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Stierna sah auf seine Taschenuhr. Genau drei Uhr. Wie immer, wenn Berner zu einer Pressekonferenz rief.

Sie waren alle schon im Versammlungsraum, Berner, er selbst und ein großer Teil der Presseleute. TT. Die großen Stockholmer Zeitungen. Mehrere Redaktionen aus anderen Landesteilen hatten auch ihre Reporter geschickt. Göteborgs Handels- och Sjöfartstidning war an Ort und Stelle. Wie GP, Arbetet und Skånska Dagbladet. Und Stierna erkannte außerdem einen Reporter vom Gefle Dagblad, der ihn vor langer Zeit einmal interviewt hatte.

Ingrid Bengtssons Tod war eine Angelegenheit geworden, die ganz Schweden betraf.

Berner stellte sich selbst und Stierna mit ein paar kurzen Sätzen vor. Die Journalisten saßen schweigend vor ihnen. Es waren mindestens zwanzig. Daneben circa zehn Fotografen.

Berner begann mit einem kurzen Obduktionsbericht. Schon seit Freitag hatten sie Doktor Karlströms Protokoll, aber bisher hatten sie davon nichts bekannt gegeben.

»Die Obduktion des Mädchens Bengtsson ist jetzt abgeschlossen. Sie ist aufgrund heftiger Gewalteinwirkung auf den Schädel gestorben.«

Nichts von der Schlinge, dachte Stierna. Nichts vom Erhängen.

Ein dicker, glatzköpfiger Reporter hob die Hand. Stierna meinte sich zu erinnern, dass er für das Aftonbladet arbeitete. Und dass er ihn schon früher getroffen hatte, aber in welchem Zusammenhang, war ihm entfallen.

»Können Sie uns sagen, ob es sich um sexuellen Missbrauch gehandelt hat?«

»Es gibt gewisse Zeichen, die darauf hindeuten«, antwortete Berner.

»Welche Zeichen?«

»Mehr möchte ich dazu nicht sagen.«

TTs Abgesandter hob die Hand, höflich und bescheiden. Er wirkte jung, höchstens fünfundzwanzig.

»Immer noch kein Verdächtiger?«

»Nein, bis jetzt nicht. Aber wir rechnen damit, dass der Täter bald hinter Schloss und Riegel sitzen wird.«

Wieder mischte sich der Reporter vom Aftonbladet ein.

Vielleicht fühlt er sich verpflichtet, Sprachrohr für die Presse zu sein, dachte Stierna. Was nicht verwunderlich ist. Schließlich wird in fast jedem Haus von der großen Belohnung gesprochen, die die Polizei ausgelobt hatte.

»Wir haben es hier mit einem Mord an einem Mädchen zu tun, in Stockholm. Vielleicht ein Sexualverbrechen. Glauben Sie, dass der Täter wieder zuschlagen wird?«

»Das können wir nicht ausschließen.«

Berner erinnerte an die beiden Telefonnummern, unter denen man Hinweise geben konnte. Dann überließ er Stierna das Wort.

»Es gibt einige Beobachtungen, über die wir mehr wissen müssten«, begann der Kommissar.

Berner behauptete immer, die Presse würde Stierna mögen. Und dass es ihm selbst gefiel, wie Stierna mit der Presse umging. Dass er nie zu wenig sagte, aber auch nie zu viel. Aber er gab den Schreiberlingen immer ihr Futter und stellte sie auf diese Weise ruhig.

»Es gibt zwei männliche Zeugen, die uns interessieren«, fuhr Stierna fort. »Einer wurde vor der Djurgårdswerft gesehen, zwischen drei und halb vier Uhr in der Mordnacht. Neben einem dunklen Wagen mit Klappverdeck, eventuell ein Chevrolet Imperial Landau. Er soll geraucht haben. Trug wahrscheinlich Hut und Anzug. War mittelgroß. Weiß jemand, wer das ist und was er dort gemacht hat? Weiß jemand etwas über den Wagen? Hat ihn jemand in Vasastaden oder in Djurgårdsstaden gesehen? Hat jemand andere Informationen über diesen Mann? Dann bitten wir darum, Kontakt mit uns aufzunehmen.«

Sie hatten der Presse gegenüber nichts davon erwähnt, was Harry Schiller auf der Djurgårdswerft gesehen hatte. Das war Berners Anweisung gewesen, er wollte dem Mörder nicht zu viel geben, wollte möglichst sparsam sein mit dem wenigen, was sie trotz allem wussten. Damit der Mörder sich in falscher Sicherheit wiegen konnte, die ihnen hoffentlich in Zukunft von Nutzen sein würde. Stierna fand diese Vorgehensweise auch vernünftig, wobei ihm natürlich klar war, wie wenig sie tatsächlich in der Hand hatten.

Es war still im Konferenzraum. Stierna war müde, obwohl er die letzte Nacht besser als sonst geschlafen hatte.

»Außerdem sind wir interessiert an einem Mann, der Ingrid Bengtsson Mitte August getroffen haben soll, ein paar Wochen vor dem Mord. Im Vasapark.«

Ein älterer Reporter, der ganz hinten saß, hob die Hand.

»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesen Männern?«

»Es kann einen Zusammenhang geben«, antwortete Stierna.

»Sie glauben, es könnte derselbe Mann sein?«

»Das könnte sein, ja.«

Er war fertig. Berner beendete die Sitzung. Stierna hörte nicht zu, was sein Chef sagte, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er hatte keine Ahnung, woran das lag.

Insgesamt war die Pressekonferenz ziemlich ruhig verlaufen; wenige Fragen, kaum Zweifel. So war es in den letzten Jahren meistens gewesen.

Berner war jetzt seit fast vier Jahren Chef der Abteilung für Gewaltverbrechen, und kurz nach seiner Ernennung hatte er bei jedem »größeren Gewaltverbrechen«, wie er es bezeichnete, regelmäßige Pressekonferenzen eingeführt. Wahrscheinlich, um nicht von seinem überfüllten Terminkalender zu Tode gehetzt zu werden. Damit diese Zusammentreffen nicht alles andere störten, wofür er verantwortlich war. Denn das war nicht nur die Abteilung für Gewaltverbrechen. Die Abteilung der Zollpolizei, das Polizeibüro für die Registrierung von Ausländern, allgemeine Polizeiuntersuchungen, das Staatliche Zentralbüro für Fingerabdrücke: All das gehörte zur Abteilung für Gewaltverbrechen, hier wurden Fotos und Fingerabdrücke von Verhafteten und Verurteilten aus dem ganzen Land verwahrt. Eine Art nationale Ressource. Die kriminaltechnische Abteilung war ein Teil des Fingerabdruckbüros, führte aber ihr eigenes Leben.

Berner hatte also die Pressekonferenzen als ein Mittel eingeführt, um alle Journalisten zu bündeln, die anriefen. Alle Journalisten, die sonst vor dem Polizeigebäude herumlungerten. Aber das hatte nicht ganz so geklappt, wie er sich das gedacht hatte.

Jetzt lauerten sie sich oft gegenseitig auf. Einer konnte einen eigentlich ziemlich harmlosen Tipp von einem Polizeibeamten bekommen haben, unfreiwillig oder gegen eine kleine Geldsumme. Ein anderer hatte vielleicht etwas von einem Zeugen erfahren, der seine Haushaltskasse hatte auffüllen wollen. Und viele wollten hinterher mit Berner sprechen und eine Bestätigung dafür erhalten, was sie ihrer Meinung nach als Erste vermutet hatten. Etwas, das sie verkaufen konnten. Und irgendeiner wollte immer ein Exklusivinterview mit Berner in seinem Arbeitszimmer.

Der Kriminaldirektor beendete die Veranstaltung, indem er der Presse für ihre Aufmerksamkeit dankte.

Stierna stand auf und verließ das Podium. Er bahnte sich seinen Weg zwischen Journalisten und Fotografen. Fünf von ihnen hatten Berner bereits umringt. Doch der Mann vom Aftonbladet saß noch an seinem Platz. Er wartete ab.

Stierna rückte sein dunkles Sakko zurecht und wollte in sein Büro gehen. Doch er wurde von der Nachrichtenagentur TT aufgehalten, die ein paar kurze Kommentare wünschte. Er wiederholte kurz, präzise und leicht verständlich, was er auf dem Podium gesagt hatte. Drückte sich nicht so umständlich wie ein Politiker aus oder so vage wie Berner manchmal. Als sie fertig waren, verabschiedete Stierna sich höflich und ging weiter. Er kam an dem kleinen Presseraum der Abteilung für Gewaltverbrechen vorbei, mit nur einem einzigen Telefon darin. Ein Reporter telefonierte bereits. Vor der Tür warteten ungeduldig drei weitere. Warteten, um ihre Arbeit machen und ihren Redaktionen die Informationen mitteilen zu können.

Plötzlich tippte Stierna der Reporter vom Aftonbladet auf die Schulter.

»Kommissar Stierna!«

Er drehte sich um.

»Kommissar Stierna«, wiederholte der Mann. »Jan Hessle vom Aftonbladet. Wir sind uns früher schon mal begegnet.«

Der Mann hielt schnell seine Hand hin, er schien es eilig zu haben.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Stierna und ergriff die ausgestreckte Hand.

Der Journalist zog seinen Notizblock hervor.

»Dieser Mann da im Vasapark. Wie verdächtig ist er?«

»Man kann noch nicht von einem Verdacht reden. Wir möchten nur wissen, wer er ist. Es ist gut möglich, dass er nichts mit dem Fall zu tun hat, aber wir müssen wissen, wer er ist. Um ihn als Verdächtigen ausschließen zu können oder aber weiter gegen ihn zu ermitteln.«

»Wissen Sie, was er gemacht hat, als er Ingrid Bengtsson in dem Park getroffen hat?«

»Es sieht so aus, als habe er ihr Geld gegeben, damit sie sich davon Glanzbilder kaufte.«

»Das ist alles? Sonst können Sie nichts über den Mann sagen?«

»Im Augenblick nicht.«

Stierna verstummte. Ihm fiel auf, wie schwer der Reporter atmete.

»Er muss wahnsinnig sein«, sagte der Journalist. »Dieser Unmensch, der das Mädchen getötet hat.«

»Das ist zu vermuten«, bestätigte Stierna.

Sein Gegenüber wirkte zufrieden, obwohl Stierna so kurz angebunden war, und eilte weiter zum Rathaus. Wahrscheinlich, um dort eine der Telefonzellen zu benutzen und die Schlange hier im Haus zu umgehen. Es ging darum, der Erste zu sein, etwas Exklusives zu bringen. Stierna fragte sich, was er dem kahlköpfigen, leicht gebeugten Reporter wohl hatte geben können. Wahrscheinlich nichts. Denn es war schon etwas dran an dem, was Berner sagte, er gab der Pressemeute nie zu wenig, aber auch nie zu viel. Nur ein paar Happen, damit sie zufrieden war. Für den Augenblick.

Als Stierna endlich in sein Büro trat, ging er das Material der Ermittlungen durch. Er fand seine Aufzeichnungen zu Ingrid Bengtssons Schmuck, der Kette mit dem Ferkel.

Sie hatten in den letzten Tagen die Pfandleihen der Stadt überprüft. Hatten Juweliere und andere aufgesucht, die Gebrauchtgüter verkauften. Hatten die Beschreibung von Ingrids Kettenanhänger verteilt, die Kaufleute gebeten, die Augen offen zu halten. Wallbom hatte sich darum gekümmert und tatsächlich Stierna direkt Bericht erstattet. Er hatte getan, was er konnte, doch es hatte nichts gebracht. Auch die Suchmeldung im »Polizeibericht« nicht. Ingrid Bengtssons Schmuck blieb verschwunden. Es war an der Zeit, Axelssons Goldschmiede aufzusuchen, höchste Zeit, eine Kopie anzufertigen. Er wollte Jonsson gleich damit beauftragen.

Stierna hatte noch das Buch, das Maria Bengtsson ihm geliehen hatte. Die Illustrationen in der Mitte hatten sich geradezu in sein Gedächtnis eingebrannt. Von diesem Schweinchen, das durch den Schnee ging, mit einem Tuch um den Hals.