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Stierna hatte das Gasthaus sorgfältig ausgesucht. In den letzten Monaten hatte er diverse Broschüren über Gotland gelesen. Er hatte lange Zeit gebraucht, um eine Entscheidung zu treffen, schließlich hatte er sich für das »Rosengården« in Visby entschieden. Das Gebäude war alt, und die Zimmer sahen auf den Fotos gemütlich aus. Die Pension war klein und intim, sie hatte nur etwa dreißig Zimmer.

Das »Rosengården« lag dem Dom gegenüber, Sankta Maria, und Stierna wohnte im obersten Stock, im dritten. Sein Fenster ging auf die Straße und somit auch zu den Kirchenglocken. Und die ließen ihren dumpfen Schlag bis in die frühen Morgenstunden erklingen. Vielleicht würde das seinen Nachtschlaf stören. Aber egal, er schlief sowieso schlecht.

Ansonsten war das Zimmer in Ordnung: groß, mit einem breiten Bett, Dusche und Radio. Am Fenster stand ein kleiner runder Tisch mit zwei weißen Sesseln. Auf dem Nachttisch lag eine rote Bibel.

In der ersten Nacht fand er nur schwer in den Schlaf. Ob das nur an den dumpfen Schlägen der Kirchenglocken lag, konnte er nicht sagen.

*

Am folgenden Nachmittag ging er ans Wasser hinunter, nur wenige Hundert Meter vom Hafen entfernt, in dem die Fähre angelegt hatte. Es gab nicht viel Strand. Ein kleiner Sandfleck, ein paar Stege ein Stück ins Wasser hinaus. Im Sommer war das wohl das Meerbad. Sonst gab es nur einen schmalen, aber sehr langen Uferstreifen, voll mit Steinen, die vom Meer rund geschliffen worden waren.

Stierna ging das Ufer entlang. Nur dreißig Meter rechts von ihm verlief die mittelalterliche Ringmauer, dazwischen lag ein Grünstreifen mit gepflegten Rasenflächen und einigen Büschen und Bäumen. Ein staubiger Fußweg verlief durch das Grün.

Das Meer erschien endlos, in welche Himmelsrichtung er auch schaute. Der muffige Geruch nach Algen schlug ihm entgegen.

Unten am Strand war es fast menschenleer. Die Touristensaison war vorbei, der Herbst kündigte sich an. Eigentlich hatte er kein bestimmtes Ziel für seinen Spaziergang, er diente nur dazu, die Gedanken zu klären. Stierna ging langsam, denn der Stock rutschte immer wieder zwischen die Steine.

Das ist also Gotland, dachte er. Die Insel, von der ich schon so viel gehört habe, auf der ich aber noch nie gewesen bin. Er konnte sich bis jetzt kein genaueres Bild von der Insel machen, ging aber davon aus, dass sie ihm gefallen würde. Visby, das war so gar nicht schwedisch. Eher eine Mischung aus der Altstadt daheim in Stockholm und einem kleinen Ort am Mittelmeer. Zwar war er nie am Mittelmeer gewesen, aber er stellte sich vor, dass es dort so aussehen könnte. Enge Gassen, niedrige alte Häuser. Viel Grün.

Unter Mühen setzte er sich auf die runden Steine, legte seinen Stock neben sich und nahm den Rucksack ab. Sein letzter Tag als Polizist schien schon lange zurückzuliegen. Aber war er in den letzten neun Jahren wirklich noch Polizist gewesen? Wohl doch eher so eine Art Museumsdirektor. Das war er geworden, als er die Polizeiarbeit nicht mehr ertragen hatte. Als ihm alles zu viel geworden war.

Die wenigen Menschen, denen er davon erzählt hatte, waren verwundert gewesen, als er sein Abschiedsgesuch nur gut ein Jahr vor seinem sechzigsten Geburtstag eingereicht hatte, darüber, dass er nicht bis zum letzten Tag mit der Pensionierung gewartet hatte. Stierna war fast neunundfünfzig, beinahe sein gesamtes Erwachsenenleben hatte er bei der Polizei verbracht.

Und trotzdem war ihm klar gewesen, dass er dieses letzte Jahr nicht mehr ertragen hätte. In zwölf Monaten, also in nicht allzu langer Zeit, würde er trotz allem Pensionär sein, sechzig Prozent seines Kommissargehalts für den Rest seines Lebens ausbezahlt bekommen. Davon würde er sicher leben können, er hatte keine besonders hohen Ansprüche.

Es war höchste Zeit gewesen, aufzuhören. Selbst im Museum hatten sich die Schattenseiten jeden Tag in Erinnerung gerufen. All diese Vitrinen über Mörder, Tresorknacker und Erpresser. Nicht einmal dort war er ihnen entkommen.

Er war nicht direkt enttäuscht darüber, dass nur zwei Personen sich von ihm verabschiedeten, als er die Truppe verließ, in der er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Eigentlich hatte er nichts anderes erwartet.

Stierna öffnete den grünen Rucksack, holte eines der Butterbrote heraus, wickelte es aus dem Papier und biss von dem Brot mit Mettwurst ab. Aß, während er die Vögel unten am Wasser beobachtete.

*

Er brauchte fast eine Viertelstunde, um wieder zu dem Gasthof zurückzukommen. Ging dort an der Rezeption vorbei, in den Speisesaal.

Es war schon spät geworden, und er war fast der einzige Gast. Ein dunkelhaariger Kellner mittleren Alters führte ihn schweigend zu einem Fenstertisch. Doch Stierna beharrte darauf, draußen serviert zu bekommen, in dem kleinen Innenhof.

Hier saß außer ihm noch ein junges Paar.

Der Kellner verschwand gleich wieder, um die Karte zu holen. Und bald stand auch das junge Paar auf und ging, Stierna blieb allein zurück. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute ins Dunkel. Die Natur stand immer noch in Blüte, die Bäume waren dicht belaubt.

Stierna bekam die Speisekarte, entschied sich für Heilbutt. Und zum Fisch ein Pils.

Er dachte über den vergangenen Tag nach. Vor allem über das Gespräch mit Lindberg. Der alte Kollege hatte behauptet, er bewundere Stierna, weil dieser sich getraut hatte, alles hinter sich zu lassen und noch einmal neu anzufangen. Doch das war keine Frage des Muts, eher im Gegenteil. Stierna ließ nicht alles hinter sich, um neu anzufangen, um einen neuen Abschnitt in seinem Leben zu beginnen. Er wollte nur fort, fühlte sich gezwungen aufzuhören.

Er bestellte noch ein Bier. Und zum Kaffee gönnte er sich einen Cognac.

Er ging die drei Treppen hinauf, Fahrstuhl gab es keinen.

Anscheinend war er ganz allein auf der Etage. Jedenfalls hörte er kein Geräusch aus den anderen Zimmern, und bis jetzt hatte er noch niemanden hinein- oder herausgehen sehen. Aber er war ja erst einen Tag da.

Auch über Stiernas Zimmer lag Stille, obwohl die Kirchenglocken jede Stunde läuteten. Doch es waren dumpfe Schläge, die ihn in eine Art Ruhe hüllten.

Stierna hatte noch nicht alles ausgepackt. Der größte Teil der Kleidung lag noch in der Kiste, ebenso die Tagebücher. Er hatte jemanden dafür bezahlt, dass ihm die große Holzkiste mit seinen Sachen ins Wirtshaus gebracht wurde. Er besaß inzwischen fünfundzwanzig Tagebücher. Vor gut neunzehn Jahren hatte er angefangen zu schreiben.

Er setzte sich an den Schreibtisch und überlegte eine Weile, ob er an diesem Abend etwas schreiben sollte, stellte aber bald fest, dass ihm die Inspiration fehlte.

Er setzte sich aufs Bett. Das gerahmte Foto auf seinem Nachttisch zeigte eine junge Frau im Sommerkleid, von der Seite. Sie stand auf einem Steg, auf einer Insel in den Schären. Sie war schön, auf eine aparte Art. Das blonde, glatte Haar war mit einem Seitenscheitel gekämmt. Die Stirn war hoch, die Augen ungewöhnlich groß. Er hatte ihr immer wieder erklärt, dass sie authentisch war, und das war das Beste, was er von einem Menschen sagen konnte. Karolina war wirklich authentisch gewesen. Wahrscheinlich war sie es immer noch.

Draußen erklang der dumpfe Schlag der Kirchenglocke. Es war bereits Mitternacht. Morgen wollte er mehr von Visby kennenlernen.

Doch erst gegen Morgen schlief er ein.