass ich sein rasendes Herz fühlte. Wäre jemand in diesem Moment in die Kabine gekommen, hätte er wohl vermutet, ein Paar beim Liebesakt zu erwischen. Schließlich waren wir beide so spärlich bekleidet wie eben in Jacks Traum.

»Kate, ich will dich niemals verlieren«, flüsterte Jack mit belegter Stimme in mein Ohr.

»Das wirst du nicht. Es war doch bloß ein Traum.« Mit diesen Worten beruhigte ich sein rasendes Herz und kuschelte mich zu ihm unter die Bettdecke. »Er ist tot, Jack. Er wird dir nie wieder wehtun.«

»Du weißt, was ich geträumt habe?« Er klang weniger erstaunt, als ich es gerade war.

»Ich hatte keine Ahnung, dass ich dazu in der Lage bin.« Das war die Wahrheit. Ich meine – eigentlich war es logisch, denn ich konnte auch Gedanken »sehen«. Dennoch, es verwunderte mich. Was wusste ich noch alles nicht über mich? Mit Jacks Hilfe würde ich das herausfinden, da war ich mir ziemlich sicher.

Jack zog mich an sich. Als ich in seinen starken Armen lag, sein Herz in seiner Brust klopfen hörte und seinen männlichen Duft einatmete, der mich immer etwas schwindlig machte und ein Kribbeln in meinem Magen erzeugte, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als endlich mit ihm zu verschmelzen. Doch ich spürte, dass Jack sich gegen seine Gefühle für mich sperrte. Er wollte uns den Abschied nicht unnötig schwer machen, denn er hatte vor, mich in Otumi zu verlassen. Ich wusste es aus seinen Gedanken. Einerseits wollte er mich beschützen, andererseits würde er mich lieber bei MALVE sehen. Die würden wissen, wo ich sicher war.

Und er?

Ich lasse dich nicht gehen, Jack Sheridan!, dachte ich, doch da war er schon wieder eingeschlafen.

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Der Wind pfiff mir in den Ohren und zerrte an meinen gefärbten Haaren. Hoch oben am Himmel wurde die Mittagssonne von einer Unmenge Wolken verdeckt, die dieselbe Farbe hatten wie Jacks Augen. Es war schwül und roch nach Regen.

Ich war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, denn während der wackeligen Überfahrt in dem motorisierten Schlauchboot, hätte ich mich beinahe übergeben. Unruhige See. Davon hatte ich erst einmal genug.

Der Fischer, der uns in einer menschenleeren Bucht abgesetzt hatte, war schon wieder über das aufgewühlte Wasser verschwunden. Jack und ich standen allein, nur mit unseren Taschen, auf dem grobkörnigen Sand. Um uns herum ragten dunkelgraue Felswände fast bis in den Himmel. Es roch nach Seetang, den der Schaum der Wellenausläufer vor unsere Füße spülte.

Wo war nur dieser Hill, von dem Ron gesagt hatte, er würde uns hier abholen? Weit und breit gab es nur Wasser, Sand und Klippen zu sehen.

Ein pummeliges Mädchen von etwa vierzehn Jahren hüpfte wie ein bunter Gummiball die Stufen herunter, die vor ewigen Zeiten aus dem Fels geschlagen worden waren. Ihre knallpink gefärbten Haare flatterten im Sturm und sie pfiff irgendeine Melodie, die kaum an unsere Ohren gelangte, weil der Wind sie mit sich forttrug. Ansonsten war hier in dieser gottverlassenen Gegend, ein paar Meilen außerhalb der Stadt Otumi, kein anderes Lebewesen zu erkennen.

»Na toll«, sagte ich leicht genervt, »jeden Moment fängt es zu regnen an und dieser Hill lässt uns hier sitzen.«

»Lass uns die Stufen dort raufgehen. Vielleicht wartet er oben auf uns.« Jack schnappte sich meinen Rucksack sowie seine Tasche und stapfte durch den Sand voran in Richtung Treppe.

»Zweihundertdreiundfünfzig!«, rief das mollige Mädchen, als es an der untersten Stufe angelangt war und wir an ihr vorbeigingen. Um ihre Stupsnase hatte sie zahlreiche Sommersprossen. Die Kleine strahlte uns aus ihren braunen Rehaugen begeistert an. »Verdammt, bin ich gut! Ich wusste es! Sind genau zweihundertdreiundfünfzig Stufen.«

»Das freut mich für dich«, sagte ich und seufzte, weil mir gerade nichts Besseres einfiel. Wir liefen an ihr vorbei und machten uns an den Aufstieg.

»Hey, wo wollt ihr hin? Wartet auf mich!« Schon hüpfte sie an mir vorbei nach oben.

»Galaktischer Knackarsch!« Beim Vorbeilaufen schlug sie Jack auf den Hintern.

»He!«, rief dieser verdutzt aus.

Was für ein dreistes, frühreifes Ding!

Die Göre baute sich ein paar Stufen über uns auf. Die Hände keck in die Seiten ihres bunten, viel zu kurzen Sommerkleides gestemmt, grinste sie uns frech an. Dabei fiel mir die Zahnlücke auf, in der sie mit ihrer Zunge spielte. »Ach du Scheiße! Ihr habt keine Ahnung, wer ich bin.«

»Interessiert uns auch nicht«, murmelte ich hinter Jacks Rücken ungeduldig. Hoffentlich erlöste uns Hill bald von dieser Nervensäge.

»Hey, das habe ich gehört!«, rief sie gespielt empört zu mir herunter.

Ich dachte, meine Augen wollten mir erst einen Streich spielen, denn ihr kinnlanges Haar wurde von einer Sekunde zur anderen knallrot.

»Also, Knackarsch, du musst Jack sein und die heiße Braut, die dir am Hintern klebt, ist wohl Torri.« Ihre Haarfarbe wechselte wieder von knallrot nach pink.

»Oh, wie unhöflich von mir. Darf ich mich vorstellen: Hillary McKenzie, Superaudakt und Kapillarmutant, aber für meine Freunde einfach nur Hill.« Sie schüttelte dem verblüfften Jack und mir die Hand.

Das war also das MALVE-Mitglied, das sich um uns kümmern sollte? Ein Kind? Rotzfrech und ordinär dazu?

»Eure doofen Gesichter sprechen Bände.« Hill grinste vergnügt. »Hattet wohl jemand anderen erwartet, hä?«

Jack und ich wussten nicht so richtig, was wir antworten sollten.

»Was ist ein Superdidakt?«, fragte er.

»S-U-P-E-R-A-U-D-A-K-T!«, buchstabierte Hill mit übertriebener Gesichtsmimik. »Wenn jemand in Otumi furzt, kann ich es bis hierher hören. Viel galaktischer ist aber, dass ich meine Haarfarbe wechseln kann, wann immer und so oft ich will.« Um diese Aussage zu unterstreichen, wechselte sie von pink nach türkis und wieder zurück nach pink. Ich spürte, dass hinter ihrer durchgeknallten Fassade ein zwar verrücktes, aber hochintelligentes Mädchen steckte. Sie war jedoch auffällig wie ein bunter Hund! Was hatte sich Ron nur dabei gedacht uns so eine zu schicken?

Ohne Vorwarnung öffnete der Himmel seine Schleusen und das Wasser fiel literweise auf uns herunter.

»Alle mir nach!«, befahl Hill, während sie sich über die nassen Stufen nach oben trollte. Wir folgten ihr die Treppe rauf. Ich hatte Mühe mit Hill und Jack Schritt zu halten, denn der Regen prasselte so stark auf uns ein, dass ich kaum die Augen offenhalten konnte und auf den schmierigen Stufen schlecht Halt fand. Innerhalb weniger Sekunden war unsere Kleidung bis auf die Haut durchgeweicht.

Atemlos kam ich auf der Anhöhe an. Durch den fast undurchdringlichen Vorhang aus Wind und Wasser erblickte ich einen sehr alten Toyota mit Hybridantrieb, wie Onkel Sam vor Urzeiten einen besessen hatte. Hill öffnete die Beifahrertür und schubste uns auf den Rücksitz des Oldtimers, während sie selbst vorne Platz nahm. Dort warf sie sich einem großen, schlaksigen Typen in die Arme, der hinter dem Steuer saß und das genaue Gegenteil von Hill war. Äußerlich und, wie ich spürte, auch im Inneren. Und mindestens acht Jahre älter. Sie steckte ihm die Zunge in den Hals und als sie sich von ihm löste, verband beide für einen Augenblick ein glibberiger Speichelfaden.

»Und dieser wilde Hengst hier ist George«, sagte sie zu uns gewandt.

George machte auf mich absolut keinen wilden Eindruck. Er war die Ruhe selbst.

George nickte uns mit seinem kantigen, von Aknenarben entstellten Gesicht zu, und startete den Motor.

Durch die verdunkelten Scheiben die Landschaft zu erkennen war kaum möglich, denn unsere nassen Körper und die schwüle Luft hatten hier hinten im Nu das Glas beschlagen.

Während der Fahrt rutschte Hills Hand immer wieder zwischen Georges Oberschenkel. Beschämt blickte ich durch die verschmierte Scheibe, um so zu tun, als würde ich durch den Schleier des Regens irgendetwas erkennen. Dieses Kind brachte mich doch glatt in Verlegenheit!

Dass man durch die hauchdünne, klitschnasse Bluse meine Brustwarzen sehen konnte, merkte ich erst, als ich Jacks intensive Blicke auf meinem Körper spürte. Ich versuchte weiterhin krampfhaft aus dem Fenster zu starren, obwohl außer Schatten und verschwommenen Umrissen kaum etwas zu erkennen war. Mein Gesicht brannte wie Feuer. Warum verhielt ich mich Jack gegenüber immer wie ein Schulmädchen? Selbst die Göre vor uns war selbstbewusster als ich.

Ehe ich mich versah, nahm Jack meine Hand in seine, und mit einem Mal wusste ich, was in seinem Kopf vorging – was er mit Sicherheit beabsichtigt hatte! Er stellte sich vor, wie ich neben ihm säße ohne meine Bluse, damit er meine nackten Brüste mit den Lippen liebkosen konnte.

Um Himmels willen. Warum tat er mir das an? Er musste doch merken, wie sehr ich ihn begehrte! In meinem Unterleib breitete sich ein Kribbeln aus, worauf sich meine Brustspitzen sofort aufrichteten. Wann hatte mich ein Mann das letzte Mal so richtig befriedigt? Ich erinnerte mich nicht mehr. Das schien Ewigkeiten her zu sein. Mein letzter Freund war auf jeden Fall keine Granate im Bett gewesen. Er hatte überwiegend an seine Bedürfnisse gedacht.

Ich werde dich nicht verlassen. Ich kann nicht. Dafür brauche ich dich viel zu sehr!, schickte er mir seine Gedanken.

Mein Herz geriet ins Stolpern. Hatte ich richtig gehört? Jack würde bei mir bleiben? Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd, war jedoch viel zu verlegen, Jack anzusehen. Aber jetzt wusste ich, dass er mich heute Nacht doch gehört hatte. Hatte sein Meinungsumschwung etwas mit meinem Äußeren zu tun? Männer waren ja in dieser Hinsicht immer noch wie Steinzeitmenschen gestrickt.

Jacks Erregung schwappte in emotionalen Wellen zu mir herüber. Es fühlte sich an wie kleine Stromschläge.

Bevor ich nachdachte, was ich tat, übermittelte ich ihm ein Bild von mir, so wie ich mich sah, wenn ich nackt vor dem Spiegel stand. Es war eine merkwürdige Art seinen Partner heiß zu machen, aber dieses erotische Spiel fing an, mir zu gefallen. In Gedanken war schließlich alles erlaubt!

Er folgte meinem Beispiel, indem er mir, verschmitzt grinsend, auch ein »Nacktfoto« von sich schickte. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie er seine freie Hand über den ausgebeulten Schritt der Jeans legte. Jacks Brustkorb hob und senkte sich schneller als gewöhnlich, seine Augen waren geschlossen. Ich tat es ihm gleich, worauf unsere Fantasien intensiver miteinander verschmolzen.

Ich brauche dich, Kate. Brauche dich so sehr …

Das Kribbeln zwischen meinen Beinen wurde zu einem immer stärker werdenden Pochen, sodass ich die Oberschenkel überkreuzte, um den angenehmen Druck dazwischen zu erhöhen. Ich wollte Jack die nassen Kleider vom Leib reißen, jeden Zentimeter meiner Haut auf seinem athletischen Körper reiben, sein Gewicht auf mir spüren.

Dass Jack dieselben Gedanken hatte, wusste ich, was mich umso mehrerregte. Obwohl sich der Liebesakt nur in unseren Köpfen abspielte, fühlte es sich unwahrscheinlich echt an. Das war wieder etwas, wovon ich bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte, dazu fähig zu sein. Jack war der erste Partner in meinem Leben, bei dem ich ganz ich selbst sein konnte. Nicht, dass ich viel Erfahrung mit Männern hatte, aber das mit Jack war einfach fantastisch!

Mittlerweile war ich so erregt, dass eine Berührung von ihm ausgereicht hätte, um mich zum Höhepunkt zu bringen. Ich wünschte mir, Jack würde seine Hand in meinen Schritt legen, der mittlerweile nicht nur vom Regen feucht war.

»Ich hoffe, ihr da hinten könnt es noch ein bisschen erwarten, bevor ihr über euch herfallt, denn wir sind gleich da.« Hill kicherte, ohne sich umzudrehen.

Jack und ich grinsten uns kurz an, puterrot im Gesicht, und lösten unsere Verbindung. Ich fühlte mich, als wären wir auf frischer Tat beim Liebesspiel ertappt worden. Hill hatte wirklich ein verdammt gutes Gehör, wenn sie trotz des prasselnden Regens, der unaufhörlich auf das Autodach knallte, unsere beschleunigte Atmung bemerkt hatte. Vielleicht war ihr Hörsinn ja auch so brillant, dass sie den Herzschlag und das Rauschen des Blutes in unseren Adern wahrnehmen konnte?

Auf jeden Fall kühlten wir beide ab und als der Wagen stehen blieb, war auch die Beule in Jacks Hose verschwunden.

Von unserer Fahrt zwischen Küste und Stadt hatte ich dank der angelaufenen Fenster und unseres erotischen Gedankenspiels kaum etwas von der Umgebung mitbekommen. Derweil sollte der kleine Ferienort Otumi durchaus seine Reize haben.

Der hagere George hatte den alten Wagen in einer kleinen Garage geparkt, von wo aus ein direkter Zugang in das gemütliche Haus führte, in dem wir uns nun alle befanden. Es lag in einer noblen Wohngegend und war mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet. Ich glaube, ich war noch nie in einem so gehobenen Stadtviertel. Hier schrie alles nach Geld.

Unten in der Küche warteten Hill und George auf uns, während Jack und ich uns im darüberliegenden Schlafzimmer trockene Sachen anzogen. Seit dem Strand hatten wir kein Wort mehr miteinander gesprochen – außer in Gedanken natürlich. Ein peinliches Schweigen stand zwischen uns, als hätten wir etwas angestellt. Hatten wir vor einigen Minuten noch übereinander herfallen wollen, hatten wir es nun extrem eilig in unsere frischen Sachen zu schlüpfen, um mit Hill über den weiteren Verlauf unserer Flucht zu sprechen.

Jack, der zuerst angezogen war, verließ überstürzt den Raum. Ich wickelte mir ein Handtuch um meine feuchten Haare, folgte ihm kurze Zeit später aus der Tür und rannte ihn am Fuße der schmalen Treppe beinahe über den Haufen. Er fing mich auf, bevor ich hinfiel, wobei mir das Handtuch vom Kopf rutschte. Jack bekam es gerade noch zu fassen, bevor es auf dem Boden landete. Fast zeitgleich drückte er mir seine Hand auf den Mund.

Wow, was hatte dieser Kerl doch für schnelle Reflexe! Ehe ich mich wundern konnte, was das nun schon wieder zu bedeuten hatte, hörte ich aus der Küche Hill lauthals und ungeniert stöhnen. Und mit einem Mal verstand ich Jacks seltsames Verhalten.

Sie treiben es auf dem Küchentisch!, dachte er und nahm seine Hand von meinem Mund.

Woher willst du das wissen?, schickte ich ihm entsetzt zurück.

Sieh doch selbst … Auf Zehenspitzen huschten wir zur halb offenen Küchentür, wo ich für den Bruchteil einer Sekunde in den Raum lugte. Hill saß tatsächlich auf einem Tisch, der den Mittelpunkt der Küche bildete, das kunterbunte Kleid bis über ihre Oberschenkel nach oben geschoben. Ihre blassen Pobacken blitzten darunter hervor wie zwei Hälften einer Melone. Einer mächtig großen Melone!

George stand vor dem Tisch, Hills mollige Schenkel um seine knochigen Hüften geschlungen, seine Hose unter den Knien. Wie ein Schlagbohrer hämmerte er in sie hinein, der Tisch quietschte und knarrte, und Hill stöhnte bei jedem seiner »Hiebe« laut auf. Ihre Haare wechselten dabei ständig die Farbe.

Der wilde George hingegen hatte seine Augen geschlossen und gab keinen Laut von sich. Überhaupt nahm ich keine Empfindungen von ihm wahr. Er hatte wohl die Gabe, seine Gefühle perfekt nach außen hin abschirmen zu können.

Ich fass es nicht, sie ist doch noch ein halbes Kind!, sendete ich Jack entsetzt und peinlich berührt zu. Ich hoffe bloß, sie bemerken uns nicht.

Jack tippte mit einem Finger an sein Ohr. Hill weiß mit Sicherheit, dass wir hier vor der Tür stehen. Superaudakt – schon vergessen?

Plötzlich drückte er mich mit seiner Brust sanft gegen die Wand. Was hatte er denn jetzt vor?

Als er seine warmen Hände hinter meinen Nacken legte, um meinen Mund an seine Lippen zu ziehen, fing ich unweigerlich an zu zittern. Meine butterweichen Knie würden jeden Moment nachgeben und in mir schien wieder alles zu explodieren. Die glühend helle Korona pulsierte und bebte; ich konnte kaum atmen. Zum Glück trug ich diesmal eine trockene Bluse, denn ansonsten wäre es kaum zu übersehen gewesen, wie sich Jack meine Spitzen entgegenreckten. Lange hielt ich diese Spannung zwischen uns nicht mehr aus. Jetzt musste es bald passieren, sonst würde ich noch durchdrehen!

Jacks war schon wieder hart, wie ich deutlich fühlte, als er sich an mich presste. Für einen Augenblick wünschten wir uns beide an Hills und Georges Stelle auf den Küchentisch – bis Hill uns wieder unterbrach. »Was fummelt ihr zwei denn so dumm vor der Tür rum? Hättet doch bei uns mitmachen können! Zu gerne hätte ich gewusst, ob es Jack auch so drauf hat wie mein George.«

Bevor Jack mich freigab, stieß er einen Laut aus, halb Knurren, halb Stöhnen, denn er war nicht weniger enttäuscht als ich, dass wir schon wieder unterbrochen worden waren.

Gott, diese Göre war unmöglich! Ich war mir ziemlich sicher, dass Ron keine Ahnung hatte, was sie so alles trieb.

Nachdem wir ihnen Zeit gelassen hatten, ihre Kleidung zu ordnen, und wir selbst den Augenblick nutzten, um unsere erhitzten Körper abzukühlen, betraten wir die Küche.

»Wessen Haus ist das?«, wollte ich wissen, um nicht erst peinliches Schweigen aufkommen zu lassen.

»Gehört MALVE«, erwiderte Hill beiläufig und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Auch eins?«, fragte sie in die Runde und reichte Jack und George jeweils eine Flasche. Ich holte mir lieber einen Orangensaft und knabberte Kekse, die auf dem Tisch standen. Der Appetit verging mir allerdings gleich, als ich mich daran erinnerte, dass Hill mit ihrem nackten Hintern darauf herumgehüpft war.

»Wie geht es jetzt weiter?« Jack nippte an seinem Bier und warf verstohlene Blicke in meine Richtung. Er schien wie immer die Ruhe selbst zu sein, doch er war nicht weniger aufgeregt – und erregt – als ich.

»Keine Ahnung.« Hill kratzte sich an einer Braue, die jetzt grün war. »Meine Aufgabe bestand nur darin, euch hierher zu bringen. Morgen früh will Ron sich auf eurem MP melden und die Navi-Daten übermitteln. Ich bring euch dann die Karre vorbei und von da an müsst ihr alleine weiter.«

Was für ein Glück! Ich hätte es keinen Tag länger mit dieser Verrückten ausgehalten.

George stand vor einem Fenster und schaute in den Regen. Ich versuchte etwas von ihm zu empfangen, als Jack eine wirklich wichtige Frage stellte: »MALVE hat Geld, so wie ich das sehe. Sie haben die beste Technik und kommen dennoch nicht gegen die AMF an? Ich verstehe das nicht.«

George drehte sich herum. Zum ersten Mal hörte ich ihn wirklich etwas sagen. »Wir haben gerade erst einen Durchbruch erzielt. Die Satelliten waren das Heikelste. Es hatte Jahre gedauert, unsere Leute ins Raumfahrtprogramm zu bekommen.« George sprach kühl und sachlich. Seinem klaren Verstand hatte er wohl die Aufnahme ins MALVE-Team zu verdanken. »Es ist unglaublich schwer, Bluttests zu fälschen und sich überall einzuschleusen. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert. Die AMF ist überall.« Er leerte sein Bier in einem Zug und entschuldigte sich.

Als er die Küche verließ, schaute Hill ihm verträumt hinterher. Sie musste ja wirklich in diesen Eisklotz verliebt sein. »George hat ein bedeutendes Regierungsmitglied, das an einer Verschwörung gegen uns beteiligt gewesen war, auffliegen lassen. Könnt ihr euch an die Affäre von Senator Tanner erinnern?«

Ich nickte. »Der angeblich ein Verhältnis mit seinem Sekretär hatte und daraufhin abdankte?«

»Ja, so wurde es damals vertuscht. George war sein Sekretär.« Hill kicherte. »Er hatte MALVE den entscheidenden Hinweis gegeben, dass Senator Tanner Regierungsgelder dazu benutzte, um ein heimliches Programm zu unterhalten: Mutantenkindern sollte ein Impfstoff gespritzt werden, der aber kein Impfstoff war, sondern dafür sorgen sollte, ihre Fähigkeiten zu unterdrücken. George hat die Informationen an MALVE weitergegeben. So hat er es in unseren engsten Kreis geschafft. Ist er nicht toll?« Sie seufzte leise. »Jetzt wird für uns ein neues Zeitalter anbrechen. Ich spüre es. Es gab viele Verluste und nur langsame Fortschritte. Denn auch die AMF hat ihre Spione bei uns eingeschleust. Es gab immer wieder herbe Rückschläge. Jetzt hofft MALVE auf einen Durchbruch. Bald sind die Techniker so weit, dass wir dank der Satelliten unser eigenes Programm ausstrahlen können. Wir können alle Haushalte erreichen und die Bevölkerung endlich aufklären, was wirklich gespielt wird.«

Ich fühlte Hills Aufregung. Was sie erzählte, ließ mich hoffen.

»Wie kommt es, dass so ein junges Ding wie du schon für den Untergrund arbeitet?«, sprach Jack genau das aus, was ich mich auch schon die ganze Zeit fragte.

Hill grinste verschmitzt. »Na, wer wäre denn dafür besser geeignet als ich?« Dann wurde sie zum ersten Mal richtig ernst. »Nein, Spaß beiseite. Bin da zufällig reingerutscht. Meine Mutter war ’ne Nutte und ist, als ich drei war, an ’ner Überdosis Hype krepiert.« Beiläufig zuckte Hill mit den Schultern. »Ihr Macker hat mich ins Waisenhaus gesteckt. Da war es auch gar nicht so übel, obwohl man als Mutant spürbar benachteiligt wurde: weniger Essen, schlechtere Ausbildung, null Liebe. Dann, vor fünf Jahren, belauschte ich ein Gespräch. Unser Heimleiter handelte mit MUTAHELP einen Deal aus, wobei er eine Menge Kohle kassierte. MH wollte alle Mutantenwaisen mitnehmen. Angeblich, um uns zu schulen, wie wir trotz unserer Andersartigkeit ein normales Leben führen könnten. Doch in Wahrheit brauchten sie uns zu Forschungszwecken! Da beschloss ich, sofort abzuhauen und mich zu verstecken.« Sie nahm einen großen Schluck Bier, bevor sie weitersprach. »Mir blieb nicht mal Zeit, die anderen zu warnen, denn sie brachten die Kinder bereits in Busse. Nachts zog ich durchs Land und am Tag verkroch ich mich irgendwo. War ’ne echt beschissene Zeit, kann ich euch sagen, aber ich wusste nicht mehr, wem ich trauen konnte. Bis mich eines Tages mein Supergehör aus der Gosse holte. Ich belauschte eine geheime MALVE-Konferenz und folgte den Stimmen durch die Kanalisation in ihre unterirdische Zentrale. Ihr müsst euch mal ihre blöden Gesichter vorstellen, als ich einfach bei ihnen vor der Tür stand! Und seit dem Tag misch ich bei ihnen mit.«

»Und was ist aus den Kindern geworden, die MH mitgenommen hat?«, wollte ich wissen. Oder vielleicht auch lieber nicht. Aber zu spät, Hill machte schon wieder den Mund auf …

»MALVE hat natürlich sofort Nachforschungen angestellt, doch von keinem der Kinder wurde je wieder was gehört. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.«

Ich mochte mir nicht ausmalen, was aus ihnen geworden war … Und jetzt verstand ich auch Hills Einzigartigkeit.

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Endlich waren wir allein. Meine Haare klebten mir am Kopf und mein Körper roch unangenehm, weshalb ich nach einer Dusche lechzte. Jack und ich hatten beim Verlassen der Küche wohl dieselbe Idee, denn wir rannten beide gleichzeitig auf die Treppe zum Obergeschoss zu.

»Wer zuerst im Badezimmer ist!«, rief Jack, der schon die Hälfte der Stufen hinter sich hatte und unterwegs sein Shirt über den Kopf zog.

»He, das ist unfair, du bist viel schneller als ich. Keine Mutantenkräfte!«, rief ich ihm nach, doch da war Jack schon im Badezimmer verschwunden.

Leicht aus der Puste betrat ich ein paar Sekunden später ebenfalls den Raum, wobei ich mich sofort wunderte, warum Jack wie zur Salzsäule erstarrt vor der Duschkabine verharrte.

»Ladys first!« Grinsend drehte er sich zu mir um und ließ mir den Vortritt.

Beim Blick durch die gläserne Kabine verstand ich sein Verhalten, obwohl ich es kaum fasste. »Der große, starke Jack hat tatsächlich Angst vor einer harmlosen Spinne? Das glaub ich einfach nicht!«

»Das stimmt doch gar nicht, ich wollte nur höflich sein.« Betont lässig stand er mitten im Badezimmer, seine Daumen in den Gürtel geklemmt, und sah dabei so umwerfend gut aus, dass ich ihm am liebsten auch gleich die Hose vom Leib gerissen hätte.

Zuerst hatte ich jedoch ein Leben zu retten. Vorsichtig stupste ich den kleinen Krabbler in meine Handfläche und schloss ihn in meiner Faust ein. »Du hast Angst, gib es zu.«

»Ich finde diese dürren, langen Beinchen einfach eklig und vor allem diese glänzenden Augen«, sagte Jack und schüttelte sich. »Aber Angst? Ganz bestimmt nicht.«

»Buh!«, schrie ich, während ich so tat, als wollte ich die Spinne auf Jack werfen.

Der wich entsetzt zurück, schützend seine Arme vors Gesicht geschlagen. Ich konnte mich nicht mehr halten vor Lachen und setzte die Spinne schnell vors Fenster, damit ich sie nicht aus Versehen zerdrückte, so sehr amüsierte mich Jacks erschrockener Gesichtsausdruck.

»Du …!« Spielerisch drohte er mir mit erhobener Faust.

»Wusste ich es doch. Du Angsthase! Und nachdem ich dich vor dem achtbeinigen Tarantula-Monster gerettet habe, geht diese Runde wohl an mich.«

Jack fand das gar nicht lustig und warf sein Shirt nach mir. Wie der Blitz schlüpfte ich aus meiner Kleidung und hüpfte in die Duschkabine. Sofort lief das warme Wasser über meinen nackten Körper.

»Das war höhere Gewalt!«, rief Jack empört und kam zu mir in die Kabine. Wie hatte er so schnell seine Hose ausziehen können?

Er grinste mich spitzbübisch an. »Ich würde sagen, unentschieden.«

Und ich habe mich für dich entschieden, schickte ich ihm, während ich seinen nackten Körper unter den Wasserstrahl zog und mit Küssen bedeckte. Diesmal würde er mir nicht entkommen.

»Nicht so stürmisch, junge Frau!« Jack lachte, als er mich sanft von sich wegdrückte.

Ich wollte schon enttäuscht sein, doch Jack hatte etwas Besonderes mit mir vor.

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, sagte er und sah dabei fast wie ein unschuldiger Junge aus – wenn seine Augen nicht vor Verlangen gefunkelt hätten. Nachdem er auf den Seifenspender gedrückt hatte, begann er meinen Körper mit dem duftenden Schaum einzureiben.

Wow, war das ein schönes Gefühl seine zärtlichen Hände überall auf meiner Haut zu spüren! Nein. Es war besser als gut. Besser als besser, es war … unbeschreiblich!

Entspannt lehnte ich mich gegen die Fliesen und schloss die Lider, um seine sanften Liebkosungen intensiver zu genießen.

Das warme Wasser rieselte auf unsere Körper, und schon bald hüllte uns feiner Nebel ein.

Als Jack mit seinen Daumen über meine empfindlichen Brustwarzen rieb, stöhnte ich unweigerlich. Wagemutig wanderte seine Hand tiefer, über meinen Bauch, kreiste, seifte und rieb über meine Hüften, meinen Po … bis er zu der Stelle zwischen meinen Beinen gelangte, die längst erwartungsfroh pochte. Seine Finger suchten und fanden die harte Perle, rieben und drückten dagegen, sodass ich vor Lust kaum stehen konnte. Schnell zog ich seine Hand fort, denn ich wollte diesen Moment noch länger auskosten.

»Jetzt bist du dran«, hauchte ich, als ich die Seife auf seiner Brust verteilte. Sanft wölbten sich die Muskelstränge unter seiner Haut. Wie attraktiv er war – unbeschreiblich. Seine Brustwarzen waren ebenso steif wie meine und als ich darüberfuhr, entkam Jacks Kehle ein Laut, der sich fast wie ein Knurren anhörte – wie das Knurren eines Tigers. Seine Haut war weich und glatt; selbst die Narben entstellten Jack nicht.

Ich bemerkte die zwei Stellen an seinen Oberarmen, wo ihn je eine Kugel durchbohrt hatte. Einmal, als er sich vor seinen Dad gestellt hatte, ein anderes Mal, als er vom Institutsgelände geflohen war. Er hatte bereits so viel Leid erlebt, dass ich ihn auf andere Gedanken bringen wollte.

Ich kann nicht mehr länger warten, dachte er, als ich ihn bereits an mich zog. Schließlich ging es mir genauso. Schon drückte seine harte Männlichkeit gegen meine Mitte.

»Kate …« Er stöhnte mir ins Ohr und bedeckte meinen Hals mit ungeduldigen Küssen. »Kate … du bist wundervoll.«

»Nein, Torri ist wundervoll.« Grinsend drückte ich meine Finger in die Muskeln seines Hinterns und zog ihn näher an mich, um ihm zu zeigen, wie sehr ich es wollte.

Und plötzlich war er in mir. Vor Lust und Überraschung schrie ich auf, denn noch nie war es derart schön, so vollkommen, gewesen, wie in diesem Augenblick. Mit Jack fühlte es sich einfach richtig an, perfekt. Es war unvergleichlich! Jack war wie für mich geschaffen.

Immer tiefer glitten seine Stöße und bereitwillig drückte ich ihm die Hüften entgegen, rieb mich an ihm, schlang die Arme um seinen Nacken und küsste Jack mit allem was ich war, mit jedem Atemzug und jedem Schlag meines Herzens. Ich wollte ihn, ich liebte ihn, brauchte ihn wie die Luft zum Atmen, wie Wasser und Essen und … »Oh Jack, was machst du mit mir?« Ein Wonneschauer brach über uns beide herein, verband unsere Körper, unsere Seelen. Wir wurden eins – ein Wesen – eine universelle Einheit.

Ich fühlte, was er fühlte, und Jack erging es ebenso. Sterne blitzten vor meinen Augen auf, weiße und gelbe Lichter. In einem gewaltigen Sinnesrausch gefangen, schwangen wir uns empor, höher und höher, und dann explodierte ein gigantisches Feuerwerk in meinem Kopf und in meinem Unterleib. Ich spürte meinen Höhepunkt in jeder Zelle meines Körpers, während Jack sich in mir verströmte und mich mit der Hitze seiner Lenden füllte.

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Nein, nicht schon wieder diese ordinäre Göre! Verschwinde aus meinem schönen Traum!

»Es war George, dieser Schweinehund!«, hörte ich Hill rufen.

Friedlich schlafend durchlebte ich noch einmal den wunderbaren Augenblick, als ich mit Jack unter der Dusche verschmolzen war, eins geworden mit seinem traumhaften Körper, und da hatte diese Schreckschraube nichts verloren! Doch wo war sie? Ich sah sie nirgendwo …