30
Es war lange her, seit Stierna das letzte Mal in einer Kirche gewesen war. Zwei Jahre, seit Karolina und er geheiratet hatten. Das war ein Tag der Freude gewesen. Doch dieses Mal hatte sein Besuch nichts mit Freude zu tun.
Stierna saß in der zweiten Reihe, auf einer einfachen, weiß gestrichenen Holzbank, vor der linken Wand der Skogskapelle. Auf der anderen Seite saß Maria Bengtsson. Schwarz gekleidet, ihre Eltern neben ihr. Da saß auch ihr Bruder Johan. Er verdiente sein Geld im Londoner Hafen. Er hatte Ingrid damals das Buch geschenkt, in dem das Ferkel vorkam: »Pu der Bär«. Der Kettenanhänger war inzwischen fertig, oder besser gesagt, die Kopie. Von Ferkel, Ingrids Lieblingsfigur aus dem Buch. Jonsson hatte sie Stierna am Morgen gegeben, jetzt lag sie in seiner Jackentasche.
Johan trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine weiße Krawatte. Er hatte braune Haare, genau wie seine Schwester. Er war allein aus England gekommen. Er hatte keine Kinder und keine Frau, die auf ihn warteten.
Stierna schaute sich in der Kapelle um. Freunde der Familie waren gekommen, die Lehrerin des Mädchens. Thomas Franzén war nicht gekommen. Auch dem Begräbnis seiner Tochter war er ferngeblieben. Vielleicht traute er sich nicht, sich zu zeigen. Vielleicht trauerte er auf andere Weise.
Stierna musterte Maria Bengtssons Eltern. Die Frau weinte. Der Mann starrte vor sich hin und gab sich alle Mühe, stark zu wirken. Er hatte einen Schuhmacherladen in Sundbyberg, in dem seine Frau half. Das hatte Stierna schon vorher gewusst.
Ingrid war das einzige Enkelkind gewesen, dachte er und blätterte das Gesangbuch wie ein Daumenkino durch.
Der Pfarrer war ziemlich alt, was sicher kein Zufall war. Es war eine schwierige Beerdigung, wie immer, wenn ein Kind stirbt. Wenn etwas geschieht, was nicht hätte geschehen dürfen. Dann brauchte man jemanden mit Erfahrung.
Rehn und Lundby waren inzwischen so gut wie fertig mit der Liste der Personen, die Ingrid gekannt hatten. Verwandte, Familie, Schulpersonal, Freunde und Freundinnen, Nachbarn. Als sie vor ein paar Tagen darüber gesprochen hatten, hatte Rehn den Kopf geschüttelt. Die Befragungen hatten so gut wie gar nichts ergeben.
Stierna tat das Steißbein von dieser unbequemen Holzbank weh. Viele Trauergäste hatten offen geweint, die Lehrerin fast hysterisch. Maria Bengtsson schien gefasster zu sein, doch er konnte sehen, dass sie lautlos weinte. Vielleicht hatte die Trauerzeit sie gefasster gemacht.
Sie sangen die bei Begräbnissen üblichen Lieder, »Nur ein Tag«, »Du großer Gott«, »Wie die Nacht den Morgen ersehnt«. Stierna sang nur in Gedanken mit und bewegte die Lippen, das Singen fiel ihm schwer. Er hatte Ingrid vor ihrem Tod nicht gekannt.
Der Pfarrer hielt seine Predigt. Darüber, dass es Hoffnung in dem gibt, was bleibt. Darüber, weiterzugehen und darüber, dass die Wege des Herrn unergründlich sind. Für Stierna klang das nicht gerade überzeugend.
Langsam entfaltete er die Todesanzeige. Er hatte sie in der Innentasche gehabt und las sie verstohlen.
Thomas, dachte Stierna. Franzéns Name wird auch genannt. Er nahm an, dass Maria Bengtsson mit ihm gesprochen hatte.
Ganz unten stand noch eine kurze Zeile:
Sie, die das Leben doch so liebte.
Als das Begräbnis vorüber war, verließ die Trauergemeinde langsam die Kirche.
Auch Stierna trat an die frische Luft. Er blieb ein wenig abseits und lehnte sich gegen die Steinmauer, die um die Kapelle herum verlief. Es war windig, selbst die alten, hohen Nadelbäume wiegten sich im Wind.
Er hatte sehen wollen, wer alles zu Ingrids Beerdigung kommen würde. Ob sich jemand merkwürdig oder unangemessen verhielt. Ob jemand kam, der hier nicht hingehörte. Aber alles war so verlaufen, wie es hatte sein sollen.
Stierna lockerte seinen dunkelblauen Schlips. Zündete sich eine Zigarette an, die brauchte er jetzt. Er dachte an all die eindringlichen Aufrufe in den letzten Tagen, die Appelle an die Öffentlichkeit, die nichts gebracht hatten. Berner wollte die Presse heute auch wieder um drei Uhr zusammentrommeln, obwohl er eigentlich nichts Neues zu präsentieren hatte. Nur die immer gleiche Bitte. Dass der Mann, den Rikard Dahlin am frühen Morgen des dritten September vor der Djurgårdswerft hatte stehen sehen, sich melden sollte. Dass der Mann, den Ingrid Bengtsson einige Male im Laufe des Sommers im Vasapark getroffen hatte, Kontakt mit der Polizei aufnehmen sollte. Doch bis jetzt hatte niemand von sich hören lassen, niemand hatte angerufen, und niemand hatte ausgesagt, diesen Mann zu kennen.
Die Trauergemeinde ging langsam den breiten Weg auf dem Waldfriedhof entlang. Maria Bengtssons Vater sprach mit dem Pfarrer, Stierna blieb allein zurück. Er ging eine Steintreppe hinunter und durch ein Tor in der Mauer, die um die Waldkapelle führte. Er gelangte auf einen schmaleren Kiesweg, der zwischen den Gräbern verlief. Es war schön hier, ganz abgeschieden von dem riesigen Waldfriedhof. Ruhig.
Der Kiesweg verlief etwa hundert Meter geradeaus und endete vor einer weiteren Steintreppe, die zu einem kleinen, grasbewachsenen Plateau hinaufführte. Dort standen zwei Bänke aus Stein. Das war alles. Es gab keine Büsche, keine Grabsteine. Weiter hinten standen ein paar Bäume.
Ein Mann stand am Rand der Anhöhe. Er trug einen braunen Hut und einen schwarzen Anzug. Stierna stand ziemlich weit von ihm entfernt, und der Hut beschattete das Gesicht des Mannes.
Der Fremde sah zu ihm hinüber, drehte sich dann langsam um und ging auf die Bäume zu, die hinter der Anhöhe wuchsen.
Stierna hatte das Gefühl, als ob etwas nicht stimmte.
»Hallo!«, rief er dem Mann hinterher. »Bleiben Sie stehen!«
Doch der Mann mit dem Hut blieb nicht stehen. Er ging die Anhöhe hinunter. Bald würde Stierna ihn nicht mehr sehen können.
Der Kommissar lief den Weg hinauf und gelangte auf das Plateau. Die Bäume, auf die der Mann mit dem Hut zugegangen war, lagen unter ihm, dahinter verlief ein breiter Weg. Er konnte das riesige Gelände mit den Gräbern auf der anderen Seite des Wegs erkennen.
Stierna ging zu den Bäumen, unter denen der Mann verschwunden war. Von dem breiten Weg aus sah er alles: die Gräber, die Bäume und die Wege. Doch er sah keinen einzigen Menschen.
Der Leichenschmaus wurde bei den Großeltern in Sundbyberg abgehalten. Stierna war auch dort. Er fühlte sich unwohl, gehörte nicht hierher, doch Maria Bengtsson hatte ihn gebeten, auch zu kommen. Niemand sprach besonders viel daheim bei den Großeltern des Mädchens. Der Kaffee war stark, der Kuchen frisch gebacken.
Stierna ging hinaus auf den Hof, um zu rauchen. Maria Bengtssons Eltern wohnten in einem großen Mietshaus bei den Eisenbahngleisen. Er dachte an alles, was er in seiner Kindheit über Sundbyberg gehört hatte. Über die Bierkneipen, die ärmlichen Arbeiterwohnungen, die schmutzigen Straßen, dass der Boden so lehmig war, dass man immer Gummistiefel tragen musste. Aber in Södermalm, wo er selbst aufgewachsen war, war es kaum besser gewesen. Jetzt hatte die Industrie übernommen. Nybergs mechanische Werkstatt, Max Sieverts, Alpha, die Herd- und Knäckebrotfabrik Kronan, AB Marabou. Sie alle befanden sich in Sundbyberg. Alles war ansehnlicher geworden. Aber es war immer noch ein Arbeiterviertel mit großen Problemen. Genau wie Söder.
Stierna zündete sich eine Zigarette an, wie üblich rauchte er Comtesse. Er nahm ein paar tiefe Züge und wünschte sich zum ersten Mal seit Langem an seinen Schreibtisch in der Abteilung für Gewaltverbrechen zurück. Das lag an dieser Beerdigung, er wusste nie, wie er sich bei so einem Anlass verhalten sollte.
Die Ermittlungen traten auf der Stelle. Lundby hatte Taxifahrer befragt, um zu erfahren, ob einer von ihnen in der Nacht vom zweiten auf den dritten September eine Fahrt nach Djurgårdsstaden gehabt hatte. Und auch am Abend des zweiten. Lundby hatte zwei Fahrten gefunden. Eine mit einem älteren Paar, eine mit einer jungen Frau, beide ziemlich früh am Abend. Keiner der Taxifahrer konnte sich daran erinnern, einen Mann und ein kleines Mädchen zur Djurgårdswerft gefahren zu haben. Und daran würden sie sich bestimmt erinnern, das wusste Stierna.
Die Nachforschungen bei registrierten Kinderschändern und Gewalttätern waren eine Enttäuschung gewesen. Stierna dachte an all die Verbrecher, die sie überprüft hatten. An ihre Berufsbezeichnungen. Ärzte, Hausmeister, Chauffeure, Kaufleute. Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft. Das machte ihm Angst.
Maria Bengtsson trat auch ins Freie. Sie war allein, und ihm fiel auf, wie schön sie in ihrem schwarzen Kleid aussah. Er registrierte, dass die Schminke um ihre Augen verlaufen war. Sie hatte geweint.
Maria Bengtsson stellte sich neben ihn, zog eine Schachtel Zigaretten und ein Mundstück heraus. Das war das erste Mal, dass er sie rauchen sah.
»Früher habe ich so gut wie nie geraucht«, sagte sie gedankenverloren. »Doch seit Ingrids Tod rauche ich mehr. Ich weiß nicht, warum, eigentlich schmeckt es mir gar nicht.«
Er betrachtete seine Zigarette, bevor er an ihr zog.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er. »Ist es inzwischen besser …«
Er verstummte, weil er merkte, wie plump das klang. Unmittelbar nach der Beerdigung.
Maria Bengtsson schaute ihn einige Sekunden lang an. Sie suchte nach Worten. Vielleicht hatte sie doch auf Doktor Johansson gehört, dachte Stierna, und hat Beruhigungstabletten genommen. Um den Schmerz zu betäuben.
»Die ersten Tage mochte ich keinen Menschen sehen«, antwortete Maria Bengtsson. »Ich konnte kein Gesicht erkennen. Nicht Ihres, Herr Kommissar, nicht das des Arztes, als Sie bei mir waren, um mir das Schlimmste mitzuteilen, was man nur mitteilen kann. Alles war wie in einem Nebel, teilweise fiel es mir sogar schwer, Trauer zu empfinden. Und im Leichenschauhaus war es genauso. Es fiel mir schwer, die Umgebung wahrzunehmen, ich weiß, dass Sie auch dort waren, aber andererseits … Und dann habe ich natürlich Ingrid gesehen.«
Er nickte schweigend. Ließ sie reden, wenn ihr das guttat.
»Nach einer Woche wurde dann alles langsam klarer, die Gesichter um mich herum deutlicher. Und gestern sah ich plötzlich alles in einem anderen Licht, da wurde mir zum ersten Mal wirklich klar, dass sie für alle Zeit fort ist. Alles war so klar, trotz der Tabletten … Nach einer Weile konnte ich den Schmerz nicht ertragen, da mussten die Tabletten her. Obwohl ich zunächst abgelehnt hatte. Aber ich hatte das Gefühl, alles wäre zu Ende. Dieses Gefühl, das wünsche ich meinen ärgsten Feinden nicht. Vielleicht nicht einmal dem, der das gemacht hat.«
»Aber Sie hassen ihn doch sicher, oder?«
»Ich will, dass er stirbt. Er verdient es zu sterben. Hassen Sie ihn nicht auch?«
»Ich weiß nicht. Ich arbeite an dem Fall.«
»Aber haben Sie nie Hass empfunden? Bei Ihrer Arbeit?«
»Doch, auch ich habe schon Hass empfunden.«
»Und, fühlen Sie ihn jetzt auch?«
Stierna warf die Zigarette auf den Boden und trat die Glut mit dem linken Schuh aus.
»Das kommt vor.«
Eine Weile standen sie schweigend da. Er begegnete ihrem Blick. Sie schien abwesend zu sein, müde, wie gelähmt von ihrer Trauer. Oder von der Wirkung der Tabletten.
»Wir haben eine Kopie von Ingrids Kettenanhänger machen lassen«, sagte er schließlich. »Nach Ihrer Beschreibung. Ich habe ihn dabei. Sind Sie in der Lage, ihn sich anzusehen?«
Maria Bengtsson nickte.
Stierna holte das Schmuckstück aus seiner linken Jackentasche hervor. Es war wirklich gut gemacht.
»Hat er ungefähr so ausgesehen?«, fragte er.
»Ja«, bestätigte Maria Bengtsson. »Der sieht so aus. Genau, wie ich ihn in Erinnerung habe.«
Stierna steckte den Anhänger wieder in die Tasche.
»Da ist noch etwas, wo ich noch einmal nachhaken möchte«, sagte er. »Als wir mit Ihnen gesprochen haben, nachdem wir Ingrid gefunden hatten, haben Sie uns erzählt, dass Ingrid von einem Mann berichtet hat, den sie im Vasapark getroffen hat. Erinnern Sie sich daran?«
»Ja.«
»Hat Ingrid auch erzählt, was er gesagt hat? Wie er hieß, wo er wohnte, wie alt er war? Ob er spezielle Freizeitinteressen hatte?«
»Das haben Sie letztes Mal auch schon gefragt.«
»Ich weiß, Fräulein Bengtsson. Ich dachte nur, dass Ihnen inzwischen noch etwas eingefallen sein könnte.«
Maria Bengtsson schüttelte den Kopf.
»Nein. Es scheint, als hätte er Ingrid so einiges gefragt, aber von sich selbst nicht viel erzählt.«
Maria Bengtsson ließ den Blick schweifen. Unten auf den Gleisen fuhr eine Lokomotive vorbei. Stierna dachte, dass es hart sein musste, hier zu wohnen, mit diesem ständigen Eisenbahnlärm.
»Ich meine, sie hat gesagt, er sei reich«, sagte Maria Bengtsson plötzlich.
»Wie kam sie darauf?«
»Sie sagte, er hatte so schöne Kleidung. Sie glaubte, die wäre bestimmt teuer gewesen.«
»Was für Kleidung war das, hat sie das gesagt?«
»Ich weiß nicht mehr … vielleicht ein Anzug.«
Stierna seufzte leise. Inzwischen hatte der Wind aufgefrischt, jetzt fehlte nur noch der Regen. Ein Anzug, dachte er. Das sagt gar nichts. Viele tragen einen Anzug, ob arm oder reich. Aber da war etwas dran an dieser guten Kleidung. Der Mann, den Harry Schiller und Rikard Dahlin an der Djurgårdswerft gesehen hatten, war auch gut gekleidet gewesen.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
»Nein«, antwortete Maria Bengtsson.
»Kennen Sie einen der Freunde von Ingrids Vater, Thomas Franzén?«
»Ach, was heißt schon kennen. Ich habe Kontakt mit einer Frau, mit der wir zusammen in der Konditorei gearbeitet haben, Thomas und ich. Sonst sind da nicht so viele. Thomas hatte nicht viele eigene Freunde hier in Stockholm, meistens waren wir mit meinen zusammen.«
»Sie haben keinen Kontakt zu Åke Erlandsson?«
»Erlandsson? Meinen Sie den früheren Nachbarn von Thomas?«
»Ja.«
»Nein, ich habe ihn nicht mehr getroffen, seit Thomas wieder nach Göteborg gezogen ist.«
Stierna kratzte sich am Kinn.
»Ich habe gesehen, dass er auch in der Todesanzeige steht. Ingrids Vater«, sagte er, »aber er war nicht in der Kirche.«
»Nein«, bestätigte Maria Bengtsson. »Ich habe mit ihm gesprochen. Zuerst wollte er kommen, doch dann hat er sich anders entschieden. Hat mir gesagt, er würde das nicht schaffen. Dass er sich schäme und dass er es nicht verdient habe, hier zu sein.«
Stierna klopfte imaginären Staub von seinem Jackenärmel und schob die Krawatte gerade. Er wusste, eigentlich war das nicht nötig, doch er tat es trotzdem. Es war eine dumme Angewohnheit, von der er nicht sagen konnte, wann oder warum er damit angefangen hatte.
»Hat Ingrid erzählt, wie oft sie diesen Mann im Park getroffen hat?«
Maria Bengtsson schaute ihn an.
»Einmal, glaube ich. Nicht öfter. Ich habe ihr ja gesagt, sie soll vorsichtig sein bei Männern, die sie nicht kennt. Und ihr verboten, stehen zu bleiben und mit ihnen zu reden.«
»Es sieht aber so aus, als hätte sie ihn öfter getroffen«, sagte Stierna.
Maria Bengtssons Blick hatte etwas Durchdringendes, als wäre ihre Müdigkeit plötzlich verflogen.
»Kriegt ihr ihn?«, fragte sie.
»Ja, wir kriegen ihn.«
»Versprechen Sie mir das?«
Seine Antwort kam prompt, ohne nachzudenken, erwiderte er: »Ich verspreche Ihnen, wir werden ihn fassen.«
*
Er war noch auf dem Waldfriedhof geblieben, noch mehrere Stunden nach der Beerdigung. War zwischen den Grabsteinen entlanggegangen. Er war groß, der Friedhof. Riesig.
Er konnte selbst nicht sagen, warum es ihn zu Ingrids Beerdigung gezogen hatte, aber er war hingegangen. Hatte das Gefühl gehabt, hingehen zu müssen. Als er die kleine Anzeige in der Zeitung gesehen hatte, war ihm klar, dass er keine andere Wahl hatte. Er musste hingehen.
Sicher, er hatte sich nicht in die Kapelle getraut, das wäre verrückt gewesen. Sie hätten sich gewundert, was er dort zu suchen hatte. Aber er wollte sie aus der Ferne sehen, die Eltern, die Verwandten. Auf irgendeine Art und Weise spürte er ein Mitgefühl mit ihnen.
Er hatte geglaubt, alles wäre ruhig, alles wäre vorbei und er wäre in Sicherheit, als ein Mann auf dem Friedhof hinter ihm herrief. Dabei hatte er doch so weit entfernt gestanden, und die Trauergemeinde hatte schon begonnen sich zu verabschieden. Aber nicht der Mann mit der dunklen Krawatte. Kein schwarzer, nur ein dunkler Schlips, also konnte er nicht zum engsten Familienkreis gehören.
Erst hatte er überlegt, einfach stehen zu bleiben und sein Spiel zu spielen, als der Mann ihn rief. Lügen, das konnte er gut. Behaupten, er würde das Grab eines Verwandten besuchen. Doch er hatte sich nicht getraut. Der Mann mit dem dunkelblauen Schlips hatte mit Autorität in der Stimme »Stehen bleiben« gerufen, da hatte ihm seine Intuition gesagt: Diesem Mann machte er nichts vor. Der würde ihn durchschauen. Deshalb hatte er sich versteckt, was nicht schwer war bei all den Bäumen zwischen den Grabstätten.
Irgendwie war der Mann ihm bekannt vorgekommen, als wären sie sich früher schon einmal begegnet.
Anderthalb Stunden später saß er an seinem Schreibtisch. Allein, wie immer.
Er holte den Schlagstock heraus, der ganz hinten im Garderobenschrank lag.
In seiner Kindheit war er regelmäßig damit verprügelt worden. Und er hatte Ingrid damit getötet. Es lag eine gewisse Symbolik darin, fand er.
Bevor er die Wohnung verließ, um zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen, kam ihm der Gedanke, dass er unsichtbar zu sein schien. Und das fast immer gewesen war. Ein Grund dafür, dass sie ihn nie erwischen würden.