Kapitel 8

Aus der Shelter Bay Gazette

Polizeiprotokoll: Auto demoliert

 

3:24 Uhr: Die Polizei wurde zu einem Anwesen am White Oak Drive 94 gerufen, um ein Auto zu untersuchen, das offenbar blindem Vandalismus zum Opfer gefallen ist. Motorhaube und Seiten des weißen Lexus wiesen deutliche Kratzer im Lack auf, die Scheiben waren eingeschlagen, die Reifen zerstochen.

Trotz mehrerer konkreter Anhaltspunkte seitens der Behörden konnte bisher niemand belangt werden …

 

Zoe pustete in ihren Becher und sog das schwere Kaffeearoma tief ein. Sie hatte noch etwas Zimt hinzugefügt und der Duft ließ sie an Weihnachten denken. An jene Weihnachten, als ihre Mom noch bei ihnen gewohnt hatte. Zoe trank nicht oft Kaffee. Nur morgens, wenn sie am Abend zuvor nicht hatte einschlafen können. Oder wenn sie geschlafwandelt war. Dann schwirrte ihr am nächsten Morgen der Kopf und ihr ganzer Körper fühlte sich kraftlos an, wie eine welke Blume, die dringend gegossen werden müsste.

Bananas, ihre Katze, kam in die Küche getigert. Sie rieb sich erst am Tischbein, dann an Zoe.

»Du liebst mich also genauso sehr wie den Tisch?«, fragte Zoe und beugte sich hinab, um Bananas hinter den Ohren zu kraulen. »Hm? So sehr?«

Bananas’ Augen waren zu Schlitzen verengt. Mit einem Satz sprang sie auf Zoes Schoß, schnurrte genüsslich und streckte ihrem Frauchen den Kopf entgegen.

»Ach, doch mehr als den Tisch?«

Es klopfte laut an der Tür und die Katze sprang aufgeschreckt von Zoes Schoß, wobei sich ihre ausgefahrenen Krallen in deren Beine gruben. Sie landete sanft auf dem Boden und nahm schleunigst Reißaus.

»Autsch.« Zoe hielt vor Schmerz die Luft an und begutachtete den langen, dicken Kratzer, den das Tier auf der Innenseite ihrer Oberschenkel hinterlassen hatte.

»Tut mir leid.« Wills Silhouette zeichnete sich nur undeutlich durch die Verandatür ab. Zoe winkte ihn herein.

»Sie weiß einfach nicht, wohin mit ihren Kräften.«

»Tut es sehr weh?« Will streckte eine Hand nach Zoes Bein aus, doch sie zog rasch ihre kurze Pyjamahose über den Kratzer und schlug die Beine übereinander. Will lief rot an. Peinlich berührt sah er auf seine Hände herab, offenbar erleichtert, etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte. »Ich, äh, ich habe dir die Zeitung von draußen mitgebracht.« Er ließ sie vor sich auf den Tisch fallen.

»Was ist denn überhaupt los? Was führt dich so früh schon zu mir?«

»Ich weiß ja, dass du immer sehr früh aufstehst.«

»Das heißt ja wohl nicht, dass ich dann auch schon Besucher empfange. Schließlich habe ich noch meinen Pyjama an, oder?«

Will entfuhr ein Seufzer. »Gegen dich hat man keine Chance.«

»Sag das mal meinem Dad. Also, was gibt’s?«

Will schüttelte den Kopf. »Wenn ich das nur wüsste.« Seine Augen wurden schmal, als er sie forschend ansah. »Hast du mit Jason Schluss gemacht?«

Zoe wurde heiß und kalt. »Was? Wieso?«

»Na ja … ich hab da so was gehört.«

»Du hast da so was gehört? Von wem denn? Etwa von Asia?«

Will zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Du hast mit Asia darüber geredet?«

»Natürlich. Wir arbeiten schließlich zusammen. Und sie war dabei, als Jason reinkam. Und als er wieder ging.« Zoe hob fragend die Schultern hoch. »Woher weißt du davon?«

»Was weißt du eigentlich über Asia?«

»Nicht besonders viel.«

»Das heißt …?«

Zoe musste kurz überlegen, in ihrem Kopf schwirrten die Gedanken unkontrolliert umher. Wusste sie eigentlich irgendetwas über ihre Kollegin? Auf der Arbeit war es fast immer Asia, die die Fragen stellte. Im Grunde gab sie von sich selbst so gut wie nichts preis. Zoe blickte Will forschend ins Gesicht. »Weshalb interessierst du dich so für Asia?«

Will seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Zehn Sekunden vergingen tickend. »Sie ist irgendwie … wie soll ich sagen, irgendwie so merkwürdig.«

Vorsichtig meinte Zoe: »Ich glaube, sie ist nur ein wenig schüchtern.«

»Schüchtern? Das nun nicht gerade.«

»Sie redet nicht sehr viel.«

»Das ist doch nicht das Gleiche, wie wenn man schüchtern ist.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst.«

Der scharfe Unterton in ihrer Stimme war auch Zoe selbst aufgefallen. Sie trank noch einen Schluck Kaffee, um sich zu beruhigen. Ihre Hände umschlossen den Becher. Sie war selbst von der Heftigkeit ihrer Gefühle überrascht. Sie wehrte sich innerlich gegen diese Unterhaltung. Sie wollte auch nicht, dass Will all diese Fragen über Asia stellte. Und außerdem hatte sie ihre eigenen Fragen. Wie hatte Asia Jason so jäh stoppen können? Es war, als ob von ihren Worten – oder von ihrer Stimme? – eine gewaltige Kraft ausgegangen war.

Zoe betrachtete mit vorgetäuschtem Interesse den Stapel Post vor sich auf dem Tisch. Sie spürte Wills Blicke auf sich.

»Also gut«, sagte er schließlich.

Zoe sah die Post durch. Ihr Blick fiel auf eine Briefmarke und sie zog den entsprechenden Brief aus dem Stapel. Sie erkannte die Handschrift.

»Was hast du da?«, fragte Will.

»Nichts«, entgegnete Zoe. Ihre Blicke trafen sich. »Von meiner Mutter.«

Sie starrten beide auf den Brief, als sei er vergiftet.

»Wirst du ihn lesen?«, fragte Will.

Zoe trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf.

Will warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Hast du schon einmal Post von ihr bekommen?«

Zoe hob die Schultern. »Mehrmals im Jahr.«

»Und ihre Briefe – liest du dann einfach nicht?«

»Noch nicht.«

»Also hast du es vor?«

»Oh Mann, Will! Ich bin hier nicht dein Forschungsprojekt, klar?«, schnauzte sie ihn an. »Wenn meine Mutter mir irgendetwas zu sagen hat, dann kann sie anrufen. Oder skypen. Oder sich in ein Flugzeug setzen und hierherfliegen. Als ob sie nicht genug Geld hätte.« Prompt kam sie sich mies vor, weil sie Will so angemotzt hatte. Andererseits war ihr so gar nicht danach, über die Beziehung zu ihrer Mutter zu reden. Nach der Scheidung hatte Yvonne alles behalten. Zoe machte ihr deswegen keine Vorwürfe. Nicht wirklich. Immerhin hatte ihre Mutter einen Haufen Geld mit in die Ehe gebracht.

Doch dann war sie nach Frankreich gezogen und hatte sie zurückgelassen. Und Zoes Vater hatte der Realität nicht ins Auge schauen wollen, dass sie ohne Yvonnes Geld ihren Lebensstandard nicht halten konnten. Johnnys Einkommen reichte für Privatschule, Miete und sonstige Ausgaben in Manhattan einfach nicht aus. Trotzdem hatte er jahrelang das Loch, das Yvonnes Weggang in ihre Familienkasse gerissen hatte, nur noch weiter vergrößert. So lange, bis es nicht mehr ging. Sein Vater hatte Johnny das Haus auf Long Island vererbt, das er nun schuldenfrei sein Eigen nannte. Also würden sie darin wohnen. »Tut mir leid, Will. Ich hab für all das zurzeit keinen Kopf.«

Die Verbitterung in ihrer Stimme irritierte ihn offensichtlich. »Nun gut«, sagte er, was wie ein Rückzieher klang und auch einer sein sollte. »Und?«, meinte er dann, um das Thema zu wechseln. »Gehen wir jetzt heute Abend auf diese Party?«

»Ich dachte, du wolltest da nicht hin.«

»Will ich auch nicht.«

»Aber du gehst trotzdem, um mich auf andere Gedanken zu bringen?«

»Könnte es denn funktionieren?«

Zoe grinste ihn schief an. »Kann schon sein.«

Will seufzte. »Das habe ich befürchtet.«

»Dann hole ich dich um neun ab?«

»Ich habe nur gesagt, dass ich hingehe, nicht, dass ich vorhabe, die ganze Nacht da herumzustehen. Wir können uns dort treffen.«

»Wehe, du kommst nicht.«

»Habe ich dich jemals hängen lassen?«

Zoe überlegte kurz. »Ja.«

»Nicht seit der achten Klasse. Und da wollte ich dich ja anrufen – hätte ich nur ein Handy gehabt.«

»Du bleibst also bei dieser Version der Geschichte …«

Will stand auf. »Ich komme bestimmt«, versprach er.

Zoe nickte beruhigt. Sie nahm ihren Kaffeebecher in die Hand und trank einen Schluck. Der Kaffee war nicht mehr heiß, sondern angenehm warm. »Gut«, sagte sie. »Und jetzt raus mit dir. Ich muss zur Arbeit.«

Will deutete auf ihr Bein. »Vergiss nicht, dir etwas auf den Kratzer zu schmieren.«

Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Als Will die Wunde erwähnte, begann diese schmerzhaft zu pochen.

»Tja, Liebe ist hart«, sagte sie.

Will nickte. »Wem sagst du das.«

 

Zoe versuchte, Will im Gedränge zu finden. Nicht hier. Sie seufzte tief. Ich hätte nie zustimmen sollen, uns hier zu treffen, dachte sie. Wer wusste, wann er auftauchen würde. Und dann würde sie ganz allein in der Gegend herumstehen oder bei Leuten, die sie nicht leiden konnte. Warum wollte ich überhaupt hierhin?, fragte sie sich. Das war das Problem mit Partys – man erhoffte sich Spaß und Ablenkung, doch im Grunde lief es immer nur darauf hinaus, dass man sich mit Leuten unterhalten musste, denen man anderswo am liebsten aus dem Weg ging.

»Zoe!« Harry Ansell winkte zu ihr herüber und bahnte sich einen Weg durch die Menge, um sie zu begrüßen. Er trug ein marineblaues Poloshirt, kakifarbene Shorts und sehr teuer aussehende Ledersandalen, womit er genau nach dem aussah, was er war – ein netter, allerdings nicht sonderlich intelligenter Schüler einer privaten Highschool, der kurz vor seinem Wechsel auf ein zweitrangiges College stand. Zoe kannte ihn nicht besonders gut, doch über all die Jahre waren sie stets locker befreundet gewesen. In der Stadt waren sie häufig auf denselben Partys unterwegs und bewegten sich in denselben Kreisen.

»Hi, Ansell«, grüßte Zoe ihn. Kaum einer nannte Harry bei seinem Vornamen.

Ansell nahm sie unerwartet in den Arm. »Wie schön, dass du da bist.« Er sah ihr in die Augen. »Ich möchte, dass du weißt, dass Jason nicht kommen wird.«

Seine Worte waren gut gemeint, doch Zoe kamen sie vor wie ein Schlag ins Gesicht. Irgendwie war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass Jason auch hier sein könnte. Möglicherweise, da Ansell in ihrem Shelter-Bay-Universum bereits so viel länger existierte als Jason. Zoe und Ansell kannten sich von klein auf. Er war Teil jenes Shelter Bays, zu dem auch Will und Tim und Angus gehörten. Jason hingegen war ein felsiger Trabant ganz am Rande ihrer Umlaufbahn – sie betrachtete ihn eher als ihren ganz persönlichen Mond, nicht als Planeten mit eigener Umlaufbahn.

»Als ich gehört habe, was im Bella’s los war, habe ich ihn angerufen und ihm gesagt, er soll sich hier nicht blicken lassen.« Ansell schüttelte empört den Kopf. »Er hat noch versucht, das Ganze abzutun, von wegen er sei das Opfer und so, aber ich hab ihm nur gesagt: ›Hey, ich kenn doch Zoe.‹«

Zoe nickte. Ihr schwirrte der Kopf. »Danke.«

»Mach dir nichts draus. Übrigens, Angus läuft hier auch irgendwo herum … Oh! Hey, da ist ja Trina. Ihr zwei kennt euch doch, oder?«

Trina wandte sich von ihren zwei Bewunderern ab und kam zu Zoe herüber. »Hallo, Zoe«, sagte sie. Sie lächelte, doch ihr Blick war eiskalt.

»Hi«, erwiderte Zoe verlegen und ärgerte sich, dass sie ohne Rückendeckung hierhergekommen war, wo sie sich doch tagelang nicht auf Trinas SMS gemeldet hatte.

»Ansell!«, rief jemand herüber. Ansell drückte freundschaftlich Zoes Arm und tauchte wieder in die Menge der Partygesellschaft ab.

»Du hattest wohl viel zu tun.« Trinas Lächeln war jäh verschwunden.

»Genau.« Zoe fiel keine bessere Ausrede ein, daher griff sie Trinas Satz dankbar auf.

»Tja … ich habe mit Jason gesprochen.«

»Ach ja?« Das überraschte Zoe, auch wenn sie es hätte wissen müssen. Der hat sich ja schnell getröstet.

Trina kräuselte ihre Lippen zu einem selbstgefälligen, besitzergreifenden Lächeln. »Jemand hat sein Auto demoliert – schon gehört?«

»Echt?«

»Jep. Jetzt muss er das Auto seiner Eltern nehmen, der Lexus ist Schrott. Jason dachte, du könntest vielleicht etwas über die Sache wissen.«

Zoe war sprachlos und unfähig, sich zu bewegen. Wie festgenagelt stand sie dort. Jason verdächtigt mich? Sie war entsetzt gewesen, als sie von der Sache erfahren hatte, doch mehr noch schockierte es sie jetzt, dass Jason sie für schuldig hielt. »Nein«, brachte sie schließlich mit zusammengepressten Lippen heraus. »Ich hab noch nicht einmal – ich hatte doch keine Ahnung von dem Ganzen.«

»Ach, tatsächlich?«, fragte Trina arglistig. Sie sah über Zoes Schulter hinweg.

Daraufhin drehte Zoe sich um. Ein paar Meter hinter ihr stand Asia an einem mit einer Lichterkette geschmückten Geländer. Sie beobachtete die beiden.

Trina betrachtete Zoe noch einmal abschätzig von oben bis unten und marschierte davon, um sich wieder ihrer Gruppe von Verehrern zu widmen. Sie sagte irgendetwas zu den Highschool-Typen, woraufhin sich einer von ihnen nach Zoe umsah. Sie spürte, wie ihr vor Zorn und Scham die Röte ins Gesicht stieg.

Asias Hand legte sich auf Zoes Schulter. »Ihre Gedanken können dir nichts anhaben.«

Ihre Worte umspülten Zoe wie eine kühle Woge. Sie wandte sich zu ihrer Freundin um. »Weißt du, was meine Mutter immer zu sagen pflegte? ›Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein.‹« Zoe seufzte tief. »Aber das ist nicht wahr.«

»Sie bringen nur dann Pein, wenn du ihnen Bedeutung beimisst«, meinte Asia.

Zoe stellte sich an die Stelle, an der Asia vorher gestanden hatte. »Ich fürchte, genau das ist mein Problem.« Sie lehnte sich ans Geländer und blickte hinab auf das dunkle Wasser. Eine große Anzahl von Sternen – die Spiegelung der Lämpchen an der Lichterkette – leuchtete zu ihr herauf und flimmerte im formlosen Dunkel. Ein kühler Windhauch strich ihr angenehm erfrischend über die verschwitzten Arme. Die Luft war schwül und die vielen aneinandergepressten Leiber auf dem Steg produzierten so viel Hitze, dass Zoes rotes Baumwollkleid ihr am Rücken klebte. Sie hob ihr dichtes Haar im Nacken an und fühlte, wie ihr ein Tropfen den Rücken hinunterlief. Zu Asia gewandt sagte sie: »Ich hatte eigentlich gar nicht erwartet, dich hier anzutreffen.«

Asia blickte aufs Wasser und sah aus, als denke sie über eine mögliche Antwort nach. »Ich will hier jemanden im Auge behalten«, gestand sie.

Zoe lachte auf. »Danke.«

Asia legte den Kopf schief, ein belustigtes Lächeln auf den Lippen. »Du denkst, dass ich dich meine?«

»Etwa nicht?«

Asia zuckte nur vielsagend mit den Schultern. »Mag sein«, sagte sie, wobei ihre Augen blitzten, als ob sie sich königlich über Zoe amüsierte.

Kein Wunder, dass Will mich über sie ausgefragt hat. Zoe machte sich ja mittlerweile selbst so ihre Gedanken. »Du bist so …« Sie suchte nach dem passenden Ausdruck. »Merkwürdig.«

Asia lachte und Zoe wurde rot.

»Also, ich meinte eigentlich nicht merkwürdig«, beeilte Zoe sich zu sagen. »Ich finde dich nur … na ja, irgendwie geheimnisvoll.«

»Ich fühle mich nicht gekränkt«, sagte Asia.

Sie verfielen in Schweigen. Um sie herum ging das bunte Partytreiben weiter und die verschwitzte Menschenmenge drängte immer mehr auch zu der Ecke, in der sie standen. »Hier ist es so heiß«, sagte Asia nach einer Weile. »Dass du überhaupt atmen kannst.«

Ein Arm streifte Zoe, als ein kleiner, untersetzter Typ sich an ihr vorbei einen Weg durch die Menge bahnte, um zum Bier zu gelangen. »Hier am Rand ist es etwas angenehmer.«

»Man ist so eingeengt.«

Zoe streckte ihren Ellbogen aus und jemand ging einen Schritt zur Seite. Ein paar Zentimeter freie Fläche taten sich auf und Asia nahm rasch den neu gewonnenen Platz ein. »Da möchte man am liebsten einfach hineinspringen«, sagte sie und blickte sehnsüchtig ins Wasser.

»In dem Outfit?«, scherzte Zoe.

Asia blickte an ihrem weißen Kleid hinunter. Es war im Goddess-Stil geschnitten, mit Neckholder und langen weißen Stoffbahnen, die ihr beinahe bis zu den Knöcheln hinabreichten.

»Nicht gerade bestens zum Schwimmen geeignet«, merkte Zoe an.

»Hm.« Asia blickte wieder aufs Wasser und schien ihr gar nicht richtig zuzuhören. Plötzlich verengten sich ihre Augen, als ob sie dort unten etwas entdeckt hätte, und sie machte einen Schritt zurück.

»Was hast du denn?«

Asia sah sie aus ihren kühlen grünen Augen an. »Siehst du dort unten irgendetwas?«

Zoe schaute angestrengt ins Wasser. »Nein.«

»Nein«, wiederholte Asia.

Zoe warf ihrer Freundin einen prüfenden Blick zu, doch deren Miene blieb reglos. Schräg hinter ihr bemerkte Zoe einen gut aussehenden dunkelhäutigen Kerl, der Asia genauestens unter die Lupe nahm. Ihr exotisches Aussehen hatte bereits jede Menge Aufmerksamkeit erregt und Zoe verspürte einen Anflug von Eifersucht. Noch ein Grund, weshalb Will mich über sie ausgefragt hat, dachte sie.

»Ich muss diesen Ort verlassen«, sagte Asia plötzlich. »Diese Hitze …«

»Im Ernst?« Selbst in dem ganzen Gedränge wirkte Asia noch immer frisch und sauber.

Doch sie hatte sich bereits entfernt, glitt zwischen den vielen Menschen hindurch und bewegte sich schnell auf das Ende des Stegs zu. Es sah aus, als würde sie sich inmitten eines Kraftfeldes befinden. Sie stieß mit niemandem zusammen und niemand berührte sie.

»Du wirst beobachtet.« Angus tauchte neben Zoe auf, in der Hand einen Plastikbecher, der zur Hälfte mit Schaum gefüllt war. Er stellte sich in die Lücke, die Asia hinterlassen hatte.

»Von wem denn?«

Angus wies mit dem Kopf in die Richtung und Zoe sah einen blassen Jungen in einem schwarzen T-Shirt und Jeans. Seine auffällig großen Augen starrten sie einen Moment lang unverwandt an, bevor er den Blick wieder von ihr abwandte.

»Ach, der«, meinte Zoe ausweichend. »Das ist Kirk, der durchgeknallte Schreihals aus der Zehnten.« Sie beobachtete, wie er sich einen Plastikbecher schnappte und ihn ins Meer warf. Dann noch einen. Er griff nach einem dritten, doch ein Mädchen schnappte ihn ihm vor der Nase weg, da sie ihn offenbar noch nicht leer getrunken hatte. Kirk duckte sich und schlich davon, wobei er Arme und Beine wie ein Krake entlang des Geländers ausstreckte und sich tastend rückwärtsbewegte.

»Schreihals passt.«

»Der ist hier bekannt wie ein bunter Hund.«

»Hey, sein Gesicht erscheint sogar öfter in der Zeitung als das von Lindsay Lohan.«

Zoe lachte. Eine Haarsträhne wehte ihr vor die Augen. Angus wollte sie ihr aus dem Gesicht streichen, hielt jedoch inne und zog dann zögerlich seine Hand zurück. »Entschuldige«, murmelte er. Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Geländer und starrte hinab aufs Wasser.

Zoe strich sich die Strähne aus dem Gesicht und schenkte ihm ein reumütiges Lächeln. Es wäre wohl zu viel verlangt, dass Angus und ich wieder ganz normal miteinander umgehen könnten, dachte sie.

»Wo ist denn Jason?«, fragte Angus und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

Zoe bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und stöhnte auf. »Lass mich bloß mit dem in Ruhe!«

»Ja, ich hab schon davon gehört.« Er blickte weiter aufs Wasser und grinste.

»Also wird darüber geredet.«

Angus zuckte bloß mit den Schultern und drehte sich zu ihr um. »Jason hat schließlich Freunde. Man sagt, deine Kellner-Freundin hat sich für dich eingesetzt.«

»Stimmt.«

»Wie heißt sie noch gleich – Asia, oder?«

»Genau.«

»Ist sie heute auch hier?«

»Ja, irgendwo.« Zoe suchte in der Menge nach ihr, konnte das weiße Kleid jedoch nirgends entdecken. »Wieso – interessiert?« Die Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen, da trieben sie ihr schon die Schamesröte ins Gesicht. Sie entschied sich, das Thema lieber nicht weiter auszuführen.

»Jetzt bleib doch mal ernst«, beschwerte sich Angus.

»Sie ist halt einfach bildhübsch.«

»Unheimlich, würd ich mal eher sagen.«

»Wirklich?« Zoe warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Sie musste an Asias grüne Augen und ihr langes schwarzes Haar denken. Sie hatte tatsächlich etwas Kühles an sich; doch das wiederum war es auch, das Zoe so an ihr mochte. Sie hatte das Gefühl, dass es bei Asia keine Lügen gab.

Angus betrachtete ihr Gesicht einen Moment lang. Es schien, als wollte er etwas sagen, doch dann hatte er es sich offenbar anders überlegt. »Ist Will auch hier?«

»Rein theoretisch schon.«

»Noch nicht aufgetaucht?«

»Bisher nicht.« Zoe sah zum Meeresufer hinüber. Hinter den Dünen lag die hell erleuchtete Villa, deren Lichter fast bis an den Strand reichten. Die Stegbeleuchtung schien auf das Wasser hinab und tauchte dessen Oberfläche in ein dunkles Grau. Am Strand waren hier und dort die Umrisse von Gestalten zu erkennen – Liebespaare, die der schwülen Hitze der Party entflohen waren, um nun abseits der Menschenmenge selbst ins Schwitzen zu geraten.

»Dann musst du wohl mit mir vorliebnehmen, was?«, bemerkte Angus.

»Entweder mit dir oder mit Kirk, würde ich mal sagen.« Zoe blickte zu dem schlaksigen Jungen hinüber. Er war offensichtlich gerade in ein Gespräch mit jemandem vertieft – mit jemand Unsichtbarem. Die Leidenschaft, mit der er sich unterhielt, jagte Zoe einen eiskalten Schauer über den Rücken.

»Jemand sollte wegen dieses Jungen mal was unternehmen.«

»Und worüber sollten die Leute sich dann den lieben langen Tag unterhalten?«, wandte Zoe ein. »Die Zeitung hätte doch nichts mehr zu berichten.«

Angus nickte. »Stimmt. Trotzdem tut er mir auch irgendwie leid.«

»Warum tun seine Eltern denn nichts dagegen?«

»Seine Mutter hängt immer nur mit ihrem zwielichtigen Dealer-Freund in irgendwelchen Bars rum. Sein Vater ist tot. Seine Schwester Adelaide ist die Einzige in der Familie, die klar im Kopf ist. Aber sie ist erst zwanzig. Was soll sie schon machen?«

So standen sie Seite an Seite auf dem Steg und blickten aufs Wasser hinunter. Schräg unter ihnen entfernte sich eine geisterhafte Gestalt auf dem nassen Sandstreifen immer weiter vom Pier. Die auslaufenden Wellen schossen gurgelnd auf ihre Füße zu und umspülten ihre Knöchel. Sowohl an ihren Bewegungen, als auch an den langen dunklen Haaren erkannte Zoe sofort, dass es Asia sein musste. Sie verschwand langsam in der Dunkelheit und ihr weißes Kleid schien zu leuchten wie die Lichter im Wasser unter ihnen. Zoe entfuhr ein tiefer Seufzer. Wann war nur alles so schrecklich kompliziert geworden?

 

Will beobachtete sie eine Weile dabei, wie sie auf das Wasser blickte. Eine Welle streckte sich nach ihr aus und umfing ihre Füße mit einem leisen Gurgeln. Sie sank leicht im nassen Sand ein, bevor sich das Wasser wieder ins Meer zurückzog. Der Saum ihres weißen Kleides war bereits klatschnass, doch es schien sie nicht im Geringsten zu stören. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, auf den finsteren Horizont.

Will saß hinter ihr im Halbdunkel im Sand. Bereits seit einer halben Stunde saß er so da. Er hatte Zoe versprochen, zu der Party zu kommen, doch je mehr er sich der Villa genähert hatte, desto schwerer war ihm jeder Schritt gefallen. Will hasste Smalltalk bei ohrenbetäubender Musik. Er hasste es, dicht gedrängt zwischen Leuten zu stehen, die er nicht kannte. Tim war stets der Geselligere von ihnen beiden gewesen – er hatte es geliebt, unter Leuten zu sein.

Will konnte an diesem Abend immer nur an Tim denken. Hier, am Rande des Wassers, brach die Erinnerung an jene letzte Nacht mit aller Macht über ihn herein …

»Will, wo steckt dein Bruder?«, hatte sein Vater gefragt, als er zur Hintertür hereingepoltert kam. »Ich habe ihm doch gesagt, dass ich ihn für den Traktor brauche.«

Will stieß seinen Stuhl vom Tisch weg. »Ich kann dir doch helfen.«

»Bert, jetzt lass uns doch um Himmels willen bloß damit in Frieden!« Wills Mutter stand am Spülbecken, wo sie die Zuckerschoten putzte, und warf ihrem Mann einen knappen Seitenblick zu. »Will, du würfelst die restlichen Tomaten. Und du, Bert, geh und wasch dich – du bist über und über mit Motorenöl beschmiert. In zehn Minuten können wir essen.«

»Weib, du kommandierst mich herum, als wärst du die Königin von England«, beschwerte sich Wills Vater scherzhaft.

Sie schlug spielerisch mit einem Geschirrtuch nach ihm. »Ich bin die Königin dieses Hauses.«

»Jawohl, Hoheit.«

»Es heißt, Eure Majestät«, wies sie ihn zurecht.

»Schon kapiert.« Wills Vater zwinkerte Will zu und verschwand eilig im Flur, um sich zu waschen.

Will ging mit den Tomaten zum Herd und beförderte sie in die Pfanne, in der bereits die Zwiebeln anbräunten. Sofort begann der fleischige Tomatensaft in der heißen Butter zu blubbern und sich an den Rändern orange zu färben.

»Danke, Will. Könntest du dann bitte Tim suchen und ihm sagen, dass wir gleich essen wollen?«

»Sicher.« Will lief die Treppe hoch, stieg dann die Leiter hinauf und steckte seinen Kopf durch die Luke, die zu Tims Zimmer führte. »Tim?«

Keine Antwort.

Will stieg bis ganz nach oben. Im vergangenen Jahr hatte Tim den Dachboden zu seinem Zimmer umgebaut. Die Schrägen hingen tief und der Raum besaß lediglich zwei winzige Fenster. Wenn man dort jedoch hinaussah, bot sich einem ein wunderschöner Ausblick. Links lagen die Dünen mit dem Meer dahinter. Rechts die kleine Bucht. Tim war oft stundenlang dort oben, um zu lesen oder Gitarre zu spielen. Es war ein behagliches Plätzchen und häufig gesellte sich Will zu seinem Bruder. Dann führten sie ausgiebige Gespräche.

Will ging zum Fenster und ließ den Blick über die weiten Anbaufelder schweifen. Unzählige Irisknospen waren jüngst aufgesprungen und hatten das Blumenfeld in ein farbenfroh leuchtendes Blütenmeer verwandelt. Der Verkauf von Blumen war eine äußerst lukrative Angelegenheit und diese hier wuchsen direkt neben den dicht gepflanzten, buschigen Tomatengewächsen – die gerade in Blüte standen und noch keine Früchte trugen – sowie neben einigen kürzeren Reihen, in denen Salbei, Thymian und Dill gediehen. Links befand sich das kleine Wäldchen und hinter der Anbaufläche lagen die Dünen, dann kam das Meer. Dort sah Will zwei Gestalten. Die eine war Tim. Die andere, deren langes blondes Haar von der Abendsonne in ein warmes Licht getaucht wurde, war Zoe.

Will zögerte einen Moment und beobachtete die beiden. Offenbar waren sie ganz ins Gespräch vertieft. Er fragte sich, worüber sie wohl redeten. Will wusste um Tims Gefühle für Zoe – jeder wusste es. Und er nahm an, dass Zoe seine Gefühle erwiderte. Natürlich liebte auch sie Tim. Schon lange hegte Will die Befürchtung, als fünftes Rad am Wagen zu enden, und nicht etwa als einer der Drei Musketiere. Möglicherweise würde es in diesem Jahr so weit sein …

»Will!«, rief Mrs Archer von unten. »Sag Tim, er hat noch zwei Minuten!«

Will rannte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Er überquerte die Felder und lief zwischen den mit kleinen weißen Blüten besetzten Bohnenreihen hindurch. Doch als er am Meer ankam, war Tim bereits allein.

Er hatte am Wasser gestanden und hinaus auf die Wellen geschaut. So wie Asia in diesem Augenblick.

Will war aufgestanden, und weil ihm nichts einfiel, das er hätte sagen können, schaute er sie einfach nur an.

»Ich weiß, dass du da bist«, flüsterte sie nach einer kurzen Weile, ohne sich nach ihm umzudrehen.

»Gut«, sagte er. Da fuhr sie herum und sah ihn an. Ihre Sandalen landeten mit einem Platsch in dem sich gerade zurückziehenden Wasser.

Will eilte hin, um sie herauszufischen. Als er Asia die Sandalen, die voller Sand waren, zurückgab, hatten sich ihre Gesichtszüge wieder etwas entspannt.

»Danke«, sagte sie mehr zu den Sandalen als zu ihm.

Er blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Du scheinst überrascht zu sein, dass ich hier bin.«

Asia sah ihn an, jedoch ohne ein Wort zu sagen. In Will regten sich Zweifel. Er war davon ausgegangen, dass sie mit ihm gesprochen hatte, doch mittlerweile fragte er sich ernsthaft, ob ihre Worte – »Ich weiß, dass du da bist« – nicht doch an jemand ganz anderen gerichtet gewesen waren.

»Hat dir die Party nicht gefallen?« Er stand jetzt direkt vor ihr, so nah, dass ihr Scheitel beinahe sein Kinn berührte. Er spürte das brennende Verlangen, ihr Haar mit seinen Lippen zu streifen.

»Mir war es dort zu heiß.« Sie sah zu ihm hoch. »Zu viele Leiber.«

Ihre Stimme klang wie Musik, die seinen Körper durchströmte. Er sah ihr in die Augen. »Jetzt erklär mir doch bitte mal, wie jemand, der so klein ist wie du, es schafft, jemand so Großen wie Jason Detenber einzuschüchtern.«

Sie erstarrte. »Was?«

Das Wort kam aus ihrem Mund geschossen wie der Knall einer zuschlagenden Tür. Es fuhr ihm durch Mark und Bein und Will blinzelte irritiert. »Zoe hat mir alles erzählt.«

»So, hat sie das?« Nun klang ihre Stimme wieder melodisch weich.

Will fühlte sich schläfrig, doch er kämpfte dagegen an. »Hat sie.«

»Ganz sicher?« Es klang wie ein langer Ton, fast wie ein Lied.

Sag ihr, was sie hören will, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Doch er durfte jetzt nicht aufgeben. In seiner Erinnerung gab es zu viele Lücken – zu viele Fragen. Er brauchte Antworten. »Ja.«

Asia legte den Kopf schief und sah ihn lange an. Das war’s dann wohl, dachte er, doch da sagte sie: »Du bist anders.«

»Was?« Diese Bemerkung überraschte Will dermaßen, dass er einen Schritt zurück machte. »Wie meinst du das?«

»Es gibt nicht viele Menschen wie dich, Will.«

Will wusste nicht, was er darauf sagen sollte. »Ich finde, an mir ist nichts Außergewöhnliches.«

Asia blickte ihn an. »Die meisten … Menschen … haben einen schwachen Geist.«

»Du sagst ›Menschen‹ ja gerade so, als wärst du keine von uns.«

»Das Leben ist voller Geheimnisse«, entgegnete sie schließlich. Einen Moment lang erwiderte sie seinen Blick, dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.

Noch bevor er begriff, was mit ihm geschah, lief sie über den Sand davon. Will griff sich an den Kopf. Ihm war, als seien seine Gedanken trübe geworden, wie das Wasser eines sauberen Flusses, das beim Durchwaten durch den aufgewirbelten Schlamm seine Klarheit verliert. Er blickte der weißen Gestalt nach, die langsam im Dunkel verschwand. »Musst du eigentlich immer so geheimnisvoll tun?«, rief er ihr nach.

Doch sie schaute sich nicht um.

Will seufzte. Er blickte zum Steg hinüber. Zoe und Angus standen dort auf das Geländer gelehnt, unterhielten sich und lächelten. Ob ihr überhaupt auffallen würde, wenn ich nicht zur Party käme?, überlegte er. Doch im Grunde war ihm klar, dass sie es sehr wohl bemerken würde. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er nicht hingehen, doch das war es nicht wert, ihre Gefühle zu verletzen.

Der Sand unter seinen Füßen knirschte leise, als er zu seinen Freunden hinüberlief. Am Steg angekommen, wurde das sanfte Meeresrauschen mehr und mehr vom Stimmengewirr und Gelächter der Partygäste übertönt.

»Will!« Zoe hing halb über dem Geländer und winkte ihm aufgeregt zu.

Er winkte zurück und lief schnellen Schrittes zum Steg.

Sie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge aus verschwitzten Leibern, um ihn am Ende des Stegs zu empfangen. »Da bist du ja«, sagte sie. Ihre Wangen glühten von der Hitze und sie strahlte über das ganze Gesicht. Das lange Haar hing ihr lose über die Schultern und sie trug ein hübsches rotes Trägerkleid. Er war schier überwältigt von ihrer Schönheit. Sonst war Zoe einfach … Zoe. Doch jetzt, wo sich ihr Haar in der Meeresbrise sanft hin und her bewegte, sah sie irgendwie ganz anders aus.

Angus hing bei Gina Abernathy fest – der größten Plaudertasche der Stadt – und brauchte einen Moment, ehe er sich aus ihren Fängen befreien konnte. »Hey, Kumpel«, begrüßte er Will, als er neben Zoe auftauchte. »Ein paar Leute haben vor, am Strand ein Lagerfeuer zu machen. Na, wie wär’s?«

Ein Schrei drang vom Ende des Stegs zu ihnen herüber und da erst bemerkte Will die Gestalt, die ganz am Ende des Piers auf dem Geländer stand. Jemand streckte die Hand nach ihr aus, als sie ihre Arme ausbreitete.

»Was zum …«

Platsch.

»Zoe!« Sie rannte bereits zum Ende des Stegs und Will sprintete hinter ihr her. »Zoe!« Am Geländer blieb sie stehen und beugte sich darüber.

Die Gestalt im Wasser schlug spritzend um sich und zappelte wie wild.

»Verdammt!« Will zog hastig seine Schuhe aus. Einige Schaulustige hatten sich um ihn herum geschart und schrien aufgeregt durcheinander. Eine Hand packte ihn am T-Shirt, als er gerade über das Geländer klettern wollte, doch er stieß sie von sich.

»Ihr müsst ihn aufhalten!« Das war Zoe.

»Will!« Aus weiter Ferne drang Angus’ Stimme an sein Ohr.

Unter sich sah Will, wie sich um die wild strampelnde Gestalt weißer Schaum bildete. Jemand warf einen Rettungsring ins Wasser, aber die Gestalt ignorierte ihn.

»Das ist doch Kirk Worstler!«, rief Angus und Will machte einen Schritt vorwärts ins schwarze Nichts. Einen Moment lang fühlte er sich schwerelos, als er mit den Füßen voran ins Wasser sprang.

Will hörte, wie jemand – Zoe? – seinen Namen brüllte, doch da war er auch schon mit einigen wenigen Schwimmzügen am Rettungsring angelangt. Er griff danach und stieß sich mit den Beinen vorwärts, bis er bei Kirk war. Dessen Augen waren weit aufgerissen, seine Pupillen riesengroß und schwarz und das dunkle Haar hing ihm in nassen Strähnen ins Gesicht.

»Sie kommen! Sie sind schon ganz in der Nähe«, prustete und spuckte er, als eine kleine Welle ihn überrollte und er sich verschluckte. »Sie sind ihretwegen hier.«

»Was?« Will streckte die Hand nach ihm aus, doch Kirk schlug sie weg.

»Rache geht aus von den Mäulern der Schlangen. Sie sind ihretwegen gekommen – wird das Feuer ihres Mundes sie verbrennen?« Kirk sah ihm in die Augen. »Sie haben euer Blut gerochen.«

»Wer?«

»Die Seekrieger singen. Sie sind ihretwegen gekommen. Hörst du sie? Hörst du sie?«

»Nein, Kumpel. Nein – ich kann sie nicht hören.«

»Nicht?« Nur Kirks Kopf schaute aus dem Wasser, die Augen weit aufgerissen, die Haut leichenblass. »Du kannst sie nicht hören?« Er sah verwundbar aus, wie ein kleines Kind.

»Will«, sagte eine Stimme.

Es war Asia. Ihr Kopf war neben ihm im Wasser aufgetaucht und das lange Haar wogte mit den Wellen auf und ab.

Kirk fing an zu kreischen und Will musste ihm die Arme an den Seiten festhalten. Da streckte Asia eine Hand aus und berührte Kirk an der Stirn. Er versuchte, sich mit den Beinen von ihr wegzustoßen, doch sie beugte sich zu ihm und sang etwas in sein Ohr. Die Worte konnte Will nicht verstehen – Asias Gesang drang an seine taube Seite.

Dann beruhigte sich Kirk allmählich. Es sah aus, als wäre er in einen ohnmachtsähnlichen Zustand gefallen.

»Zeit, zurückzuschwimmen«, sagte Will und zeigte auf das Ufer.

Kirk war ganz ruhig geworden. Lediglich seine Beine traten gleichmäßig das Wasser und bewahrten ihn vorm Untergehen. Will lockerte seinen Griff und brachte Kirk sanft zu dem rot-weißen Rettungsring.

»Ich bleibe hinter dir«, sagte Asia.

»Wird sie das nicht wütend machen?«, fragte Kirk verträumt, während er von Will zum Ufer gezogen wurde.

»Wen?«

»Die Seekrieger.«

Will hatte keine Ahnung, was der Junge meinte. »Ich denke nicht«, erschien ihm von daher die sicherste Antwort.

»Dann ist es ja gut.« Kirk schien ein Stück zu sinken und seine Augenlider wurden immer schwerer. »Ich bin so müde.«

»Wir sind fast da.«

»Jetzt höre ich sie gar nicht mehr.«

»Das ist schon okay so.«

Ein paar der Partygäste standen auf dem Steg und beobachteten sie, die meisten hatten sich jedoch am Ufer versammelt, wo Will und Kirk jetzt aus dem tosenden Meer an Land wankten. Als Kirk wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sackte er ein wenig in sich zusammen, sodass Will ihn stützen musste.

Er half ihm bis an den Strand, wo er sich mit angezogenen Beinen hinsetzte, das Kinn zitternd auf die Knie gestützt. »Ihretwegen haben sich die Seekrieger hierher aufgemacht. Das Lied schläft auf den Winden und wartet auf seine Erlösung …«

Gina kam mit einem Handtuch und legte es Kirk, der weiter unverständlich vor sich hin brabbelte, um die Schultern. Die Partygäste standen im großen Kreis um die Szene herum, die sie flüsternd oder auch lauthals kommentierten.

»Jetzt rückt ihm doch nicht so auf die Pelle!«, rief Will aufgebracht.

Niemand rührte sich.

Will drehte sich um, da er Asia hinter sich erwartete, doch sie war spurlos verschwunden. War sie denn vorhin da?, fragte er sich. Oder habe ich das nur geträumt? Will schätzte die Entfernung vom Ufer bis zu der Stelle, wo Kirk ins Wasser gesprungen war, ab. Sie war beachtlich. Asia muss eine ziemlich gute Schwimmerin sein.

»Will!« Harry Ansell stand vor ihm. Unter den dichten geraden Augenbrauen blickten ihn besorgte Augen an. »Hör mal, würdest … würdest du vielleicht Kirk nach Hause bringen?« Er strich sich eine Strähne seiner zotteligen Fünfhundert-Dollar-Frisur aus den Augen. »Ich meine, bevor die Cops hier auftauchen?«

»Will!« Zoe kam mit Angus im Schlepptau auf ihn zugerannt.

»Will – was zum Teufel?« Sie boxte ihn gegen den Oberarm, ziemlich fest. »Was sollte das denn bitte? Dieser Junkie hätte dich um ein Haar umgebracht!«

»Du kennst den Jungen doch gar nicht.« Will musste an Kirks sanftes Gesicht denken, an die Angst, die er darin hatte sehen können. »Er mag verrückt sein, aber auf Drogen ist er mit Sicherheit nicht.«

»Ich glaub’s einfach nicht!«, fuhr Zoe ihn an und marschierte durch den Sand in Richtung Parkplatz davon. Am liebsten wäre Will ihr nachgerannt, doch er war schlichtweg zu müde. Natürlich wusste er, dass sie sich einfach nur Sorgen um ihn gemacht hatte und dass sie sich beruhigen würde. Irgendwann.

Will blickte seine Freunde an. Ansell sah besorgt aus. Angus’ Blick war auf Kirk gerichtet, der sich wie ein Igel im Sand zusammengerollt hatte und unter dem Handtuch eingeschlafen war.

»Wieso ist er gesprungen?«, fragte Ansell.

»Keine Ahnung. Irgend so ein hirnverbrannter Blödsinn, was mit Seetigern.«

Angus warf ihm einen scharfen Blick zu. »Seekrieger?«

»Was? Ja, genau die. Wieso, sag bloß, die gibt es wirklich?«

Angus zuckte unwissend mit den Schultern. »Keine Ahnung. Mein Großvater hat oft von ihnen gesprochen.«

»Was sind denn das für Dinger?«

»Meerjungfrauen oder so was in der Art. Er hat mir früher ganz viele Geschichten über sie erzählt …«

»Zum Beispiel?«

Angus schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mann, das ist schon Urzeiten her. Kann aber sein, dass meine Großmutter sich noch daran erinnert.«

»Können wir morgen mal mit ihr reden?«

Will merkte, dass seine Bitte ziemlich verzweifelt geklungen haben musste, denn Angus warf ihm einen höchst besorgten Blick zu. »Klar, Mann. Wenn du willst.«

»Am besten morgens, bevor ich zur Arbeit muss.«

»Und was mache ich jetzt mit dem da?«, überlegte Ansell und sah auf den selig im Sand schlummernden Kirk hinab.

»Ruf doch seine Schwester an«, schlug Angus vor. »Die ist schon dran gewöhnt, ständig hinter ihrem Bruder herzurennen.«

»Wenn ich von alldem morgen auch nur ein Sterbenswörtchen in der Zeitung lese …«, sagte Ansell drohend.

»Dann was?«, feixte Angus. »Kaufst du dann eine für deine Eltern?«

»Bitte tu mir das nicht an.«

Angus sah ihn empört an. »Kumpel, für wen hältst du mich?«

»Danke, Mann.« Ansell lief über den Steg zurück zum Haus.

»Hast du allen Ernstes vor, auf diese Story zu verzichten?«, fragte Will, als sie nebeneinanderher zum Parkplatz gingen. Die Aussicht auf eine Fahrt auf dem Motorrad mit nassen Klamotten stimmte ihn allerdings auch nicht gerade fröhlich.

»Und ob ich da ’ne Story draus mache«, antwortete Angus und grinste. »Was glaubst du denn? Und übrigens habe ich mal Erkundungen über Du-weißt-schon-wen eingeholt.«

»Wen meinst du? Etwa Asia?«

»Bingo – ich hab einfach mal ein bisschen herumgeschnüffelt.«

»Und, was hast du dabei herausgefunden?«

»Dass sie ein rabenschwarzes Loch ist.« Behutsam schloss Angus die Tür seines alten verrosteten Fords auf. Das war eines dieser Dinge, über die sich Tim immer nur schlappgelacht hatte – dass Angus seine rostige alte Karre abschloss, während um ihn herum lauter Audis, Jaguars, Lexus’ und Porsches standen. »Alles, was ich über Asia Marin herausfinden konnte, ist, dass sie den letzten Sommer über im Bella’s gejobbt hat und in diesem Sommer wiedergekommen ist. Adresse unbekannt. Keine Telefonnummer. Keine Einträge in irgendeiner Schulakte.«

»Und was hat es mit den Joyces auf sich?« Will hatte Angus eine E-Mail mit dieser Information geschickt, nachdem er Asia gefolgt war.

»Die kommen aus der Stadt. Philip und Julia. Sie haben zwei Kinder, die beide um die dreißig sind. Allerdings keins namens Asia.«

»Tja – und was heißt das jetzt?«

Angus zuckte mit den Schultern. »Das heißt, dass sie für die Familie das Haus hütet. Dass sie hier ihre Sommer verbringt. Kein großes Geheimnis, nehme ich an.«

»Ja«, meinte Will. »Kein großes Geheimnis.« Doch die Ironie in seinen Worten war nicht zu überhören.

Angus quetschte sich in sein winziges Auto und winkte beim Davonfahren. Will wollte gerade zu seinem Motorrad gehen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Eine weiße Gestalt – Asia. Sie war am anderen Ende der Einfahrt und entfernte sich mit schnellen Schritten vom Partytrubel. Ihr Kleid war immer noch feucht und klebte ihr am Körper, lediglich der Saum war bereits ausreichend getrocknet und schwang ihr um die Knöchel.

Will setzte sich in Bewegung, um ihr zu folgen. Seine nassen Hosenbeine klatschten beim Laufen mit einem lauten Geräusch aneinander.

Die Einfahrt, die vom Haus der Ansells wegführte, war leicht ansteigend. Will geriet außer Atem, Asia hingegen lief unbeirrt und offenbar mühelos weiter. Will hörte das Motorengeräusch eines Autos hinter sich und ließ es vorbeifahren. Asia kümmerte es nicht. Sie blickte sich weder um, noch verlangsamte sie ihren Gang, als der Wagen nun um sie herummanövrierte.

Da hörte er hinter sich noch einen Motor aufheulen und wenige Sekunden später schoss ein Auto an ihm vorbei. Ein blauer BMW. Er raste ein Stück weiter und kam dann mit einer Vollbremsung mitten auf der Brücke zum Stehen. Jason stieg aus und ging bis zum Geländer, um Asia den Weg abzuschneiden.

Will blieb wie angewurzelt stehen. Er sah, wie Jasons hünenhafte Gestalt einen Schritt auf Asia zu machte. Und wie er etwas zu ihr sagte, das Will jedoch nicht verstehen konnte. Asia öffnete den Mund, um zu antworten. »Halt’s Maul!«, herrschte er sie an, während er sie Richtung Brückengeländer drängte. »Wenn du es nicht gewesen bist, wer denn dann?«

»Hey!«, schrie Will und stürzte los.

Jason sah zu ihm herüber und guckte, als er Will erkannte, verblüfft drein. Im selben Moment vollführte Asia eine Rückwärtsdrehung, geschmeidig wie eine Katze, und verpasste Jason einen Tritt vor den Brustkorb, bevor sie mit einem Satz über das Brückengeländer sprang.

Jason stand da und griff mit beiden Armen ins Leere. Er rannte zum Geländer, doch da war Asia bereits im Wasser verschwunden.

Jason drehte sich zu Will um und blankes Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Jason!«, rief Will. »Warte doch!« Aber Jason war schon in sein Auto gestiegen und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Will war ganz oben auf der Brücke angelangt. Er starrte ins Wasser unter sich. Es ging sehr, sehr weit in die Tiefe. So tief, dass wohl niemand einen Sturz von dort oben überleben würde.

Allerdings hatte Jason nicht mehr alles mitbekommen, was Will gesehen hatte. Asia war mit einem Satz über das Brückengeländer gesprungen. Dann hatte sie sich ganz lang gemacht und die Arme über ihrem Kopf ausgestreckt. Wie ein Pfeil war sie mit einem leisen, kaum hörbaren Klatschen ins Wasser eingetaucht. Eine winzige Welle war über ihren Füßen zusammengeschlagen.

Will ließ seinen Blick über das Wasser schweifen. Ein ganzes Stück weiter unten im Fluss, dort, wo er in die Bucht mündete, meinte er, einen Kopf aus dem Wasser auftauchen gesehen zu haben. Nasses Haar umgab in langen Strähnen das Gesicht, das sich jetzt noch einmal zur Brücke umblickte.

Dann tauchte es im Fluss unter und war verschwunden.